6

Am nächsten Morgen servierte mir eine füllige Dame mittleren Alters mit mahagoniroten, sorgfältig ondulierten Haaren in einem weißen, mit enormen Schulterpolstern bestückten Mohairpullover das Frühstück. Außer mir saß nur noch ein unausgeschlafener, totenbleicher jüngerer Mann mit nassen schwarzen Kraushaaren im Frühstückszimmer, der aussah, als habe er ein Magengeschwür. Auf allen horizontalen Oberflächen außer auf den Esstischen der Gäste standen entweder Töpfe mit Pflanzen oder Zierfiguren aus Porzellan in allen Größen. Nahezu jeder Quadratzentimeter Wand war von Stillleben und Meereslandschaften in schweren Rahmen bedeckt. Es war ungemütlich kühl im Raum. Aber der Kaffee schmeckte ausgezeichnet.

»Seien Sie herzlich willkommen in meiner bescheidenen Herberge!«, sagte die Dame, offenbar die Pensionswirtin. Sie bewegte sich schnell und resolut, die hohen Absätze ihrer kirschroten Lacksandalen klickten laut auf dem Fliesenboden. »Achille hat mir erzählt, dass Sie gestern angekommen sind. Unser Rezeptionist. Er hat mir verraten, dass Sie ausgezeichnet Italienisch sprechen. Über Gäste aus dem Ausland freuen wir uns natürlich besonders. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen.«

Achille. Ich fühlte mich in das bemerkenswerte neapolitanische Universum der gesprächigen Wienerin aus dem Zug versetzt. Der totenbleiche junge Mann erhob sich seufzend von seinem Tisch und ging zur Tür. Wie er wohl mit Vornamen hieß?

»Bis heute Abend, Signora Smaldone«, sagte er mit kummervollem Blick und verließ das Zimmer.

»Ein liebenswürdiger Mensch, Signor Tucci«, sagte die Signora, »ein bisschen trübsinnig, aber liebenswürdig. Er hat Probleme mit dem Magen, wissen Sie. Ein so junger Mensch! Ein Handelsreisender aus Caserta. Er kommt dreimal im Jahr auf die Insel und mietet ein Zimmer für eine Woche. Immer Zimmer Nummer fünf. Halbpension. Ich mache ihm einen guten Preis. Ihnen auch, wenn Sie wollen. Wie mir meine Gäste nicht selten versichern, bin ich eine exzellente Köchin.« Sie legte den Kopf schief und verzog die Lippen zu einem Lächeln, das gewinnend sein sollte, aber eher wie das Zähnefletschen eines Raubtieres wirkte und mich ein bisschen beunruhigte, ähnlich wie das Lächeln meiner Großmutter, der katholischen Hexe. »Das sage ich in aller Bescheidenheit. Sie sind das erste Mal hier, nicht wahr? Darf ich fragen, wer Ihnen unsere Pension empfohlen hat?«

»Ein guter Freund von mir, Herr Doktor König.«

Signora Smaldone blieb abrupt stehen, das rhythmische Klicken ihrer Sandalen brach ab: »Der Signore Dottor König? Was sagen Sie? Der Dottore! Der Unglückselige!« Sie berührte den Anhänger an ihrer Halskette, ein kleines rotes Hörnchen. »Eine entsetzliche Geschichte! Wir alle sprechen noch heute mit Schaudern davon.« Es schauderte sie tatsächlich, und sie führte das Hörnchen an die Lippen, küsste es und bekreuzigte sich. »Ach, unsere herrliche Insel ist dieser Frau mit der begnadeten Stimme zum Verhängnis geworden. Signora Regina. Eine solche Stimme, schön wie ein Bild und die Güte selbst! Die Güte und die Warmherzigkeit! Der Dottore hat sie auf Händen getragen, kein Wunder. Er lag ihr zu Füßen. Jeder konnte sehen, dass er sie anbetete.«

Die lebhafte Rhetorik der Signora verwirrte mich ein bisschen. Da hörte sie unvermittelt auf zu reden und schaute mich mit ihren runden, haselnussbraunen Augen prüfend an.

»Sind Sie verheiratet?«

»Nein«, sagte ich.

»Nein? Aber Sie sind doch katholisch?«

»Nein, auch nicht«, sagte ich.

»Nicht verheiratet und nicht katholisch!«, rief die Pensionswirtin aus, legte den Kopf schief und bedachte mich mit einem zugleich bedauernden und missbilligenden Blick. »Sie Arme! Gehen Sie denn nicht in die Kirche?«

»Nein«, wiederholte ich, und mir wurde klar, dass ich diese eine Silbe auf meiner Reise bisher häufig ausgesprochen hatte.

»Nein? Da entgeht Ihnen viel. Ich werde jedenfalls den Sonntag nie vergessen, an dem die Signora in der Kirche der Madonna delle Grazie die Messe gesungen hat. Kein Auge ist trocken geblieben, ich schwöre es Ihnen, kein einziges! Selbst den Stein der Statue des heiligen Antonius hat ihre Stimme erweicht – der Ministrant, der kleine Paolo Campanella, der Sohn des Automechanikers, der direkt neben unserem Heiligen gestanden ist und die Altarschelle geläutet hat, kann bezeugen, dass ihm eine Träne über die marmorne Wange geronnen ist.«

Ich sah die Pensionswirtin an, und wieder dachte ich an meine Großmutter, die von den Italienern nicht viel hielt, wiewohl neben slowenischem und etwas deutschem sicher auch italienisches Blut in ihren Adern floss. Signora Smaldone war gut ein Vierteljahrhundert jünger als diese und glich ihr nicht im mindesten, aber ihre Art, sich auszudrücken, war ähnlich. Eine Schauspielerin. Das katholisch Dramatische ließ sich schwer verleugnen.

Die Signora trat an meinen Tisch. »Sie erlauben?« Sie setzte sich und rückte mit dem Stuhl, dessen Beine über die Fliesen scharrten, nahe an mich heran. »Aber, wissen Sie, eine solche Begabung, eine solche Schönheit, ein solches Eheglück, das zieht natürlich ungeheuer viel Neid auf sich.« Sie rückte noch näher. »Ich werde Ihnen sagen, was wir alle hier über dieses Drama denken«, flüsterte sie, machte eine Pause und riss ihre großen runden Haselnussaugen noch weiter auf. »Wir glauben, dass jemand sie mit dem bösen Blick verhext hat. Jemand von uns, verstehen Sie. Aus Missgunst. Eine Frau natürlich. Ich habe da so meine Vermutungen. Jedenfalls ist das die einzig plausible Erklärung.«

Wieder berührte sie das kleine rote Hörnchen. Ein Cornicello, wie es so viele in Süditalien an einem Kettchen um den Hals oder als Schlüsselanhänger tragen, aus Koralle, Glas oder Kunststoff, zur Abwehr von Schadenzauber, gegen den bösen Blick. Dann lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück.

»Eine so gute Schwimmerin ertrinkt nicht einfach und wird nie wieder gefunden«, fuhr sie lauter, in entschiedenem Ton fort. »Nein, nein, es war der Malocchio, der sie ins Verderben gestürzt hat. Das böse Auge und nichts anderes. Sie hätte mich berühren sollen.«

Sie bemerkte meinen fragenden Blick.

»Ja, das hätte sie! Dann wäre ihr nichts geschehen. Wissen Sie, ich bringe Glück. Es ist angeboren. Die Leute berühren mich, treffen kurz darauf die Liebe ihres Lebens, werden befördert oder gewinnen viel Geld im Glücksspiel. Beim Pferdewetten zum Beispiel. Oder im Lotto. Berühren Sie mich doch auch!«

Ich machte keine Anstalten. Da griff die Signora rasch nach meiner Hand und führte sie kurz an ihre Stirn.

»Jetzt werden Sie Glück haben«, sagte sie, lächelte zufrieden, stand auf und verließ den Frühstücksraum.

Als ich in mein Zimmer zurückkam, saß ein junges Mädchen mit ungepflegten dunklen Haaren auf dem Bett und wiegte die große Plastikpuppe mit dem hängenden linken Augenlid versonnen in ihren Armen. Sie sah mich, errötete, sprang auf, ließ die Puppe auf das Bett fallen und strich ihre weiße Schürze glatt.

»Entschuldigung, aber ich wollte gerade das Zimmer aufräumen«, sagte sie dann. »Soll ich später wiederkommen?«

»Nein, nein«, sagte ich, »bleiben Sie nur. Ich gehe gleich weg, dann sind Sie ungestört.«

Das Zimmermädchen lächelte erleichtert. Das Lächeln war nicht schön, denn ihre Zähne standen schief.

»Ich bin Mirella«, sagte sie. »Sie sind aus Österreich, nicht wahr? Achille hat es mir gesagt.«

»Ja – so wie der Signore Dottor König und seine Frau. Erinnern Sie sich? Es sind – es waren gute Freunde von mir.«

Das Mädchen erschrak und legte eine Hand auf ihren Mund.

»Haben Sie auch ihr Zimmer gemacht?«, fragte ich. »Vor zwei Jahren?«

Mirella blickte zu Boden und schwieg. »Nein, das war meine Schwester«, sagte sie dann leise. »Elettra.«

Elettra. Es war nicht zu glauben.

»Die Frau hatte sehr schöne Kleider«, sprach das Zimmermädchen langsam weiter. »Ihr Mann hat sie nach – also, nach dem Unfall nicht mitgenommen. Nach dem Unglück.« Sie bekreuzigte sich mehrmals. »Heiliger Nikolaus und heiliger Florian, bewahrt mich vor dem Tod durch das Wasser«, murmelte sie rasch, dann fuhr sie lauter fort. »Die Chefin wollte die Kleider behalten, aber sie haben ihr nicht gepasst.« Das Mädchen grinste. Zwei der schiefen Zähne waren schwarz. »Sie ist zu dick. Viel zu dick. Na ja, schließlich hat sie Elettra erlaubt, die Kleider mit nach Hause zu nehmen. Wir sind vier Schwestern – Fiorina, Chiara, Elettra und ich. Wir haben die Kleider unter uns aufgeteilt. Wenn wir am Sonntag tanzen gehen, ziehen wir sie an. Damit sind wir die Schönsten.« Mirella lächelte stolz. Oben links hatte sie eine Zahnlücke. »Die Schönsten von allen.« Dann zögerte sie. »Sie haben das Ehepaar gut gekannt, wirklich?«, fragte sie schließlich.

»Ja, sehr gut«, sagte ich.

»Ich meine, weil – also, hinterher haben alle gesagt, dass die beiden so glücklich waren. Ununterbrochen glücklich. Überall, wo man sie sah. Ein ideales Paar. Aber Elettra – sie hat gehört, wie sie sich gestritten haben. Wie sie sich angeschrien haben. Und einmal, als sie die Tür öffnete, um das Zimmer aufzuräumen – es war dieses Zimmer hier, sie haben auch im Hochzeitszimmer gewohnt –, jedenfalls, da hat sie gesehen, wie der Dottore – also, wie er seine Frau durchs Zimmer gestoßen hat. Ziemlich brutal, hat Elettra gesagt. Eine so schöne Frau!«

Das Mädchen schüttelte den Kopf.

»Meine Schwester hat es niemandem erzählt. Niemandem außer Chiara, Fiorina und mir. Keiner hätte es ihr geglaubt. Aber wir glauben es. Sie hat es geschworen. Elettra würde niemals lügen. Sie ist die Frömmste in der Familie. Sie möchte Nonne werden. Und Lügen ist eine Todsünde.«

Mirella biss sich auf die Lippen und wandte den Blick ab. Ich traute ihr und ihrer Schwester nicht.

»Und da ist noch etwas«, sagte sie dann. »Wir haben etwas entdeckt. Aber nicht sofort, erst später. Als die Suche schon eingestellt war. Deshalb haben wir dieses kleine Ding auch nicht zur Polizei im Palazzo Catena gebracht. Es war in ihrer Windjacke. In der Innentasche. Ich hatte noch nie so etwas gesehen, ich kenne mich bei Computern nicht aus. Meine Schwester Chiara hat gesagt, es ist ein USB-Stick.« Wieder das schüchterne Lächeln. »Chiara geht in Neapel in die Handelsschule, sie ist klug, die Klügste von uns allen. Auf einem USB-Stick kann man Sachen speichern, hat sie mir erklärt. Ich glaube, sie hat ihn an ihren Laptop angesteckt. Kann sein, dass sie etwas gefunden hat, sie hat es mir nicht gesagt.« Sie zog die Schultern hoch und sah mich an. »Wir könnten es ohnehin nicht lesen, wenn es in Ihrer Sprache geschrieben ist. Auf Österreichisch. Jedenfalls haben wir das Ding noch. Wenn Sie wollen, bringe ich es Ihnen morgen mit. Meine Schwestern haben sicher nichts dagegen. Wo Sie doch so gut befreundet waren mit dem Dottore und seiner Frau.«

Die Eröffnung des Stubenmädchens, dass Regina einen so persönlichen Gegenstand zurückgelassen hatte, setzte mir zu. Ich versuchte mich zu beruhigen. Wahrscheinlich war der USB-Stick leer. Wahrscheinlich waren die darauf gespeicherten Aufzeichnungen uninteressant. Zweifellos wurde ein Benutzername verlangt, ein Passwort, ich würde keinen Zugang zu den Dokumenten finden. Aber die Anspannung ließ nicht nach. Im Grunde hatte ich nicht damit gerechnet, so bald auf etwas zu stoßen, das in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Leben meiner verschwundenen Freundin stand. Um mich abzulenken, beschloss ich, mich auf der Insel etwas umzusehen. Beim Verlassen der Pension stieß ich beinahe in einen großen, breitschultrigen Mann mit kariertem Hemd und einer blauen Arbeitshose, der vor der Eingangstür neben einem Fahrrad stand. Neben einem violetten Fahrrad mit rosa Sattel. Das überraschte mich, aber nicht allzu sehr. Solche Dinge kamen vor.

»O, Pardon!«, sagte ich.

Der Mann richtete sich auf. Er hatte fast schulterlanges schwarzes Haar, buschige Augenbrauen und einen ebenso buschigen Schnurrbart. In seine niedrige Stirn waren drei lange, schnurgerade horizontale Falten tief eingegraben. Ein Typ wie Anthony Quinn in La Strada. Ich liebe italienische Filme. Der Mann wischte sich die große rechte Hand an der Hose ab und streckte sie mir entgegen.

»Smaldone«, sagte er. Ich sah ihn an. Oreste? Orfeo? Als habe er meine Gedanken erraten, fügte er hinzu: »Giuseppe.« Ich war ein bisschen enttäuscht. »Sie müssen die Dame aus Wien sein. Meine Frau hat mir von Ihrer Ankunft erzählt. Entschuldigen Sie die schmutzigen Hände – es ist nur ein bisschen Kettenschmiere.« Er wies auf das Fahrrad. »Hab ich gefunden«, sagte er. »Auf der Müllhalde. Ich verstehe nicht, wie jemand ein solches Fahrrad wegwerfen kann. Die Leute haben einfach zu viel Geld. Ich hab es mit ein paar Handgriffen repariert, es ist wie neu. Gehen Sie spazieren?«

»Ja«, sagte ich, »ich möchte mich ein bisschen umsehen. Die Insel ist ja nicht sehr groß.«

»Nicht groß? Unterschätzen Sie unsere Insel nicht.« Er hielt inne. »Nehmen Sie das Fahrrad«, sagte er dann. »Das ist besser, als zu Fuß zu gehen. Hier steht es ohnehin nur herum, ich habe ein Motorino, und meine Frau fährt nur mit dem Auto, sie geht keinen Meter zu Fuß, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

Ich überlegte kurz.

»Gute Idee«, sagte ich. »Vielen Dank.«

Er probierte die Klingel aus.

»Sogar die Klingel funktioniert wieder«, sagte er mit Genugtuung und hielt mir das Fahrrad hin. Ich setzte mich darauf und fuhr einmal ums Haus herum.

»Na, wie fühlen Sie sich?«, fragte Signor Smaldone. »Ist der Sattel nicht zu hoch?«

»Nein«, sagte ich, »die Höhe ist genau richtig. Also bis später. Und danke noch einmal.«

Langsam lenkte ich das Fahrrad über den unebenen Weg und durch das dunkelblaue Tor hinaus ins Freie und bog links in eine leicht abschüssige Straße ein. Der Morgen war hell, ein frischer Wind wehte, und ein paar Schäfchenwolken zogen rasch am blassblauen Himmel dahin. Ich fuhr an dunkel gekleideten, o-beinigen alten Frauen mit schwarzen Kopftüchern und an kleinen, schnurrbärtigen, krumm gehenden Männern mit Schirmmützen vorüber und klingelte öfter, als nötig war. Der Übersetzer aus Hamburg hatte recht: Man musste höllisch auf die Mopeds und Kleinmotorräder achtgeben, die in hohem Tempo um die Straßenecken gefahren kamen. Um ein Haar wäre ich mit einem der öffentlichen Busse zusammengestoßen, die fast die ganze Breite der schmalen, kurvenreichen Fahrbahnen einnahmen. Ich verstand nicht, was der Fahrer mir wütend hinterherrief, lachte einfach, aus Freude darüber, dass ich Glück gehabt hatte. Wahrscheinlich hielt er mich für verrückt, denn er tippte sich an die Stirn. Ich fuhr am Tor des Friedhofs vorüber und sah, wie sich zwei Kinder auf dem Gehsteig und ein Paar, das mich in einem Auto überholte, davor bekreuzigten. Gleichgültig, ob es eine kleine italienische Insel war oder die Südsteiermark – abergläubisch waren sie hier wie dort. Bald lag das Zentrum des Ortes hinter mir, und ich fuhr auf holprigen, von baufälligen Steinmauern gesäumten engen Straßen dahin, auf denen kein Mensch und kein Fahrzeug zu sehen waren. Das Leben schien sich jenseits der Mauern abzuspielen. Mein hinterer Kotflügel klapperte, und der Lärm verscheuchte ein paar Katzen, die auf den von der Morgensonne erwärmten Steinen lagen. Die Art der Fortbewegung begann mir zu gefallen. Auf der anderen Seite der Mauern standen Palmen mit dürren Wedeln, grün belaubte Bäume voller Orangen und hohe Gewächse mit ledrigen Blättern und kugeligen roten Früchten. Auch lange Stangen überragten sie, auf denen Weinranken aufgezogen waren, deren Laub braun und trocken war. Die Trauben hatte man längst geerntet.

Als ich bemerkte, dass ich mich in unmittelbarer Nähe des Meeres befand, hielt ich an, lehnte das Fahrrad an eine schiefe Holzwand mit vielen Schichten verblichener, zum Teil heruntergerissener alter Werbeplakate und ging zwischen Olivenbäumchen auf einem staubigen Pfad in Richtung Strand. Ein kleiner toter Hund lag, von Insekten umsurrt, im stacheligen Gebüsch am Wegrand. Seine Augen waren weit offen. Plötzlich fühlte ich mich unbehaglich. Da öffnete sich der Blick auf das Meer, das rostige Wrack eines ehemals weißen Vergnügungsschiffes lag nicht weit vom Ufer entfernt im seichten Wasser, und in der Ferne konnte man den hohen Felsen mit der Abtei sehen, die sogenannte Terra Murata.

Der Pfad endete, und ich hielt mich an verdorrten, mir in die Handflächen schneidenden Grasbüscheln fest und kletterte über eine etwa zwei Meter hohe, zu flachen Wellenlinien erstarrte Basaltwand hinunter zu einer kleinen Bucht. Am Strand aus feinem schwarzen Sand saß ein Mann und schaute aufs Wasser hinaus. Als er mich bemerkte, drehte er sich um. Es war der Zeuge Jehovas mit dem Flammenmal auf der Stirn. Seine dunkelbraunen Schuhe standen exakt parallel zueinander auf dem Sand, die schwarzen Socken lagen ordentlich ausgebreitet daneben. Die Füße hatte er ins Wasser getaucht, seine Zehennägel waren lang, gebogen und gelblich.

»Ah, die große dünne Frau! Ich wusste, dass wir uns bald wiedersehen würden«, sagte er. »Ein schöner Ort, nicht wahr? Aber einsam. Setzen Sie sich doch zu mir!«

Ich hatte keine Lust, mich neben Signor di Natale niederzulassen, der einen schwarzen Anzug und ein weißes Hemd trug, eine dunkelbraune Krawatte umgebunden hatte und in dieser fast feierlichen Kleidung deplaziert und auf dem schwarzen Sand außerdem ein wenig unheimlich wirkte. Also blieb ich neben ihm stehen.

»Wo ist Ihr Kollege?«, fragte ich, um etwas zu sagen.

Er blickte zu mir hoch und kniff ein Auge zu, denn die Sonne stand hinter mir.

»Welcher Kollege? – Ach, Fulco meinen Sie? Er ist im Königreichssaal und bereitet alles für die Versammlung vor. Sie sind herzlich eingeladen. Heute Abend um neun, Via Lingua Nummer drei. Ich werde über das Problem der Bluttransfusion sprechen. Wir Zeugen Jehovas lehnen das ab. Auch das Spenden von Blut. Ein interessantes Thema, Blut …« Er griff nach meinem linken Knöchel und hielt ihn fest. Ich rührte mich nicht. Er kicherte. »Wollen Sie mir noch immer nicht sagen, woher Sie kommen?«, fragte er dann. »Ist es ein Geheimnis?«

»Ich komme aus Wien.«

»Wien …« sagte er nachdenklich, ließ meinen Knöchel los und schaute wieder aufs Meer hinaus. »Wirklich, ein schöner Ort hier. Aber einsam, einsam. Sie sollten sich auf der Insel nicht allein herumtreiben.« Noch ein Kichern. »Nicht, dass ich Ihnen Angst machen will. Übrigens kann auch das Meer gefährlich sein. Die Touristen unterschätzen es. Es gibt heimtückische Strömungen und Wasserwirbel. Sie werden es nicht glauben, aber wir sitzen hier auf einem Vulkan, einem tätigen Vulkan. Alles ist instabil unter uns, höchst instabil. Heißes Wasser und Dampf, hoher Druck. Manchmal steigen Rauchsäulen aus dem Meer auf. Immer wieder ertrinkt jemand. Letztes Jahr war es eine Frau, in Ihrem Alter etwa, eine sehr schöne Frau aus – Oder war das schon vor zwei Jahren? Jedenfalls war sie aus –« Er überlegte kurz, griff sich an die Stirn. »Sie war aus Österreich!«, rief er dann. »Ja, aus Österreich. Sie war aus Ihrer Heimat, ein merkwürdiger Zufall, finden Sie nicht?«

»Ein Zufall? Na ja, im Grunde –«

Schon wollte ich Signor di Natale erzählen, dass ich Regina gekannt hatte, aber dann hielt ich mich zurück.

»Ein Badeunfall«, sagte er. »Wenn es einer war. Manche hier denken anders darüber, als die Polizei es uns weismachen wollte. Schließlich ist ihre Leiche nie aufgetaucht.«

»Tatsächlich?«

»Ja. Eine schlimme Geschichte. Die schöne Frau war verheiratet, sie war mit ihrem Ehemann hier. Sie war zu allen freundlich.« Er kicherte abermals. »Ein bisschen zu freundlich vielleicht. Vor allem zu den Männern. Zu Fulco zum Beispiel, meinem Helfer. Kein Wunder, er sieht ja auch gut aus.« Ein Grinsen. «Und er ist jung, sehr jung.« Er blickte sich um und senkte die Stimme, so, als könnte uns an diesem einsamen Platz jemand belauschen. »Ich habe sie überrascht, Fulco und die schöne Österreicherin, wissen Sie.«

Ich horchte auf.

»Wie, überrascht?«

»Also, ich habe die beiden gesehen, abends, bei den Felsen von Ciraccio, wo es ganz einsam ist. Sie –« Er unterbrach sich und sprach in normalem Tonfall weiter. »Aber reden wir nicht mehr davon, wir Zeugen Jehovas denunzieren einander nicht. Anselmo, der Fischer von der Corricella, schwört jedenfalls, dass er die Frau kurz vor ihrem Tod mit drei Männern gesehen hat. Männer aus Neapel, die hier bekannt sind.« Ein amüsiertes Glucksen. »Ziemlich bekannt. Sie kommen öfter mit dem Boot hierher. Übrigens, wir werden heute Abend auch über das Zusammenleben ohne Trauschein, über Polygamie und über Homosexualität sprechen. Wir Zeugen Jehovas lehnen das ab.«

Er blickte auf das große Zifferblatt seiner Armbanduhr, zog umständlich seine Socken an, schlüpfte in die braunen Schuhe, stand auf und klopfte seinen Anzug ab. »Entschuldigen Sie, aber ich muss gehen. Es sind noch mehrere Hausbesuche in der Nähe zu erledigen. Der Felddienst ist das Um und Auf unserer Lehre.« Er blickte mir ins Gesicht, griff mir gleichzeitig blitzschnell mit beiden Händen an die Brust, kicherte ein letztes Mal, drehte sich um und ging über den schwarzen Sand. Ich war zu verblüfft, um zu reagieren. Signor di Natale kletterte den Abhang hinauf, und am Beginn des Pfades, der zur Straße führte, drehte er sich um und winkte.

»Wir sehen uns wieder!«, rief er.

Das hoffte ich nicht.

Als ich zurückkam, saß Achille, sein Akkordeon umgehängt, hinter der Rezeption. Sein Kopf war auf den Balg des Instruments gesunken, er schnarchte leise, eine Art Winseln, wie das eines Hundes. Als ich die Tür hinter mir schloss, fuhr er hoch.

»Entschuldigen Sie, entschuldigen Sie«, sagte er und zog verlegen an dem langen Haar auf seinem Kinn. Die Kanten der Falten des Balges hatten vertikale rote Linien in seine Stirn gedrückt. »Ich bin nur ein bisschen eingenickt. Nur ein bisschen. Es ist ja nicht viel zu tun.«

Ich fragte ihn, ob man in der Pension gut essen könne. Mit dem langen, gekrümmten Zeigefinger eines Skeletts winkte er mich näher zu sich. »Was ich Ihnen jetzt sage, bleibt unter uns«, sagte er leise, mit heiserer Stimme. »Natürlich will die Chefin, dass Sie im Haus essen. Natürlich. Aber ich muss Sie warnen. Sie kocht nicht gut, die Chefin.« Er blickte entschuldigend. »Ich möchte sie nicht anschwärzen, sie kann nichts dafür, gar nichts, das Talent ist ihr einfach nicht gegeben. Ihre Polpi alla napoletana sind zäh wie Gummi, und von der Parmigiana di melanzane möchte ich ernsthaft abraten. Sie nimmt zu viel Öl, wissen Sie. Viel zu viel Öl. Und das Öl ist nicht das beste. Preiswert, aber nicht das beste. Außerdem ist der Fisch nicht immer frisch. Sie kauft ihn billig ein, sehr billig, verstehen Sie. Voriges Jahr hatten wir einen Urlauber aus Holland hier, einen Signor Frijhoff aus Utrecht. Er bestellte die Sgombri alla marinara und musste dann vom Notarzt – also, er musste nach Neapel gebracht werden und –« Er hielt inne, blickte zu Boden und schüttelte den Kopf. «Eine unerfreuliche Sache. Unerfreulich. Es war nicht das erste Mal, wissen Sie – nicht das erste Mal, dass die Chefin einen Gast mit ihren Speisen –« Wieder stockte der alte Mann und wandte den Blick von mir ab. »Man weiß nie bei ihr. Na ja, lassen wir das. Lassen wir das. Wie gesagt, ich möchte der Chefin nichts unterstellen, nicht das Geringste. Und ich zähle natürlich auf Ihre Diskretion. Aber am besten gehen Sie zur Corricella hinunter, zum alten Fischerhafen, dort gibt es einige gute Bars und Restaurants, die Trattoria Gabriela zum Beispiel. Nehmen Sie das Kaninchen mit Polenta, es ist ausgezeichnet. Ganz ausgezeichnet. Natürlich wird es die Chefin ärgern, dass Sie nicht hier essen, natürlich, aber an der Corricella kann Sie niemand – also, dort kann Ihnen in puncto Essen nichts passieren.«

Als ich später aus dem Haus ging, spielte Achille eine Melodie, die mir bekannt vorkam, und sang mit wimmernder Stimme dazu. Er klang wie eine singende Säge. Die senkrechten roten Linien auf seiner Stirn hatten sich verflüchtigt.

Inzwischen war es dunkel geworden. Ich schaute nach dem Fahrrad. Die Vorderlampe funktionierte, es gab auch einen Rückstrahler, und so beschloss ich, es zu benützen. Ich fuhr bis zur Piazza dei Martiri, wo eine schöne, gelb gestrichene barocke Kirche mit einer großen Kuppel stand. Das unebene Pflaster des Vorplatzes aus dunklem vulkanischen Gestein glänzte im Licht der Straßenlaternen. Was ich nicht gewusst hatte, war, dass man von dort aus nur über enge Treppen zur Corricella und ans Meer gelangen konnte. Da ich das Rad, für das ich kein Schloss hatte, nicht stehen lassen wollte, hob und schob ich es mühevoll über die vielen Stufen hinunter. Ein Fischer mit einer roten Mütze und zylinderartigen Reusen über der Schulter kam mir entgegen.

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte er.

»Nein, danke, es geht schon.«

Er zuckte die Achseln.

»Starke Frau«, meinte er. »Und groß! Sind Sie Holländerin? Starke Frauen, die Holländerinnen.«

Ich zog es vor, nicht zu antworten, und ging weiter.

»Sie sehen aber gar nicht stark aus!«, rief er mir nach.

Die eng aneinandergebauten Häuser, zwischen denen sich die Treppen zum Meer hinunterwanden, wirkten ärmlich und baufällig, soweit ich dies im Licht der schlechten Straßenbeleuchtung ausmachen konnte. Die Wände waren schmutzig, der Putz abgeblättert, das Holz der Fensterrahmen und Türen abgenützt und morsch.

Als ich endlich am alten Hafen ankam, war ich ziemlich erschöpft. Boote schaukelten auf dem Wasser, Berge rotbrauner, ockerfarbener und safrangelber Netze lagen am Ufer. Obwohl es kühl war, saßen einige ältere Männer, wohl Fischer, in schmutzigen Jeans und T-Shirts, mit Schildmützen auf dem Kopf und Wein- und Schnapsgläsern vor sich an ein paar Tischen vor den kleinen Restaurants und unterhielten sich lautstark. Die Eingangstüren der Gasthäuser waren offen, es roch nach Fisch, und ich merkte, dass ich hungrig war, denn mir lief das Wasser im Mund zusammen. Ich schob mein Fahrrad an den Männern vorüber, auf der Suche nach der Trattoria Gabriela. Als sie mich sahen, begannen sie zu lachen. »Hallo, Süße!«, rief einer. »Wie war die Fahrt über die Treppen? Holprig?«

»Die einzige Touristin auf der Insel, garantiert«, sagte ein anderer. »Wer kommt schon im November hierher?« Er reckte den Kopf nach mir.

»Haben Sie den Drahtesel am Flughafen in Neapel gemietet?«, fragte er. »Bei Hertz?«

Alle lachten. Sie nahmen wohl an, dass ich sie nicht verstand.

»Bestimmt eine Deutsche. Die haben immer ihr Fahrrad dabei. Sicher ist sie auf den Spuren von Neruda unterwegs«, vermutete ein Dritter. »Signorina, die Locanda del Postino ist gleich da hinten! Wenn Sie Glück haben, ist er drin und spielt Tischfußball mit Massimo Troisi und seiner Liebsten.«

Erneut lautes Auflachen. Ich hatte den Film gesehen, aber kein besonderes Bedürfnis, das Lokal zu besuchen, in dem der Postbote Mario die schöne Wirtstochter Beatrice kennen und lieben gelernt hatte. Die Insel war auch malerischer Hintergrund in Minghellas Film Der talentierte Mr. Ripley, gedreht nach dem Kriminalroman von Patricia Highsmith. Wer weiß, vielleicht war dieser Umstand sogar der Grund dafür gewesen, dass Regina und Stefan sich für Procida als Urlaubsziel entschieden hatten? Sicher hatte sie sich während ihres Aufenthalts die Schauplätze angesehen. Ich hatte mich manchmal gefragt, was eine so vernünftige, geradlinige, psychisch unversehrte Person wie Regina an diesen morbiden Geschichten, den skrupellosen Machenschaften ihrer geistig wie seelisch abnormen Protagonisten so faszinierend fand. Es war wohl die Anziehung der Gegensätze gewesen. Ohne etwas zu sagen, ging ich an den Männern vorüber.

»Freundlich ist sie nicht, die Hübsche«, bemerkte einer.

»Was heißt hier hübsch? Die ist doch dünn und lang wie eine Bohnenstange!«

»Genau, sie kann sich bequem hinter einem Laternenpfahl umziehen!«

Das Lachen der Männer folgte mir. Offenbar unterschieden sie sich nicht von ihren Geschlechtsgenossen im Sausal. Nicht grundlegend. Nach ein paar Schritten sah ich den grünen Neonschriftzug Trattoria Gabriela über dem schmalen Eingang eines kleinen blauen Hauses. Ich lehnte mein Fahrrad an die Mauer und betrat das Lokal. Die Gastwirtschaft bestand aus einem einzigen, relativ kleinen Raum mit einem niedrigen Gewölbe, von dem Netze mit getrockneten Seesternen und Seepferdchen hingen. In einer Ecke lehnte ein riesiger rostiger Anker mit einem Stück der Ankerkette. Hinter dem Schanktisch stand mit gelangweiltem Blick, fettigen grauen Haaren und einer Stirnglatze, ein kariertes Geschirrtuch in der Hand und eine schmutzige weiße Schürze umgebunden, ein dicker Mann mittleren Alters. Er wandte den Kopf in meine Richtung.

»Guten Abend«, sagte er, ohne zu lächeln.

Es gab nur fünf Tische, zwei davon waren besetzt. Um einen Tisch war ein jüngeres Paar mit zwei Kindern gruppiert, und am zweiten saß, unter dem bedrohlich aus der Wand ragenden Schwert des auf Holz aufgezogenen großen Kopfes eines präparierten Schwertfisches, eine Zigarette in der schmalen Hand mit den langen Fingern, der Übersetzer mit den wasserhellen Augen aus Hamburg. Als ich mich an einem der freien Tische niederlassen wollte, sah er mich und lächelte.

»Ach, die Signorina aus Wien!«, sagte er auf Italienisch, zog an der Lucky Strike und blies den Rauch durch seinen breiten Fischmund aus. »So trifft man sich wieder. Setzen Sie sich zu mir, ich bin seit Jahren Stammgast hier und kann Sie bei der Speiseauswahl beraten, wenn Sie wollen.« Er rückte einen der mit Stroh bespannten Stühle zurecht, und ich setzte mich hin. Der Stuhl wackelte, die Sitzfläche war hart. Der Wirt ließ das Geschirrtuch in Richtung Espressomaschine schnalzen. Der Norddeutsche bemerkte meinen Blick. »Nein, Vittorio fängt keine Fliegen, er ist nur gereizt, seine übliche Gemütsverfassung. Aber seine Frau und seine Schwiegermutter kochen nicht schlecht, also empfiehlt es sich, sein unfreundliches Wesen zu tolerieren.«

»Anders, du Tagedieb, was verbreitest du da für Lügen über mich?«, rief der Wirt.

Anders hieß er also. Er hieß Anders.

Zwei Stunden später saßen wir beim Nachtisch. Die Familie hatte das Lokal inzwischen verlassen, wir waren die einzigen Gäste. Der Übersetzer hatte mir zu Lingue di Suocera geraten, zu Schwiegermutterzungen, einem zarten, mit Zitronencreme gefüllten Gebäck, das in diesem Restaurant tatsächlich von der Schwiegermutter des Wirtes hergestellt wurde. Vittorio hatte uns den Teller mit ausladender Geste und der Bemerkung »Ganz frisch! Der Drache wünscht guten Appetit!« auf den Tisch gestellt.

Der Mann namens Anders aß ebenso gemächlich, wie er sprach, sich bewegte und sein Auto lenkte. Zwischen den Gängen rauchte er. Fasziniert hatte ich ihm dabei zugesehen, wie er das Fleisch seiner kleinen Krebse bedächtig aus der Schale herauslöste, es umständlich auf die Gabel spießte, im Zeitlupentempo zum Mund führte und unendlich langsam zerkaute.

»Sie heißen Cicarelle«, erklärte er. »Delikat. Schmecken wie Hummer.«

»Wir nennen sie Pisskrebse«, sagte Vittorio verächtlich und stocherte mit dem linken Zeigefingernagel in seinen Zähnen. »Ich verstehe nicht, was die Leute daran finden. Sie pissen, wenn sie gekocht werden. Ekelhaft. Es verdirbt den Geschmack. Meine Alte und der Drache spießen sie deshalb vor der Zubereitung auf, um sie schon vorher dazu zu bringen. Wenigstens das. Man sollte sie leben lassen, sie sind sehr intelligent und unglaublich schnell. Ihre Augen sind viel besser als unsere, sie sehen mehr Farben als wir. Ich war früher Fischer, ich kenne die Tierchen.«

Der Deutsche ließ sich den Appetit nicht verderben, ebenso wenig wie ich. Es gab für mich nichts Schöneres, als in einer kleinen Trattoria in Italien auf einem wackeligen Stuhl unter Netzen mit totem Meeresgetier zu sitzen und lokale Spezialitäten auszuprobieren. Ich hatte den Rat von Signor Achille beherzigt und mich für Coniglio Cacciatore entschieden, Kaninchen nach Jägerart. Es schmeckte vorzüglich.

»Und dieses Getue mit den Kaninchen«, murrte der Wirt und zog mir den noch nicht ganz leeren Teller unter der Nase weg. »Wer wird schon satt von dem bisschen Fleisch? Im La Vigna verlangen sie das Doppelte dafür. Dabei sind sie nicht halb so gut wie bei uns. Die Chefin dort geht von Tisch zu Tisch und preist sie an, die ausgemergelten Kadaver.« Er äffte eine hohe Frauenstimme nach. »Etwas ganz Besonderes, ein Rezept aus dem achtzehnten Jahrhundert! Sie müssen wissen, es geht auf die bourbonischen Könige zurück, die hier auf Kaninchenjagd gingen!« Er kratzte sich am Hinterkopf und ging in Richtung Küche. »Bourbonische Könige, ha!«, schimpfte er. »Blutsauger, sonst gar nichts!«

Ich spürte den Alkohol. Der Übersetzer hatte mir einen Rotwein aus der Gegend namens Aglianico empfohlen, er selbst trank Weißwein.

»Falanghina, eine uralte Sorte, genau wie der Wein, den Sie trinken. Beide Rebsorten wurden wahrscheinlich schon von den Griechen angebaut«, sagte er und hob sein Glas hoch. Plötzlich sah ich Stefan vor mir, wie er das tulpenförmige Weinglas mit dem selbst gekelterten Riesling, auf den er so stolz war, gegen das Licht gehalten hatte. Es war das erste Mal seit dem Antritt der Reise, dass er mir in den Sinn kam. »Eine schöne Farbe. Wollen Sie ihn probieren?«

Ich probierte. Ein wunderbarer Wein. Der Mann aus dem Norden wurde mir immer sympathischer. Ich brachte es mit dem steigenden Alkoholspiegel in Zusammenhang. Auch an Emma musste ich denken. Ihre Beurteilung meiner Kochkunst, die mich so enttäuscht hatte, erschien mir nun eher erheiternd.

»Woran denken Sie?«, fragte Anders.

»Weshalb?«

»Weil Sie lächeln.«

»Ach, an nichts Besonderes. An eine Freundin aus Wien mit merkwürdigen kulinarischen Vorlieben.«

Nachdem wir bezahlt hatten, trat Vittorio mit einer schlanken, eine gelbe Flüssigkeit enthaltenden Flasche ohne Etikett und mit drei kleinen Gläsern an unseren Tisch. Er zog einen Stuhl heran, setzte sich zu uns und schenkte den Likör ein.

»Limoncello aus unseren Zitronen, den größten und saftigsten in ganz Italien. Eiskalt, so, wie es sich gehört. Mit den besten Empfehlungen von meiner Alten und dem Drachen. Cincin!«

Wir prosteten einander zu und tranken. Der Übersetzer wies mit schlaffer Hand auf mich. Eine kraftlose, aber elegante Geste.

»Vittorio, darf ich dir –« Er verstummte und blickte mich fragend an. »Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen.«

»Sissi. Sissi Fux.«

»Das ist Sissi Fux. Aus Österreich.«

»Österreich«, brummte der Wirt. »Gehört nicht zu meinen Favoriten. Da sind mir ja die Deutschen noch lieber.« Er lachte laut und schlug Anders auf die Schulter. »So wie der da! Österreich, na, ich weiß nicht … Kam da nicht auch die Frau her, die vor zwei Jahren ertrunken ist?«

»Genau. Regina König. Die Sängerin«, sagte Anders. »Die Polizei hat damals den Ehemann verhört und mich gebeten zu dolmetschen.«

Mit einem Mal war ich nüchtern.

»Also, wenn du mich fragst, an der Sache war was faul«, sagte der Wirt und trank sein Glas aus. »Oberfaul. Sie kamen öfter hierher, haben groß getafelt. Nach ein paar Gläsern von unserem schweren Wein konnten sie ziemlich laut werden. Vor allem die Gnädige, die immer so vornehm tat. Die beim Gehen ein paar Zentimeter über dem Boden schwebte, wie die heilige Cäcilia. Die Grazie in Person. Da klang ihre Stimme nicht mehr so engelsgleich wie damals, als sie in der Kirche die Messe gesungen hat. Ich verstehe ja kein Deutsch, aber was sie sich da an den Kopf geworfen haben, das waren keine Koseworte! Und dann die Verzweiflung des Ehemannes, nachdem sie verschwunden war. Fausto, der Polizist, der mit dem Fall zu tun hatte, hat mir erzählt, dass der Typ gar nicht mehr aufgehört hat zu heulen. Das ist doch übertrieben! Ich sag dir, Anders, da stimmt was nicht.«

Er tippte sich mit dem rechten Zeigefinger an die gerötete, von blauen Äderchen durchzogene Nase. Wahrscheinlich Alkoholabusus. Nichts Ungewöhnliches bei einem Wirt.

»Schön ist er nicht, mein Zinken«, fuhr er fort, »aber seine Witterung ist ziemlich fein. Außerdem hat Gabriela –« Er wandte sich erklärend zu mir. »Also, meine Alte, Gabriela, hat den Ehemann mit Elettra gesehen, der Tochter von Luigi, dem Lotsen, die als Stubenmädchen in der Pensione Paradiso gearbeitet hat, wo das Ehepaar wohnte. Die Kleine war damals sechzehn. Wenn nicht fünfzehn. Jedenfalls hat meine Alte sie gesehen. In einem Boot, in der Bucht zwischen Punta Ottimo und Punta Serra. Ein Ruderboot am Strand. Gabriela ist ein Kind des Volkes und bei Gott nicht prüde, aber was sie da gesehen und gehört hat …« Er schwieg. »Ach, die Reichen!«, sagte er dann und stand auf. »Alle gleich! Heuchlerisches Pack! Nur auf Geld und Sex aus. Auf möglichst frisches Fleisch.« Er hob den Kopf, riss den Mund weit auf und gähnte geräuschvoll. »Wie auch immer, ich geh ins Bett. Sperrstunde!«

Das böswillige Geschwätz hörte nicht auf. Hier langweilten sich die Leute offenbar ebenso wie im Sausal. Ich fragte mich, wie Vittorios Frau und seine Schwiegermutter aussahen. Sie waren den ganzen Abend nicht zu sehen und kaum zu hören gewesen.

Gemeinsam verließen der Mann aus Hamburg und ich die Trattoria. Ich ging zum Fahrrad, das an der Mauer lehnte.

»Gott sei Dank, es ist noch da«, sagte ich. »Ich habe nämlich kein Schloss, wissen Sie.«

Der Übersetzer nahm seine Zigarette aus dem Mund, blieb abrupt stehen und starrte auf das Rad.

»Das ist mein Fahrrad«, sagte er tonlos.

»Wie bitte?«

Im Grunde erstaunte mich seine Behauptung nicht sehr. Es war durchaus stimmig. Manchmal geschahen eben sonderbare Dinge.

»Ja, es gehört mir. Irrtum ausgeschlossen. Die Farbe – ich habe es selbst gestrichen, es war ziemlich rostig. Auch die Form, der rosa Sattel. Unverkennbar. Man hat es mir gestohlen, vor einem Monat ungefähr. Wo haben Sie es her?«

Er blickte mich argwöhnisch an. Sein Misstrauen ärgerte mich.

»Was denken Sie denn? Sie wissen doch, dass ich erst gestern angekommen bin. Signor Smaldone von der Pensione Paradiso hat es mir geliehen. Er hat es auf einer Müllhalde gefunden und repariert.«

Anders besah sich das Rad.

»Unglaublich«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Es ist jetzt in besserem Zustand als vorher.«

»Sie müssen das mit dem Pensionswirt besprechen«, sagte ich. »Ich gebe es natürlich sofort zurück.«

»Nein, nein, behalten Sie es nur, solange Sie hier sind«, sagte er. »Ich bin nicht oft damit gefahren. Aber dieser Zufall! Eigenartig.«

»Ja, eigenartig«, sagte ich und musste lächeln. Als wir am Fuß der Treppe angekommen waren, nahm er mir die Lenkstange aus der Hand, während er weiterrauchte.

»Lassen Sie mich das Rad schieben«, sagte er. »Ich sehe schwach aus, aber ich bin zäh.«

Er krümmte sich und hustete seinen krächzenden Raucherhusten. Wir standen direkt unter einer Straßenlampe. Jetzt erst sah ich, dass jemand einen Zettel unter den Gepäckträger geklemmt hatte.

»Was ist denn das?«, sagte ich und zog den Zettel heraus.

»Ein Strafmandat«, sagte Anders. »Falsch geparkt.« Sein Krächzen ging direkt in ein heiseres Lachen über, das sich kaum von seinem Husten unterschied. Es gefiel mir sehr. Ich faltete den Zettel auseinander.

Wir brauchen hier keine Schnüffler, stand darauf. In Blockbuchstaben. Mit grünem Filzstift geschrieben.

Anders nahm mir den Zettel aus der Hand.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. »Sind Sie die Schnüfflerin?«

Ich beschloss, ihn ins Vertrauen zu ziehen. Ein Mann mit einem solchen Lachen verdiente es.

»Ich war mit dem Ehepaar König gut befreundet«, sagte ich.

»Tatsächlich? So ein Zufall. Eigenartig«, sagte Anders.

»Ja, eigenartig.«

Nun lachten wir beide.

»Zum Lachen ist das gar nicht«, sagte der Übersetzer dann. »Eine traurige Sache, der Unfall.«

»Es waren sie, die mir die Pensione Paradiso empfohlen haben«, erklärte ich. »Schon vor Jahren. Ich hatte seit langem die Absicht, die Insel zu besuchen, weil sie mir oft davon vorschwärmten. Nur die Pensionswirtin und das Stubenmädchen wissen, dass ich das Paar gekannt habe.«

»Und ich weiß es jetzt auch«, sagte Anders und lachte wieder. »So sind wir schon drei. Sie sind ganz schön vertrauensselig.«

»Wahrscheinlich hätte ich niemandem davon erzählen sollen«, sagte ich.

»Wohl besser nicht. Vielleicht hat Vittorio recht. Ich bin aus der Sache nicht ganz klug geworden. Es gab einige Ungereimtheiten. Das Ganze ist jedenfalls nicht eindeutig geklärt, weil die Leiche der Frau nie gefunden wurde. Wie sehen Sie die Sache eigentlich?«

»Für mich stand immer fest, dass Regina ertrunken ist«, sagte ich. »Ihr Mann hat es so dargestellt, dass es keinen Zweifel gab. Aber später – Und wenn Sie meinen, dass es – dass da – Und jetzt dieser Zettel …«

Wir stiegen die Treppen hinauf. Es ermüdete mich, nach dem üppigen Essen. Der Deutsche schob das Fahrrad keuchend über die Stufen. Ganz so zäh war er wohl nicht. Eine Weile redete er nichts, dann blieb er stehen und begann erneut zu husten. Nachdem er sich gefasst hatte, sagte er: »Da gab es diese Sache mit den drei Männern und dem Motorboot aus Neapel. Sie kommen öfter hierher. Undurchsichtige Typen, man weiß nicht genau, was sie machen. Geschäfte jedenfalls. Vielleicht haben sie etwas mit der Camorra zu tun, kann sein. Jedenfalls hat damals die Witwe Ciaccioppoli, eine alte Frau, behauptet, sie habe Muscheln gesucht und vom Ufer aus mitangesehen, wie die drei die Österreicherin aus dem Wasser ins Boot zogen und mit ihr weiterfuhren. Die Signora Ciaccoppoli hat sich bei der Polizei gemeldet, nachdem sie gehört hatte, dass eine Touristin verschwunden war. Aber da sie demenzkrank ist, ließ man ihre Zeugenaussage nicht gelten. So jedenfalls hat es mir Fausto Sacco geschildert, der Polizist, der das Protokoll aufgenommen hat. Im Palazzo Catena, wo ich arbeite, ist nämlich auch die Polizei untergebracht. Wir benützen die gleichen Toiletten. Das verbindet. Da kommt man zum Reden.«

Wieder lachte er sein heiseres Lachen. Dann blieb er stehen und zündete sich eine neue Zigarette an. »Wissen Sie was? Ich habe eine Idee. Weshalb gehen Sie nicht zu Fausto und sprechen mit ihm? Ich stelle gern den Kontakt her.«

Am folgenden Morgen servierte Signora Smaldone mir und dem morosen, leichenblassen Signor Tucci am Nebentisch wieder das Frühstück. Ihre Schritte waren noch hastiger, das Klicken ihrer Absätze noch resoluter als tags zuvor. Sie war schweigsam, stellte mir das Kännchen mit dem Kaffee so nachdrücklich auf den Tisch, dass er überschwappte, und schenkte mir auch nicht ein.

»Ich habe gehört, Sie haben gestern Abend in der Trattoria Gabriela gegessen« sagte sie schließlich wie nebenbei. »Hat es Ihnen geschmeckt?«

Daher wehte also der Wind.

»Es war nicht schlecht«, sagte ich vorsichtig.

»So?« Sie klang pikiert. »Signor Tucci zieht es jedenfalls vor, hier zu Abend zu speisen. Er hatte noch nie Grund zur Klage. Nicht wahr, Signor Tucci?«

»Nein, niemals«, sagte der junge Mann, ohne sie anzusehen, griff sich an den Magen und stand leise stöhnend auf. »Auf Wiedersehen, die Damen.«

Er ging schleppenden Schrittes zur Tür hinaus.

»Da hören Sie es«, sagte Signora Smaldone zufrieden. »Aber ganz wie Sie meinen. Haben Sie übrigens Peppina gesehen? Die Schwiegermutter?«

»Nein, ich glaube, sie stand die ganze Zeit in der Küche.«

»Ha!« Die Signora lachte auf. »Da haben Sie recht, man bekommt sie selten zu Gesicht. Und wissen Sie, weshalb?« Sie lächelte schadenfroh, ihre Miene ließ mich erneut an meine Großmutter, die Hexe, denken, an den Ausdruck, den ihr Gesicht nicht selten annahm. »Sie schielt stark. Einwärts. Ihr Anblick würde den Gästen den Appetit verderben.«

Ich nickte.

»Innenschielen« sagte ich. »Wahrscheinlich wurde es nie behandelt. Wäre sicher leicht mit einer Brille zu korrigieren gewesen.«

»Ach, was wissen Sie schon davon? Sie hat den bösen Blick, ganz einfach – so wie die Einäugigen und die Rothaarigen und die, deren Augenbrauen zusammengewachsen sind. Das ist der wahre Grund, weshalb Vittorio sie fast immer in der Küche einsperrt. Damit sie möglichst wenig Schaden anrichten kann. Glauben Sie mir, wir in Süditalien kennen uns aus mit dem Malocchio. Wer will schon einen solchen Blick auf sich ziehen? Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen und Übelkeit sind noch die harmlosesten Folgen. Natürlich kann einen auch Schlimmeres treffen, Unfruchtbarkeit und Impotenz, Lähmungen, geistige Umnachtung …« Sie machte eine kleine Pause, trat zu mir an den Tisch und beugte sich zu meinem Ohr hinunter. »Sogar der Tod«, flüsterte sie. »Der Malocchio leert die Häuser und füllt die Särge. Das weiß jeder.«

Ich vermied ihren Blick und schaute geradeaus. Die Hypothesen der Signora waren mir peinlich. Und ein bisschen unheimlich. Da sah ich Mirella an der offenen Tür vorübergehen. Sie bedeutete mir mit einer kleinen Geste, ihr zu folgen.

Die Dame des Hauses richtete sich wieder auf, küsste geschwind das kleine rote Hörnchen an ihrer Halskette und sprach in normalem Ton weiter. »Die Signora Regina war öfter in der Trattoria Gabriela. Was soll ich Ihnen sagen?« Sie hob die Schultern, breitete die Arme aus und zog die Mundwinkel hinunter. »Peppina hat sie gesehen und auf der Stelle glühend beneidet. Ist es ein Wunder? Und der missgünstige Blick einer Schielenden ist ein starker Schadenzauber. Leider konnte sich die Signora, dieses Lämmchen, naiv und gutgläubig, wie sie war, nicht dagegen wehren. Sie hat von niemandem schlecht gedacht, das edle Geschöpf! Sicher war ihr nicht einmal die corna bekannt, die Geste, mit der man sich schützen kann.« Die Wirtin hob die Hand, spreizte den Zeigefinger und den kleinen Finger von der Faust ab und stieß sie mir entgegen. »Ach, ihr Touristen aus dem Norden seid doch völlig ahnungslos«, sagte sie dann resigniert, ließ die Hand fallen, drehte sich um und verließ den Raum. Gleich darauf stand auch ich von meinem Tisch auf und ging zurück in mein Zimmer.