9

Am Morgen darauf nahm ich das Aliscafo nach Neapel. Es war kalt und windig, Himmel und Meer hatten denselben schiefergrauen Farbton. Mit der U-Bahnlinie eins fuhr ich bis zur Station Piscinola. Als die Türen sich öffneten, ertönte ein heulendes Signal. Ein paar Leute hasteten aus den Waggons, ich eilte mit ihnen mit. Im Aufzug bekreuzigte sich eine junge Frau.

Ich ging durch die menschenleeren Straßen, sah mich um. Ein Vorort von schwer überbietbarer Tristesse, desolate Zweckbauten aus den siebziger Jahren, hässliche große, von Stahlzäunen umgebene Wohnkomplexe, halbfertige Betonskelette, der beißende Geruch von schwelendem Plastikmüll. Kein Geschäft, keine Bank, kein Supermarkt. Auf der Fahrbahn spielten drei Kinder. Über allem der bedeckte Himmel.

Eines der Kinder, ein kleiner Junge, stellte sich vor mich hin und schaute mich aus großen schwarzen Augen mit langen, aufgebogenen Wimpern starr an. Eine schlecht oder gar nicht behandelte einseitige Lippenspalte zog sich von seiner Oberlippe bis zum Nasenloch. Eine Hasenscharte. Er grinste, schob sich den Lauf seiner großen gelben Plastikpistole zwischen die Lippen und drückte ab. Dann nahm er die Pistole aus dem Mund, zielte auf mein Gesicht, drückte abermals ab, blies den imaginären Rauch von der Mündung und lief zu seinen Freunden zurück. Alle drei blickten in meine Richtung und lachten, dann liefen sie um eine Ecke.

Ich ging weiter, suchte schließlich unter dem Plexiglasdach einer ramponierten Bushaltestelle Schutz vor dem Wind und faltete den Stadtplan auseinander, den Achille mir überlassen hatte. Die Via dell’ Abbondanza musste in der Nähe sein. Zwei dicke Frauen mit Einkaufstaschen, bunte Wolltücher um Kopf und Oberkörper geschlungen, stellten sich zu mir und musterten mich eine Zeitlang schweigend von der Seite.

»Scheußliches Wetter«, sagte die eine, etwas Größere, schließlich. Sie lispelte ein wenig.

»Wissen Sie, wo die Via dell’ Abbondanza ist?«, fragte ich. »Sie kann nicht weit sein.«

Die Frauen sahen mich erstaunt an.

»Sie sind hier fremd, das merkt man gleich«, sagte die Kleinere. »Wir sind hier auf der Via dell’ Abbondanza!«

Die Größere zog eine plumpe Hand unter ihrem Tuch hervor und beschrieb damit eine umfassende, halbkreisförmige Geste. »Sehen Sie sich doch um – abbondanza! Was für ein treffendes Wort für dieses Stadtviertel, nicht wahr?«

Sie lachte, laut und herzhaft, sodass das Fleisch ihres fülligen Oberkörpers auf und ab hüpfte. Dann kramte sie in ihrer Einkaufstasche, lange und umständlich, fand schließlich ihre Geldbörse, öffnete sie, entnahm ihr ein Foto und zeigte es mir. Es war ein abgegriffenes, unscharfes, leicht braunstichiges Schwarzweißfoto, auf dem vor einem Hintergrund aus Olivenbäumen inmitten von Schafen und Ziegen ein dünnes Mädchen mit einem langen Stab in der Hand stand.

»Das bin ich, mit meiner Herde«, sagte sie und klopfte mit dem Zeigefinger auf die kleine, helle Figur. »So hat es früher hier ausgesehen, eine ländliche Gegend. Die reine Idylle. Es gab einfache Wirtshäuser, Bauernhöfe, Ziegen, Schafe, Olivenhaine, man konnte den Vesuv sehen, auch das Meer und die Inseln. Dann, nach dem Erdbeben von 1980, kam der sogenannte soziale Wohnbau. Sozial!«

Wieder lachten die beiden.

»Die obdachlos gewordenen Familien sind hierhergezogen«, setzte die kleinere Frau fort, »die kinderreichsten, ärmsten. In diesem Ghetto leben heute siebzigtausend Menschen, die meisten von den Drogen. Es gibt kaum Geschäfte, Brot kaufen ist ein Problem! Dafür haben sie uns das Gefängnis hergebaut und lassen die Zigeuner hier hausen, unter der Autobahntrasse – wir kriegen alles, was niemand will. Sie haben uns abgeschrieben.« Die Frau sah mich an und nickte. »Jawohl, abgeschrieben. Wir sind die Letzten.«

»Der Abschaum«, warf die Größere ein.

»Genau, der Abschaum«, wiederholte die Kleinere. »Die Verdammten von Neapel.« Sie machte eine Pause und musterte mich erneut von oben bis unten. »Wo wollen Sie denn hin, Signorina?«

»Kennen Sie vielleicht –«

Die größere Frau unterbrach mich.

»Nicht, dass Sie Angst haben müssten«, lispelte sie. »Auf der Straße überfällt sie keiner, die Leute haben Geld, das Geschäft mit den Drogen rentiert sich. Zumindest verdient man sich ein bisschen dazu. So wie meine Nachbarin hier.« Sie stieß die Kleinere in die Rippen. »Nicht wahr, Valentina? Für die Klavierstunden deiner Tochter.«

Valentina grinste und zuckte die Achseln.

»Was soll man machen?«, sagte sie. »Die Familie muss leben.«

»Aber wenn Sie einen der Wohnblocks betreten wollen«, fuhr die andere fort, »dann wird es schwierig. Wer ein und aus geht, wird kontrolliert. Sie halten einen an, stellen Fragen: Wer bist du? Was willst du hier? Zu wem möchtest du?« Sie blickte ihre Bekannte an. »Wenn wir in unser Haus wollen, müssen wir uns in eine Schlange von Süchtigen einreihen. Sage ich die Wahrheit oder nicht, Valentina?«

Valentina nickte.

»Die reine Wahrheit«, bestätigte sie. »Man braucht nicht einmal die Wohnung zu verlassen, um die Ware loszuwerden.«

»Ja, so weit ist es gekommen, Signorina«, sagte die größere Frau und seufzte.

Ein elegantes schwarzes Sportcoupé mit getönten Scheiben rollte langsam und geräuschlos an uns vorüber. Valentina packte ihre Bekannte am Arm.

»Hast du gesehen, Federica? Das war Lorenzo. Mit Aldo, dem Sohn von Concetta. Der ist doch vor kurzem noch im Gefängnis gesessen, oder nicht?« Sie wandte sich an mich. »Das sind Dealer. Die haben sich schon hochgearbeitet, haben schon ein paar andere ausgeschaltet. Aber sie sind immer noch Handlanger.«

»Genau. Fußvolk.« Federica nickte. »Die Bosse lassen sich hier nicht blicken, sie wohnen in Posilippo, in Capri, Spanien, Amerika, was weiß ich …«

Mittlerweile war mir ziemlich kalt.

»Gibt es hier in der Nähe eine Bar degli amici?«, fragte ich.

»Ja, gleich da vorne«, sagte Valentina. »Es ist die einzige Bar weit und breit. Vor dem Haus sitzt einer auf der Mülltonne, mit einer Spritze, und drückt sich gerade was rein. Sehen Sie ihn? Dort ist es.«

»Vielen Dank«, sagte ich und ging in die Richtung, die sie mir gewiesen hatte. Schräg rechts über mir, nicht sehr hoch, kreiste ein Hubschrauber. Der Typ mit der Spritze bemerkte mich nicht.

»Meine Großmutter? Das gibt’s ja nicht!«, sagte der Enkel der Signora Ciaccoppoli, schlug sich auf die Oberschenkel und lachte. »Die Alte hat vielleicht Nerven!« Er wandte sich an seinen Nachbarn. Wir saßen zu dritt um einen kleinen runden Blechtisch. »Hast du gehört, Salvatore? Die Nonna hat sie geschickt. Wegen dieser Deutschen damals, du weißt schon. Die wir mitgenommen haben. Als wir mit dem Boot in Procida waren.«

»Ach, die!«, sagte Salvatore und pfiff durch die Zähne. »Nicht mehr die Jüngste, aber ganz schön scharf.«

»Österreicherin«, sagte ich.

»Ist doch egal«, sagte Salvatore. »Hauptsache, wir haben unseren Spaß mit ihr gehabt. Zuerst im Boot und später in der Wohnung von Gianluca.«

»Dann kam noch dein Bruder dazu. In der Wohnung. Und Gianlucas Cousin.« Dante Gabriele grinste.

»Genau«, sagte Salvatore, nickte und grinste ebenfalls. »Jetzt fällt es mir wieder ein. Die Frau war echt nicht schlecht. Hat uns gut bedient.«

»Du hast ihr deinen Anhänger geschenkt, weißt du noch? Dieses große S, das du immer um den Hals getragen hast. An dem schwarzen, geflochtenen Lederband. Sie hat es dir abgeluchst.« Der junge Mann lachte. »Mitten im Geschehen.«

»Du sagst es! Sie wollte das Ding unbedingt haben. Für ihren Mann, hat sie gesagt und sich kaum eingekriegt vor Lachen. Da hab ich es ihr um den Hals gehängt. Das ärgert mich noch heute. Ein Geschenk meiner Mutter. Aus Kupfer. Ein Glücksbringer. Sah aus wie eine Schlange. Die Schuppen waren fein herausgearbeitet, und die Augen waren zwei kleine Smaragde. Ziemlich teuer.«

»Du warst stockbesoffen.«

»Wir waren alle stockbesoffen.«

Sie lachten laut.

Ich hatte nicht lange warten müssen, bis die beiden erschienen waren. Bei meinem Eintreten hatten die wenigen Gäste aufgeblickt und waren verstummt. Ich setzte mich in einiger Entfernung von ihnen an einen Tisch im hinteren Teil des großen, kalten Raumes, von dem aus man durch eine Tür in ein Hinterzimmer sehen konnte, in dem ein paar alte Billardtische mit abgenutztem Filzbelag standen. Da die stark geschminkte, nicht mehr junge Frau hinter dem Schanktisch keine Anstalten machte, mich zu bedienen, stand ich nach einer Weile auf und ging zu ihr hin.

»Einen Espresso, bitte«, sagte ich.

»Fremde sind hier nicht willkommen.«

»Ich warte auf Dante Gabriele.«

Ein abschätziger Blick aus honigbraunen, mit breitem schwarzem Lidstrich umrahmten Augen und dick getuschten Wimpern.

»Was Sie nicht sagen! Sind Sie Journalistin?«, fragte sie.

»Nein. Eine Bekannte.«

Meine Behauptung schien die Kellnerin nicht zu überzeugen.

»Ständig kreuzen Schnüffler auf, glotzen uns an, wollen alles Mögliche wissen und bemitleiden uns. Widerwärtig!«, sagte sie und zog die Mundwinkel voll Abscheu hinunter. Ihre Lippen waren bis weit über den Rand hinaus grellrosa bemalt. Auch der Plastikhaarreifen, der ihr langes, gefärbtes, strähniges blondes Haar zurückhielt, war grellrosa. »Als wären wir im Zoo! Keine Ahnung, ob der Kleine heute kommt.« Sie stellte eine dicke weiße Tasse auf die durchlöcherte Metallplatte der Espressomaschine, einer alten Gaggia Achille mit Manometer und Handhebel. Ich war seit längerem auf der Suche nach einem solchen Gerät. »Glauben Sie, wir leben freiwillig hier?«, fragte die Frau. »Sehen Sie sich meine Tochter an: mit vierzehn das erste Kind. Zwei Jahre später ist der Mann weg. So ergeht es den meisten Frauen. Die Kinder landen auf der Straße. Meine Tochter kann von Glück reden, dass ich den Job hier habe und sie finanziell unterstütze. So kann sie sich um ihre Söhne kümmern. Sie sind sieben und neun. In dem Alter entscheidet sich schon das meiste. Sie sehen die Dealer, kriegen mit, wo man die Drogen versteckt, wie die Größeren in den Autos Crack inhalieren. Ein paar Jahre später fangen sie als Wachtposten an. Eine gefährliche Sache. Eins von zehn Kindern kann sich raushalten.«

Sie blickte in Richtung Eingang. »Sie haben Glück«, sagte sie. »Hier kommt der Kleine. Mit Salvatore. – Sagen Sie, hören Sie mir überhaupt zu?«

»Würden Sie mir die Gaggia verkaufen?«, fragte ich. »Unter Umständen?«

Die Kellnerin blickte mich entgeistert an.

»Wie bitte?«

»Nur eine Frage.«

Wie zu erwarten war, war die Maschine unverkäuflich.

Jedenfalls fand ich Dante Gabriele und seinen Genossen nicht unsympathisch. Offenbar hatte die Signora Ciaccoppoli mit ihrer Vermutung recht gehabt. Regina war aus freien Stücken mitgekommen und hatte sich mit den drei Männern vergnügt.

»Wann ist sie gegangen?«, fragte ich. »Und wohin?«

»Ich weiß es nicht mehr. Sie blieb ein paar Tage, nicht wahr, Kleiner?«

»Ja, zwei, drei Tage«, sagte Dante Gabriele und hob mehrmals rasch die Augenbrauen. »Und Nächte.«

»Und Nächte! Genau!« Salvatore schüttelte den Kopf. »Eine wilde Sache. Am Ende war ich total erschöpft. In der letzten Nacht bin ich irgendwann eingeschlafen. Als ich aufwachte, war sie nicht mehr da. – Wollen Sie noch einen Grappa?« Er wartete meine Antwort nicht ab, schnippte mit den Fingern und rief: »Noch drei Grappa, Antonella!«

»Ich erinnere mich noch«, sagte Dante Gabriele. »Sie hat angerufen. Als es hell wurde, hat sie jemanden angerufen. Keine Ahnung, was sie gesagt hat, sie hat Deutsch gesprochen. Ganz schön laut. Sie war wütend. Wir waren alle ziemlich erledigt. Ich hab Kaffee gekocht, und sie hat mich gebeten, sie zum nächsten Taxistand zu begleiten. Das war’s dann. Ich hab sie nie mehr gesehen. Schade eigentlich. Geile Frau, die Deutsche.«

»Österreicherin«, sagte ich.

»Ist doch völlig egal«, sagte Salvatore. »Hauptsache, wir haben Spaß gehabt. Hätten Sie nicht auch Lust, sich ein bisschen zu amüsieren, Signorina?«

Auf der Rückfahrt mit der Fähre saß ich unter Deck, meinen dünnen Mantel eng um mich gezogen, die Arme überkreuzt und die Hände in die Ärmel gesteckt, und schaute hinaus auf das stürmische Meer. Weiße Schaumkronen schaukelten auf den Wellen. Es war kalt, feucht, zugig. Ich fragte mich, wie weit man dem Bericht der beiden jungen Männer Glauben schenken konnte. Sie mochten mit der Camorra in Verbindung stehen, aber sie hatten ganz unbefangen erzählt und nicht den Eindruck gemacht, dass sie logen. Wenn sie die Wahrheit gesagt hatten, dann war Regina an jenem Frühlingstag vor zwei Jahren nicht ertrunken. Wen hatte sie von der Wohnung in Neapel aus angerufen? Stefan? Es lag nahe. Oder jemand anderen in Österreich? Was war geschehen? Hatten sie und Stefan sich auf dem Ausflug nach Vivara gestritten? Nach den Passagen aus Reginas Journalen zu urteilen, die ich gelesen hatte, war es ohne weiteres möglich, dass sie sich auf Sex mit ein paar fremden jungen Männern eingelassen hatte, Stefan zum Trotz. Um ihn vor den Kopf zu stoßen. Oder einfach, weil sich die Gelegenheit geboten und sie Lust gehabt hatte.

Wohin hatte sie sich danach vom Taxi bringen lassen? Zum Hafen? War sie wieder nach Procida gefahren? Oder zum Bahnhof – um den nächsten Zug zurück nach Österreich zu nehmen? Es gab viele Möglichkeiten. Hatte sie beschlossen, nach dem Scheitern ihrer Ehe ein neues Leben ohne Stefan zu beginnen? Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie bereit war, ihren Beruf, ihre Kontakte, ihre ganze komfortable Existenz aufzugeben. Hatte sie einen ihrer Liebhaber aufgesucht, um bei ihm zu bleiben? Im Ausland vielleicht?

Bisher hatte ich mich auf einzelne Ausschnitte aus Reginas Tagebüchern konzentriert, hatte nicht zusammenhängend gelesen, wusste nicht, wann ihre Aufzeichnungen endeten. Vielleicht hatte sie die letzten Eintragungen in Procida vorgenommen? Das ließ sich herausfinden.

Regina war nicht ertrunken.

Und Stefan – hatte er mich belogen? Aus welchem Grund? Wenn er es gewesen war, den sie angerufen hatte, dann wusste er, dass sie lebte, dass sie nicht im Wasser den Tod gefunden hatte. Weshalb hielt er dann weiterhin an der Begründung fest, die die italienische Polizei offiziell für Reginas Verschwinden angegeben hatte? Weil er die Ungewissheit nicht ertrug?

Plötzlich wurde mir übel. Sicher war es der hohe Seegang, die schwankende, schlingernde Bewegung der Fähre. Ich stand auf, ging rasch zu einer der Toiletten und erbrach mich.

In meinem Zimmer in der Pension setzte ich mich an den Laptop und steckte den USB-Stick an. Reginas Aufzeichnungen endeten im Jänner 2001. Zu diesem Zeitpunkt war die Ehe meiner ehemaligen Freunde längst zerrüttet, doch sie wahrten weiterhin den Schein:

»Inzwischen bin ich vorsichtiger geworden, hüte mich, Seitensprünge zuzugeben. In letzter Zeit spricht Stefan davon, eine Scheidungsklage einzubringen, er versucht mich auf diese Weise unter Druck zu setzen, mich gefügig zu machen. Es ist sein letzter Trumpf. Er weiß, daß ich finanzielle Einbußen nur ungern in Kauf nehmen und nicht ohne weiteres auf das angenehme Leben verzichten würde, das er mir ermöglicht. Daß ich die soziale Fassade, die wir aufgebaut haben, aufrechterhalten möchte. Sie ist sehr zweckmäßig: die sensible, begabte, sympathische Sängerin, dazu berufen, die Menschen mit ihrer Stimme zu erfreuen, und der selbstlose, hart arbeitende Arzt, bereit, sein Leben der Heilung kranker Kinder zu widmen. Zwei Stützen der Gesellschaft, einander rückhaltlos ergeben. Was für eine Farce!

Bei offiziellen Anlässen treten wir nach wie vor gemeinsam auf. Es bereitet mir keine Schwierigkeiten, die strahlende Ehefrau zu spielen, im Gegenteil, es macht mir Spaß, die Leute irrezuführen. Ich bin mir sicher, niemand käme auf die Idee, in uns etwas anderes zu vermuten als ein erfolgreiches, gutaussehendes, sich nach langen Jahren gemeinsamen Lebens immer noch wunderbar verstehendes Paar in den besten Jahren. Man beneidet uns. Ich lasse mich gern beneiden. Keiner ahnt, daß wir einander hassen. Daß es Haß ist, der uns aneinanderbindet, nicht Wertschätzung, nicht Liebe.

Wie dumm die Menschen sind, wie sentimental! Wie leicht sie sich täuschen lassen! Man kann nicht anders, als sie für ihre Beschränktheit verachten.

Jedenfalls werde ich mich von Stefan nicht einschüchtern lassen, seine Drohungen sind leere Drohungen. Das ist ihm bewußt. Und er weiß, daß ich weiß, daß es ihm bewusst ist. Er hat keinen einzigen stichhaltigen Beweis für meine Untreue, meine mündlichen Geständnisse können nicht vor Gericht verwendet werden. Außerdem bin ich nach wie vor davon überzeugt, daß er nicht imstande wäre, ohne mich zu leben.

Er kommt nicht von mir los. Niemals. Man verläßt mich nicht. Ich werde es nicht zulassen.«

Das war die letzte Eintragung. Ich schaltete den Laptop aus und lehnte mich im Sessel zurück.

Wie sollte ich weiter vorgehen? Welchen Spuren sollte ich folgen? Im Grunde verliefen sie sich in Neapel, an jenem frühen Morgen im Mai vor mehr als zwei Jahren. Meine Nachforschungen ohne die Unterstützung der italienischen Polizei fortzusetzen, war wenig ratsam, es würde sich als mühsam erweisen und kaum zu positiven Ergebnissen führen. Und mit einer derartigen Hilfe war nicht zu rechnen, wie dieser ölige Sovrintendente mir klar und deutlich zu verstehen gegeben hatte. Außerdem blieb mir nur noch wenig Zeit, in zwei Tagen würde ich nach Österreich zurückkehren und meine Arbeit wiederaufnehmen müssen.

Ich war verwirrt, müde und entmutigt. Was ich ausfindig gemacht hatte, stieß mich ab, ernüchterte, deprimierte und schmerzte mich. Ich trat ans Fenster. Es regnete, der Wind trieb die Tropfen in schrägen Bahnen vor sich her. Der Himmel hatte sich verfinstert, obwohl es noch nicht spät war. Im Zimmer war es kalt, und ich schlüpfte unter die Patchworkdecke. Im Halbschlaf zogen chaotische Bilder an mir vorüber, bekannte und fremde Gesichter. Ich sah eine dunkle Wasserfläche, Stimmen flüsterten, lachten, sprachen zusammenhanglose Sätze, erschreckten mich. Schließlich weckte mich das Telefon. Es war der Übersetzer Anders, der für den nächsten Tag einen Spaziergang auf der Insel Vivara vorschlug.

»Das Wetter ist nicht ideal«, sagte er, »aber du sollst nicht abreisen, ohne die Insel gesehen zu haben.« Das Du ging ihm mühelos über die Lippen. Ich hatte nichts gegen die vertraute Anrede. »Es ist mein Lieblingsort hier, einsam und verlassen, voller seltener Pflanzen und Tiere. Voriges Jahr wurde sie in ein Naturschutzgebiet umgewandelt. Außer einem Ornithologen der Universität von Neapel treibt sich dort niemand herum.« Er schwieg. »Hast du Lust?«

Es war die kleine Insel, von der Stefan gesprochen hatte. Wo Regina vor zwei Jahren von einem Felsen ins Meer gesprungen und für immer aus seinem Gesichtskreis verschwunden war.

Angeblich.

»Ja, klar«, sagte ich. »Hab ich.«

»Ein Erdbeerbaum«, sagte Anders, wich vom Weg ab, tat ein paar Schritte in die dichte Macchia hinein und bog den Zweig eines immergrünen Baumes zu sich herab. »Er ist ein Symbol für Italien. Zu dieser Jahreszeit trägt er Blüten und Früchte zugleich, eine Merkwürdigkeit. Grün, Rot und Weiß, die Farben der italienischen Flagge.«

Ich trat zu ihm ins dornige Dickicht, berührte die glockenförmigen weißen Blüten, die wie große runde Walderdbeeren aussehenden roten Früchte, die dunkelgrün glänzenden, am Rand fein gesägten Blätter. Anders pflückte eine Frucht und brach sie auf. Innen war sie gelb.

»Man kann die Früchte essen«, sagte er und streckte mir die offene Hand entgegen. »Probier doch.«

Wieder überraschte mich der Mann aus dem Norden. Ich sah ihn an, wie er dastand im leichten Regen, lang und dünn, fast bucklig, die Kapuze seiner blassgrünen Windjacke über den Kopf gezogen, in einer Hand die Frucht des Erdbeerbaums, in der anderen die Zigarette. Seit über einer Stunde erklärte mir der Übersetzer, der rauchte wie ein Schlot und hustete wie ein Asthmatiker, Flora und Fauna der kleinen Insel. Seine Kenntnisse waren beeindruckend. Wir hatten die Brücke überquert, die Vivara mit Procida verband. Das vom Wind aufgewühlte, an die Brückenpfeiler gepeitschte Meerwasser zerstob zu weißer Gischt, die bis zu uns hochsprühte und deren winzige Tröpfchen, hie und da vom Licht zu kleinen Regenbogenfragmenten gebrochen, uns einhüllten. Dann waren wir über Stufen aus schwarzen Steinen, zwischen denen Gras wuchs, den Hang der halbmondförmigen Insel, die den westlichen Teil eines Kraters bildete, hinaufgestiegen und befanden uns nun auf dem Weg, der wie das Rückgrat eines Fisches von Norden nach Süden verlief. Denn wenn man Procida von seiner Form her mit einem Riesenkraken vergleichen konnte, dann ähnelte Vivara außer einem Halbmond auch einem aus dem Meer aufsteigenden Delfin.

Ich kostete von der Frucht. Sie schmeckte mehlig und leicht süß. Wir gingen weiter, auf einem von nassem Laub bedeckten und von den langen, starken Ästen alter Steineichen überdachten Hohlweg, an einem zerfallenen, von Efeu und Moos überwachsenen kleinen Steinhaus vorüber, aus dem ein bröckelnder Kamin aus roten Ziegeln ragte. Anders trat in ein kleines Farnwäldchen am Wegrand und deutete auf etwas, das auf einem Farnblatt lag und aussah wie ein etwa zehn Zentimeter langes, dünnes Holzstäbchen.

»Eine Mittelmeerstabschrecke«, sagte er. »Ein Weibchen. Die Männchen werden höchstens sechs Zentimeter lang. Gut getarnt, nicht? Bei Tage bewegen sie sich kaum.« Er bog den Farn zurück und betrachtete prüfend die Unterseite. Das Holzstückchen bewegte sich träge. »Ein Tüpfelfarn«, stellte er fest. »Es gibt hier viele Farnarten, Moosfarne, Streifenfarne, Adlerfarne …«

Er richtete sich auf, sah mich an, streckte die Hand aus, die ausnahmsweise keine Zigarette hielt, zog mich zu sich und küsste mich. Sein Fischmund legte sich über meine Lippen, umfasste sie ganz. Ein eigenartiges, nicht unangenehmes Gefühl, trotz des Geschmacks von Nikotin. Eine weiche Besitznahme. Ich sah keinen Grund, mich zu sträuben.

»Das war nachzuholen«, sagte er dann und grinste. »Unbedingt. Nachdem unsere Handys meinen ersten Versuch sabotiert haben.«

Er nahm meine Hand, und wir gingen weiter, vom Gewölbe der Steineichen vor dem Nieselregen geschützt. Seine Hand war kühl, fast kalt, die Finger knochig. Ich sah ihn von der Seite an. Regina und Stefan waren höchstwahrscheinlich denselben Weg gegangen. Nun war ich es, die ihn beschritt, mit einem Übersetzer, einem Koch, einem Botaniker, einem Entomologen. Jedenfalls mit jemandem, der mit meiner Vergangenheit nicht das Geringste zu tun hatte. Es war wohltuend. War er ein Mann für alle Jahreszeiten? Welche Karten hatte er noch im Ärmel? Plötzlich drang die Sonne durch das dichte Laub, fiel auf die Moospolster am Wegrand, die gelbgrün aufleuchteten und in denen Regentropfen glitzerten, und wir traten hinaus auf eine langgezogene, von Sträuchern gesäumte Wiese, an deren anderem Ende ein großes, baufälliges, villenartiges Haus stand, umgeben von etlichen Nebengebäuden. Eine kleine Hochebene, von der aus sich der Blick in alle Richtungen auftat, nach Westen in Richtung Ischia, nach Osten zurück auf die Insel Procida, nach Südosten auf den Golf von Neapel. Unwillkürlich hielt ich die Luft an. Die Aussicht nahm einem den Atem.

»Was hast du?«, fragte Anders, sah mich an und drückte meine Hand.

»So viel Schönheit«, sagte ich. »So viel Offenheit.«

»Nicht wahr?«, sagte er und küsste mich wieder. Ein gefährlicher Mund. Man konnte sich an ihn gewöhnen.

Wir schritten auf das Haus zu, das von wildwachsendem Strauchwerk und Gebüsch umgeben war, von reich verzweigten Feigenkakteen, Agaven mit ihren charakteristischen, meterhohen, bereits vertrockneten Blütenständen, Oleandersträuchern und anderen, mir unbekannten Pflanzenarten. Eine Art Gutshaus, Säulen, Torbögen, Treppen, eine Terrasse, zwei hohe Kamine. Mir fiel das in seiner südsteirischen Umgebung bizarr wirkende, mittlerweile ebenso verfallene Gebäude ein, das mein Vater für meine Mutter hatte erbauen lassen. Im Gegensatz dazu fügte sich dieses Bauwerk harmonisch in die Landschaft ein.

»Das ehemalige Jagdhaus des Herzogs von Bovino«, sagte Anders. »Aus dem Jahr 1681. Ein besonderer Ort.«

Ein graubrauner kleiner Hase saß reglos im Gras und schaute uns aus runden Augen an. Anders blieb stehen und berührte mich am Arm. Plötzlich stieß das Tier einen lauten Pfiff aus, trommelte mit den Hinterläufen auf die Erde und verschwand im Gesträuch.

»Ein Wildkaninchen. Es warnt seine Artgenossen vor uns«, sagte mein Begleiter. »Die Insel ist voll von ihnen. Wahrscheinlich ist es in seinen Bau gerannt.«

»Die sind ja süß!«

»Genau so eines hat Vittorio dir serviert«, sagte Anders, zog an seiner Lucky Strike, blies den Rauch aus und grinste. »Und was wir nicht verspeisen, holen sich die Raubvögel und Eulen, die Marder und Iltisse. Viele überstehen den ersten Winter nicht. Das ist gut so, denn sie vermehren sich – wie die Kaninchen.« Er lachte sein unwiderstehliches, kehliges Lachen.

Wir gingen die unebenen Stufen einer Steintreppe hinauf, über die das gelb verfärbte Laub einer Glyzinie hing, betraten die kleine, von vier bröckelnden Steinpfeilern und einer Steinbank begrenzte und von einer Art Pergola aus durchhängenden, ausgetrockneten Holzpfählen geschützte Terrasse und schließlich das Innere des Hauses. In einem großen, lichtdurchfluteten, teilweise mit einem schönen alten Fliesenboden in Blau, Weiß und Schwarz ausgelegten Raum stand an einer Wand neben einem offenen Fenster ein altarartiger, reichverzierter Aufbau aus hellem Stein. Wir traten näher. Ein Relief zweier kindlicher Engelsköpfe mit stilisierten Flügeln schmückte den mittleren, oberen Teil des Altars. Respektlose Besucher hatten das eine Gesicht mit einem schmalen Kinnbart, das andere mit einem Schnurrbart und einem Ziegenbart versehen. Der Raum daneben war mit einem offenen Kamin ausgestattet, der gleichfalls mit Kritzeleien bedeckt war, ebenso wie die Wände.

Ich verstand nicht, wie man ein solches Bauwerk derart verwahrlosen lassen konnte, teilte Anders meine Bestürzung aber nicht mit. In diesem Umfeld, in diesem Augenblick hätte jedes Wort gestört. Wir verließen das Gutshaus und sahen uns in den Nebengebäuden um, entdeckten an einer von grünem Schimmel befallenen Mauer in einer Ecke eine Feuerstelle, deren geborstene steinerne Abzugsüberdachung von einer schönen alten Säule gestützt war, auch eine verrostete Presse, Fässer aus verrottetem Holz mit schiefen Dauben, eine Mühle mit schweren runden Mühlsteinen. Wieder war ich versucht, Anders zu fragen, ob hier Oliven zu Öl gepresst worden waren, denn ich hatte auf unserem Spaziergang auch Olivenbäume gesehen, und wieder schwieg ich, um den Zauber des Ortes, der Stunde nicht zu brechen. Auch er hatte offenbar kein Bedürfnis zu sprechen, hielt nur meine Hand in seiner, in festem Griff, ließ sie nicht los. Wir gingen wieder ins Freie, versuchten uns einem für sich allein stehenden, schmuck- und fensterlosen Turm in der Form eines plumpen Obelisken zu nähern, den wir von den Fenstern der Villa aus erspäht hatten, was uns wegen des ihn einschließenden Pflanzendickichts nicht gelang. Als wir uns vom Gutshof abwandten, stießen wir noch auf grasüberwachsene, archaisch wirkende alte Weinkeller aus roh behauenen Steinen. Dann gingen wir, uns stumm an den Händen haltend, weiter in Richtung Süden. Auf der Insel war es nicht still, man hörte Vogelrufe, es zirpte, summte, brummte, piepste, trillerte, pfiff, es raschelte, knisterte, knackte, schnarrte und zischte in Gebüsch und Gesträuch. Die Macchia war voller Leben. Inzwischen hatte es aufgehört zu regnen, gelegentlich zeigte sich sogar die Sonne und tauchte die Landschaft kurz in ein intensives gelbes Licht. Der Weg weitete sich zu einer kleinen Lichtung, und mitten auf dieser grünen Fläche stand, durch ein Fernglas zum Himmel aufblickend, ein dünner kleiner Mann mit dichten dunklen Haaren in einem blauen Parka mit einem roten Querstreifen in Brusthöhe. Als er uns kommen hörte, ließ er das Fernglas sinken und blickte uns entgegen.

»Ah, der Vogelkundler!«, sagte Anders. »Ich habe mich schon gefragt, wo er steckt.«

Wir blieben vor dem Mann stehen. Er musste um die fünfzig sein, trug eine randlose Brille und hatte auffallend rote, bartlose Wangen.

»Hallo, Signor Bocchetti!«, sagte Anders. »Heute schon unbekannte Flugobjekte gesichtet?«

»Schönen guten Tag, Signor Anders«, erwiderte der Ornithologe. »Ausnahmsweise einmal in Begleitung auf Ihren Spaziergängen hier, das ist ja neu!« Er verbeugte sich leicht vor mir. »Meine Verehrung, Signorina!«

Es hätte mich gewundert, wenn die beiden sich nicht wie alte Bekannte begrüßt hätten. Anders kannte hier jedermann.

»Eine Freundin aus Österreich, Sissi Fux«, stellte er mich kurz vor und ließ meine Hand los. Eine Freundin, das war ich also. »Sind denn die Flugobjekte bereits auf ihrer herbstlichen Durchreise?«, fragte er dann.

»Natürlich, natürlich!«, rief Signor Bocchetti. »Die Flugrouten sind stark frequentiert. Es geht zu wie auf der A1 zwischen Mailand und Neapel. Ich habe gerade einen Zug von Kormoranen beobachtet. Sie fliegen in V-Formation.« Er wandte sich an mich. »Wissen Sie, Vivara ist ein Rastplatz für viele Zugvögel – Seidenreiher, Kraniche, Kormorane, Störche und so weiter und so weiter und so fort. Zweihundert Arten! Manche bleiben den ganzen Winter über hier.« Er seufzte. »Ach, ein Leben ist viel zu kurz, um sie alle genau zu studieren. Aber ich tue mein Bestes.« Er sah mich an. »Merops apiaster. Kennen Sie den?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte keine Ahnung.

»Nicht? Nicht? Aber das ist doch nicht möglich!«, rief Signor Bocchetti. »Er ist vom Aussterben bedroht!«

»Er meint den Bienenfresser«, warf Anders auf Deutsch ein. Dann sprach er auf Italienisch weiter. »Er frisst tatsächlich Bienen.«

»Ja, ja, er frisst Bienen, er frisst Bienen!«, rief Signor Bocchetti begeistert. »Bienen, Wespen, Hummeln, Libellen, Zikaden! Aber Bienen sind ihm am liebsten. Er kann die giftigen von den ungiftigen Insekten unterscheiden. Ein kluger Vogel – und wunderschön! Leider kommt er erst im Frühling vorbei.« Er packte mich an den Schultern. »Sie müssen im Frühling wiederkommen. Sie müssen! Man kann nicht in Vivara gewesen sein, ohne einen Bienenfresser gesichtet zu haben! Eine Farbenpracht ohnegleichen!« Er stieß mir seinen Zeigefinger in den Bauch, dann in die Brust. »Bauch- und Brustbereich sind türkisfarben.« Hernach klopfte er sich auf den Kopf, den Nacken und den Rücken. »Rücken- und Nackenpartien sind rostbraun.« Er imitierte Flugbewegungen, indem er die Arme abbog und die Ellbogen heftig auf und ab bewegte. Es sah aus, als würde er im nächsten Augenblick abheben und sich seinen geliebten Flugobjekten auf ihrer Reise nach Afrika anschließen. »Die Flügel sind ebenfalls rostfarben und türkis«, setzte er fort. »Und das Kinn –« Er fasste mich an der Kinnspitze. »Das Kinn ist gelb.« Darauf strich er mit beiden Händen über meine Schläfen. »Und dann noch der schwarze Augenstreif. Das leuchtende Gelb, das tiefe Schwarz, ein großartiger Farbkontrast! Ein Wunder, der Vogel, ein echtes Wunder! Und ruffreudig, äußerst ruffreudig noch dazu.« Er spitzte die Lippen. »Prürr! Prürr!«, rief er, danach: »Krük, krük, krük!«, und schließlich: »Pitt, pitt, pitt, pitt! – Aber nur, wenn er aufgeschreckt wird«, setzte er erklärend hinzu. Hierauf schwieg er, blickte mich an und änderte abrupt das Thema. »Aus Österreich sind Sie? Aus Österreich, sagen Sie? Ach, da muss ich Ihnen etwas Unliebsames erzählen. Bedauerlicherweise wurde ich vor zwei Jahren auf dieser friedlichen Insel, auf der praktisch nur Vogelstimmen zu vernehmen sind, Zeuge einer heftigen und lautstarken Auseinandersetzung. Ich befand mich auf einer Anhöhe der Punta di Mezzogiorno, dem südlichsten Punkt der Insel, und war im Begriff, mich an einen Wiedehopf anzuschleichen. Sehr scheue Vögel, die Wiedehopfe, extrem scheu! Da brach der Streit aus, und der Wiedehopf flog fort. Höchst unangenehm. Ich trat näher an den Abhang heran, der zum Meer abfällt, und blickte hinunter, in die Richtung, aus der das Gezeter kam. Ein Mann und eine Frau, beide in Badekleidung, standen auf einer Felsplattform zwei, drei Meter über dem Meer und schrien einander in einer mir unbekannten und unschönen Sprache an. Sie waren sehr erregt. Plötzlich schlug die Frau den Mann ins Gesicht, worauf er sie an den Rand der Plattform drängte und ins Meer stieß. Ich war entsetzt. So benimmt man sich doch nicht in einem Vogelschutzgebiet! Noch vom Wasser aus schimpfte die Frau auf ihn ein. Sie schwamm von ihm weg, schließlich verschwand sie hinter einem Felsen, und ich sah sie nicht mehr.« Signor Bocchetti machte eine kleine, nicht unwirkungsvolle Pause. »Zwei Tage später musste ich unserer Tageszeitung Il Mattino entnehmen, dass die Frau ertrunken war. Sie kam aus Ihrer Heimat – deshalb ist mir der unerfreuliche Vorfall jetzt in den Sinn gekommen. Ich bitte um Verzeihung, aber wie Sie sich vielleicht vorstellen können, hielt sich mein Mitgefühl für Ihre beiden Landsleute in Grenzen. Mir mit ihrem unbeherrschten Verhalten den Wiedehopf zu verscheuchen! Eine so rare Spezies! Sein Ruf ist unverwechselbar.« Wieder spitzte er die Lippen. »U-pu-pu! U-pu-pu! U-pu-pu!«, flötete er.

Sicher hätte der Vogelkundler uns noch länger über sein Fachgebiet unterrichtet und weitere Rufe seiner gefiederten Freunde nachgeahmt, wenn Anders das zufällige Treffen nicht höflich, aber entschlossen beendet hätte. Signor Bocchettis »U-pu-pu-pu!« war noch eine Zeitlang deutlich zu vernehmen.

Wir gingen weiter, mitten durch die Macchia hindurch, bis zur Punta di Mezzogiorno, dem Ort, von dem der Ornithologe gesprochen hatte. Ich wollte die Stelle mit eigenen Augen sehen, an der sich meine beiden Freunde, jedenfalls laut Stefans Behauptung, für immer getrennt hatten. Signor Bocchetti hatte ihren Badeausflug völlig anders dargestellt als Stefan, der mir die pure Idylle geschildert hatte, ja, nach seiner Beschreibung in Tränen der Trauer, der Rührung, der Liebe ausgebrochen war. Auf Schritt und Tritt begegneten mir hier Menschen, die das Paar gesehen, gehört, gekannt hatten. An tragische Todesfälle dieser Art, bei denen ein junger, schöner, begabter, bewunderter und beneideter Mensch umkommt, erinnert man sich eben gern und lange. Allerdings wurden die beiden nur von der Wirtin meiner Pension uneingeschränkt positiv beurteilt, sie war die Einzige, die ebenso begeistert und schwärmerisch von Regina gesprochen hatte wie meine Großmutter, Frau Dirnböck, nicht wenige andere Bewohner meines Heimatdorfes – und ich selbst. Der Zeuge Jehovas, die Schwester des Zimmermädchens der Pensione Paradiso, der Wirt der Trattoria Gabriela, die Witwe Ciaccoppoli, ihr Enkel und dessen Freund, der Ornithologe und vor allem Regina selbst in ihrem Journal hatten mir einen ganz anderen Eindruck vermittelt, mich auf mir bislang völlig unbekannte, weit weniger liebenswerte Seiten des Ehepaares hingewiesen.

Schließlich endete der Weg, und wir stiegen den Abhang zum Meer hinunter. Anders machte mich immer wieder auf Pflanzen, Vögel und anderes Getier aufmerksam, auf wilde Orchideen, Pilze, Käfer, Reptilien, nannte mir ihre Namen auf Italienisch, Deutsch, Lateinisch: Zistrose. Rondine di mare. Orchis papilionacea. Leuchtender Ölbaumpilz. Gabbiano di liliana. Gelbgrüne Zornnatter. Lupino azzurro. Falco tinnunculus.

»Hier gibt es auch verschiedene Libellenarten«, sagte er und deutete auf den Zweig eines Ginsterstrauches, auf dem ein ockerfarbenes Insekt mit langem dünnem Hinterleib saß. »Eine Heidelibelle, ein spätes Exemplar – das ist ungewöhnlich, die Flugzeit dieser Gattung ist praktisch vorüber.« Er trat näher und besah sich das Tierchen. »Die Arme, ihre Flügel sind ganz verklebt vom Regen.« Er rupfte einen Grashalm aus, und ich sah ihm dabei zu, wie er mit dessen Hilfe vorsichtig einen transparenten, fein geäderten Flügel vom anderen trennte, zunächst das erste Paar, dann das zweite. Er blieb so lange stehen, bis die Libelle ihre Flügel ausbreitete und sich leicht torkelnd in die Lüfte erhob. Wir sahen ihr nach, dann kletterten wir das letzte kleine Stück hinunter, bis der Pfad endete und wir auf einem über das Meer hinausragenden Felsplateau etwa drei Meter über dem Wasser standen, wohl dasjenige, von dem Stefan und der Ornithologe gesprochen hatten. Die unendliche Behutsamkeit, mit der Anders die zarten Flügel der Libelle voneinander gelöst hatte, hatte mich gerührt und beeindruckt. Was gab es an diesem Mann noch zu entdecken? Diesmal war ich es, die sich vor ihn hinstellte, seinen schmalen Kopf in die Hände nahm und ihn küsste, wahrscheinlich an derselben Stelle, wo sich zwischen meinen Freunden ein heftiger Streit abgespielt hatte, wenn man dem Vogelkundler glauben durfte.

An diesem Abend, meinem letzten auf der Insel Procida, aßen wir noch einmal gemeinsam bei Vittorio in der Trattoria Gabriela. Wir waren die einzigen Gäste, hatten beide wenig Appetit und sprachen nicht viel. Auch Vittorio war eher schweigsam und verdrossen und ließ sein Geschirrtuch ziemlich häufig gegen den Schanktisch schnalzen.

Vor der Pensione Paradiso nahm mich der Mann aus Hamburg in die Arme und drückte mich lange und fest an sich. Dann ließ er mich abrupt los.

»Ciao, bella«, sagte er und zog kräftig an seiner Zigarette. »Bis irgendwann.«

Damit drehte er sich um und ging. Ich wusste nicht, was ich von diesem Abschied halten sollte.

Am nächsten Morgen stand ich zeitig auf, um das frühe Schnellboot nicht zu versäumen. Vor Kälte zitternd trat ich ans Fenster meines Zimmers. Dunkelgraue Wolken hingen tief über dem Horizont, die Meeresoberfläche war bewegt, es stürmte.

Als ich den Frühstücksraum betrat, saß Signor Tucci bereits an seinem Tisch. Das wunderte mich. Vielleicht beabsichtigte er, dasselbe Aliscafo zu nehmen wie ich? Bei meinem Eintreten schaute er auf.

»Trostlos, das Wetter«, sagte er. Seine Miene war trister denn je. Ich war nicht sicher, ob ich mich angesprochen fühlen sollte, denn er blickte an mir vorbei. »Ich fürchte, die Fähren werden nicht verkehren«, fuhr er betrübt fort. Gleich würde er zu weinen beginnen.

»Haben Sie Ihre Geschäfte hier erledigt?«, fragte ich, nur um etwas zu sagen. Er würdigte mich keiner Antwort und starrte weiter verzagt vor sich hin. In diesem Augenblick erschien die Pensionswirtin ungekämmt und unausgeschlafen in einem abgetragenen, nicht gerade sauberen Morgenmantel aus zerfranstem Frottee. Ihre Schritte in den flachen Stoffpantoffeln waren wesentlich weniger rasch und resolut als sonst.

»Ich bin in aller Herrgottsfrühe aufgestanden«, sagte sie vorwurfsvoll und gähnte, ohne die Hand vor den Mund zu halten. »Nur wegen Ihrer Abreise.«

»Das wäre nicht nötig gewesen«, sagten Signor Tucci und ich gleichzeitig.

Sie musterte uns eingehend aus runden Haselnussaugen.

»Ich kann Sie doch nicht ohne Frühstück aus dem Haus gehen lassen«, sagte sie dann. »Ohne Kaffee. Das Meer ist unruhig, und wenn Sie nichts im Magen haben, wird Ihnen auf dem Boot womöglich schlecht.« Das Lächeln, das sie aufsetzte, sollte mitfühlend wirken, geriet aber zu ihrem üblichen Raubtierlächeln. »Obwohl Sie Glück haben, dass die Schiffe heute überhaupt fahren«, ergänzte sie. Signor Tucci wandte ihr das fahle Gesicht zu, einen schwachen Schimmer der Hoffnung in den Augen.

Die Frau blickte mich voll Argwohn von der Seite an. »Ich hoffe jedenfalls, Sie haben gefunden, wonach Sie suchten.«

»Ja«, antwortete ich. »Das habe ich. Ein paar Tage Ruhe und Erholung.«

»So, so«, sagte die Signora skeptisch. »Ein paar Tage Ruhe und Erholung. Tatsächlich.«

Die Bitte des alten Rezeptionisten fiel mir ein.

»Und ich habe Signor Achilles Akkordeonspiel genossen«, fuhr ich fort. »Sehr angenehm, diese Musik. Ich hoffe, er erfreut die Gäste weiterhin damit.«

»Also, ich weiß nicht –«, warf Signor Tucci beunruhigt ein.

»Das ist doch nicht Ihr Ernst«, sagte die Signora schroff. »Der alte Narr. Es wird Zeit, dass er geht. Wir haben ihn aus reiner Nächstenliebe so lange behalten.«

Der Handelsreisende wirkte erleichtert.

Signora Smaldone verhielt sich eindeutig weniger liebenswürdig als bei meiner Ankunft. Wir brauchen hier keine Schnüffler. Auch in dieser Hinsicht gab es Ähnlichkeiten zwischen der Insel und meinem Heimatdorf. Denen, die von außen kamen, begegnete man mit falscher Freundlichkeit, in Wahrheit wurden sie misstrauisch beäugt und belauert. Man wusste Bescheid über jeden ihrer Schritte. Ich würde nie erfahren, wer diese Worte geschrieben und den Zettel unter den Gepäckträger des Fahrrades geklemmt hatte.

Nur wenige Passagiere benützten das Aliscafo. Der Handelsreisende saß mir gegenüber. Lange sagte er nichts, dann beugte er sich plötzlich zu mir vor. »Konnten Sie Neues über das Schicksal Ihrer Freundin in Erfahrung bringen?«, erkundigte er sich.

Die Frage war mir peinlich. Sogar er war unterrichtet. Der junge Mann bemerkte mein Unbehagen. »Jeder in Procida weiß, weshalb Sie hier waren«, sagte er sanft. »Die Leute auf der Insel sind neugierig, schwatzhaft und indiskret, vor allem die Frauen.« Er schüttelte resigniert den Kopf. »Lauter Hexen. Man kann sich nicht genug in Acht nehmen.«

»Nachdem Sie schon Bescheid wissen«, sagte ich. »Wie denken Sie über die Angelegenheit?«

»Ach«, sagte der Handelsreisende tonlos, »ich glaube nicht, dass die Frau noch lebt.« Er machte eine kleine Pause und seufzte tief. »Sich mit der Camorra einzulassen, wie Ihre Freundin es unvorsichtigerweise getan hat, ist sehr gefährlich. Ich halte es durchaus für möglich, dass man sie umgebracht hat. Diese Leute schrecken vor nichts zurück.«

Der junge Mann deprimierte mich, und ich stand auf, verließ den Passagierraum, betrat das Deck und stellte mich an die Reling. Mir war nicht gut, und ich atmete ein paarmal tief durch. Ich dachte daran, wie ich vor einer knappen Woche auf die Insel gekommen war, in der Sonne, unter einem hohen blauen Himmel und voll gespannter Erwartung. Wie die drei Delfine, Symbole guter Vorbedeutung, aus dem Meer aufgetaucht waren und wie mich gleich danach der Zeuge Jehovas mit dem Flammenmal auf der Stirn, wohl einem weniger günstigen Vorzeichen, angeredet hatte. Nur wenige Tage lagen dazwischen, aber ich war nicht mehr dieselbe. Alles hatte sich verändert. Eine eiskalte Windbö zerrte an meinen Haaren, und ich schlug den Kragen meines dünnen Mantels hoch und steckte die Hände in die Taschen. In der Tiefe der rechten Manteltasche spürte ich den USB-Stick. Ich nahm ihn heraus und betrachtete ihn. Ja, nichts war wie vorher. In diesem Augenblick hob eine Welle das Schiff, ich geriet aus dem Gleichgewicht und griff rasch nach der Balustrade, um mich daran festzuhalten. Dabei öffnete ich unwillkürlich die rechte Hand, und der USB-Stick fiel ins Wasser. Ich sah ihn kurz auf den grauen Wellen schaukeln, dann war er verschwunden.