7

Wie ich erwartet hatte, saß Mirella auf meinem Bett, die Puppe mit den steifen schwarzen Haaren und den Pausbacken im Arm. Als ich eintrat, sprang sie auf und legte sie weg.

»Ich habe Ihnen den – also, diesen Stick mitgebracht«, sagte sie und lächelte mich unsicher an. Sie brauchte wirklich eine Zahnspange. »Meine Schwestern und ich, wir sind froh, dass wir ihn los sind. Wir können ohnehin nichts damit anfangen. Wenn wir jetzt erst damit zur Polizei gingen, würden wir uns doch nur lächerlich machen, nicht? Oder sogar verdächtig?« Sie starrte mich erschrocken an. »Da, nehmen Sie«, sagte sie dann, griff rasch in die Tasche ihrer weißen Schürze, drückte mir den USB-Stick in die Hand und ging zur Tür. Sie schien es eilig zu haben.

»Ich muss auf den Fischmarkt, nach Pozzuoli«, sagte sie. »Wenn ich die Fähre versäume, wird die Signora böse. Auf Wiedersehen.«

»Danke«, sagte ich, »vielen Dank.«

Ich hatte ihr einen Geldschein zustecken wollen, aber sie war schon verschwunden. Sofort schaltete ich meinen Laptop ein, der auf einem Holztisch unter einem der drei Fenster stand, und schob den USB-Stick in die Schnittstelle. Es war so einfach: Ein paar Sekunden später hatte ich Zugang zu Reginas Aufzeichnungen. Weder Benutzername noch Passwort wurden verlangt. Diese Sorglosigkeit wunderte mich – aber im Grunde war sie nicht untypisch für meine ehemals beste Freundin. Sie hatte es als unter ihrer Würde betrachtet, Dinge zu verbergen, war immer offen und direkt gewesen.

»Ein ehrlicher Mensch, Regina, du kannst dich glücklich schätzen, eine solche Bekannte zu haben«, hatte meine Großmutter öfter als einmal festgestellt. »Grundehrlich und grundanständig, ein untadeliger Charakter. Und aus so guter Familie!« Dann hatte sie mich kritisch gemustert und hinzugefügt: »Manchmal frage ich mich, was sie an dir findet. Rätselhaft. Jedenfalls kannst du sie dir zum Vorbild nehmen.«

Von ihrem ersten Besuch im Sausal an war Regina im Haus der Großeltern ein gerngesehener Gast gewesen. Der Großvater hatte sich zwar nie persönlich über sie geäußert, das entsprach nicht seiner Art. Aber man merkte, dass ihm ihre Anwesenheit angenehm war. Auch meine Onkel und Tanten hatten sie sehr sympathisch gefunden. Manchmal fragte ich mich, weshalb sie mich nicht verstießen und Regina adoptierten, es wäre naheliegend gewesen. Alle bevorzugten sie, alle hatten sie lieber als mich.

Nur meine Kusine Imelda, die damals noch ein Kind war, konnte sie nicht leiden. »Regina ist eine eitle Gans«, verkündete sie. »Eine eitle Stadtgans.«

Auch mein Vater war skeptisch.

»Reizend, deine Freundin, ganz reizend«, hatte er mit ironischem Unterton zu mir gesagt, nachdem er sie kennengelernt hatte. »Eine schöne Seele. Fast zu schön, um wahr zu sein.«

Trotz des Neides, den ich empfand, weil jeder Regina auf Anhieb mochte, weil alle Herzen ihr zuflogen, war ich wütend über seine Reaktion gewesen.

Meine Gefühle unmittelbar vor dem Öffnen der Dateien waren zwiespältig. Welche Informationen auch immer auf Reginas USB-Stick gespeichert waren, sie waren nicht für mich bestimmt. Ich tat etwas Verbotenes. Der mit grellgrünem Stift geschriebene Satz Wir brauchen hier keine Schnüffler fiel mir ein, auch die Frage des Übersetzers mit den hellen Augen, ob ich denn die Schnüfflerin sei. Ja, das war ich, ich war die Schnüfflerin. Die Spionin. Meine Handlungsweise ließ sich nicht rechtfertigen. Aber war Regina nicht auch meine engste Vertraute gewesen, mit der ich über alles gesprochen hatte? Es hatte keine Geheimnisse zwischen uns gegeben. Hätte sie mir nicht mit der ihr eigenen Offenherzigkeit und Großmut ohne zu zögern gestattet, die von ihr hinterlassenen Aufzeichnungen zu lesen? Schließlich war der Anlass ein ernster, sie war verschwunden, von einem Tag auf den anderen, und die Gründe für ihr Verschwinden waren bis heute nicht restlos geklärt. Ihr Leichnam war nie aufgetaucht. Die Dateien, welche einzusehen ich im Begriff war, enthielten vielleicht wichtige Hinweise, die zu einer Erhellung der quälenden Situation beitragen konnten. Ich empfand eine Erregung, eine gespannte Erwartung, fühlte mich hellwach und sehr lebendig. Ich wusste, dass ich etwas Wichtiges finden würde. Dass ich nicht eher aufhören würde zu suchen, als bis ich es gefunden hatte.

Zunächst stieß ich auf einen Ordner mit Gedichten – Rückert, Fontane, Goethe, Eichendorff, Mörike, Hebbel, Storm und andere. Texte, die zu Liedern vertont worden waren, wie ich annahm. Ich stöberte weiter. Im folgenden Ordner waren einige Dateien zusammengefasst, welche Steuerangelegenheiten betrafen. Ich überflog den Inhalt. Er schien mir nicht uninteressant, ich würde mich später ausführlicher damit beschäftigen. Danach kam ein Ordner mit mehreren Dateien, in denen Rezensionen ihrer CDs gespeichert waren, darauf ein weiterer mit ausführlichem elektronischen Schriftverkehr über musikalische Veranstaltungen, an denen sie teilgenommen hatte – Konzerte, Festivals, Liederabende.

Und schließlich einer, der fünf Dateien mit persönlichen Niederschriften enthielt. Journale. Die Tagebücher erstreckten sich in chronologischer Reihenfolge über eine Periode von viereinhalb Jahren, sie setzten Anfang 1997 ein, zu einem Zeitpunkt, da wir uns noch ab und zu gesehen hatten. Eine Datei für jedes Jahr. Regina. Plötzlich war ihre Gegenwart greifbar, war dieses Hotelzimmer in Italien, das Hochzeitszimmer, in dem auch sie sich kurz aufgehalten hatte, von ihrer Anwesenheit erfüllt, so wie das alte Winzerhaus, wo sie mit Stefan gelebt hatte. Ich merkte, dass ich die Bewegung meiner Finger nicht kontrollieren konnte, sie begannen stark zu zittern. Als ich den Ordner für das Jahr 1997 öffnete, fing mein Herz heftig an zu pochen. Ich setzte mich aufrecht hin und versuchte, tief und regelmäßig zu atmen. Aufs Geratewohl sprang ich mitten in den Text hinein. Mein Blick fiel auf meinen Namen.

»Sissi war ein paar Tage zu Besuch. Vor zwei Stunden hat Stefan sie zum Bahnhof gebracht. Ich bin erleichtert. Gott sei Dank wohnt sie nicht mehr in Wien, in unserer Nähe, sie absolviert einen Teil ihrer fachärztlichen Ausbildung in der Provinz, und ich hoffe, sie bleibt auch dort.

Wie sagt man so treffend?: Fische und Gäste beginnen nach drei Tagen zu stinken. In ihrem Fall haben zwei ausgereicht. Es wird immer mühsamer, die bedingungslose Bewunderung dieser naiven Person zu ertragen. Früher hat mir ihre dümmliche Anbetung geschmeichelt, inzwischen ist sie mir lästig geworden. Ich brauche sie nicht mehr. Dieser arglose, hingerissene Blick aus den großen blauen Kinderaugen, unerträglich! Überhaupt sollten einen die Menschen mit ihren Gefühlen verschonen, vor allem mit den sogenannten aufrichtigen. Sie lasten wie ein Zentnergewicht auf einem, nehmen einem jede Freiheit. Im Grunde ist es nichts als eine ungeheure Zumutung, wenn andere einen zum Objekt ihrer schrankenlosen Zuneigung machen. Und die Selbstverständlichkeit, mit der erwartet wird, daß man diese fragwürdigen Empfindungen auch noch erwidert!

Natürlich hat Sissi nicht die geringste Ahnung von dem Widerwillen, den ihre einfältige Verehrung hervorruft, dem Überdruß, den jeder ihrer verklärten Blicke in mir weckt. Ich lasse mir nichts anmerken. Es braucht ihr nicht bewußt zu sein, wie sehr ihre Ergebenheit mich langweilt. Man weiß nie, irgendwann kann einem eine solche devote Anhänglichkeit vielleicht von Nutzen sein. Menschen dieser Art lassen sich beim Verfolgen der eigenen Ziele gut einspannen. Sie merken es gar nicht, wenn man sich ihrer bedient.

Endlich ist sie abgereist, meine alte Freundin, ich atme auf. Ihre Ungeschicklichkeit macht mich rasend, sie hat die Begabung, anderen ununterbrochen im Weg zu stehen, vor allem, wenn es ihre Absicht ist, ihnen behilflich zu sein. Die langen, dünnen Arme und Beine, mit denen sie überall anstößt – enervierend! Die fahrigen Bewegungen! Sie erinnert mich an diese Spinne mit den langen Beinen. Weberknecht. Und das fliehende Kinn, das sie so beschränkt aussehen läßt! Insofern ist ihre ärgerliche Art, mich anzuhimmeln, begreiflich, natürlich kann sie sich äußerlich nicht im Entferntesten mit mir vergleichen. Etwas unglücklich, ihr Erscheinungsbild, das muß ihr klar sein. Unweiblich. Flach wie ein Brett. Und die ein Meter achtzig, die sie mißt! Sie müßte sich ganz anders anziehen, ich wüßte auch genau, wie, werde mich aber hüten, ihr zu raten. Mein Interesse an der Förderung weiblicher Konkurrenz hält sich in Grenzen. Schließlich gibt es Spiegel, in denen man sich betrachten kann. Wie ich damals«

Jemand klopfte an die Zimmertür.

»Herein!«, sagte ich.

Es war die Pensionswirtin.

»Wollen Sie vielleicht heute hier zu Abend essen?«, fragte sie und lächelte ihr Raubtierlächeln. »Es gibt Sgombri alla marinara, frisch mariniert, mit Minze, Petersilie und Lorbeerblättern. Eines meiner Lieblingsrezepte, es kommt bei den Gästen sehr gut an.«

Ich dachte an das Schicksal des bedauernswerten Herrn Frijhoff aus Utrecht, von dem Achille mir erzählt hatte. Nein, diese Makrelen würde ich nicht essen. Allerdings war es nicht ratsam, Signora Smaldone durch brüske Ablehnung zu verärgern.

»Ach, das möchte ich gern, aber unglücklicherweise bin ich heute Abend zum Essen eingeladen«, log ich.

Das war einfach gewesen.

Das artifizielle Lächeln verschwand, und die haselnussbraunen Augen der Signora rundeten sich ungläubig.

»Eingeladen? Sie? Von wem denn? Eingeladen? Na, wenn das so ist …«

Sie schloss beleidigt die Tür, das energische Klicken der Absätze ihrer kirschroten Sandalen entfernte sich rasch.

Ich lehnte mich auf meinem unbequemen Sessel zurück und wunderte mich darüber, dass ich nach dem Schock, den die Lektüre von Reginas Journal mir versetzt hatte, überhaupt fähig gewesen war, auch nur ein Wort herauszubringen. Ich war mir sicher gewesen, dass ich auf etwas Wichtiges stoßen würde, und ich hatte mich nicht geirrt: Aus dem Tagebuch trat mir eine Frau entgegen, die zwei Seiten hatte, die völlig gespalten war. Eine, die mir ihre Freundschaft nur vorgespielt und mich insgeheim verachtet, über mich gelacht hatte. Die mich hasste! Es war ein Täuschung, die ich nicht begriff. Ich hatte ihr keinen Anlass zu der spöttischen Geringschätzung gegeben, mit der sie mich beschrieb, konnte ihre bösartige Beurteilung meiner Person, ihre hochmütige Abwertung nicht verstehen. Meines Wissens hatte ich mich immer loyal verhalten. Und ich hatte nichts gemerkt, nichts gespürt, hatte die leichte Entfremdung während der letzten Jahre der Tatsache zugeschrieben, dass wir an verschiedenen Orten lebten und beide beruflich gefordert waren, uns mit unterschiedlichen Dingen befassten. Wie hatte ich dermaßen ahnungslos sein und mit einem so unerschütterlichen Vertrauen an dieser Freundschaft festhalten können, fast zwanzig Jahre lang? Weshalb hatte sie sich nicht klar und bestimmt von mir abgewendet, wenn ihre Empfindungen mir gegenüber derart negativ gewesen waren? Nach außen hin war sie immer liebenswürdig und freimütig gewesen, rücksichtsvoll und hilfsbereit. Nie hatte ich Grund gehabt, an ihren freundschaftlichen Gefühlen zu zweifeln. Hatte es ihr Freude gemacht, dieses perverse Spiel mit mir zu treiben?

Ich suchte fieberhaft nach Erklärungen. Vielleicht war das Tagebuch als Fiktion zu betrachten? Regina hatte gelegentlich geschrieben, Kurzgeschichten, Gedichte. Sofort verwarf ich diese Deutung wieder. Nein, hier war nichts erfunden worden, es war das, was sie in Wahrheit dachte. Ich las weiter, konnte nicht anders.

»Wie ich damals, in unserem ersten Studienjahr in Wien, Lust verspüren konnte, sie zu verführen, ist mir unbegreiflich. Heute würde ich ihren mageren Körper, ihre ungeschickten Gesten als abstoßend empfinden. Zu meiner Rechtfertigung läßt sich sagen, daß es nur einmal vorkam und daß ich betrunken war. Ich kann mir mein Verhalten nur damit erklären, daß ich die Anziehungskraft, die ich von Anfang an auf Sissi ausübte, genießen, die Macht über sie, die sie mir so bereitwillig einräumte, auch sexuell geltend machen wollte. Sexuelle Abhängigkeit ist ein interessantes Thema, es ist die stärkste aller Besessenheiten und Knechtschaften, sehr befriedigend für den, der sie hervorruft. Man hat den Menschen, der einem solcherart verfallen ist, fest in der Hand, kann ihn nach Belieben manipulieren. Jedenfalls erinnere ich mich noch genau daran, wie wir auf meinem Bett saßen, wie Sissi mich ansah, von unten, einem unbeholfenen Kälbchen ähnlich, fast bettelnd, hilflos vor Verlangen. Es war grotesk. Da tat ich ihr den Gefallen. Sie zerfloß in meinen Händen, zu allem bereit. Nicht, daß ich es als unangenehm empfunden hätte, ihre ekstatische Servilität hatte ihren Reiz. Sie hat nie verstanden, weshalb ich nicht weiter mit ihr schlafen wollte, nicht erkannt, daß es nur eine Laune meinerseits war. Daß ich mich ihrer erbarmte. Daß das Erlebnis für mich eine ganz andere Bedeutung hatte als für sie. Und ich habe es ihr nie erklärt, wozu auch? Was Gefühle betrifft, ist es in jedem Fall vorteilhaft, die Menschen im Unklaren zu lassen. So sind sie leichter zu benützen. Ich frage mich, ob diese Nacht für Sissis späteres unglückliches Lavieren zwischen den Geschlechtern entscheidend war, ob ihr Unvermögen, sich eindeutig entweder zu Männern oder zu Frauen zu bekennen, damit zusammenhängt. Es ist offensichtlich, daß sie sich auch von Stefan angezogen fühlt. So offensichtlich wie unpassend. Aber Stefan merkt es nicht einmal, er ist für niemanden außer mir sexuell ansprechbar. Süchtig wie ein Junkie, wäre er weder willens noch fähig, eine andere Frau zu begehren, geschweige denn zu befriedigen. Noch dazu eine, die so wenig attraktiv ist. Ach, das Dummerchen, wie ein kleines Kind zwischen den Eltern saß sie an diesem Wochenende zwischen uns beiden, blickte einmal zu mir, dann wieder zu Stefan auf, glückselig und verzückt, ohne sich darüber im Klaren zu sein, wie lächerlich sie wirkte!

Was ihren Vater betrifft, verhielt es sich etwas anders. Ich fand seine Aura des Versagers, des Opfers seiner autoritären Mutter, dieses bigotten katholischen Monsters, ausgesprochen sexy. Da war ich die Interessierte. Schwächlinge haben mich immer gereizt. Ich weiß noch, wie ich einmal, als ich in den Sommerferien zwei sterbenslangweilige Wochen in diesem grauenhaften Haus mit den unsäglich geschmacklosen Türmchen und Arkaden in der Südsteiermark verbrachte und mich an einem späten Abend ganz unerwartet allein mit ihm fand, beschloß, ihm unmißverständlich zu erkennen zu geben, worauf ich aus war. Ich muß sechzehn oder siebzehn gewesen sein und war mir meiner Sache sicher. Aber der Idiot hat mir die kalte Schulter gezeigt, er fand meinen Versuch, den Vater meiner besten Freundin zu verführen, zynisch und kaltschnäuzig. Ich habe ihm diese Abfuhr nie verziehen, sie nicht vergessen – und nicht aufgegeben. Jahre später sah er es anders, da wurde er zugänglicher. Und dann lästig. Ganz wie die Tochter. Sissis Ahnungslosigkeit machte die Sache um so spannender. Je anhänglicher er wurde, desto mehr zog ich mich zurück. Katz und Maus, ein aufregendes Spiel. Solange man die Katze ist. Und die bin immer ich. Er hat gelitten, zu trinken begonnen, ein kleiner Triumph für mich. Sissi führte die Depression, in die er immer tiefer hineinglitt, darauf zurück, daß ihre Mutter ihn sehr bald nach ihrer Geburt verlassen hatte, sicher ein wichtiger Grund, aber nicht der einzige. Den entscheidenden Schlag, von dem er sich nicht mehr erholte, habe ich ihm versetzt. Man lehnt mich nicht ab! Ich war damals schon verheiratet, aber Stefan hätte mir sexuelle Untreue niemals zugetraut, ich hatte darauf geachtet, ihn diesbezüglich in Sicherheit zu wiegen. Erst später, als seine Gegenwart mir zuwider geworden war, habe ich ihn davon in Kenntnis gesetzt. Davon – und von anderen kleinen Betrügereien. Er fiel aus allen Wolken. Amüsant.«

Amüsant. Immerhin tröstlich, dass ich nicht die Einzige gewesen war, die Regina mit kaltem Genuss hintergangen hatte. Es war wohl nicht persönlich zu nehmen. Vor einer halben Stunde noch wäre das alles unvorstellbar für mich gewesen. Auch ich war aus allen Wolken gefallen, so wie Stefan. Auf eine Betonfläche. Doch je länger ich las, desto ruhiger wurde ich. Ich fühlte nichts. Offensichtlich stellte ich mich relativ schnell auf die veränderte, durch die neuen Informationen geschaffene Situation ein. Reginas abartiges Vergnügen an der Täuschung anderer bezog sich nicht nur auf mich und höchstwahrscheinlich auch nicht nur auf Stefan und meinen Vater. Sie schien unter dem Zwang gestanden zu sein, andere beherrschen, sie demütigen und verletzen zu müssen. Es hatte nichts mit uns zu tun. Aber glaubte ich das wirklich? Vielleicht war der Gleichmut, mit dem ich auf ihre höhnischen Sätze reagierte, nichts als ein Schutzmechanismus, der sich automatisch einschaltete, um das Unerträgliche erträglich zu machen.

Alle hatten wir uns von Regina blenden lassen – alle außer einem Kind, meiner Kusine Imelda, die ich nie hatte leiden können, und meinem Vater, der der Anziehungskraft meiner Freundin trotz seines berechtigten Misstrauens, das ich ihm verübelt hatte, letztlich doch erlegen war. Ich konnte es verstehen. Er war so gefangen, sexuell so bedürftig gewesen, hatte so einsam in dem unfertigen kalten, für ihn allein viel zu großen Haus gelebt, dass es mich wunderte, wie er ihr überhaupt längere Zeit hatte widerstehen können. Regina dagegen verstand ich weniger. Was für eine Genugtuung konnte es ihr bereitet haben, einen Menschen, der weitgehend zerstört war, völlig zu ruinieren? Nur weil er sich nicht von allem Anfang an von ihr hatte fesseln lassen?

Der Inhalt des halben Briefes aus Zürich, den ich im Winzerhaus gefunden hatte, war mir nun kein Rätsel mehr. Zweifellos war dieser Brief von einem von Reginas Liebhabern geschrieben worden, einem Kollegen, einem Musiker. Der offenbar glaubte, dass er der Erste, der Einzige war, mit dem Regina Stefan hinterging. Ein betrogener Betrüger.

Was ich nicht begriff, war die Art und Weise, wie Stefan von Regina sprach. Das Tagebuch ließ keinen Zweifel daran, dass er von Reginas Untreue wusste. Dass er mir nichts von ihren Affären erzählt hatte, konnte ich verstehen. Wer stand schon gern vor anderen als der gehörnte Ehemann da, noch dazu vor jemandem, der diese Ehe immer für ideal gehalten hatte? Aber weshalb betonte er mir gegenüber ständig, wie einzigartig in ihrer Intensität die Beziehung zwischen ihm und Regina gewesen war? Die Tränen um die Frau, die das Leben so lange mit ihm geteilt hatte, waren mir echt erschienen. Und warum sprach er nach allem, was geschehen war, überhaupt noch von ihr? Weshalb zog er es nicht vor zu schweigen? Wie stand er zu ihr? Hatte er sich trotz – oder gerade wegen – der Grausamkeit, mit der sie ihn behandelt hatte, innerlich noch immer nicht von ihr distanziert, sich nicht von ihr lösen können? Verdrängte er vieles einfach? Plötzlich empfand ich großes Mitleid mit Stefan. Er war wohl schwächer, abhängiger, als ich angenommen hatte.

Regina, mich als Weberknecht verspottend, eine harmlose Spinnenart ohne Giftdrüsen, selbst aber die räuberische Kreuzspinne, die sich in einem eingerollten Blatt neben ihrem kunstvoll gefertigten Netz versteckt, an dem glitzernde Tautropfen hängen, geduldig abwartend. Die hervorschießt, sobald der Augenblick günstig ist, ihr Opfer mit ihrem Gift betäubt und auflöst. Für das Männchen, das sich nicht genau an das artspezifische Ritual hält, ist die Paarung lebensgefährlich, es wird gefressen.

Ich schloss das Journal und schaltete den Laptop aus. Für heute hatte ich genug.

Der in der Via Vittorio Emanuele gelegene Eingang des Palazzo Catena, des Kettenpalastes, einer ausgedehnten Anlage aus dem zwölften Jahrhundert, an ihrer vom Hafen aus sichtbaren, imposanten Fassade von Zinnen gekrönt, war nicht schwer zu finden. Ich stand vor einer hohen, von einem Bogen aus Ziegeln überwölbten Toröffnung, deren unteren Teil eine alte Tür aus grün gestrichenen Brettern bildete. Zwischen dem oberen Ende der verwitterten Holztür und der Höhe des Bogens hingen die welken Zweige und roten Fruchtdolden eines Baumes über die Straße hinaus. Der rechte Flügel der Tür war offen und gab den Blick frei auf einen schmalen, von vertrockneten Sträuchern gesäumten Pfad. Ich ging durch den Bogen hindurch, betrat den Weg, sah mich um. Ein großer Innenhof, die Rückseite des Gebäudes, schmutzig, baufällig. An einem Fenster ein Schild mit der Aufschrift Polizia urbana. Eine hohe Steintreppe, die zum Eingang der Polizeiwachstube und des Übersetzerkollegiums hinaufführte. Auf dem oberen Treppenabsatz stand, mit nonchalanter Geste rauchend, den Ellbogen lässig auf die Balustrade gestützt, der Übersetzer Anders. Ich freute mich, ihn zu sehen. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte, lief die Treppe hinauf und erschrak, als eine graugrüne Mauereidechse blitzschnell neben mir in einem Spalt der die Treppe begrenzenden Mauer verschwand. Anders lachte sein asthmatisches, mir inzwischen vertrautes Lachen.

»Keine Angst!«, rief er. »Sie sollten im Sommer hier sein. Da wimmelt es von ihnen. Sie mögen das warme alte Mauerwerk. Kommen Sie, ich zeige Ihnen kurz das Kollegium, bevor wir Fausto besuchen.«

Er drückte seine Zigarette aus.

»In dem Gebäude darf man nicht rauchen, ich muss dazu ständig ins Freie gehen«, sagte er und fügte schmunzelnd hinzu: »Nur, damit Sie wissen, was ich Ihnen für ein Opfer bringe …«

Wir betraten das Gebäude und gingen einen Korridor entlang, von dem aus links und rechts geschlossene und halboffene Türen in verschiedene Räumlichkeiten führten, auch in die der Polizei. Am Ende des Ganges öffnete Anders die Tür zu einem großen Zimmer, in dem fünf Schreibtische, viele Regale voller Bücher und ein paar hohe Rollschränke standen. Ein Mann mittleren Alters mit einem feuerroten Lockenkopf und eine ältere Frau arbeiteten einander gegenüber. Ein kleiner, dünner Typ mit schütteren graumelierten Haaren stand neben einem Faxgerät und beobachtete, wie ein Blatt Papier langsam aus einer Öffnung am oberen Ende hervorglitt. Eine junge Frau, deren blondes Haar nachlässig mit einer breiten, strassbesetzten Spange aufgesteckt war, drückte ein aufgeschlagenes dickes Buch verkehrt auf die Glasfläche einer Kopiermaschine. Bei unserem Eintreten blickten alle vier auf.

»He, Anders, wen hast du da mitgebracht? Eine Kollegin?«, fragte der Mann am Schreibtisch auf Italienisch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und streckte den Brustkorb heraus. Mir fiel ein dicker Knoten an seiner rechten Handinnenfläche auf. Eine Fibromatose vielleicht.

»Wird auch langsam Zeit, dass wir hier ein neues Gesicht zu sehen bekommen«, brummte die ältere Frau mit Bürstenhaarschnitt und rot gerahmter, seitlich spitz zulaufender Brille ihm gegenüber, richtete den Blick wieder auf ihren Laptop und tippte weiter.

»Genau, noch dazu ein so hübsches«, sagte der Mann, der am Faxgerät stand, und lächelte mich an. Seine Zähne waren lang und gelb, links oben hatte er einen Goldzahn.

Anders stellte mich seinen Kollegen vor. Die Frau mit dem Bürstenhaarschnitt war eine Übersetzerin aus Odessa, beschäftigt mit der Übersetzung von Goldonis Komödien ins Ukrainische.

»Zweihundert Stücke, stellen Sie sich das vor!«, stöhnte die Weißrussin. »Bis zu meinem Tod werde ich Goldoni nicht mehr los. Dabei mag ich seinen Humor gar nicht. Und dann noch die Libretti!« Sie stürzte sich wieder auf die Tastatur.

Der Mann am Faxgerät, ein aus seiner Heimat vertriebener Albaner aus dem Kosovo, ehemaliger Universitätsprofessor für Romanistik in Priština, übertrug gerade Macchiavellis Werk Dell’arte della guerra in die albanische Hochsprache.

»Ich habe Boccaccio, Dante, Petrarca und Macchiavelli übersetzt, außerdem auch noch Oriana Fallaci und Dario Fo«, sagte er und reckte selbstbewusst das Kinn. »Die gesamte Fachwelt kennt mich als renommierten Italianisten! Aber glauben Sie, die Serben hätten das auch nur im Geringsten gewürdigt? Ich wurde fristlos entlassen! Von einem Tag auf den anderen!«

»Sei nicht so wehleidig, Luan«, warf die junge blonde Frau ein. »Meine Autorin musste sich während des Krieges in einem Dorf in den Abruzzen verstecken, ihr Mann wurde von den Deutschen umgebracht. Fristlos entlassen, lächerlich! Ihr Gojim habt doch keine Ahnung.« Sie kam aus Tel Aviv und arbeitete an der Übersetzung eines Bandes mit Erzählungen von Natalia Ginzburg ins Hebräische.

»Auch wir Flamen sind immer unterdrückt worden!«, rief der Rothaarige. »Unsere Sprache wird verachtet, bis heute! Aber nicht mehr lange.« Er schlug sich mit der Faust gegen die Brust. »Ich bin aktiver flämischer Separatist und stolz darauf!« Der Mann, der aus Antwerpen kam, war dabei, einen Kriminalroman von Fruttero und Lucentini ins Flämische zu übertragen. »Wussten Sie übrigens, dass Fruttero und Lucentini auch übersetzt haben?«, fügte er hinzu. Dann griff er sich mit der rechten Hand an die Stirn. »Natürlich nicht, entschuldigen Sie, Sie sind ja Ärztin, hat Anders gesagt, wie sollen Sie das wissen?«

Wieder sah ich seine Handfläche. Eindeutig, Morbus Dupuytren, eine Beugekontraktur der Finger. Kann mit Alkoholismus, Tabakkonsum, Diabetes, Epilepsie und Aids zusammenhängen. Männer sind stärker betroffen als Frauen. Gut operierbar. Auf seinem Schreibtisch stand ein halbvolles Glas Rotwein, daneben eine fast leere Flasche.

Ein sonderbares Grüppchen, diese Übersetzer. Sie wirkten eher wie eine im Untergrund arbeitende kleine Zelle nicht sehr erfolgreicher Revolutionäre. Ich war froh, als Anders nach einem Blick auf seine Armbanduhr sagte, wir hätten es eilig, und wir uns verabschiedeten. Bevor ich die Tür hinter mir schloss, sprach ich den belgischen Übersetzer an: »Trinken Sie viel Alkohol?«

Er schaute mich verblüfft an. »Also – ehrlich gesagt, was geht Sie das an?«

»War nur eine Frage. Auf Wiedersehen.«

Wir gingen den Korridor ein Stück zurück. Aus einem Zimmer drang eine Männerstimme, ein angenehmer Bariton. Es klang wie Verdi.

»Hört sich ganz nach Fausto an«, sagte Anders. »Ich muss Sie vorwarnen, er ist ein bisschen – wie soll ich sagen? Von sich eingenommen. Etwas pompös vielleicht. Er hört sich gern reden. Stoßen Sie sich nicht daran. Er kann Ihnen helfen, darum geht es.«

Er machte eine Tür auf der rechten Seite, die einen Spalt offen stand, ganz auf. Dahinter saß an einem kleinen Schreibtisch, mit einem Notenblatt in der Hand, der Sänger. Er trug eine dunkelblaue Uniform mit hellen Kragenspiegeln und auf dem Kopf eine gleichfalls dunkelblaue Kappe, die mit einer stilisierten silberfarbenen Granate geschmückt war, aus der silberfarbene Flammen schlugen. Bei unserem Eintreten blickte er auf und verstummte.

»Er hat sich Ihnen zuliebe in Schale geworfen«, flüsterte Anders. »Den Uniformrock und die Kappe legt er im Büro normalerweise immer ab.«

»Ach, unser lieber Signor Cherz!«, rief der Polizeibeamte. Er hatte Mühe, das H zu artikulieren, aber immerhin versuchte er es und ließ es nicht weg, so wie die meisten Italiener. »Anders, schön, dich zu sehen!« Er wies auf das Notenblatt. »Endlich eine freie Minute, die ich nütze, um ein bisschen für unsere Aufführung in der Kirche der Madonna della Libera am Sonntag in zwei Wochen zu üben. Ein kleiner Streifzug durch Verdis Opern. Meine Frau und ich sind seit zwölf Jahren Mitglieder der Chorgemeinschaft dieser Kirche. Ich muss sagen, nicht einfach, die Partituren, gar nicht einfach.« Er legte das Blatt weg. »Nicht, dass ich hier nicht genug zu tun hätte, ganz im Gegenteil!«

Herz hieß er. Anders Herz. Der Name passte zu ihm. Er gefiel mir. Und allmählich auch der Mann.

Signor Sacco stand auf, nahm ein weißes Taschentuch aus seiner Rocktasche, entfaltete es, fuhr sich damit über die Stirn, steckte es wieder ein und trat mit ausgebreiteten Armen auf uns zu. Er war etwa einen Meter neunzig groß und wog, grob geschätzt, gute eineinhalb Zentner. Sein Gesicht war feist und hochrot, das Doppelkinn ging nahtlos in den dicken Hals über. Der ideale Kandidat für einen Herzinfarkt. Der Bauch, den er vor sich hertrug, war von beeindruckendem Umfang. Er wurde von einer schwarzen Lederkoppel mit roter Einfassung und einer Metallschnalle umschlossen, auf der gleichfalls die Granate mit den Flammen aufgeprägt war. Seine Uniformhose hatte seitlich einen breiten roten Längsstreifen. Er ergriff meine Hand, drückte sie fest und schüttelte sie lange. »Gestatten, Sovrintendente Sacco.« Er lächelte selbstgefällig. »Ab Anfang Dezember übrigens Capo Sacco, wenn ich das erwähnen darf, eine kleine Beförderung. Freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Signorina, freut mich ganz außerordentlich. Wie ich höre, sprechen Sie unsere Sprache fließend. Ich fühle mich geehrt, dass Sie sich in dieser heiklen und tristen Angelegenheit so vertrauensvoll an mich wenden. Wie gesagt, wir stecken hier bis zum Hals in Arbeit – Straßenverkehr, Bekämpfung der Kleinkriminalität, Umweltschutz, Fremdenverkehrssicherheit, Marktpolizei, Bauüberwachung, es gibt kaum etwas, das nicht in unseren Zuständigkeitsbereich fiele. Aber ein bisschen Zeit für unsere kleine Unterredung muss sein, nicht wahr? Nehmen Sie Platz, bitte sehr, nehmen Sie doch Platz!«

Er wies auf zwei unbequeme Sessel, die knarrten, als wir uns hinsetzten, ließ sich wieder hinter seinem Schreibtisch nieder, räusperte sich und schaute mich aus kleinen schwarzen, scharf blickenden Augen unter hängenden Lidern und über schlaffen Tränensäcken an. »Sie möchten also Genaueres über die Art und Weise erfahren, wie sich der Unglücksfall zugetragen hat, bei dem die österreichische Touristin Regina König umgekommen – genauer gesagt, verschwunden ist, nicht wahr?«

»Ja, ich –«, begann ich.

»Anders, ein lieber alter Freund, hat mir verraten, dass Sie das Ehepaar König sehr gut gekannt haben. Seine Freunde sind auch meine Freunde.« Ein gönnerhafter Blick in Richtung Übersetzer. »So sind wir Süditaliener eben. Ich werde mir also erlauben, ganz privat mit Ihnen zu sprechen. Von Mensch zu Mensch sozusagen. Sie auch von einer weniger amtlichen Version des Vorfalls in Kenntnis setzen.«

Er beugte sich über den Schreibtisch. Sein Schädel war groß und kugelrund, das Haar dunkel, struppig und dicht. Seine Gesichtsfarbe vertiefte sich noch um ein, zwei Nuancen.

»Nun. Am besten komme ich gleich zur Sache. Offiziell war es ein Badeunfall. Wahrscheinlich war es tatsächlich einer. Höchstwahrscheinlich sogar. Aber mit hundertprozentiger Sicherheit lässt sich das nicht sagen.« Er beugte sich noch weiter über den Tisch. Gleich würde sein Kopf platzen. »Werte Signorina, es ist nicht mit absoluter Gewissheit auszuschließen, dass es sich um eine Entführung handelte.«

»Eine Entführung?«

Ich versuchte mir meine Überraschung nicht anmerken zu lassen. Der Sovrintendente lehnte sich wieder zurück. Ich atmete auf. Der Kopf war nicht explodiert, die unmittelbare Gefahr war vorüber.

»Ganz recht. Dass die Polizei von Procida in ihren Dokumenten als Ursache des Hinscheidens der bedauernswerten Signora König nach wie vor Tod durch Ertrinken angibt – was nach unserem Dafürhalten auch wesentlich eher dem wahren Sachverhalt entspricht als dieses von einem nicht unbedingt glaubwürdigen Zeugen behauptete Kidnapping –, hat einen Grund.«

Sovrintendente Sacco machte eine Pause. Wir starrten ihn an. »Einen ganz bestimmten Grund«, fuhr er fort. »Die Camorra.«

»Aber was hat denn –«, setzte ich an.

»Lassen Sie mich bitte ausreden. Einer unserer Gewährsleute, der uns mit Informationen aus dem Milieu dieser verabscheuungswürdigen Organisation versorgt, dessen Aussagen allerdings nicht immer verlässlich sind, da er heroinsüchtig ist, hat bezeugt, dass die Signora König im Jachthafen von Neapel von drei Mitgliedern eines bekannten Clans der Camorra aus einem luxuriösen Motorboot gezerrt und in einen schwarzen Mercedes gedrängt worden ist. Angeblich hat sie sich gewehrt und laut geschrien.«

»Die Witwe Ciaccoppoli –«, warf Anders ein.

»Mein lieber Anders, lass bitte die Witwe Ciaccoppoli aus dem Spiel, sie ist geistig unzurechnungsfähig, ihre Tochter hat sie entmündigen lassen.«

»Weshalb hat man –«, begann ich von neuem.

Der Sovrintendente erhob die Stimme.

»Seien Sie so liebenswürdig und unterbrechen Sie mich nicht. Ich habe Ihnen angedeutet, dass ich hier auf dem Revier förmlich in Arbeit ersticke. Meine Zeit ist begrenzt. Je aufmerksamer Sie mir zuhören, desto früher ist unser Gespräch zu Ihrer und meiner Zufriedenheit beendet.« Er schwieg kurz und fuhr etwas leiser fort. »Sie werden verstehen, dass sämtliche auch nur im Entferntesten mit der Camorra zusammenhängende Angelegenheiten mit äußerster Vorsicht behandelt werden müssen. Wir hier auf Procida sind natürlich nicht daran interessiert, uns Schwierigkeiten mit diesen gewissenlosen Kriminellen einzuhandeln. Stellen Sie sich vor, die gottlosen Verbrecher kämen auf den Gedanken, ihr Einflussgebiet auf unsere schöne Insel auszudehnen! Es wäre unser Ruin. Mit dem Tourismus wäre es aus und vorbei. Deshalb haben wir die Beobachtungen unseres Hintermannes, die möglicherweise aufgrund einer defekten Wahrnehmungsfähigkeit infolge seiner Drogensucht verzerrt waren, auch nicht weiter überprüft, sondern diese höchst unsichere Fährte sozusagen im Sande verlaufen und es offiziell bei der Verlautbarung bewenden lassen, dass Regina König ertrunken ist. Darin bestärkt hat uns auch die Tatsache, dass keine Lösegeldforderung einging.« Der Capo in spe lächelte selbstzufrieden. »Jeder vernunftbegabte Mensch wird für unser besonnenes Vorgehen Verständnis aufbringen. Die Angst vor der Camorra ist allgegenwärtig – und gerechtfertigt. Wenn ich Ihnen auch nicht verbieten kann, auf eigene Faust weitere Nachforschungen anzustellen, so rate ich doch nachdrücklich davon ab. Sie würden sich damit in Lebensgefahr begeben. Mit der Unterstützung der Polizei von Procida dürfen Sie jedenfalls nicht rechnen. Wir haben getan, was in unserer Macht stand.« Der Polizist stand auf. »Damit wäre alles gesagt. Selbstverständlich ist über das, was ich Ihnen gerade mitgeteilt habe, absolutes Stillschweigen zu bewahren. Ich hätte nicht so aufrichtig zu Ihnen gesprochen, wenn Sie nicht eine Bekannte meines alten Freundes Anders wären. Seine Freunde sind meine Freunde. Wir Italiener sind eben so.« Er nickte meinem Begleiter, der bereits Entzugserscheinungen erkennen ließ und nervös auf seinem Sessel hin und her rutschte, huldvoll zu und streckte sich. Sein Bauch ragte ein gutes Stück über den Schreibtisch. »Wie ich schon sagte, ich habe nicht ewig Zeit.« Er hielt uns seine plumpe Rechte hin. Wir ergriffen sie nacheinander. »Es hat mich wirklich sehr gefreut, Sie kennenzulernen, teure Signorina. Ich wünsche Ihnen alles Gute. Auf Wiedersehen. Ciao, Anders, ciao, bis bald!«

»Könnten Sie nicht –«, versuchte ich ein letztes Mal.

Signor Sacco wandte sich von uns ab und nahm das Notenblatt zur Hand. Wir gingen zur Tür. Während wir uns durch den Gang in Richtung Ausgang entfernten, ertönte seine Stimme von neuem. Ein angenehmer Bariton.

»Falstaff«, sagte Anders und grinste. »›E sogno? O realtà?‹«

Er begleitete mich zurück zur Pensione Paradiso.

»Was halten Sie von den Ausführungen des Sovrintendente?«, fragte ich. »Die Polizei kann es doch nicht einfach ignorieren, wenn zwei Zeugen unabhängig voneinander bestätigen, Regina in Gegenwart dreier Männer auf einer Motorjacht gesehen zu haben!«

Anders sog an seiner Lucky Strike wie ein ausgehungerter Säugling an der Mutterbrust.

»Na ja, eine demenzkranke alte Frau und ein drogensüchtiger Informant, ich weiß nicht …«

»Trotzdem, es ist doch ein eigenartiger Zufall.«

»Ja, eigenartig«, räumte er ein.

Wir begannen gleichzeitig zu lachen. Inzwischen waren wir vor der offen stehenden Eingangstür der Pension angekommen.

»Vielen Dank für Ihre Vermittlerdienste«, sagte ich.

»Also dann –«, sagte Anders. »Bis irgendwann.«

Er wandte sich zum Gehen.

»Ach, da fällt mir etwas ein«, setzte er hinzu, indem er sich noch einmal umdrehte. »Haben Sie vielleicht Lust, einem einsamen Mann in seinen uninteressanten vier Wänden beim Essen Gesellschaft zu leisten?«

»Sie kochen?«, fragte ich erfreut. »Eine lokale Spezialität vielleicht? Die Einladung nehme ich gern an.«

»Nein, ich koche nicht«, sagte Anders. »Aber ich versichere Ihnen, die Pizza, die ich mir ins Haus bringen lasse, ist nicht schlecht.«

Ich betrat das Foyer. Achille, der sich mit seinen ausgemergelten kleinen Fäusten auf der Tischplatte abstützte und auf Zehenspitzen hinter der Rezeption stand, das ohnehin vorspringende Kinn und den dünnen Hals in Richtung Haustür gereckt, setzte sich rasch hin und lächelte mir freundlich zu. Sein Akkordeon war nirgends zu sehen.

»Ein angenehmer Mensch, Signor Erz, nicht wahr?«, sagte er. »Nicht wahr? Verzeihen Sie, aber ich habe zufällig gesehen, wie Sie sich miteinander unterhalten haben. Es war nicht zu vermeiden. Verzeihen Sie. Ich glaube, ich darf nicht nur in meinem, sondern auch im Sinne aller übrigen Bewohner unserer Insel behaupten, dass er im Lauf der Jahre zu einem der Unsrigen geworden ist. Sie kennen ihn gut? Sehr gut?«

»Flüchtig«, sagte ich. »Wo ist denn Ihr Akkordeon?«

Die Miene des alten Mannes änderte sich abrupt, er blickte bekümmert und zog heftig an dem auf seinem Kinn sprießenden, langen weißen Haar.

»Die Chefin hat es weggesperrt«, sagte er und seufzte tief. »Sie kann ziemlich wütend werden, die Chefin. Der Chef ist sehr umgänglich, aber sie … Sie hat gemeint, ich störe die Gäste mit meiner Quetschkommode.« Er sah mich anklagend an. »Quetschkommode hat sie meine Victoria genannt. Im Augenblick wohnen doch nur Sie und Signor Tucci hier – er ist den ganzen Tag unterwegs, und ich hatte nicht das Gefühl, dass ich Sie mit meinem Akkordeon belästige.«

»Nein, nein – ganz im Gegenteil, ich habe es gern, wenn Sie spielen.«

Wieder wechselte Achille jäh den Gesichtsausdruck. Die braunen Augen in dem sympathischen Gesicht mit den zahllosen Fältchen leuchteten auf, er strahlte. »Ist das wahr? Vielleicht könnten Sie ein gutes Wort – also, Sie wissen schon, was ich meine, nicht? Damit sie mir mein Akkordeon wenigstens zurückgibt. Wenn ich hier auch nicht mehr darauf spielen darf.«

»Wenn Sie wollen, spreche ich mit der Signora.«

Der alte Mann griff nach meiner Hand und drückte seine blutleeren, blasslila Lippen lange und fest darauf. Sie fühlten sich kalt an.

»Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen tausendmal! Sie sind eine gute Frau. Wirklich, eine gute Frau.«

»Vielleicht können Sie mir auch einen Gefallen tun«, sagte ich.

»Selbstverständlich, selbstverständlich, ich tue alles für Sie, alles Menschenmögliche!«

»Kennen Sie die Signora Ciaccoppoli?«

Achille blickte überrascht, dann errötete er. Sein Mienenspiel war erstaunlich abwechslungsreich.

»Die Signora Ciaccoppoli – die Witwe, meinen Sie?«

»Ja, die Witwe.«

Er lächelte verschämt.

»Natürlich kenne ich sie, natürlich, ich kenne sie sogar sehr gut. Wissen Sie, wir sind – also, Renata und ich haben uns vor einem Jahr verlobt. Zwei Jahre nach Scipiones Tod.«

»Scipione?«

Man hielt es nicht für möglich.

»Ja, ihr seliger Mann. Wir haben zwei Jahre vergehen lassen, das ist lang. Es hätte genügt, das Trauerjahr abzuwarten. Aber wir wollten nichts überstürzen. Sie wissen ja, die Leute reden. Er – also Scipione, der Ehemann –, er war Zimmermann von Beruf. Auf einer Baustelle ist dem Unseligen ein Holzbalken auf den Kopf gefallen, er war auf der Stelle tot. Auf der Stelle. Eine Seele von einem Menschen. Die beiden, Renata und er, waren ausgesprochen glücklich miteinander. Ausgesprochen glücklich. Wissen Sie, ich habe schon vor fünfzig Jahren um Renatas Hand angehalten.« Er drehte verlegen an der Warze an seinem Kinn. »Ja, vor über fünfzig Jahren. Wir haben uns heimlich getroffen, sie wollte mich auch. Aber ihre Eltern waren dagegen, ich war ein Habenichts.« Plötzlich lachte er laut und fröhlich auf. »Ja, ein Habenichts! Das hat sich bis heute nicht geändert, kein bisschen! Aber das macht nichts. Sie nimmt mich trotzdem. – Worum geht es denn?«

»Ich hätte gern eine Auskunft von der Signora und möchte wissen, wo sie wohnt.«

Achille beugte sich interessiert vor.

»Eine Auskunft? Eine Auskunft? Ja, worüber denn?« Seine Augen glänzten neugierig. Dann beherrschte er sich. »Ach, entschuldigen Sie, das geht mich natürlich nichts an, rein gar nichts. Und wo sie wohnt? Also, sie wohnt – Warten Sie, ich zeige es Ihnen, ich zeige es Ihnen gleich.« Er faltete eine Karte der Insel auseinander und fuhr mit einem krummen Zeigefinger über das Papier. »Sehen Sie, hier sind wir – hier. Und Renata wohnt dort. In der Via Ottimo. Via Ottimo Nummer drei. Es ist nicht weit. Gar nicht weit. Wenn Sie das Fahrrad nehmen, sind Sie in zehn Minuten dort. In zehn Minuten oder einer Viertelstunde.«

Das Haus in der Via Ottimo war nicht schwer zu finden, über der Eingangstür war eine Keramiktafel mit der Hausnummer angebracht. Das hellblau gestrichene kleine Gebäude stand für sich allein an einem steilen Abhang. Ein gewundener Pfad führte zwischen Sträuchern und windschiefen Bäumchen zum Meer hinunter. Ich lehnte mein Fahrrad an einen der morschen Pfähle des eingesackten Zaunes aus Drahtgitter und hoffte, er würde nicht umfallen. Dann stieß ich das hölzerne Gatter auf und ging über einen mit Bruchstücken aus bunten Fliesen ausgelegten Weg auf das Haus zu. In der von Unkraut überwucherten Wiese neben dem Weg liefen ein paar magere Hühner herum. Vor einem Loch im Erdboden lauerte eine rötlich und weiß gescheckte Katze. Eine winzige alte Frau mit weißen, erstaunlich dichten, gewellten Haaren, einer Brille und einem Buckel stand auf dem Gras vor einem der offenen Fenster und unterhielt sich mit einem großen schwarzen Vogel, der auf einer Stange in einem hohen und breiten, mit Goldfarbe gestrichenen Käfig hockte. Der Käfig saß auf einem runden Blechtisch unter dem Fenster. Die Tür des Gefängnisses war offen. In einem zweiten, kleineren Vogelbauer auf der Fensterbank zankten sich kreischend zwei grüne Wellensittiche.

»Kommen Sie nur, kommen Sie näher, Signorina«, sagte die Alte, ohne sich vom Vogel abzuwenden. Ich fuhr zusammen, weil ich nicht damit gerechnet hatte, dass meine Anwesenheit bereits bemerkt worden war. »Uckebein fliegt nicht weg. Nicht wahr, Uckebein, du fliegst nicht weg? Nein, nein.«

Uckebein. Ich musste schmunzeln. Sie sprach das H nicht aus.

»Huckebein ist ein deutsches Wort«, sagte ich. »So heißt ein Rabe in einer Geschichte. Hans Huckebein. Wie kommt der Vogel zu dem Namen?«

Die zarte, fast gebrechliche Frau wandte mir ihr rundes Gesicht mit der kleinen, gebogenen Nase zu. Ein Eulengesicht. Die Brillengläser in der schweren, altmodischen Fassung aus durchsichtigem Kunststoff waren dick, die Augen dahinter sahen groß und verschwommen aus.

»Signor Anders, der Deutsche, der öfter vorbeikommt, hat ihn so genannt, als ich ihn als kleines Vogeljunges von meinem Bruder geschenkt bekam. Der Name ist ihm geblieben. Er ist ja auch ein Rabe – genauer gesagt, ein Kolkrabe. Corvus corax.«

Anders schien hier wirklich alle Welt zu kennen.

»Wir Italiener haben Vögel gern, wissen Sie«, fuhr die alte Frau fort. »Besonders Singvögel. Wir haben sie gern, aber wir essen sie auch. So ist das Leben, nicht wahr?« Sie hob den Kopf und gackerte vergnügt. »Uckebein ist sehr intelligent, er spricht auch. Manchmal schaut er in den Spiegel, und er versteht, dass er selbst es ist, den er darin sieht. Meine Katzen begreifen das nicht, obwohl auch sie nicht dumm sind. Seine Lieblingsbeschäftigung ist das Stehlen – er stiehlt alles, was glänzt, aber auch die Wäsche von der Leine. Vorzugsweise Unterwäsche.« Wieder lachte sie. »Und er weiß, dass seine Beute nur dann sicher ist, wenn ihn niemand beim Verstecken beobachtet.«

Sie sprach lebhaft und unterstrich, was sie sagte, mit anschaulichen Gesten ihrer krallenartigen Hände. Auf den ersten Blick machte sie nicht den Eindruck, als litte sie an Demenz.

»Du bist ganz schön raffiniert, nicht wahr?«, sprach sie weiter mit dem Vogel. »Ja, ganz schön raffiniert, mein Schöner!« Dann wandte sie dem Raben den Rücken zu. »Na, komm schon, komm.« Huckebein kletterte umständlich aus dem Käfig und ließ sich auf ihrer Schulter nieder. Der Vogel war wirklich sehr groß. Seine schmächtige Betreuerin griff mit einer Krallenhand hinter sich und strich ihm über die glänzenden blauschwarzen Federn. Er ließ es sich gefallen.

»Er fliegt nicht weg. Und wenn, dann nur ein Stückchen. Er kommt gleich wieder zurück, er ist ganz zahm«, sagte die Frau. »Nicht wahr, du fliegst nicht weg? Nein, nein, du bleibst bei mir. Für immer und ewig.«

Ich trat näher und streckte die Hand nach seinem Gefieder aus. Es wirkte glatt und weich, ich wollte es berühren. Sofort hackte das Tier mit seinem großen schwarzen Schnabel nach mir, und ich zog die Hand erschrocken zurück. Wieder gackerte die alte Frau wie ein Huhn.

»Ja, ja, mit dir ist nicht zu spaßen, nicht wahr?«, sagte sie. Und, zu mir gewandt: »Er kennt Sie nicht, wissen Sie. Wenn ihm jemand vertraut ist, lässt er sich streicheln. Bleiben Sie länger?«

»Nein, nur noch ein paar Tage. Sie sind doch die Signora Ciaccoppoli? Ich hätte Sie gern etwas gefragt.«

»Ach ja? Was denn?« Plötzlich wurde sie misstrauisch, wich zurück, legte den Kopf schief, was Huckebein augenblicklich nachahmte, schaute zu mir hoch, nahm die Brille ab und zog die Brauen über ihren großen runden, hellbraunen Nachtvogelaugen zusammen. »Woher kennen Sie mich überhaupt? Ich habe Sie hier noch nie gesehen. Und wer hat Ihnen gesagt, wo ich zu finden bin?«

»Signor Achille von der Pensione Paradiso. Ich wohne dort.«

Die Brauen glätteten sich unverzüglich. Sie setzte die Brille wieder auf.

»Sie kennen Achille? Na, wenn das so ist … Wir sind verlobt, wissen Sie.« Ein kokettes kleines Gackern.

»Ja, ich weiß, er hat es mir anvertraut.«

Das überraschte die Signora.

»Tatsächlich? Er hat es Ihnen erzählt? Aber so etwas verrät man doch nicht jedem dahergelaufenen Fremden! Ein indiskreter Mensch.« Sie lächelte. »Aber auch nobel. Eine noble Seele. Beinahe so nobel wie mein erster Mann.«

»Signor Scipione?«

Sie fuhr hoch.

»Wie? Das wissen Sie auch? Also wirklich, ich werde mit Achille sprechen müssen, er sollte doch etwas verschwiegener sein. Als Rezeptionist in dieser hochherrschaftlichen Pension! Ein Vertrauensposten.« Sie schüttelte den kleinen Kopf, die gewellten Haare flogen. »Ich glaube fast, er wird langsam dement.«

Die gescheckte Katze hatte etwas gefangen, sie hielt es mit den Pfoten fest. Eine Grille? Eine Maus? Einen Maulwurf?

Renata Ciaccoppoli setzte den Raben wieder in seinen goldenen Käfig und deutete auf das zweite Vogelhaus mit den beiden Wellensittichen auf der Fensterbank.

»Romulus und Remus«, sagte sie. Sie stieß mich mit dem Ellbogen erstaunlich kräftig in die Seite. »Dabei sind es zwei Weibchen!« Von neuem das gackernde Lachen. »Natürlich vertragen sie sich nicht. Aber was soll man machen? Jetzt habe ich sie eben. Sie sind hübsch, nicht wahr?« Sie beugte sich zum Käfig hinunter. »Sehen Sie die kleinen blauen und schwarzen Fleckchen hier? Und die zitronengelbe Kehle? Wirklich niedlich. Inzwischen sind sie neun Jahre alt – Greisinnen. Steinalt, so wie ich.« Ein kurzes Gackern, dann ein langes Ächzen. »Sie haben ja keine Ahnung, was mich das Futter für meine Tiere kostet! Ein Vermögen! Der Rabe, die Sittiche, die Katzen, der Hund …« Sie wandte den Kopf in Richtung Wiese. »Und jetzt habe ich auch noch eine griechische Landschildkröte. Die hat mir mein Enkel geschenkt, dieser Taugenichts. – Silvio! Silvio!« Sie hielt inne. «Man sieht sie nicht, sie ist perfekt getarnt. Das heißt, er. Es ist ein Männchen. Mein Enkel hat ihn nach Berlusconi benannt, er bewundert ihn. Ich weniger. Vielleicht sollte ich ihn umtaufen. Wie gefällt Ihnen zum Beispiel der Name Peppone? So hieß der kommunistische Bürgermeister in Don Camillo und Peppone, dieser alten Serie. Der gefällt mir besser als der Ministerpräsident.« Sie wartete meine Antwort nicht ab. »Aber ich rede und rede, und Sie wollten mich doch etwas fragen. Fragen Sie!«

»Es geht um den Badeunfall vor zwei Jahren – eine Freundin von mir ist dabei ums Leben gekommen. Regina König. Sie ist ertrunken.«

Die alte Frau schaute mich mitleidig an.

»Sie haben sich diesen Unsinn nicht etwa auch von unserer Polizei verzapfen lassen? Diese Stümper, allen voran Fausto Sacco! Na ja, er war schon in der Schule ein Einfaltspinsel. Ich war nämlich seine Lehrerin, wissen Sie. Ein dummer Mensch, ich frage mich, wie er über die Volksschule hinausgekommen ist. Ein Schwätzer. Aufgeblasen wie ein Pfau. Und so hässlich, finden Sie nicht auch? Ein Kopf wie ein Kürbis, ganz wie Mussolini, auch das Gehabe. Solche Ignoranten gehen gern zur Polizei, dort machen sie Karriere.«

Nein, die Witwe schien nicht unter einem Defizit kognitiver, sozialer und emotionaler Fähigkeiten zu leiden. Sie trat sehr nahe an mich heran, packte mich mit einer ihrer Krallen am Unterarm, nahm die Brille wieder ab und richtete den Blick ihrer Eulenaugen mit den riesigen schwarzen Pupillen auf mich.

»Die Dame ist eine Freundin von Ihnen, sagen Sie? Sie müssen entschuldigen, aber das spricht nicht für Sie. Sie sollten bei der Auswahl Ihrer Bekannten vorsichtiger sein.«

»Weshalb?«

»Weil sie eine leichtfertige Person ist.« Sie schob die Brille wieder auf ihre kleine Nase. »Und das ist noch milde ausgedrückt. Eine verheiratete Frau, die sich von drei lichtscheuen Figuren klitschnass in einem Fetzchen von schwarzem Badeanzug aufgabeln lässt! Es wird ein schlechtes Ende nehmen mit diesen Touristinnen aus dem Norden, die glauben, sie könnten sich ebenso benehmen wie Männer!« Sie hob ihre freie Kralle in einer warnenden Geste, eine fragile, alterssichtige Kassandra mit chronischer Polyarthritis. »Womit nicht unbedingt gesagt sein soll, dass Sie auch zu dieser Sorte gehören, mein liebes Fräulein. Nicht unbedingt. Jedenfalls, ich habe genau gesehen, wie Ihre unternehmungslustige Bekannte ohne Umstände zu diesen Männern in ihr schnittiges Motorboot gestiegen ist. Ich war nämlich gerade dabei, in der Bucht nach Muscheln zu suchen. Das Boot war nicht weit von mir entfernt.« Sie deutete auf ihre Augen. »Ich bin vielleicht uralt, aber ich sehe noch wie ein Luchs und habe die zwielichtigen Gestalten sofort erkannt.« Sie seufzte. »Einer von ihnen war mein missratener Enkel.« Dann drückte sie sich an mich und verstärkte ihren Krallengriff. »Es geschieht meiner Tochter ganz recht, dass sie einen solchen Tunichtgut von Sohn hat«, flüsterte sie. »Eine Tochter, die die eigene Mutter entmündigen lässt!« Sie machte eine kurze Pause, um die Wirkung zu ermessen, die die Eröffnung dieser ungeheuerlichen Tatsache auf mich hatte, und ließ meinen Arm los. Ich schüttelte den Kopf und schnalzte ein paarmal missbilligend mit der Zunge. »Sehen Sie, das empört auch Sie!«, fuhr die alte Frau fort. »Es empört jeden anständigen Menschen. Angeblich bin ich demenzkrank, dabei gibt es auf der Insel kaum jemanden in meinem Alter, der seine fünf Sinne besser beisammen hat.« Sie neigte den Kopf und lächelte, ein feines Lächeln. »Seine sechs, um genau zu sein. Natürlich geht es meiner Tochter darum, so rasch wie möglich ans Erbe heranzukommen. Achille und ich haben das Urteil sofort angefochten, wir sind optimistisch. Das Verfahren dauert seine Zeit, aber sobald es abgeschlossen ist, werden wir heiraten.«

»Konnten Sie sehen, ob meine Freundin mit Gewalt ins Boot gezerrt wurde?«

Signora Ciaccoppoli sah mich ungläubig an, dann gackerte sie los, laut und lange. »Mit Gewalt? Das glauben Sie doch nicht im Ernst!«, sagte sie dann. Sie fasste sich und wies auf ihre Ohren. »Ich habe nämlich nicht nur Augen, sondern auch Ohren wie ein Luchs. Sie hat mit den Männern gescherzt und gelacht, und der eine, ich glaube, er heißt Salvatore, ein recht ansehnliches Mannsbild, hat gleich den Arm um sie gelegt. Gewalt, lachhaft!«

»Salvatore? Sie kennen die beiden anderen Männer persönlich?«

»Nein, nicht persönlich, nicht wirklich. Ich habe sie ein-, zweimal auf der Insel gesehen, in Begleitung meines Enkels, deshalb weiß ich, dass einer von ihnen Salvatore heißt. Der Name des anderen ist mir unbekannt. Alle beide haben Kontakte zur Camorra, so viel ist sicher. Ich habe keine Ahnung, wie weit diese nichtswürdigen Kerle meinen Enkel schon in ihre Gaunereien hineingezogen haben. Im Grunde ist er ein guter Bub, verstehen Sie, er ist ja noch so jung, da gerät man leicht in schlechte Gesellschaft. Ich bin sicher, in ein paar Jahren ist er mit einem netten Mädchen aus Procida verheiratet und arbeitet als Zimmermann, so wie sein Großvater und sein Vater.«

»Wissen Sie vielleicht, wie und wo ich einen der drei treffen könnte?«

Die alte Frau überlegte.

»Na ja, Dante Gabriele – also, mein Enkel – hat uns verlassen«, sagte sie dann. »Ihm ist ein armseliges Zimmer in diesem Sündenpfuhl von Neapel lieber als unsere wunderschöne Insel. In Scampia noch dazu – eine fürchterliche Gegend, völlig gesetzlos! Alles lebt vom Drogenhandel. Er hat mir erzählt, dass er dort weder Miete, Wasser, Strom noch Heizung bezahlt. Er weigert sich einfach, so wie viele andere auch. Die Behörden sind machtlos. Soviel ich weiß, hält er sich oft in einer Kneipe in der Nähe dieser Bruchbude auf, wie heißt die Straße noch?« Sie dachte nach. »Ich glaube – ja, ich glaube, es ist die Via dell’ Abbondanza. Seine Mutter hat ihn schon mehrmals dort angetroffen.«

»Dante Gabriele, ein schöner Name. Wissen Sie, wie das Lokal heißt?«

»Lassen Sie mich nachdenken … Irgendetwas mit – ja, Bar degli amici heißt es. Ha! Schöne Freunde sind das! Er spielt Billard mit ihnen, im Hinterzimmer, und verliert sein ganzes Geld dabei.«

»Ich danke Ihnen vielmals, Signora Ciaccoppoli«, sagte ich. »Ihre Hinweise sind mir eine große Hilfe.«

»Bitte gern, bitte gern. Schließlich stehen Sie auf vertrautem Fuß mit meinem Verlobten und zukünftigen Ehemann. Aber wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, liebes Fräulein: Lassen Sie die Finger von der Sache. Ich gehe jede Wette ein, Ihre Bekannte treibt sich irgendwo in Neapel herum und amüsiert sich bestens. Man sollte sich nicht in die Angelegenheiten anderer einmischen, schon gar nicht in die der besten Freundin. Sie wird wissen, was sie tut.«

Die kleine Frau machte ein paar Schrittchen in die Wiese hinein und deutete ins Gras. »Sehen Sie, dort ist Peppone!«, rief sie. »Dort drüben, gleich neben der Katze! Der Panzer ist gelbbraun, mit dunklen Flecken. Er hat sein Gehege hinter dem Haus, aber am liebsten läuft er in der Wiese herum und frisst. Er frisst ununterbrochen. Sehen Sie ihn?«

Sie hatte Silvio kurzerhand umgetauft. Ich sah Peppone nicht.

»Ja!«, rief ich. »Ja, ich sehe ihn genau!«

Allmählich wurden diese harmlosen kleinen Lügen zur Gewohnheit. Sie vereinfachten einiges.

»Wissen Sie, was wir im Winter mit ihm machen?« Die Signora gackerte kurz auf. »Wir stecken ihn vier Monate in eine Lade der Kühltruhe. Er muss nämlich …«

Die Alte redete und redete und redete, aber ich hörte nicht mehr zu. Nachdem sie mir verraten hatte, was ich wissen wollte, war mein Interesse an ihrer Menagerie deutlich zurückgegangen.

»Also, nochmals herzlichen Dank«, unterbrach ich sie. »Und auf Wiedersehen.«

Ich wandte mich zum Gehen. Da meldete sich Huckebein zu Wort. Ich hörte ihn ganz deutlich. »Wo gehst du hin? Wo gehst du hin? Fettarsch! Fettarsch!«, kreischte er.

Ein langgezogenes Gackern folgte mir, ich war nicht sicher, ob es von der Signora oder einem ihrer Hühner stammte. Wie zum Trotz schwang ich meine schmalen Hüften. Ich würde nach Neapel fahren. Aber vorher würde ich noch ein bisschen in Reginas Journalen lesen.