4

Ich zog mich nicht zurück. Noch ein Fehler.

Von meiner Großmutter hatte Emma erfahren, dass am zweiten Wochenende im Oktober, zugleich mit der Erntedankfeier, im Dorf ein großes Weinlesefest stattfand.

»Sie müssen unbedingt dabei sein, Frau Emma, unsere Erntekrone ist die schönste weit und breit. Wir Frauen aus dem Dorf binden sie selbst, aus Getreidegarben, Weintrauben, Äpfeln und Maiskolben. Eine Augenweide, Sie werden sehen, ich verspreche Ihnen nicht zu viel! Das Brauchtum muss gepflegt werden, sage ich immer, eine Missachtung des Brauchtums wäre der Anfang vom Ende. Wir Dorffrauen sind sehr stolz auf unsere Erntekronen, sie sind schon mehrmals vom Tourismusverband und von der Diözese ausgezeichnet worden. Sage ich die Wahrheit oder nicht, Sissi?«

Mir war wenig an solchen Festlichkeiten, wie an der Brauchtumspflege überhaupt, gelegen, aber Emma war von der Aussicht auf zwei ländliche Herbstfeste an einem Tag und am selben Ort angetan, außerdem litt ich seit Jahren unter Agoraphobie, und meine Therapeutin für katathymes Bilderleben drängte mich ständig, mich meiner Furcht vor Menschenansammlungen und öffentlichen Plätzen zu stellen, es sei die einzige Möglichkeit, sie zu überwinden. Also gab ich nach, wenn ich es auch ablehnte, dem Erntedankgottesdienst beizuwohnen.

»Da sehen Sie es, Frau Emma, das Kind ist die Gottlosigkeit in Person«, war der Kommentar meiner Großmutter zu dieser Weigerung. »Ein Wunder, dass sie sich dazu herabgelassen hat, unsere schöne alte Kirche zu betreten, als ihr Vater bestattet wurde. Eine Heidin, traurig, aber wahr. Ohne Zweifel sind es die Gene.

Sissis Mutter hat uns erzählt, dass ihre brasilianische Großmutter als Geisterbeschwörerin weit über die Grenzen von Pernambuco hinaus bekannt war, stellen Sie sich das vor! Voodoo-Priesterin, so nennt man das dort, eine unappetitliche Sache. Sie benützen tote Hühner für ihr Hexenwerk, man glaubt es nicht. Anstatt sie zu essen.«

Wir fuhren also hin, diesmal in Emmas uraltem Käfer. Da sie die feierliche Prozession am Vormittag auf keinen Fall versäumen wollte, brachen wir sehr früh auf. Gleich nach der Ankunft im Sausal gingen wir zur Mühle, wo wir übernachten wollten. Als wir um die Ecke des kleinen Holzhauses bogen, schrie Emma auf, fuhr sich mit einer Hand an den Mund und zeigte mit der anderen auf den großen Kürbis, der noch immer auf dem Hackstock stand. Nur leuchtete er jetzt nicht mehr von innen und war von der Axt, die das letzte Mal gefehlt hatte und die nun in dem Kopf mit den fratzenhaften Zügen steckte, in zwei Teile gespalten.

»Das muss dieser Geistesgestörte gewesen sein. Florian«, flüsterte sie. »Wer sonst?« Ihre Finger zitterten.

Ich legte ihr den Arm um die Schultern und versuchte ruhig zu bleiben, obwohl ich selbst erschrocken war.

»Es ist ein Zeichen«, sagte sie und blickte mich verstört an. »Er bedroht uns, Sissi!«

»Ach, hör auf! Jemand hat sich einen Scherz erlaubt, das ist alles. Du kennst das Land nicht, die Leute hier haben einen sonderbaren Sinn für Humor. Wir sind zwei Frauen aus der Großstadt, wir fallen auf, man kann uns nicht einordnen.«

»Nein«, sagte Emma und löste sich von mir, »nein. Hier bleibe ich keine Sekunde länger. Ich fahre sofort nach Wien zurück.«

Sie wandte sich zum Gehen. Ich griff nach ihrer Hand und zog sie zurück.

»Beruhige dich, Emma. Du hast dich so auf das Fest gefreut. Wir sind doch gerade erst angekommen. Nur deinetwegen sind wir überhaupt hier.«

Sie starrte auf den Kürbis.

»Irgendetwas stimmt hier nicht«, murmelte sie. »Irgendetwas stimmt hier überhaupt nicht …«

Ich nahm sie in den Arm. Schließlich konnte ich sie überreden zu bleiben.

»Aber ich fahre heute noch zurück«, sagte sie. »Heute Abend.«

Wir sahen uns die Prozession, die träge in Richtung Kirche kroch, vom Straßenrand aus an. Jugendliche in langen weißen Gewändern mit Kapuzen, ähnlich der Aufmachung des Ku-Klux-Klans, gingen voran, dann folgte die in ihren überdimensionalen Ausmaßen leicht monströse Erntekrone, getragen von vier kräftig aussehenden Halbwüchsigen mit gesunder Gesichtsfarbe, darauf die Männer des Dorfes in ihren grauen Lodenanzügen, die Schärpen in den Landesfarben Grün und Weiß diagonal darüber drapiert, und die Frauen in bodenlangen, schillernden Festtagstrachten aus Satin und Brokat und Samt, in den Händen Sträuße aus getrockneten Blumen und Früchten. Zu meiner Überraschung war auch Stefan darunter, ebenfalls in Landestracht. Als er mich sah, hob er die Hand und winkte mir zu.

»Schau, dein Freund im Steireranzug. Ganz schön angepasst«, sagte Emma.

»Grüß Gott, Herr Doktor, grüß Gott, grüß Gott!«, rief die neben ihr stehende Frau mittleren Alters mit einem aschblonden Haarknoten im Nacken und einem graubraunen Kostüm mit Faltenrock, die glaubte, der Gruß gelte ihr, und winkte enthusiastisch zurück. »Ein herzensguter Mensch«, sagte sie dann, zu uns gewandt, »er hat meinem Neffen das Leben gerettet. Im Krankenhaus in Graz hatten sie ihn schon aufgegeben.« Sie senkte die Stimme. »Eine Blutkrankheit, wissen Sie. Es liegt in der Familie.«

Eine Frau mit dünnen weißen Haaren und einem Schultertuch aus dotterblumengelber Seide mit dunkelgrünen Fransen, die hinter ihr stand, nickte heftig.

»Ja, ein nobler Herr, der Herr Doktor König, da haben Sie recht. Gäbe es nur mehr solche Menschen! Ich habe gehört, dass er eine ansehnliche Summe für das Erntedankfest gespendet hat – für den Kirchenschmuck.«

Meine Verwandten marschierten vollzählig und würdevoll geradeaus blickend auf. Nur meine Großmutter, die Hexe, die noch immer ihre Doris-Day-Perücke trug, was sie nicht jünger aussehen ließ, warf mir einen wütenden Blick zu. Sie hatte bis zuletzt gehofft, ich würde an der Prozession teilnehmen. Welches Ehrenzeichen der Wehrmacht mein Großvater heute aus gegebenem Anlass trug, war aus der Entfernung nicht auszumachen. Danach kam der als Himmel bezeichnete tragbare Baldachin, unter dem sich Hochwürden Wojcik mit seinem grauen Haarflaum, tiefen Ringen unter den Augen und erschöpfter Miene in seinem in Blau und Gold gestickten Chormantel dahinschleppte, die Monstranz, die das sogenannte Allerheiligste einschloss, unter sichtlichem Kraftaufwand mit gestreckten Armen vor sich hertragend. Den Schluss bildeten die Mitglieder der Blaskapelle in weißen Hemden, ärmellosen weinroten Westen, knielangen Lederhosen, grauen Kniestrümpfen und schwarzen, mit grünen Bändern geschmückten Hüten. Die feierliche Gemessenheit der geistlichen Musikstücke, die sie zu spielen hatten, bereitete ihnen Schwierigkeiten, sie hatten Mühe, sich so langsam im Gleichschritt zu bewegen.

Gegen Abend saßen wir mit meinen Verwandten und mehreren Mitgliedern der Freiwilligen Feuerwehr, die zu dieser Gelegenheit ihre braunen Uniformröcke mit den Goldknöpfen und den roten, den Dienstgrad kennzeichnenden Kragenspiegeln angelegt und ihre dazupassenden braunen Kappen aufgesetzt hatten, an einem der langen, mit weißen Tüchern bedeckten Tische auf der großen Wiese vor der Volksschule. Die meisten hatten an den Weinständen bereits reichlich verkostet und waren entsprechender Stimmung. Zwischen den Tischen liefen kleine Kinder, Katzen, Hunde und ein paar fette weizenfarbene Sulmtaler Hühner herum. Auf einem schief stehenden Küchenstuhl mitten in der Wiese saß ein hagerer Mann in Hemdsärmeln und einer schwarzen, mit bunten Blümchen bestickten Samtweste, dem eine unangezündete Zigarette an der Unterlippe hing, und spielte auf einer zinnoberroten Knopfharmonika steirische Volkslieder.

Mein Großvater, der großzügigerweise eine Flasche Sliwowitz sowie eine Flasche Tresterbrand aus eigener Produktion auf den Tisch gestellt hatte, und der ihm gegenübersitzende Feuerwehrkommandant, Hauptbrandinspektor Direktor Strohriegl, waren im Begriff, ihre Auszeichnungen miteinander zu vergleichen.

»Diese Ehrenmedaille am orangegelben Band für fünfundzwanzig Jahre eifrige und ersprießliche Tätigkeit auf dem Gebiet des Feuerwehr- und Rettungswesens hat mir der Landeshauptmann persönlich angesteckt«, sagte der Hauptbrandinspektor und zeigte auf eine unter mehreren an seine linke Brustseite gehefteten Dekorierungen.

»Sehr schön, sehr schön«, sagte mein Großvater, nahm einen Schluck von seinem Sliwowitz und klopfte sich an die Brust. »Und das hier ist das Infanterie-Sturmabzeichen. Es wurde mir für meine Bewährung im Sturmangriff von Regimentskommandant Oberst Falke – äh, Haake – Walke …« Er brach kurz ab. »Ist ja egal, der Balkanfeldzug war jedenfalls kein Honiglecken, das kann ich euch sagen. Ich habe drei Sturmangriffe überlebt, in vorderster Linie, Einbruch mit der Waffe in der Hand.« Er neigte sich zum Feuerwehrkommandanten hin, sodass dieser das Abzeichen besser betrachten konnte.

»Sturmangriff«, sagte Oberfeuerwehrmann Kienreich langsam nickend und schaute melancholisch in sein Glas schwarzroten Blauburger. »Ihr wart Helden.«

»Das daneben«, fuhr Hauptbrandinspektor Strohriegl fort und tippte auf ein sich unmittelbar neben dem Ehrenzeichen für fünfundzwanzigjährige ununterbrochene Aktivität auf dem Sektor des Brandschutzes befindliches weißes Kreuz, »also, das daneben ist das Verdienstkreuz Erster Klasse für Feuerwehrleute, die besonders gefährliche Situationen gemeistert haben. Eine Tankwagenexplosion bei Edelschuh vor sechzehn Jahren. Ich erinnere mich noch genau daran. Als wäre es gestern gewesen. Zwei Tote, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Ein schönes Andenken, dieses Ehrenkreuz. Einundvierzig Millimeter hoch und breit, achtspitzig, emailliert. Sehr eindrucksvoll die roten Flammenbündel zwischen den Kreuzarmen und das steirische Landeswappen auf silbernem Grund in der Mitte.«

»Super«, sagte Probefeuerwehrmann Jauk, der gerade erst sechzehn geworden war, setzte die Flasche mit dem Tresterbrand an die Lippen, machte einen langen Schluck, stellte sie zurück und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. »Echt super. So ein Kreuz hätte ich auch gern.«

»Für jeden kommt die Stunde der Bewährung, in der er sich auszeichnen kann«, sagte Brandmeister Haas und legte dem Probefeuerwehrmann die Hand auf die Schulter. »Auch für dich.«

Mein Großvater, der sich nicht genügend beachtet fühlte, stand auf und erhob die Stimme: »Und das hier, das hier«, rief er und wölbte die kümmerliche Brust, »das ist das Verwundetenabzeichen in Schwarz! Zweimalige schwere Verletzung vor Saloniki, eine Kugel in der Schulter, ein Granatsplitter im Unterschenkel! Eine schöne Auszeichnung, schaut alle her! Ein Stahlhelm mit auf der Spitze stehendem Hakenkreuz. Hohlgeprägtes Eisenblech.«

»Gestatten, Oberlöschmeister Resch«, sagte ein junger Mann mit zusammengewachsenen Augenbrauen, dichtem lockigen Haar, einem buschigen Schnurrbart und langen Koteletten, den solcherlei Ehrungen offenbar weniger interessierten, zu Emma und verbeugte sich leicht schwankend vor ihr. »Darf ich Sie zu einer Portion Kastanien und einem Viertel Sturm einladen?«

»Was sagt er?«, flüsterte Emma mir zu. »Ich verstehe die Leute hier so schlecht«.

»Recht so, recht so«, sagte Feuerwehrkommandant Strohriegl, »unsere Gäste aus der Bundeshauptstadt müssen anständig bewirtet werden, nicht wahr?«

Der Oberlöschmeister hatte Emma schon an der Hand gepackt, von der Bank hochgezogen und ihren rechten Arm durch seinen abgewinkelten linken gefädelt. So eingehängt, gingen sie auf einen hochgewachsenen dünnen Mann in einer blauen Schürze mit einem für seinen Kopf zu kleinen Hut zu, der Kastanien in einer großen Pfanne mit langem Stiel über einem Feuer in einer rostigen Blechtonne rüttelte, sodass sie gleichmäßig geröstet wurden. Meine Großmutter verdrehte den Hals.

»Dort geht der Forstgehilfe mit seinem Bruder«, sagte sie, »er kümmert sich rührend um ihn. Vom Schicksal geschlagen, der arme Florian! Seit er als kleines Kind diese Gehirnhautentzündung gehabt hat, ist er nicht mehr ganz richtig im Kopf. Ich gebe zu, er ist mir ein bisschen unheimlich – die Art, wie er plötzlich neben einem steht, ohne dass man ihn hat kommen hören … Bedauernswert, aber auch ein bisschen unheimlich, muss man sagen.«

»Also, was mich betrifft, ich fürchte mich vor ihm«, bekannte die Witwe Dirnböck, die auch an unserem Tisch saß, und leerte ihr Glas Traminer. »Stellt euch vor, letzten Samstag taucht er auf einmal in meiner Küche auf! Ich walke gerade den Brotteig, und da habe ich das Gefühl, als sei jemand hinter mir. Ich drehe mich um, und da steht er und lacht mich mit aufgerissenem Mund an, ohne ein Geräusch! Ich schwöre euch, mein Herz hat kurz ausgesetzt.« Sie schwieg und musterte mit feinem Lächeln und scharfem Blick die blonde Haartracht meiner Großmutter. »Übrigens, deine neue Haarfarbe ist bezaubernd, Toni, sie macht dich um Jahre jünger. Ich sage immer, wir Frauen dürfen nicht aufgeben, auch nicht im hohen Alter.«

Meine Großmutter sah die Witwe Dirnböck argwöhnisch an, unsicher, ob sie in der Bemerkung ein Kompliment oder eine Beleidigung vermuten sollte.

»Florian. Wir müssen für ihn beten«, meinte meine Tante Beate, die nicht mehr nüchtern war, was am roten Sturm lag, der ihr heuer besonders gut schmeckte.

»Genau«, sagte meine weißhäutige Kusine Imelda und schlug die frommen Basedow-Augen nieder. »Beten, das hilft.« Ich hatte noch nicht bemerkt, dass sie auch eine leichte Struma hatte. Sie trank Buttermilch.

»Ach was«, sagte die Witwe Dirnböck, »er gehört in eine Anstalt. Die Weber Hilde hat mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit erzählt, dass sie vor ein paar Monaten allein im Wald spazieren ging und dass er plötzlich hinter einem Baumstamm hervorgesprungen ist und sie unsittlich berührt hat – eine Frau in meinem Alter! Man fühlt sich ja nicht mehr sicher im Dorf, solange dieser gemeingefährliche Mensch frei herumläuft. Wozu gibt es schließlich diese große Irrenanstalt in Graz? Dort wäre doch Platz für ihn.«

»Genau«, sagte Probefeuerwehrmann Jauk und rückte auf seiner Bank so lange nach links, bis er die Flasche Sliwowitz in bequemer Reichweite hatte.

Emma und Oberlöschmeister Resch kamen an den Tisch zurück und setzten sich wieder.

»Ah, hier ist sie ja, die Bekannte der Frau Doktor aus Wien«, sagte die Witwe Dirnböck und streckte Emma ihre Rechte hin. »Gestatten, Helene Dirnböck, sehr erfreut. Wie man hört und sieht, haben Sie beide Ihre Vorliebe für den Sausal entdeckt.« Sie schüttelte kräftig Emmas Hand, wandte sich zu mir und lächelte honigsüß. »Und für unseren Doktor König, nicht wahr? Am Sonntag vor drei Wochen habe ich Sie zufällig vor seinem Haus gesehen, erinnern Sie sich? Am frühen Vormittag. Wahrscheinlich mussten Sie bei ihm übernachten, weil am Abend vorher dieser starke Wind aufgekommen ist, oder?«

Emma sah mich überrascht an. »An dem Sonntag, als ich dich so gegen zehn angerufen habe?«, fragte sie.

»Sie hat sich sichtlich wohlgefühlt bei unserem Doktor König«, sagte die Witwe Dirnböck heiter. »Barfuß im Gras, und noch im Nachthemd. Ganz ungezwungen.«

Emma schaute noch überraschter. »Aber du hast doch gesagt, du wärst in der Mühle«, sagte sie. »Beim Kaffeekochen.«

»Kaffeekochen!« Onkel Rudolf schlug sich auf die Schenkel. »Kaffeekochen! Das ist gut.«

»Ich erkläre es dir bei nächster Gelegenheit«, sagte ich leise.

Emma ignorierte mich, stand auf und blickte in die Runde. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte sie. »Aber ich muss heute noch nach Wien zurück. Gute Nacht, allerseits.« Sie sah mich böse an. »Gute Nacht, Sissi.« Sie drehte sich um und ging.

»Aber Frau Emma –«, rief meine Großmutter ihr nach.

»Aber Fräulein Emma –«, sagte Oberlöschmeister Resch enttäuscht. Doch Emma war bereits außer Sichtweite.

»Was hat sie denn?«, fragte Onkel Hannes und trank sein Glas Tresterbrand auf einen Zug aus. »Weshalb ist sie so überstürzt aufgebrochen?«

»Trink nicht so viel, Hannes«, fuhr seine Mutter ihn an. »Denk an dein Herz.«

»Sie ist eifersüchtig«, sagte ich.

»Aber weshalb denn?«, fragte Tante Beate. »Ich verstehe das nicht.«

»Wir sind zusammen, deshalb.«

»Wie, zusammen?«, fragte Onkel Hannes.

»Na ja, wir sind ein Paar.«

»Was!« Meine Großmutter setzte sich kerzengerade auf. »Eine Schamlosigkeit sondergleichen!« Sie griff nach der Flasche mit dem Sliwowitz, wobei ihr die Perücke tief in die Stirn rutschte und ein paar dünne weiße Haarsträhnchen in ihrem Nacken freilegte, schenkte sich ein Achtelglas halb voll und trank die Hälfte. »Glaube bloß nicht, dass dein Großvater und ich von solchen widernatürlichen Dingen keine Ahnung haben, im Fernsehen wird ja ununterbrochen davon geredet. Nicht wahr, Ägyd? Jetzt wollen sie auch noch heiraten!«

Mein Großvater hörte sie nicht, denn erstens saß er am anderen Ende des Tisches, zweitens hatte sein beachtlicher Alkoholkonsum seine Hörfähigkeit bereits beeinträchtigt, und drittens hatte er sich gerade mit Brandmeister Haas auf ein Streitgespräch über jugoslawische Partisanen im Zweiten Weltkrieg eingelassen.

»Er hört nichts, es ist ein Trauerspiel.« Meine Großmutter schob die Perücke wieder hoch und wandte sich erneut an mich. »Sissi, jetzt gehst du zu weit. Das verzeihe ich dir nicht, ebenso wenig, wie ich deinem Vater diese absurde Hochzeit verziehen habe, eine geradezu harmlose Entgleisung im Vergleich zu deinem schweren Fehltritt.«

»Ich verstehe es nicht«, wiederholte Tante Beate. »Was ist denn dann mit ihr und unserem Doktor König?«

»Da kennt sich doch kein Mensch mehr aus«, sagte Onkel Hannes.

»Sie wird diesbezüglich nicht so wählerisch sein.« Onkel Rudolf zog den rechten Mundwinkel amüsiert hoch, der linke hing herab. Die Gesichtslähmung, Folge des Blitzunglücks, hatte sich bedauerlicherweise kaum gebessert. »Habe ich recht, Sissi?«

»Wählerisch, was heißt hier wählerisch?«, rief meine Großmutter. »Das ist ja ekelhaft. Aber hier ist unser Herr Pfarrer, er wird Licht in dieses dubiose Dunkel bringen. Natürlich verraten wir ihm nicht, dass es sich um Sissi handelt, über einen öffentlichen Skandal käme ich nicht hinweg. – Hochwürden!«

Hochwürden Wojcik, der ganz in Gedanken dahinspazierte und dabei rosa Zuckerwatte von einem Stäbchen in seiner Linken zupfte, um sie sich anschließend in den Mund zu stecken, hob den Kopf.

»Kommen Sie, Herr Pfarrer, wir hätten gern Ihre Meinung gehört. Zu einem heiklen Thema.«

Hochwürden änderte gemächlich die Richtung und trat an den Tisch. Er wirkte ausgesprochen weltlich in seinem Anzug, nur der weiße Priesterkragen verriet seine Profession.

»Setzen Sie sich, Herr Pfarrer, setzen Sie sich«, sagte Tante Dagmar und klopfte mit der flachen Hand auf den freien Platz neben sich. »Ein herrlicher Abend, nicht wahr? Ein so gelungenes Erntedankfest! Die Kirche war wunderschön geschmückt!«

Hochwürden setzte sich mit Bedacht.

»Um gleich zur Sache zu kommen«, sagte meine Großmutter. »Was halten Sie von diesen Leuten, die – ich meine, von diesen Frauen, die nicht mit Männern – also, die mit Frauen –«

»Sie will wissen, wie Sie über Lesben denken«, half Onkel Rudolf nach.

»Aha«, sagte Hochwürden und legte die Fingerspitzen seiner Hände vorsichtig aneinander. »Aha. Verstehe. Verstehe. Also, meine bescheidene Meinung tut hier nichts zur Sache. Die Kirche hingegen nimmt in der Frage der Homosexualität, gleich ob männlich oder weiblich, eine entschiedene Haltung ein, spätestens seit dem Lehrschreiben Persona humana von 1975. Darin heißt es, dass homosexuelle Handlungen per se, was so viel bedeutet wie in sich, nicht in Ordnung und damit in keinem Fall zu billigen sind.«

»Nicht in Ordnung, pfff«, sagte die Witwe Dirnböck. »Das ist ja wohl milde ausgedrückt, nicht in Ordnung …«

»Um es etwas schärfer zu formulieren«, setzte Hochwürden Wojcik fort, »die Sünde der Sodomiter zählt mit Verweis auf Genesis 18, Vers 20 sowie 19, Vers 13 zu den himmelschreienden Sünden der katechetischen Tradition und ist somit als schwerwiegende Störung der sittlichen Ordnung einzustufen.«

»Sodomie«, stöhnte meine Großmutter und trank ihren Sliwowitz aus. »Auch das noch!«

»Dennoch – für die meisten der von dieser unseligen Neigung heimgesuchten Männer und Frauen stellt diese eine Prüfung dar«, führte Hochwürden weiter aus, »weshalb ihnen mit Achtung, Mitleid und Takt zu begegnen ist. Die eine heilige katholische und apostolische Kirche schließt niemanden aus. Jedoch sollten solche Menschen zu bestimmten Aufgaben nicht herangezogen werden, so da sind …«

Der Rest der Erläuterungen des Pfarrers ging in Geschrei unter, das vom anderen Tischende zu uns drang. Wir drehten uns um.

»Du elender Kommunist!«, rief mein Großvater und schwang seine kraftlose Altmännerfaust über den Tisch in Richtung Brandmeister Haas, der ihr mühelos auswich. »Jeder weiß, dass dein Vater mit den Partisanen unter einer Decke gesteckt ist. Ein Vaterlandsverräter und Überläufer, der alte Haas! Er hat den Mast der Starkstromleitung bei Neudorf in die Luft gesprengt, der Bandit! Und der ist auf die Radlbacherin gestürzt, die Mutter meiner Schwägerin. Sie war auf der Stelle tot, auf der Stelle! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm!«

»Du hast es nötig, andere zu beschuldigen, du alter Nazi!«, schrie Brandmeister Haas und sprang auf. »Du hast meinen Onkel Willi bei der Gestapo angezeigt, weil er den englischen Sender gehört hat, du nichtswürdiger Denunziant! Man hat ihn dann verhaftet und gefoltert, er hat die Verhöre nicht verkraftet und ist verrückt geworden!«

Feuerwehrkommandant Hauptbrandinspektor Direktor Strohriegl, der gleichfalls bereits einige Gläser Tresterbrand zu sich genommen hatte, stand auf, streckte die Rechte aus und in die Höhe und begann zu singen:

»Wo die Gemse keck von der Felswand springt / Und der Jäger kühn sein Leben waaagt / Wo die Sennerin frohe Jodler singt / Am Gebirg, das hoch in Wolken raaagt / Dieses schöne Laaand ist der Steirer Land, ist mein liebes, teures Heimatlaaand / Dieses schöne Laaand ist der Steirer –«

Hier brach er ab, die Tonlage wurde ihm zu hoch.

Hochwürden Wojcik stand auf, eilte zu den Kontrahenten und hob besänftigend die Hände: »Aber, aber, meine lieben Pfarrkinder, wer wird denn an diesem schönen und harmonischen Abend die Vergangenheit –«

»Halt den Mund, du polnischer Untermensch!«, brüllte mein Großvater und stieß den Mann Gottes in die Hühnerbrust, sodass dieser zurücktaumelte und von meiner Großmutter aufgefangen wurde, die sich inzwischen ebenfalls am unteren Tischende befand. »Misch dich nicht in unsere Angelegenheiten ein, du scheinheiliger Pfaffe, deine Meinung interessiert hier niemanden!«

»Hör sofort auf, unseren Hochwürden zu beleidigen, du impotenter Tattergreis!«, rief meine Großmutter. »Was fällt dir ein? Der Haas hat recht, ein alter Nazi bist du, so wie deine ganze Sippschaft! Weiß der Himmel, warum ich dich geheiratet habe!«

»Warum? Warum? Ich werde dir sagen, warum: weil deine Verwandten arm waren wie die Kirchenmäuse, deshalb! Slowenische Tagediebe, alle miteinander! Und ich hab mir von dir berechnendem Luder den Kopf verdrehen lassen, jung und dumm, wie ich war. Du hast es von Anfang an auf den Hof abgesehen gehabt, auf nichts anderes!«

Meiner Großmutter verschlug es die Sprache, und Oberfeuerwehrmann Kienreich, der bisher kaum etwas gesagt hatte, nützte die so entstandene kurze Unterbrechung für einen Einwurf. »Genau! Genau!«, schrie er. »Slowenisches Lumpengesindel! Die komplette Untersteiermark haben sie uns nach dem ersten Krieg gestohlen, auf unbewaffnete Deutschösterreicher haben sie in Marburg geschossen, mein Urgroßvater, ein Uhrmacher, hat dabei seinen Arm verloren und war ruiniert! Und die –«

»Halt’s Maul, Kienreich!«, fuhr Brandmeister Haas dazwischen. »Das sind Lappalien gegen das, was ihr Nazis angerichtet habt. Ihr habt unschuldige Menschen vertrieben, ihnen verboten, ihre Sprache zu sprechen, ganze Dörfer habt ihr ausgerottet, ihr Verbrecher!«

Hochwürden Wojcik setzte zu einem weiteren Beschwichtigungsversuch an. »Also, ich möchte doch bitten –«

Man beachtete ihn nicht.

»Partisanenschwein!«, rief mein Großvater, beugte sich vor und riss Brandmeister Haas erbost einen glänzenden goldenen Knopf von seiner Uniform. »Und was hat Tito nach Kriegsende gemacht? Wir Deutsche wurden enteignet, inhaftiert, ermordet, eine beispiellose Brutalität! Mein bester Freund, der Joschi, ist jahrelang unschuldig im Gefängnis gesessen!«

»Unschuldig, dass ich nicht lache!«, schrie Brandmeister Haas. »Er hat einen slowenischen Partisan mit dem Gewehrkolben erschlagen, so ist es gewesen, so und nicht anders. Ein feiger Mörder, dein bester Freund!«

»Was sagst du da?!«

Mein Großvater ging heftig wankend um den Tisch herum und stürzte sich auf Brandmeister Haas, der ihn packte, hochhob, vor sich auf den Boden stellte und ihm einen Faustschlag ins Gesicht versetzte. Der Großvater griff sich an die Nase, fiel um und blieb liegen. Meine Großmutter warf sich auf ihn.

»Um Himmels willen, Ägyd, Ägyd, sag doch was! Heilige Maria, Mutter Gottes, er hat ihn umgebracht, der Haas hat meinen Mann erschlagen!«

Da machte der Großvater die Augen auf. »Hör auf mit dem Theater, Toni, gib mir einen Schnaps!«

Inzwischen war es weit nach Mitternacht, die meisten hatten die Festwiese verlassen, die schon lange im Dunkeln lag. An unserem Ende des Tisches saßen nur noch, mir gegenüber aufgereiht, meine mittlerweile stark alkoholisierte Tante Dagmar, der immer noch muntere Onkel Rudolf und die stocknüchterne Witwe Dirnböck mit dem scharfen Blick. Jemand setzte sich neben mich. Eine Hand legte sich leicht auf meinen rechten Oberschenkel.

»Du hast aber ganz schön lange ausgehalten, Prinzessin«, sagte Stefan.

Ich hatte mich an diesem Nachmittag und Abend gelegentlich nach ihm umgesehen, ihn aber nirgends entdeckt.

»Ach, der Doktor – der Doktor – wie heißt er schon –«, lallte meine Tante Dagmar und streckte eine schlaffe Hand aus. »Was ist jetzt eigentlich mit Ihnen – mit Ihnen und –« Die Hand pendelte langsam zwischen mir und Stefan hin und her.

Stefan zog mich hoch. »Gehen wir?«, fragte er.

»Aber Herr Doktor, bleiben Sie doch ein bisschen«, sagte die Witwe Dirnböck mit einem gewinnenden Lächeln. »Es ist uns eine Ehre, noch dazu, wo Sie die Pfarre mit einer so reichlichen Spende bedacht haben. Eine solche Großzügigkeit! Wirklich, eine solche Ehre!«

»Die wollen nicht bleiben«, sagte Onkel Rudolf, »die wollen ganz woanders hin.« Er lachte laut und trank seinen Schnaps aus. Ein Teil der Flüssigkeit lief aus seinem linken Mundwinkel. Die partielle Gesichtslähmung. Er konnte es nicht verhindern.

Abermals landete ich im Ehebett des Ehepaares König – denn genau genommen waren Regina und Stefan das noch. Es sollte nicht das letzte Mal sein, und ich wusste es. Diesmal intervenierte das Phantom Regina kaum. Was wir in dem harten, breiten Bett taten, gefiel mir, und ich hatte den Eindruck, dass es auch Stefan Spaß machte. Wie von selbst bewegten sich unsere Körper so, dass ich ein Optimum an Genuss empfand, wie von selbst fielen sie in einen angenehmen, langsamen Rhythmus, der Befriedigung für beide garantierte. Deshalb war ich überrascht, als Stefan mich plötzlich umdrehte, heftig von hinten in mich eindrang und irgendetwas wie »Schlampe« hervorkeuchte. Ich war mir nicht sicher, ob ich richtig verstanden hatte, und der Moment war schnell vorüber, denn Stefan kam fast im selben Augenblick und fiel seufzend auf mich. Lange lagen wir so da, bis ich ihn abwälzte, weil er mir zu schwer wurde.

Ich ging ins Badezimmer. Als ich zurückkam, schien er schon zu schlafen. Ich legte mich zu ihm ins Bett, und er murmelte, wie im Traum: »Hure, du Hure …«, legte seinen Kopf an meine Schulter, seinen Arm um meine Taille und seinen Oberschenkel über meine Beine. Auch diesmal war ich mir ungewiss, ob ich recht gehört hatte.

Am Morgen weckte mich das Geräusch des Regens. Ich öffnete die Augen und sah, wie die Tropfen auf das Fenster in der Dachschräge trafen und daran herabliefen. Wieder war Stefan vor mir aufgestanden, ich konnte hören, wie er sich unten in der Küche zu schaffen machte. Rasch schlüpfte ich in Reginas weinroten Hausmantel, ging die Treppe hinab und betrat die Stube. Kaffeegeruch durchzog das Haus. Der Tisch war mit Besteck, Tassen und Tellern aus dicker grünweißer Keramik und mit Servietten aus Leinen für das Frühstück gedeckt. Ich ging zu dem Stutzflügel, der eine Ecke des großen Raumes ausfüllte.

Über den Tasten war ein kleines Schild mit der Aufschrift Gebrüder Stingl angebracht. Ich griff nach dem Notenheft auf dem Ständer. Hugo Wolf, »Sechs Lieder für Frauenstimmen«. Ich blätterte darin. »Die Spinnerin«.

O süße Mutter / Ich kann nicht spinnen / Ich kann nicht sitzen / Im Stüblein innen / Im engen Haus / Es stockt das Rädchen / Es reißt das Fädchen / O süße Mutter / Ich muss hinaus.

Ich drückte eine Taste nieder. Der Klang war nicht angenehm.

»Kennst du den Flügel noch? Aus der Wohnung in der Liechtensteinstraße?«

Stefan war mit einem Tablett ins Zimmer getreten, stellte es auf den Tisch, kam auf mich zu und küsste mich auf den Nacken.

»Ich weiß nicht mehr genau.«

»Deine Haare«, sagte er dann und lachte. »So kurz und fein. Ich muss mich erst daran gewöhnen. Regina hatte dieses –«

»Ja, ja«, sagte ich, »sie hatte dieses unglaublich dichte, lange schwarze Haar. Wunderschön. Wunderschön. Wun-der-schön!«

»Was hast du denn?«

»Nichts.« Ich schlug eine andere Seite im Notenheft auf. »Und eine Träne quillet / Hervor so heimlich still«, las ich. »Morgentau. Aus einem alten Liederbuch.«

»Regina hing an diesem Flügel.« Er strich über den aufgeklappten Deckel. »Nussbaumholz. Das Klavier ist alt, 1915, glaube ich, es klingt nicht mehr gut. Die Wiener Mechanik ist etwas problematisch.« Er nahm mir das Notenheft aus der Hand. »Ach, die Hugo-Wolf-Lieder. Ich habe es nicht fertiggebracht, die Noten nach ihrem – ihrem Tod wegzuräumen. Sie liegen seit zwei Jahren hier.« Er stellte das Heft zurück, und wir setzten uns auf die Eckbank.

»Der Kaffee duftet herrlich«, sagte ich und schenkte uns beiden ein. Auf dem Tisch stand eine Vase aus undurchsichtigem türkisen Glas mit frischen weißen, gelben und violetten Dahlien darin.

»Hübsch, die Blumen«, sagte ich und strich über die festen und nassen kugeligen Köpfe. »Du warst schon draußen?«

»Ja – hast du das Beet hinter dem Haus gesehen? Regina hat –«

Die Tasse glitt mir halb aus der Hand, und der heiße Kaffee ergoss sich über Stefans Oberschenkel. Er stieß einen Schrei aus, sprang auf und lief aus dem Zimmer.

»Entschuldige, bitte!«, rief ich ihm nach. »Es tut mir ja so leid!«

Ich war bestürzt, verstand nicht, wie ich so ungeschickt hatte sein können. Nicht ganz jedenfalls.

Ich kannte die Vase. Vor Jahren hatten Regina und ich sie auf dem Flohmarkt in Wien gefunden, und ich hatte sie ihr zum Geschenk gemacht. Ich entsann mich noch gut. Ein greller, frischer Frühlingsmorgen. Wir hatten in den Kleiderbergen der Verkäufer aus dem Osten gewühlt, uns die alten Röcke und Blusen an den Körper gehalten und die schmutzigen handgestrickten Wollschals um den Hals geschlungen, die speckigen Hüte aufgesetzt und dabei Grimassen geschnitten, waren in die viel zu weiten Jacken mit den dicken Schulterpolstern und in die viel zu großen und langen, steifen und rissigen Ledermäntel geschlüpft. Regina war ausgelassener Stimmung gewesen, hatte gestrahlt, mit den Verkäufern gescherzt und alle Blicke auf sich gezogen. Mich beachtete niemand. Wie üblich.

Gab es denn gar nichts, was in diesem Haus nicht an sie erinnerte? Und daran, wie unbedeutend und farblos ich im Vergleich zu ihr war? Nichts, worüber man sich unterhalten konnte, ohne sie zu erwähnen oder zumindest an sie zu denken? War ich im Begriff, eine ménage à trois mit einem alten Freund und einem Gespenst einzugehen?

Stefan kam zurück. Er trug andere Jeans und wirkte gefasst.

»Ist alles okay?«, fragte ich. »Es tut mir wirklich leid.«

»Ja«, sagte er, »ich habe kalt geduscht, der Schmerz war gleich vorbei.« Er lächelte. »Wolltest du mich kastrieren, Prinzessin?«

Ich lachte.

»Weshalb sollte ich das?«, sagte ich. »Ich würde mir damit nichts Gutes tun, oder?« Ich berührte die Vase. »Übrigens habe ich Regina diese Vase geschenkt. Sie ist vom Flohmarkt. Wir haben einen guten Preis ausgehandelt. In Gablonz hergestellt, ziemlich sicher.«

Stefan zog die Vase näher zu sich heran, drehte sie langsam: »Ja, Regina hatte ein gutes Auge für Antiquitäten. Man konnte ihr wenig vormachen.«

Er blickte über mich hinweg zum halb geöffneten Fenster. Draußen rauschte der Regen. Wie nach der ersten Nacht war er liebenswürdig, aber distanziert, und wirkte eher unaufmerksam. Wenn er mich berührte, dann kurz und wie beiläufig. »Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt, Regina und du?«, fragte er, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden.

»Das weißt du doch.«

»Nein, weiß ich nicht. Oder nicht mehr.«

»Im Gymnasium in Graz. Sacré Coeur. In der Leonhardstraße.«

»Ach ja? So lange ist das schon her? Wie alt wart ihr da?«

»Fünfzehn. Ich war neu in der Klasse. Die Lehrerin setzte mich zu ihr.«

Die Erinnerung kam zurück, deutlich. Regina, skeptisch, fast abweisend zu mir hochblickend. Ich hatte noch nie ein so schönes, elegantes Mädchen gesehen. Selbst zählte ich damals zu den Vorreiterinnen der Gruftis und war stolz darauf. Schwarze Kleidung, das Gesicht totenbleich geschminkt, die Augen mit Kajal umrandet, ein Krähennest aus rabenschwarz gefärbten Haaren, löchrige Strumpfhosen, schwarz lackierte Fingernägel, jede Menge Armreifen.

Wir wurden schnell Freundinnen, hörten Prince, Purple Rain, und Falco, Junge Römer, wollten als Erntehelferinnen nach Nicaragua, sahen uns Dame Edna und Spitting Image im Fernsehen an, trugen Swatch-Armbanduhren, lasen Garfield-Comics, vergötterten Harrison Ford in Indiana Jones und der Tempel des Todes und waren kurz in denselben Mod mit militärgrünem Parka, dem Union Jack auf dem Rücken und apfelgrüner Vespa verliebt.

Eine Weile aßen wir schweigend.

»Sie hätte bestimmt gewollt, dass wir zusammen sind«, sagte Stefan dann.

»Glaubst du?«

»Ganz sicher. Wir drei waren wie eine Person. Ein Herz und eine Seele, hat sie oft gesagt. Kannst du dich an den Abend in deinem Zimmer in der Heinestraße erinnern, als wir uns die Arme ritzten und unser Blut vermischten?«

»Ja. Jeder trank ein paar Tropfen. Sie lachte. Trio infernal, sagte sie, jetzt sind wir Verschworene.«

»Siehst du. Es ist nur natürlich.«

Das Bild der zu mir aufschauenden Regina mit dem hellen, leicht überheblichen Blick wollte sich nicht verflüchtigen.

»Bist du eigentlich später noch einmal nach Procida gefahren?«, fragte ich.

»Nein. Weshalb?«

»Um nachzuforschen. Man hat ihren – ihre – man hat sie ja nie gefunden.«

»Aber es gab doch keinen Zweifel. Sie ist ertrunken, das steht fest. Alles hat darauf hingedeutet.«

»Trotzdem …«

Emma und ich saßen in meiner Wohnung in Wien. Ich hatte sie zum Essen eingeladen und mir mit dem Kochen große Mühe gegeben, ein Versuch, die Verstimmung zwischen uns aus der Welt zu schaffen. Was eignet sich besser dazu als eine italienische Mahlzeit? Bisher hatten wir nicht viel miteinander gesprochen.

Emma schnitt eine Scheibe vom Zampone ab und begutachtete die Fülle gründlich, bevor sie sich entschloss, davon zu kosten. Das missfiel mir. Ich hatte mir vorgestellt, dass sie den gefüllten Schweinsfuß, dessen Zubereitung mühevoll und aufwendig ist, mit etwas mehr Appetit verzehren würde.

»Was ist denn da drin?«, fragte sie argwöhnisch.

»Schwarte, Schulter, Haxe und Backe – und Zunge«, sagte ich. »Ach ja, und Pistazien. Schmeckt es dir nicht?«

»Ehrlich gesagt, nicht besonders.«

Ihr Kommentar kränkte mich. So kannte ich sie nicht. Normalerweise war sie taktvoll und höflich und lobte meine italienischen Gerichte.

»Schade, dass du es so wenig zu würdigen weißt, wenn ich dich mit etwas ganz Besonderem überrasche. Ich habe den Zampone zwölf Stunden gewässert. Dann habe ich die Schwarte der Länge nach mit einer Stopfnadel in drei Reihen eingestochen und mit einem scharfen Messer auf der Unterseite ein kleines Kreuz gemacht. Siehst du es?«

Emma drehte und wendete den Schweinsfuß missmutig mit Gabel und Messer in ihrem Teller und betrachtete ihn von allen Seiten. »Nein. Außerdem – da sind ja noch die Klauen dran!«

Ich ignorierte diesen laienhaften Einwurf. Natürlich waren die Klauen dran. Wären sie es nicht, dann wäre es kein authentischer Zampone di Modena.

»Diese langwierigen Vorbereitungen verhindern, dass der Schweinsfuß beim Kochen platzt. Dann habe ich ihn in ein Tuch aus Musselin gewickelt, in einen Topf gelegt, mit Wasser bedeckt und bei schwacher Hitze dreieinhalb Stunden garen lassen. Das ist viel Zeit, die ich auch am Institut hätte zubringen können, wo man meine Arbeit schätzt.«

Nun schob sie die gekochten Linsen, die ich dazu serviert hatte, achtlos an den Tellerrand. Ich fand, dass meine Linsen es verdienten, mit mehr Respekt behandelt zu werden.

»Man reicht das Gericht traditionell mit lenticchie«, sagte ich, »speziell zu Neujahr. Sie sind ein Symbol für Wohlstand und Glück.«

»Ich habe Linsen nie gemocht«, stellte Emma fest.

»Ich verstehe dich nicht«, sagte ich. »Du hast meine Speisen bisher immer mit Appetit gegessen.«

Emma legte Messer und Gabel weg und schaute mich an. »Nein«, meinte sie dann. »Den habe ich dir vorgespielt. Um dich nicht zu verletzen. Dein italienisches Essen hat mir nie geschmeckt. Ich ziehe die österreichische Küche vor. Schweinsbraten mit Semmelknödeln, Zwiebelrostbraten, Erdäpfelgulasch, Krautrouladen, du weißt schon. Geröstete Leber. Oder diese wunderbare Jause, mit der deine Großmutter uns bewirtet hat.« Ihr Blick wurde weich. »Einfache, wohlschmeckende Mahlzeiten …«

Meine Gekränktheit wich, wie ich fand, berechtigter Entrüstung. »Ich habe dir das Beste vorgesetzt, was die italienische Küche zu bieten hat! Zum Beispiel den Cacciucco alla livornese, diesen herrlichen Fischeintopf, erinnerst du dich? Das erste Mal, als du hier warst.«

»Ja«, sagte Emma, »ich erinnere mich sehr gut. Eine gelbliche Brühe, in der zerkochte Fischstücke schwammen. Und diese Blumen, die ich essen musste! Mit einer braungrauen – graugrünen – grünbraunen Paste gefüllt.«

»Wie bitte? Das waren Zucchiniblüten, Fiori di zucchini ripieni, eine Delikatesse. Das Pesto war von mir selbst zubereitet. Mit viel Liebe.«

»Und wenn schon«, sagte Emma ungerührt. »Und danach, die Hauptspeise! Schlangenartige weiße Streifen in einer orangeroten Masse. Es roch sehr merkwürdig. Kutteln?«

»Du meinst die Trippa alla fiorentina – eine Spezialität aus der Toskana!«

Ich konnte es kaum glauben.

»So, so«, sagte Emma. »Jedenfalls bin ich froh, dass du jetzt die Wahrheit weißt. Und diese Weine mit den unsäglich langen italienischen Namen, die du mir zu den Speisen einschenkst! Dieser zum Beispiel. Wie heißt er?«

Sie hob ihr Glas.

»Ein ausgezeichneter Rotwein. Colli Piacentini Gutturino.«

»Siehst du, was ich meine? Großspurig. Mir ist ein ganz gewöhnlicher Zweigelt aus dem Burgenland lieber. Oder ein Grüner Veltliner beim Heurigen.«

Den Panettone, den ich zum Dessert auftischte, lehnte sie auch ab, er war ihr zu trocken.

»Eine Kardinalschnitte wäre jetzt schön …«, seufzte sie und schob den Teller zurück. »Was ich noch sagen wollte – es macht mir nichts aus, dass du mit diesem Arzt etwas angefangen hast. Das war vorauszusehen. Mich hat nur geärgert, dass du mich belogen hast.«

»Das hast du mich ja auch, wie ich gerade höre.«

»Dann sind wir quitt.« Sie machte eine kleine Pause und schien zu überlegen. »Ich war nie interessiert an Frauen«, sagte sie dann. »Du bist die erste. Und wahrscheinlich die letzte. Ein Augenblick der Schwäche. Du hast mich verführt, Sissi. Betrunken gemacht und verführt. Nach Strich und Faden. Während wir uns diesen Hitchcock-Film ansahen. Ich war unfähig, mich zu wehren.«

»Frenzy«, sagte ich.

»Genau. Ein Augenblick der Schwäche, wie gesagt. Aber ich hoffe, wir bleiben Freunde.«