1

Dass ich am Begräbnis meines Vaters teilnahm, war der erste Fehler. Aber wie hätte ich ahnen sollen, was für Folgen sich daraus ergeben würden?

Meine Großmutter hatte mich in Wien angerufen und mir mitgeteilt, dass er gestorben war.

»Es musste so kommen«, sagte sie. »Wir haben ihn heute früh in der Mühle gefunden. Der Forstgehilfe und sein Bruder, die weiter oben am Bach wohnen, konnten nicht schlafen, weil die ganze Nacht diese fürchterliche Musik, die dein Vater so schätzt –«

Eine Pause entstand. Ich hörte ein kurzes Wimmern.

»– geschätzt hat«, fuhr sie fort. »Jedenfalls, diese fürchterliche Musik dröhnte die ganze Nacht durch den Graben. Natürlich nicht zum ersten Mal, du weißt, wie rücksichtslos dein Vater sein kann.«

Noch eine Pause. Ein leises Ächzen.

»Konnte«, sagte sie dann. Ihre Stimme zitterte. »Nicht auszuhalten, hat der Forstgehilfe gesagt. Also ist er gegen fünf Uhr aufgestanden und zur Mühle gegangen. Im Morgengrauen. Auch nicht zum ersten Mal, soviel ich weiß. Die Eingangstür stand weit offen. Caspar lag am Fuß der Treppe, zusammengekrümmt wie ein Embryo. Wie ein Schlafender. Ganz friedlich. Ich habe sofort gesehen, dass er tot ist, sagte der Forstgehilfe. Er hat zuerst den CD-Player ausgeschaltet, um die fürchterliche Musik nicht mehr hören zu müssen, und dann den Arzt verständigt. Genickbruch. Eine Katastrophe.«

Eine dritte Pause. Etwas raschelte.

»Ich lese dir vor, was auf dem Totenschein steht.«

»Das brauchst du nicht«, sagte ich. »Fraktur des zweiten Halswirbels, Riss der Bänder des Dens axis, Durchtrennung der Medulla oblongata, vergleichbar mit einer Dekapitation.«

»Genau so steht es hier«, sagte meine Großmutter erstaunt. »Wortwörtlich.« Sie fasste sich. »Na ja, schließlich hast du Medizin studiert. Nur das mit der Dekapitation hat er nicht eingetragen. Was ist das?«

»Eine Enthauptung«, sagte ich.

»Enthauptung. Schrecklich«, sagte sie. »Er hätte es eintragen sollen. Eine Tragödie. Erst Mitte fünfzig, dein Vater, ein junger Mensch. Aber es hat niemanden erstaunt. Alle haben es kommen sehen. Es war nur eine Frage der Zeit. Natürlich hatte er Alkohol im Blut.«

»Wie viel?«, fragte ich.

»Zwei Komma zwei Promille.« Sie seufzte. »Eine schwere Prüfung des Schicksals, ein solcher Sohn. Übermorgen ist das Begräbnis. Das Dorf erwartet, dass du kommst.«

»Was soll das heißen, du hast keine Lust, zur Beerdigung zu fahren?«, fragte Emma und setzte sich auf. Emma war die Frau, mit der ich seit ein paar Wochen zusammen war. »Er ist dein Vater, natürlich fährst du! Ich verstehe überhaupt nicht, wie du dich derart ungerührt über seinen Tod äußern kannst.«

Wir lagen im Bett. Sie streckte sich wieder aus und zog meinen Kopf sacht an ihr rechtes Schlüsselbein. »Richtiggehend gefühllos. Erschreckend. Du bist doch sonst nicht so.«

Emma hatte keine Ahnung. Sie leitete eine kleine Privatdetektei, es war ihr Beruf aufzudecken, was die Menschen verbargen, aber was meine Biografie anging, wusste sie gar nichts. Wir kannten uns erst seit kurzem, ich hatte es bisher nicht für nötig gehalten, ihr von meiner Vergangenheit, meiner Herkunft, meiner Familie zu erzählen. Ihr war nur bekannt, dass ich in der Südsteiermark aufgewachsen war, nahe der Grenze zu Slowenien. Sie war einige Jahre älter als ich.

»Ich habe meinen Vater während der letzten Jahre nur selten gesehen«, sagte ich und küsste sie auf das Brustbein. »Er war schwer auszuhalten.«

»Das ist meiner auch«, sagte Emma.

Was stimmte. Emmas Vater war weit über achtzig, erging sich in Phantasien über seine Zeit als Soldat der deutschen Kriegsmarine und baute maßstabgerecht U-Boote aus dem Zweiten Weltkrieg nach. Er war nicht nur schwer zu ertragen, er war verrückt. Wahrscheinlich sind die meisten Väter verrückt. In Österreich und anderswo.

Ich fuhr in den Sausal, zum Begräbnis. Die Kirche mit dem Friedhof lag, umgeben von Weingärten, auf einer steilen Anhöhe. Es war Mitte August, ich hatte allein sein wollen und war zwischen den Rebzeilen hinaufgestiegen. Mir war heiß, ich war zu warm angezogen, aber außer einer schwarzen Hose mit dazugehöriger Jacke, beides aus leichtem Wollstoff, war kein Kleidungsstück, das ich besaß, für eine Beerdigung geeignet. Ich stand vor der kleinen Kapelle außerhalb der Friedhofsmauer, in der mein Vater aufgebahrt war, und blickte über die Hügel. Eine weiche Linie folgte auf die andere, hie und da unterbrochen von einer hohen Pappel, einem Kirchturm, einem roten Hausdach. Die letzte ging in den Himmel über. Unter mir Weinberge, Obstgärten, Wiesen, kleine Wälder, Winzerhöfe. Ein Zorn stieg in mir auf, weil die Umstände, die Menschen mir das Leben in dieser sanften südlichen Landschaft so unerträglich gemacht hatten, dass ich keine andere Wahl gehabt hatte, als wegzugehen. Weil ich mir meine Heimat hatte stehlen lassen.

Ich drehte mich um und betrat die Kapelle, in der sich niemand befand außer meinem toten Vater in seinem hellen Sarg. Kränze und Blumenbuketts umrahmten ihn, Lilien, Gladiolen, Nelken, Gerbera, Callas. Und Rosen, Rosen. Ein Geruch, gemischt aus Blüten, Buchsbaum, Nadelbäumen und Weihrauch. Schwarze Bänder mit Golddruck. Geliebt und unvergessen. In aufrichtiger Anteilnahme. Wir tragen dich im Herzen. Kein Wort war wahr. Lebe wohl, Caspar!

Geboren am sechsten Jänner 1949, benannt nach einem der Heiligen Drei Könige. Hierzulande wurde nicht lange überlegt, man gab dem Neugeborenen den Namen des Tagesheiligen. Kein Heiliger, kein König, mein Vater. Er hätte sich den Namen nicht ausgesucht. Wenn er die Wahl gehabt hätte, dann hätte er sich David Clayton Thomas Fux genannt. Oder Frank Z. Fux. Oder Jimi Fux.

Plötzlich ein Satz in meinem Kopf: Das Dorf beansprucht seine Toten.

Ich trat vor den Sarg hin. Man hatte ihn in einen schwarzen Anzug gesteckt, ähnlich meinem. Er wirkte fremd darin, ich hatte ihn immer nur in Jeans, T-Shirts, Parkas und Lederjacken gesehen. Seine Hände lagen verschränkt über dem Bauch, ein Rosenkranz war um sie geschlungen, sie sahen gefesselt aus. Aus der Öffnung zwischen dem Daumen der rechten Hand und dem Zeigefinger der linken ragte ein Kreuz. Das war zweifellos das Werk meiner Großmutter, der katholischen Hexe. Er hatte jede Art von Religion abgelehnt, auch ihre äußeren Symbole. Seine Fingernägel waren eingedellt und weiß verfärbt, die Nagelmonde rot, Anzeichen für Alkoholismus. Die fleckig geröteten Handinnenflächen sah man so nicht. Tremor hatte er auch keinen mehr.

Ich schaute ihn an. Ganz friedlich. Ein friedlicher toter Alkoholiker. Lidsäcke, Spinnennaevi, punkt- und fleckenförmige Hautblutungen, Gewebeschwund, verhornte Epidermis. Der Teint war grau und teigig. Immerhin war die Gesichtsrötung verschwunden.

Er hatte nicht hierher gepasst, in diese Welt gewiefter Bauern, ebenso wenig, wie ich hierher passte.

Jemand sagte etwas, das ich nicht verstand, und ich wandte den Kopf. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich nicht mehr allein in der Kapelle war. Ein junger Mann mit einem schweißnassen runden Gesicht stand neben mir. Er riss den Mund weit auf und lachte mich an. Ich konnte ein paar Amalgamfüllungen und den rosa Gaumen mit dem Zäpfchen sehen. Das Haar klebte an seinem großen Schädel, der Seitenscheitel war schnurgerade gezogen. Er trug die Landestracht, einen grauen Lodenanzug mit grünen Aufschlägen am Rock und grünen Streifen an den Hosennähten, darunter ein violettes T-Shirt mit der Abbildung eines grellroten umgekehrten Kreuzes, und hatte abgetragene braune Arbeitsschuhe an. Außen an der linken Augenbraue glitzerten in einer Reihe vier Piercings. Angestrengt wiederholte er, was er gesagt hatte. In der Mitte seiner Stirn trat eine senkrechte, kerzengerade Ader hervor. Offenbar bereitete ihm das Sprechen Mühe.

»Mein Beileid«, verstand ich schließlich. Und: »Kennst du mich nicht mehr?«

Ich hatte keine Ahnung, wer er war.

In der Kirche war es angenehm kühl. Ich saß neben meinen Großeltern, die aussahen wie das blühende Leben, in der vordersten Bank. Der Großvater hatte sich zur Feier des Tages das Allgemeine Sturmabzeichen an die linke Brustseite gesteckt, ein silberfarbenes Ehrenzeichen in Form eines ovalen Eichenkranzes. Der Pfarrer stand auf der Kanzel, ein großer, hagerer, schlecht rasierter Mensch mit gekrümmtem Rücken, gelber Gesichtsfarbe und bekümmerter Miene. Vielleicht Gallensteine.

»Seht, ich enthülle euch ein Geheimnis«, sagte er mit slawischem Akzent. Ein Pole. Er war neu in der Pfarre, ich hatte am Vortag seine Bekanntschaft gemacht. Hochwürden Wojcik. Sein Tonfall, dieser für Geistliche so typische Singsang, dessen Erlernen wahrscheinlich Teil ihrer Ausbildung war, machte mich schläfrig.

»Reiß dich zusammen!«, zischte mir meine Großmutter ins Ohr. Ich fuhr hoch.

»… wir werden alle verwandelt werden«, sagte der Pfarrer gerade, »plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten Posaunenschall. Die Posaune wird ertönen, die Toten werden zur Unvergänglichkeit auferweckt, wir aber werden verwandelt werden.«

Posaune. Es war vorauszusehen gewesen. Ich sah meine Großmutter von der Seite an. Sie hatte wenig von meinem Vorschlag gehalten, die Musik von Blood, Sweat & Tears in die Trauerfeier einzubeziehen. Mein Vater war sein Leben lang ein Fan dieser Band gewesen, insbesondere der Posaunisten. In der Bibel erschallten ständig Posaunen, das wusste man doch. Nichts hätte die Zeremonie passender untermalt als der Song And When I Die: I’m not scared of dying / And I don’t really care / If it’s peace you find in dying / Well then let the time be near.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, hatte sie gesagt. »Dein Vater hat uns zu Lebzeiten genug mit dieser fürchterlichen Musik gequält. Deine Kusine Imelda singt das Ave Maria von Schubert, und damit basta. Sie ist im Kirchenchor und hat einen wunderbaren natürlichen Sopran.«

Ich hatte nicht lockergelassen, war zu Hochwürden Wojcik gegangen und hatte ihm meine Idee unterbreitet.

»Normalerweise werden profane Musikstücke in den Riten der römisch-katholischen Kirche nicht toleriert«, hatte er gesagt.

»Ich bin sicher, es wäre im Sinne meines verstorbenen Vaters«, beharrte ich.

Er seufzte und fuhr sich mit einer schlaffen Hand langsam durchs Haar. Seine Finger waren lang und knochig, der gelbliche Handrücken schwarz behaart.

»Haben Sie den Text bei sich?«, fragte er.

»Das nicht, aber ich kann Ihnen das Lied vorsingen«, bot ich an. »Können Sie Englisch?«

Er seufzte wieder.

»Natürlich. Ich habe ein Semester am Trinity College in Dublin studiert. Singen Sie. Niemand soll sagen, dass die eine heilige katholische und apostolische Kirche Anregungen nicht offen gegenübersteht.«

Ich sang And When I Die. Hochwürden Wojcik hörte zu und schüttelte betrübt den Kopf.

»Nein, nein«, sagte er leise, in bedauerndem Tonfall. »Unmöglich. Dieser Gesang steht in eindeutigem Widerspruch zur rechten Lehre: I can swear there ain’t no heaven. Verstehen Sie? Hier wird die Existenz des Paradieses geleugnet. Das ist Häresie. Es tut mir leid.«

»Sie sollten Ihre Galle untersuchen lassen«, sagte ich, bevor ich ging.

Das Ave Maria von Schubert gefiel mir nicht. Meinem Vater hätte es auch nicht gefallen. Meine Kusine Imelda, ein feistes weißblondes Geschöpf mit Basedow-Augen, Klassenbeste in der Weinbauschule in Silberberg, trug das Musikstück mit Inbrunst und durchdringender Stimme vor. Man spürte, sie war gläubig.

Der Gottesdienst dauerte lange. Mein Vater, der im Dorf unbeliebt gewesen war, weil er ein aufsässiges Naturell gehabt und sich nicht ins Kollektiv eingefügt hatte, wurde von Hochwürden Wojcik als geselliger, populärer, hilfsbereiter Mensch und wertvolles Mitglied der Pfarrgemeinde bezeichnet, sein viel zu frühes Hinscheiden, das ihn jäh aus unserer Mitte gerissen habe, als unersetzlicher Verlust für die Gemeinschaft beklagt. Ich dachte daran, dass mir meine Großmutter erzählt hatte, mein Vater sei als Kind derart schwer zu behandeln gewesen, dass sie verzweifelt beim Pfarrer Rat gesucht hätte, der ihr vorschlug, den Buben bei besonders heftiger Renitenz mit Weihwasser zu besprengen und dazu laut und energisch die Worte »Fahr aus!« zu sprechen. Danach würde der Höllenfürst, der zweifellos von Körper, Geist und Seele des unglückseligen Kindes Besitz ergriffen habe, augenblicklich von ihm ablassen. Er empfahl ihr auch, ihn körperlich zu züchtigen, so wie es die Bibel verantwortungsvollen Eltern, die ihre Kinder liebten, ans Herz legte. Das Brechen des ungebärdigen Willens eines jungen Wesens liege in seinem eigenen Interesse, ganz abgesehen von dem Gottes.

»Was hätte ich tun sollen?«, hatte meine Großmutter gefragt und mich mit ihren schwarzen Hexenaugen durchbohrt. »Ich musste seinen Rat befolgen. Aber es hat nichts genützt, der Leibhaftige hat sich nicht austreiben lassen. Ein stures Kind, dein Vater. Und dann tut er mir das an und tritt aus der Kirche aus! Als könnte man die Taufe rückgängig machen!«

Sie hatte sich um alles gekümmert, hatte erstaunlich flink für ihr Alter und heiter für den Anlass die nötigen Amtswege erledigt, das Bestattungsunternehmen kontaktiert, die Anzeigen verschickt, den Sarg gekauft, den Ablauf der Begräbnisfeier mit dem Pfarrer besprochen und ein Gasthaus für den Leichenschmaus ausgewählt.

Der Pfarrer redete noch immer. Es fiel mir schwer, die Augen offen zu halten. Als meine Großmutter mich mit dem Ellbogen in die Seite stieß, schreckte ich auf und hörte noch den letzten Satz: »An jedem Ende steht ein Anfang.«

Hinter dem Mesner, der das Kreuz trug, dem Pfarrer in seinem schwarzen Talar und seinem violetten Pluviale, hinter den beiden Ministranten mit Weihwassergefäß, Weihwasserwedel, Weihrauchfass und dem Schiffchen mit den Weihrauchkörnern, hinter dem Sarg, den Großeltern und den beiden Brüdern meines Vaters mit ihren Ehefrauen trat ich durch das Kirchenportal ins Freie. Es war drückend schwül, im Westen zogen dunkelgraue Wolken auf. Während wir uns durch die Reihen der pedantisch gepflegten Gräber, auf deren Steinen sich die Familiennamen wiederholten, langsam zur offenen Grube hin bewegten, blickte ich zurück und wunderte mich über die lange, gewundene Schlange von Menschen hinter mir. Ich hatte nicht erwartet, dass so viele Leute an der Beerdigung teilnehmen würden. Auch der junge Mann im Steireranzug mit den vier Brauenpiercings war darunter. Hatte mein Vater sie alle gekannt? Ich wusste, er hatte das Dorf gehasst, aber nicht die Kraft gehabt, es zu verlassen. Meine Großmutter, seine Mutter, bannte ihn mit ihrem pechschwarzen Hexenblick, bis er sich kaum noch zu rühren vermochte. So konnte sie mühelos an ihm zehren. Die ihrem Sohn genommene Energie reichte für sie selbst und für ihren Ehemann mit dem Allgemeinen Sturmabzeichen. Wahrscheinlich waren so viele Dorfbewohner gekommen, weil sie sich ehrlich darüber freuten, dass wieder einer, so wie sie selbst, den Weg hinaus nicht geschafft hatte.

Die Großmutter hatte den Großvater fest untergehakt. Aufrecht schritten sie dahin in ihren dunklen Gewändern aus gutem Stoff.

»Du gehst hinter uns«, hatte sie zu mir gesagt, als ich neben ihnen hatte gehen wollen, und mich resolut zurückgeschoben, hinter meine beiden Onkel mit ihren Frauen. Also ging ich allein.

Vor dem Familiengrab blieb der Mesner stehen. Mein Vater war der Erste, der darin beerdigt wurde. Ein Kind sollte nicht vor seinen Eltern sterben. Immerhin, die Großeltern, jetzt noch das blühende Leben, würden ihm früher oder später folgen. Sie waren an die achtzig: Wenn sie nicht bald ein neues Opfer fanden, dessen Lebenskraft sie für sich nutzen konnten, dann eher früher.

Keine Abordnungen, keine Verbände, kein Gesangsverein, keine Reden. Der Pfarrer las die Bergpredigt. Der Himmel verfinsterte sich weiter, Wind kam auf und fuhr durch die Blätter der Bibel, die er in Händen hielt. Das violette Pluviale blähte sich. In der Laterne, die neben mir auf einem Grab stand, verlöschte das Kerzenlicht. Die Thuje hinter dem Grabstein bog sich. In der Ferne zuckten Blitze, es donnerte leise. Unter den Trauergästen entstand Bewegung, einige hielten ihre Hüte fest. Ich erkannte nur wenige Gesichter. Zum Großteil waren es ältere Leute, Weinbauern, Bekannte meiner Großeltern. Vielleicht waren sie ihretwegen gekommen und nicht meinem toten Vater zuliebe?

»Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein«, sprach Hochwürden Wojcik.

Ein Windstoß warf eine große Vase mit Chrysanthemen um. Das Kirchentor fiel mit einem lauten, dumpfen Schlag zu. Ein langer Blitz teilte den bleigrauen Himmel, und etwa zehn Sekunden später folgte ein Knall. Eine meiner beiden Tanten stieß einen hohen, spitzen Schrei aus, ihr Mann, der einen Herzschrittmacher trug, begann zu schluchzen. Meine Großmutter wandte sich um.

»Hör auf, Hannes, du darfst dich nicht aufregen«, fauchte sie. »Und du, Beate, beherrsch dich gefälligst!«

Es blitzte und donnerte in immer kürzeren Abständen, doch kein Regentropfen fiel. Der Pfarrer segnete eilig das Grab, die Sargträger stemmten sich gegen den Wind und schwankten, während sie den Schrein in die Grube hinabließen. Dem Ministranten fiel das Weihwassergefäß aus der Hand, als er dem Pfarrer das Aspergill reichte. Ich hatte kein Bedürfnis zu weinen.

Hochwürden Wojcik warf ein bisschen Erde auf den Sarg. Als er meiner Großmutter, der Hexe, den Spaten weitergab, schlug der Blitz in das Werkzeug ein.

Während meines Medizinstudiums habe ich mir ein paar oberflächliche Kenntnisse über Blitze und Blitzunfälle angeeignet. Bei einem schweren Gewitter können sich innerhalb von Sekundenbruchteilen einige Millionen Volt an Spannung mit einer Stromstärke von mehreren hunderttausend Ampere über den Blitz entladen. Die Luft im Blitzkanal erhitzt sich auf etwa fünfundzwanzigtausend bis dreißigtausend Grad Celsius und dehnt sich dabei explosionsartig aus, was den akustischen Effekt des Donners erzeugt.

Was unmittelbar nach dem Einschlag geschah, weiß ich nicht mehr genau, denn ich wurde zur Seite geschleudert und fiel auf den Sarg meines Vaters, direkt auf das Blumengesteck aus Callas, weißen Lilien und cremefarbenen Gladiolen in seiner Mitte. Ich wollte aufstehen und aus dem Loch steigen, aber ich spürte meine Beine nicht mehr. Offenbar gaben sie nach, denn ich sank auf die Knie. Ich hörte laute Rufe und stützte mich mit den Unterarmen auf dem Grubenrand auf, um zu sehen, was vor sich ging. Mindestens zehn Personen, darunter der Pfarrer, meine Großmutter, der Mesner, ein Ministrant und meine Tanten und Onkel, saßen oder lagen auf dem Boden zwischen den Gräbern. Mein Großvater hockte neben meiner Großmutter und hielt ihren Kopf umfasst, der zweite Ministrant kümmerte sich um Hochwürden Wojcik, der kein Lebenszeichen von sich gab. Soweit ich erkennen konnte, hatte er keine Haare mehr, und ein Ärmel seines Pluviale war verbrannt.

»Eine Riesenfaust hat mich zu Boden gestreckt!«, rief Onkel Rudolf, der mit zerrissenen Schuhen auf dem Boden saß. »Eine Riesenfaust! Und seht euch meine Schuhe an.«

»Es ist ein Zeichen«, sagte Tante Beate, richtete sich auf und bekreuzigte sich. »Wir müssen Buße tun!«

»Noch nach seinem Tod macht er uns Schwierigkeiten, der Nichtsnutz«, sagte mein Großvater und tätschelte die Wangen seiner Frau. »Toni, wach auf! Ich bitte dich, komm zu dir!«

Ein Mann drängte sich durch die aufgeregten Trauergäste und kam auf uns zu.

»Lassen Sie mich durch«, sagte er. »Bitte lassen Sie mich durch.«

Die Stimme kam mir bekannt vor.

»Ich sehe nichts mehr, ich bin blind, helft mir!«, schrie der Mesner.

»Was ist denn das?«, fragte der Ministrant und zeigte den Umstehenden seinen Unterarm, auf dem sich rote, verästelte Striemchen mit tropfenförmigen Verdickungen an ihrem Ende abzeichneten.

»Das ist die Lichtenbergsche Blitzfigur«, sagte ich und stand auf. Es ging mir besser, das Taubheitsgefühl in den Beinen hatte nachgelassen. »Typisches Merkmal. Sieht aus wie Farnkraut. Verschwindet aber bald.«

Der Mann war bei uns angelangt.

»Ich bin Arzt«, erklärte er. »Wer ist am schwersten verletzt?« Dann sah er mich im offenen Grab stehen.

»Hallo Sissi!«, sagte er und grinste. »Auferstanden von den Toten?«

Da begann es zu regnen, heftig und von einem Augenblick auf den anderen.

So trat Stefan wieder in mein Leben.

»Weshalb bist du an dem Tag an der Kirche vorbeigekommen?«, fragte ich ihn. »Komischer Zufall.«

Wir saßen an einem Ecktisch in einem Restaurant in Leibnitz, drei Wochen nach der Beerdigung, und tranken ein Glas Morillon, wie der Chardonnay in dieser Region genannt wird. Ich hatte wegen eines Termins beim Notar wieder in die Südsteiermark kommen müssen, und wir hatten uns verabredet.

»Gar nicht. Ich wohne in der Nähe. Nachdem ich die Stelle des Kinderarztes in Leibnitz übernommen hatte, haben wir uns hier ein altes Bauernhaus gekauft und es renoviert. Auch ein Weingarten gehört dazu. Du weißt ja, die Gegend hat uns immer gefallen. Das war zwei Jahre, bevor Regina – bevor sie – Hab ich dir das damals am Telefon nicht erzählt?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Jedenfalls kam ich zum Begräbnis, wenn auch mit Verspätung. Schließlich habe ich deinen Vater gekannt.«

»So war das also. Jetzt verstehe ich.«

»Du musst mich unbedingt besuchen und meinen Wein kosten. Ich versuche mich als Winzer, weißt du. Es macht wirklich Spaß, seinen eigenen Wein anzubauen. Bis zur Ernte dauert es nicht mehr lange.«

Ich sah ihn an. In dem Haus, in das er mich soeben eingeladen hatte, hatte er zwei Jahre mit Regina gelebt.

»Ach, ich weiß nicht, ich –«, setzte ich an. Er unterbrach mich.

»Aber reden wir über dich. Wie geht es dir? Hast du noch Beschwerden?«

»Ich fühle mich nicht schlecht, abgesehen von einem ziemlich starken Tinnitus.«

»Kein Kribbeln mehr in den Beinen, kein Taubheitsgefühl?«

»Doch, ab und zu, aber es wird immer schwächer.«

»Du hast Glück gehabt.«

»Ich weiß. Mein Vater hat mich beschützt.«

Am Tag des Unglücks hatten wir keine Gelegenheit gehabt, uns zu unterhalten. Stefan war damit beschäftigt gewesen, erst den Pfarrer und dann meinen Onkel durch Herzdruckmassage und Beatmung zu reanimieren, und nachdem ich aus dem Grab gestiegen war, hatte ich gleichfalls versucht, den Verletzten zu helfen, so gut ich konnte.

Meine Tante Dagmar hatte mich telefonisch über die Auswirkungen des Blitzschlages unterrichtet: Die Erblindung des Mesners hatte sich als vorübergehend herausgestellt, geblieben war eine gewisse Lichtempfindlichkeit. Auf seinen Wegen durch das Dorf hielt er blinzelnd jeden an, dem er begegnete, nahm dessen Hände und legte sie auf seine Augen.

»Spürst du es?«, sagte er. »Es ist ein Wunder, ein echtes Wunder! Gott behütet die Seinen.«

Auch der Ministrant hatte sich, abgesehen von gelegentlichen Schluckstörungen und Angstzuständen, rasch erholt und zeigte jedem, der sich dafür interessierte, die Lichtenbergsche Blitzfigur an seinem Unterarm, die allmählich verblasste.

»Farnkrautartig«, sagte er. »Dendritisch, so heißt das Fremdwort. Man kann es auch auf den Fußristen haben.«

Für Hochwürden Wojcik und den Großteil meiner Verwandten aber hatte der Blitzschlag gravierende Folgen: Der Pfarrer lag mit einem Herzinfarkt im Krankenhaus, den er nur aufgrund der rechtzeitig eingeleiteten Wiederbelebungsmaßnahmen überstanden hatte. Ganz gesund würde er nicht werden, eine Herzschwäche und Rhythmusstörungen würden zurückbleiben. Außerdem hatte er schwere Verbrennungen an der rechten Hand und am Hals, denn er hatte eine Kette mit einem großen Kreuz getragen, die durch die Hitze regelrecht verdampft war.

Meine Großmutter hatte einen Trommelfellriss erlitten, bei Blitzunfällen keine Seltenheit. Auch sie hatte Brandwunden an einer Hand und entlang der Wirbelsäule, dort, wo der Reißverschluss ihres Kleides geschmolzen war.

»Kaum war sie wieder bei sich, hat sie ihren Taschenspiegel in der Handtasche gesucht«, sagte Tante Dagmar. »So eitel ist sie, noch mit achtzig, man glaubt es nicht. Als sie gesehen hat, dass ihre Haare versengt waren, hat sie aufgeschrien, nach Imelda gerufen und von ihr verlangt, dass sie sofort online eine brünette Perücke bestellt. Aber die Perücke ist noch nicht angekommen.«

Meine Tante Beate war seit dem Malheur hochgradig desorientiert und konnte sich an nichts erinnern, was sich an den Tagen vor der Beerdigung zugetragen hatte. Eine klassische retrograde Amnesie. Ständig hob sie ihren Rock und zeigte allen den blauroten Streifen, den der Blitz verursacht hatte und der auf der Rückseite ihres Beins wie eine Strumpfnaht vom Oberschenkel bis zur Ferse hinunter verlief.

»Wisst ihr, was das ist?«, fragte sie. »Es ist die Rache Gottes. Kehrt um auf euren sündigen Wegen, sonst kommt sie siebenfach über euch.«

Bei Onkel Rudolf war eine Woche nach dem Ereignis eine Parese der Gesichtsmuskulatur aufgetreten, doch war zu hoffen, dass die Lähmung mit der Zeit ganz zurückgehen würde.

Der Herzschrittmacher, den Onkel Hannes trug, war durch den Blitzschlag in Mitleidenschaft gezogen worden, was lebensgefährliches Kammerflimmern auslöste. Auch er überlebte nur aufgrund beharrlicher Reanimierungsversuche.

Tante Dagmar war im Alter von achtundvierzig Jahren im vierten Monat schwanger gewesen, eine Tatsache, von der niemand außer ihr gewusst hatte, nicht einmal ihr Mann, Onkel Rudolf. Sie verlor das Kind. Nun wussten es alle.

»Ich hatte natürlich nicht mehr damit gerechnet. Mit achtundvierzig schwanger, zum ersten Mal, stell dir das vor!«, vertraute sie mir am Telefon an. »Es war ein Mädchen. Sogar einen Vornamen hatte ich schon für sie. Carmen.« Sie seufzte. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen.«

Dem Großvater ging es ausgezeichnet.

»Und du?«, fragte Stefan. »Wie geht es dir? Bist du noch an der Rechtsmedizin in Wien?«

»Ja«, sagte ich.

»Gefällt dir die Arbeit? Sie muss manchmal ziemlich trist sein.«

»Doch«, sagte ich, »die Arbeit gefällt mir. Ich finde sie interessant.«

»Was genau machst du?«

»Ach, ich betreibe ein bisschen Forschung über die Identifikation von Menschen mittels DNA-Analyse und den Nachweis von Giften an exhumierten Leichen, außerdem halte ich eine Vorlesung über forensische Taphonomie und ein Seminar über gerichtliche Medizin und Selbsterfahrung. Gelegentlich werde ich auch als Sachverständige beigezogen. Ja, und manchmal holt mich die Kripo an einen Tatort.«

Stefan schüttelte den Kopf.

»Klingt deprimierend.«

»Na ja, wie man’s nimmt. Mir sind Tote lieber als kranke Kinder.«

Der Mann meiner ehemals besten Freundin hatte sich wenig verändert. Sein Haar hatte sich an der Stirn etwas gelichtet und war an den Seiten grau geworden, aber er war noch so schlank wie vor zehn Jahren und wirkte jugendlich. Der Blick, das Lächeln, die Bewegungen waren dieselben. Er hatte mir immer gefallen.

»Und was machen die Männer in deinem Leben?« Er lachte leise. »Oder die Frauen? Bei dir wusste man das nie so genau.«

»Ich bin verliebt«, sagte ich. »Seit zwei Monaten.«

»Frau oder Mann?«

»Frau. – Und was treibst du? Hast du jemanden getroffen, seitdem Regina –«

»Nein. Ab und zu eine kurze Sache, aber nichts Ernstes.«

»Das verstehe ich. Mit Regina lässt sich kaum jemand vergleichen. Sie war –«

Ich breitete die Arme aus, suchte nach einem Adjektiv.

Er schaute mich an und nickte.

»Ich weiß, was du meinst«, sagte er. »Ja, das war sie.«