8

»Gestern habe ich Stefan von der Abtreibung informiert. Ich war mir sicher, die Mitteilung würde ihn hart treffen. Er hatte sich entschieden dagegen ausgesprochen, hatte sich das Kind gewünscht, mich beschworen, es zu behalten, obwohl ich ihm, sobald ich wußte, daß ich schwanger war, klar und deutlich auseinandergesetzt habe, daß ich kein Kind will – und von ihm schon gar nicht. Ich hätte ihm die Schwangerschaft verschweigen können. Aber die Aussicht darauf, ihn in Hochstimmung zu versetzen und seinen dummen, unberechtigten Optimismus gleich darauf wieder zu zerstören, war zu verlockend. Man fühlt sich ziemlich stark, wenn man die seelische Verfassung eines anderen beeinflussen, sie nach Gutdünken steuern kann. Ein angenehmes Gefühl. Ich habe schon früh Geschmack daran gefunden. Stefan hat es sich selbst zuzuschreiben, er fordert mich heraus. Sich vorzustellen, daß er sich von diesem Kind eine Verbesserung unserer Beziehung versprochen hat! Der naive Trottel hört nicht auf zu hoffen. Als ob unsere Ehe noch zu retten wäre. Ich habe ihn belogen, ihm erzählt, daß es Zwillingsembryos waren, da ich wußte, das würde ihn noch mehr verstören. Es war nur ein Kind. Aber seine verbissene Zuversicht, dieses unnachgiebige Festhalten an unserer Verbindung, die längst ruiniert ist, macht mich so wütend! Er verdient es, verletzt zu werden, er legt es darauf an. Sein zähes Anklammern nimmt einem den Atem, er lechzt danach, daß man ihm weh tut. Es macht einem sogar Spaß.

Jedenfalls erleichtert es mich ungemein, daß ich mir das Kind vom Hals geschafft habe. Ich bin überzeugt, es wäre ein Mädchen geworden. Diese kleine Frau, diese Rivalin hätte alles zunichte gemacht, meine Karriere, meine Freiheit, meine Attraktivität – alles, an dem mir etwas liegt. Ich fuhr in die Innenstadt, in die Klinik auf dem Fleischmarkt. Ein Segen, daß es sie gibt. Die Schwestern und Ärztinnen dort sind mir bekannt, schließlich war es nicht das erste Mal, dass ich ihre freundlichen Dienste in Anspruch nahm. Zwei ebenso hausbacken wie verbissen wirkende Abtreibungsgegnerinnen und ein fanatischer männlicher Mitstreiter mit flackerndem Blick standen mit ihren Plakaten vor dem Eingangstor und versuchten mich von meinem Entschluß abzubringen. Ärgerlich. Wie ich diese scheinheiligen katholischen Mütter mit ihrem vernünftigen Schuhwerk und ihren monströsen, mit Alarmanlage, Bordcomputer, Klimatisierungsautomatik, elektrisch verstellbarem und beheizbarem Außenspiegel, getönten Scheiben, Zentralverriegelung, Nebelscheinwerfern und Navigationsgerät ausgestatteten Kinderwagen verabscheue, mit denen sie einen auf dem Gehsteig zu rammen versuchen! Man erkennt sie von weitem. Umgekehrt ist das offenbar ebenso, die selbstgerechten Missionarinnen haben einen Blick für Frauen, deren Gebärfreudigkeit weniger ausgeprägt ist als die ihre. Es war jedenfalls nicht schwierig, sie mir vom Leib zu halten. Die Intervention war eine Bagatelle, man schläft ein, spürt nichts, ruht sich ein paar Stunden aus und verläßt die Klinik froh und befreit.

Stefan hat mir aufgelauert, wie üblich, wenn er nicht weiß, wo ich gewesen bin. Und wie üblich war er betrunken. In diesem Zustand ist er nicht zu ertragen. Er hat sofort mit seinem Verhör begonnen – wo warst du? Mit wem? Wo warst du? Mit wem? Ich bin in mein Zimmer gegangen, ohne etwas zu sagen, und habe abgeschlossen. Er hat an die Tür gehämmert wie ein Verrückter, ich hatte Angst, er könnte die Axt aus dem Keller holen und versuchen, die Füllung einzuschlagen, so wie schon einmal. Allmählich wurde er ruhiger, aber ich mußte mir noch eine Weile sein Lallen und Schluchzen anhören. Welche Frau kann einen Mann achten, der sich so vor ihr erniedrigt? Schließlich wurde es still, und ich konnte endlich einschlafen. Ich war todmüde. Als ich am nächsten Tag aus dem Zimmer ging, lag er schlafend davor, eingerollt, die Hände unter das Kinn geschoben, wie ein Hund. Ich mußte lachen, unwillkürlich.«

Die Stelle stammte aus dem Jahr 1998. Damals hatten die beiden das Winzerhaus noch nicht erworben gehabt, sie wohnten in der Hauptstadt, in der Nähe des Türkenschanzparks, hatten das erste Stockwerk einer gepflegten Villenetage im achtzehnten Bezirk gemietet, dieser grünen Hölle Wiens, im Cottageviertel, dort, wo ich sie ein Jahr zuvor an dem Wochenende besucht hatte, das Regina in ihrem Journal beschrieb.

»Wir sind umgezogen, wir wohnen jetzt im Koteesch-Viertel«, hatte Regina mir am Telefon etwas herablassend erzählt. Koteesch, hatte sie gesagt, so wie das Wiener Bürgertum das Wort auszusprechen pflegt. Im Erdgeschoß der Villa wohnte der Besitzer, ein ungehobelter Tierarzt im Ruhestand, der Wert darauf legte, als Herr Oberveterinärrat angesprochen zu werden, mit seiner hochnäsigen Frau, einer ehemaligen Operettensoubrette, die vor Jahrzehnten ein paarmal auf zweitklassigen Bühnen gesungen hatte, bevor sie nach ihrer Eheschließung mit dem Veterinär ihre Laufbahn beendete, was sie nicht davon abhielt, sich seit Jahrzehnten als Frau Kammersängerin titulieren zu lassen.

Die Ernüchterung ging weiter. Ich las seit einer halben Stunde. Regina, die mir so verbunden, mit der ich so vertraut gewesen war, hatte mir nie von einer Schwangerschaft erzählt. Der Gedanke, sie und Stefan könnten eine Bereicherung ihres Lebens durch ein Kind nötig gehabt haben, war mir niemals gekommen, ich war davon überzeugt gewesen, dass sie einander in ihrer gegenseitigen Hingabe völlig genügten. Insofern war es überraschend für mich zu erfahren, dass Regina ein Kind erwartet hatte – und noch frappierender, dass sie einen Abbruch der Schwangerschaft herbeigeführt hatte. Es passte nicht zu meiner Einschätzung ihrer Person. Sie war für mich von großer Vitalität gewesen, und ich hatte den Eindruck gehabt, dass sie sich unwiderstehlich zu allem Lebendigen hingezogen gefühlt, es ohne jeden Vorbehalt bejaht hatte. Ich war blind gewesen.

Dennoch: Je mehr ich durch sie selbst über sie erfuhr, desto größer wurde meine innere Gelassenheit, desto weniger brachten mich ihre Sätze aus der Fassung. Ich hörte einfach auf, mich zu entrüsten, zu empören, schockiert zu sein. Es ging ganz von selbst, ich brauchte mich nicht um Selbstbeherrschung zu bemühen. An die Stelle von Zorn, Bestürzung, Gekränktheit traten eine Art unpersönliche Anteilnahme, eine distanzierte Aufmerksamkeit. Ich begann meine extreme Desillusionierung als etwas Interessantes zu empfinden. Die Entdeckungen, die ich machte, waren niederschmetternd, aber auch erhellend, aufregend. Ich hatte Blut geleckt, würde weiterlesen. Ich konnte es aushalten. Wenn man diese erbarmungslosen, vernichtenden Sätze mit genügend innerem Abstand las, erfuhr man Aufschlussreiches über die Abgründe der menschlichen Natur. Aus erster Hand. Es war ein Verlust der Unschuld. Wahrscheinlich war es Zeit dazu. Regina war eine Sadistin gewesen. Eine grandiose Schauspielerin, die Zuneigung, Freundschaft, Güte, Mitgefühl vollendet und für nahezu jeden glaubhaft dargestellt und ihre Herzlosigkeit, ihre Selbstsucht, ihre Grausamkeit meisterhaft kaschiert hatte. Und Stefan? War er das ideale masochistische Gegenstück zu ihr gewesen? Es hatte ganz den Anschein. Oder waren die Rollen umkehrbar?

Dass er versucht hatte, die Tür von Reginas Zimmer einzuschlagen, konnte ich nachempfinden. Es war eine Reaktion auf ihre Gefühlskälte und Rücksichtslosigkeit gewesen. Immerhin hatte er nicht sie angegriffen, sondern seine Aggression gegen ein unbelebtes Objekt gerichtet. Ich verstand nun auch besser, weshalb dieser auf Frauen sehr anziehend wirkende Mann seit Reginas Verschwinden keine engere Beziehung mehr angefangen hatte. Er war übermäßig stark von ihr abhängig gewesen, hatte sehr viele Kränkungen und Demütigungen hingenommen. Nun war er misstrauisch. Dass er mit mir zusammen war, war vielleicht nur möglich, weil ich eine Brücke zu Regina bildete, sie gut gekannt hatte, weil er wusste, dass ich sie, ebenso wie er, grenzenlos bewundert hatte, ihr absolut ergeben gewesen war. Wieder empfand ich Anteilnahme für diesen Mann, der den zerstörerischen Launen seiner Ehefrau ausgeliefert gewesen war, sich nicht dagegen hatte wehren können, an seiner Zuneigung zu ihr festhielt.

Ich öffnete die nächste Datei, 1999, scrollte hinunter und ging mit dem Cursor an den Anfang eines beliebigen Absatzes.

»Wir werden ein altes Bauernhaus im Sausal kaufen. Ich habe es Stefan vorgeschlagen, ihm eingeredet, daß es immer mein Bedürfnis war, in dieser bezaubernden, mir seit so langer Zeit vertrauten Landschaft zu leben. Daß ich mich aufgrund der langen Freundschaft mit Sissi an diese Region gebunden fühle, an ihr hänge. Der Ahnungslose ist glücklich, mir diesen Wunsch erfüllen zu können, er ist davon überzeugt, daß uns in der veränderten Umgebung ein Neuanfang gelingen wird. Was für ein Narr! In Wahrheit liegt mir daran, nicht ständig in Wien sein zu müssen. M. wird immer aufdringlicher, er beginnt den Kopf zu verlieren, verfolgt mich nach den Proben, nach den Konzerten, versucht mich zu stellen, macht mir Vorwürfe, belästigt mich mit seinen Beteuerungen, will sich von seiner Frau scheiden lassen, eine absurde Idee. Mir war klar, daß es ihm von Anfang an ernst war, sonst hätte ich mich auf die Affäre nicht eingelassen. Was die Männer betrifft, mit denen ich ins Bett gehe, habe ich immer auf leidenschaftlichen Gefühlen bestanden. Wenn schon ich selbst nichts empfinde, wenigstens ihr Verlangen soll maßlos sein! Was für ein Gefühl der Überlegenheit, derart heftige Emotionen auszulösen, ohne selbst beteiligt zu sein, die Person, die sich vergebens nach einem verzehrt, in ihrer ganzen Ohnmacht beobachten zu können, so, als wäre sie ein Insekt, ein Wurm, der sich krümmt und windet, wenn man ihn zwischen den Fingern hält. Imstande zu sein, diese Kreatur jederzeit zu zerquetschen.

Aber es geht nicht nur darum, mir M. vom Hals zu schaffen. Der Bratschist, den ich durch die Arbeit mit dem Streichquartett kennengelernt habe, spielt bei den Grazer Symphonikern, und mit einem Wohnsitz in der Südsteiermark wäre es für mich viel einfacher, ihn zu treffen. B. ist fünfundzwanzig, es ist seine erste Anstellung. Er ist hinreißend sexy, ohne sich dessen bewußt zu sein, nachgerade rührend in seiner Arglosigkeit und Unerfahrenheit! Und so weich und beeinflußbar, unwiderstehlich für eine Frau wie mich. Wenn man klug und kaltblütig vorgeht und sie nicht erschreckt, fressen einem diese gutgläubigen jungen Typen binnen kürzester Zeit aus der Hand. Sobald sie so richtig Feuer gefangen haben, lassen sie alles mit sich machen.

Mit Stefan werden die Dinge immer unerquicklicher. Er weiß, daß ich ihn betrüge, kann mir aber nichts nachweisen. Daß ich aus dem Schlafzimmer ausgezogen bin, hat er nicht verkraftet. Ich ertrage seine Berührungen nicht mehr, sein Körper ist mir zuwider, und das nicht erst, seit ich mit B. schlafe, der so viel jünger ist als er. In seiner erbärmlichen Schwäche ist Stefan in letzter Zeit mehrmals gewalttätig geworden, hat mich geohrfeigt und mit den Fäusten auf meine Oberarme eingeschlagen. Die Blutergüsse sehen häßlich aus, außerdem sind mir die Fragen peinlich, die B. stellt. Ich könnte Stefan anzeigen, bin davon überzeugt, daß einer Klage wegen Körperverletzung stattgegeben werden würde. Aber ich ziehe es vor, ihn mir noch eine Weile anzusehen in seiner ganzen Jämmerlichkeit und Armseligkeit. Was für ein abgeschmacktes Spektakel! Vor ein paar Tagen ist er vor mir auf die Knie gefallen, hat meine Beine umfaßt und mich weinend angefleht, ins Ehebett zurückzukehren. Natürlich bin ich nicht darauf eingegangen, und als ich auf ihn hinunterschaute und über seine entwürdigende Darbietung laut lachen mußte, stand er auf, stieß mich zu Boden und trat mir mit dem Fuß gegen die Hüfte. Es tat weh, aber die Genugtuung, ihn seine Selbstbeherrschung verlieren zu sehen, hat mich für den Schmerz entschädigt. Solche infantilen Ausbrüche bereut er unweigerlich ein paar Minuten später, er weiß, daß ich ihn dafür zutiefst verachte. Wenn er wenigstens zu seinen haßerfüllten Attacken stehen würde! Alles ist mir lieber als die unterwürfige Weise, auf die er mich danach um Verzeihung bittet.

Nicht er wird es sein, der mich verläßt, ich werde diejenige sein, die geht. Aber vorher werde ich ihn noch ein bißchen quälen. Er hat es sich selbst zuzuschreiben. Zu sehen, wie er sich jedesmal von neuem provozieren läßt, jedesmal die gleichen Reflexe zeigt, ist belustigend. Klassische Konditionierung, der ideale Pawlowsche Hund. Zweifellos wäre es interessant zu beobachten, wie er reagiert, wenn ich ihm die Liste vorlege.«

Die Liste. Welche Liste? Was war darunter zu verstehen? Mittlerweile traute ich Regina jede Niederträchtigkeit zu.

Ich schloss die Datei und ging ins Internet, um mich über die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Schnellfähren zu informieren, die zwischen Procida und dem Festland verkehrten, denn ich hatte vor, nach Neapel zu fahren und Signora Ciaccoppolis ungeratenen Enkel ausfindig zu machen. Ich war sicher, er würde mir weiterhelfen können. Zwar galt einstweilen noch der übliche Fahrplan, doch wurde darauf hingewiesen, dass wegen der Wetterverschlechterung, die für die folgenden Tage zu erwarten war, Verspätungen und sogar Ausfälle im Fährverkehr nicht ausgeschlossen werden konnten. Der Gedanke, ich könnte auf Procida festsitzen, behagte mir nicht.

Ich schaltete den Computer aus, stand auf, legte mich auf das Bett, auf die Seite, und streckte die Beine aus. Die Wolldecke roch muffig. Das rechte Auge der großen Plastikpuppe blickte mich starr an, das linke war fast geschlossen. Ja, sie zwinkerte mir zu, so, als sei sie im Bilde, als wisse sie Bescheid.

Stefan hatte sicher Schlimmes durchgemacht, und das jahrelang. Er benötigte Zuwendung, Verständnis. Ich nahm mir vor, ihn nach meiner Rückkehr besonders liebevoll und einfühlsam zu behandeln, er verdiente es. Wir würden uns gegenseitig dabei unterstützen, über den Betrug hinwegzukommen, den Regina an uns begangen hatte. Von meiner Entdeckung des Journals würde ich ihm nichts erzählen, es war nicht nötig. Dass ich auf eigene Faust nachgeforscht hatte, würde er mir übelnehmen, außerdem war es wenig sinnvoll, ihn an seine traumatischen Erfahrungen zu erinnern. Es genügte, dass ich wusste, was passiert war, und mich entsprechend rücksichtsvoll verhielt. Er brauchte mich.

Und Anders? Ein sympathischer Mann, der einen ungünstigen Zeitpunkt gewählt hatte, um in mein Leben zu treten. Was nichts daran änderte, dass ich mich auf das Essen freute, zu dem er mich eingeladen hatte. Wenn es auch nur eine Take-away-Pizza sein würde.

Der Deutsche wohnte in der Via San Rocco Nummer 14. Ich lehnte mein Fahrrad an die Hausmauer und drehte mich um. Die Aussicht war beeindruckend, der Blick ging über den ganzen Golf von Neapel hinweg. Inzwischen waren Wolken am Himmel aufgezogen, das Meer war grau und bewegt, es wehte ein kühler Wind. Der kaum sichtbare Streifen in weiter Ferne musste die Halbinsel Sorrent sein. Ich wandte mich wieder dem Haus zu, betrachtete die Fassade.

Ein altes Gebäude. Der Putz war abgeblättert, unter dem neueren, weißen waren alte Farbschichten erkennbar, ockerfarben und türkis. Eine Steintreppe, überwölbt von einem Torbogen, führte steil hinauf und hinein in das Haus. Rechts neben der Treppe war auf einem Täfelchen die Hausnummer angebracht, in Weiß auf dunkelblauem Grund. Darunter lehnte mein Fahrrad, violett, mit rosa Sattel. Über eine Mauer links vom Torbogen hingen Zweige, welke Blätter.

Das Bild kannte ich. Aus meinem Traum und aus dem Internet. Es fehlte nur noch Regina, die auf der Treppe stand. Ich hob den Blick.

Nein, Regina war es nicht, die von links auf den oberen Treppenabsatz trat und winkte. Es war Anders. Und er blickte auch nicht ernst, sondern lachte. Ich musste schmunzeln, unwillkürlich. Solche Dinge gab es eben. Sie beunruhigten mich nicht. Oder kaum.

Offenbar flunkerte der Mann aus dem Norden ebenso gern wie ich: Es gab keine Pizza vom Zustellservice, er kochte selbst. In seiner Küche herrschte außer dichtem Nebel, einer Mischung aus Zigarettenrauch und Wasserdampf, auch heillose Unordnung, was mich wenig überraschte. Ich trat an den Herd. In einem Topf schmorte etwas. Es roch verheißungsvoll. Ich griff nach dem Deckel.

»Weg mit den Fingern!«, rief Anders und schlug mir spielerisch auf die Hand. »Wir brauchen hier keine Schnüffler!« Er lachte heiser.

Auf der Arbeitsplatte stand eine flache Schüssel, in der, mit einer durchsichtigen Flüssigkeit bedeckt, eine Unmenge kleiner, rosafarbener Fischfilets lagen. Sardellen. Anders bemerkte meinen Blick.

»Als Vorspeise gibt es Alici marinate«, sagte er. »Ich bin gestern eigens nach Pozzuoli gefahren, auf den Fischmarkt. Meine Händlerin hat mir gezeigt, wie man sie ausnimmt, es ist ganz einfach.« Seine schmalen Hände mit den langen, vom Nikotin braunen Fingern nahmen sich Zeit für die entsprechenden Gesten und ließen dabei die Zigarette nicht los. »Man dreht den Kopf ab, klappt das Fischlein auf und zieht die Mittelgräte von oben nach unten ab, samt der Schwanzflosse.«

Barbarisch. Ich war hingerissen. Endlich ein Mensch, der meine Vorliebe für die italienische Küche teilte, sie mir nicht vorspielte, so wie Emma. Der nicht nur aß, sondern auch selbst kochte. Der es bestimmt zu schätzen wissen würde, wenn man ihm florentinische Kutteln oder einen gefüllten Schweinsfuß vorsetzte.

»Manche nehmen Zitronensaft für die Marinade, ich ziehe Weißweinessig vor«, fuhr er fort. »Entscheidend ist der Zeitpunkt, zu dem man die Filets aus dem Essigbad nimmt. Er ist nicht leicht zu bestimmen. Die Sardellen sollten noch fast roh sein.« Er sah mich an und lächelte. »Ein magischer Augenblick sozusagen. Eine Minute zu viel kann alles verderben.«

Es war ich, die den Blick zuerst abwandte. Anders hustete heftig, dann nahm er eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und öffnete sie, ohne die Zigarette wegzulegen. Noch nie hatte ich jemanden so langsam einen Korkenzieher in einen Weinkorken drehen sehen.

»Während man wartet, trinkt man ein Glas«, sagte er. »Mindestens. Uralter kampanischer Brauch.« Wieder das rauhe Lachen.

Wir stießen miteinander an.

»Coda di Volpe«, sagte er. »Eine spät reifende Sorte.«

»Fuchsschwanz«, sagte ich. »Origineller Name für einen Wein.« Erst jetzt fiel mir auf, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, Deutsch mit dem Deutschen zu sprechen.

«Man kann auch Caprettone, Falerno oder Pallagrello Bianco dazu sagen.«

Angenehm wohlklingend, diese italienischen Bezeichnungen. Wie konnte Emma nur das prosaische österreichische Wort Zweigelt ertragen? Ein Wort, das mit der unschönen Konsonantenverbindung zw anfängt und mit der nicht weniger hässlichen Buchstabenkombination lt aufhört?

Der Übersetzer stellte das Glas abrupt ab. Ich zuckte zusammen. So rasche Bewegungen war ich von ihm nicht gewohnt.

»Schauen Sie!«, rief er und deutete mit der Zigarette aufgeregt auf die Schüssel. Ein bisschen Asche fiel hinein. »Das Fleisch wird von außen nach innen langsam weiß. Man sieht nur noch einen dünnen rötlichen Streifen in der Mitte. Das ist der Moment! Wir müssen sofort handeln.«

Er begann die Filets aus der Schüssel zu nehmen und sie auf einem Küchentuch zu verteilen, damit sie trockneten. Ich half ihm dabei. Es machte Spaß, mit diesem liebenswerten, wenn auch etwas sonderbaren Gastgeber ein Essen vorzubereiten.

»So, und nun trinken wir ein zweites Glas, um uns von der Anstrengung zu erholen«, meinte er dann und füllte die Gläser von neuem.

Schließlich legten wir die aufgeklappten Sardellen mit der silbrigen Außenseite nach oben Schicht für Schicht in eine Schüssel. Jede Lage wurde von meinem Gastgeber großzügiger als die vorige mit kleingeschnittenem Knoblauch und Oregano bestreut und reichlicher mit Olivenöl begossen.

»Fertig«, sagte er zufrieden und verteilte die restlichen zehn Zentimeter Wein in der Flasche auf die beiden Gläser. Der Wein namens Fuchsschwanz begann mir zu Kopf zu steigen. Ich sah Anders dabei zu, wie er eine zweite Flasche nahm, daraus Rotwein in den Topf goss, aus dem ein so delikates Aroma aufstieg, und einen Schluck aus der Flasche trank, bevor er sie zurückstellte. Der Mann erschien mir von Minute zu Minute einnehmender. Ich brachte es mit dem steigenden Alkoholspiegel in Zusammenhang.

Nach der Hauptspeise war ich angenehm satt und ziemlich betrunken. Das, was so köstlich gerochen hatte, waren Pezzetti di cavallo gewesen, geschmortes Pferdefleisch. Es hatte ebenso köstlich geschmeckt.

»Ein Rezept aus Apulien«, hatte Anders erklärt. »Von meiner Schwiegermutter – ich meine, von der Mutter meiner Exfrau. Allegra. Sie stammt von dort, aus einem Dorf in der Provinz Lecce, am äußersten Ende des Stiefelabsatzes. Eine miserable Köchin. Und nicht sehr heiter.« Er hatte ein Fleischstückchen auf die Gabel gespießt, es nachdenklich angeblickt und langsam den Kopf geschüttelt. »Nein, überhaupt nicht heiter, Allegra, meine Exfrau.« Anschließend hatte er sich den Bissen vorsichtig in den Mund geschoben. »Gar nicht schlecht«, hatte er dann gemeint und zufrieden genickt. »Wichtig ist, dass die Stücke eineinhalb Stunden lang schmoren und keine Minute weniger. Zusammen mit Tomaten, Peperoni, Lorbeer und Salbei.«

Im Augenblick war mein Gastgeber in der Küche mit der Zubereitung des Desserts beschäftigt. Er ließ sich Zeit. Dass ich dabei zusah, hatte er nicht gewollt, er hatte gemeint, ich solle mich überraschen lassen. Man hörte das scheppernde Geräusch eines Schneebesens. Ich blickte mich im Wohnzimmer um. Ein paar altmodische Lampen mit dunklen Holzfüßen und vergilbten, schief stehenden Schirmen aus Pergament strahlten warmes gelbes Licht ab. Die Möbel waren abgenutzt und passten nicht zueinander. Auf Regalen, die aus rohen Brettern gezimmert waren und bis zur Decke reichten, standen und lagen in doppelten Reihen abgegriffene Bücher, und auf dem Fußboden, der zur Gänze mit hübschen, wenn auch zerschlissenen Teppichen ausgelegt war, schlängelte sich an den Wänden entlang eine endlos lange Reihe von CDs. Die Wände waren mit fadenscheinigen Behängen und mit verblichenen Zeichnungen und Farbdrucken bedeckt. Ein großformatiges, den jungen Clint Eastwood in Schwarzweiß abbildendes Plakat. Die Lithografie Nie wieder Krieg von Käthe Kollwitz. Ich musste lächeln. Es sah Anders ähnlich. Zwei massige hellbraune, in der Mitte durchhängende Ledersofas mit abgewetzten Bezügen, auf denen zerdrückte Kissen und ein Haufen Kleidungsstücke lagen, standen rechtwinkelig zueinander in einer Ecke.

Die Behausung eines Mannes. Eines sanftmütigen Mannes. Eine anheimelnde Höhle, die einer Frau keine Angst machte.

Mit einem großen Teller, auf dem sich duftendes goldbraunes, rautenförmiges Gebäck stapelte, kam Anders schließlich aus der Küche. Im linken Winkel seines Fischmundes hing eine Zigarette. Sein Gang war unsicher.

»So, hier ist die Crema fritta«, sagte er. »Man muss sie gleich essen. Sofort! So– solange sie warm ist.«

»Das sieht nicht aus wie eine Creme«, sagte ich.

»Ist es aber, ist es aber!«, sagte er vehement. Seine Aussprache war ein bisschen undeutlich. »Man lässt sie eindicken und er– erk– also, auskühlen, dann schneidet man sie in diese – hm – in diese kleinen Karos, taucht sie in Ei und bäckt sie in Öl heraus. Genau.«

Nebeneinander auf einem der Sofas sitzend, aßen wir die Rhomben. Sie schmeckten ausgezeichnet. Ich schrieb mir das Rezept auf. Der Koch hatte nichts dagegen.

»Sie haben sich einen zauberhaften Platz für Ihr Domizil ausgesucht«, sagte ich.

»Nicht wahr? Das Haus ist denkmal– denkmal– Nicht wahr?«

»Denkmalgeschützt?«

»Genau, denkmal– Es wird oft fotografiert. Unun– ununter– jedenfalls oft. Im Internet sind Ab– Ab– also, Fotos.«

»Das kann ich mir gut vorstellen«, sagte ich und lächelte.

Anders blickte versonnen vor sich hin.

»Ich liebe die Insel«, sagte er. »Ich möchte mir hier ein kleines Haus kaufen. Ja, das möchte ich. Und hier sterben – also, zumindest – zumindest begraben werden. Genau. Auf dem Friedhof hier. Er ist so – so romantisch. Ich habe mir schon eine Grabstelle gekauft. Sie war gar nicht teuer.« Er sah mich an. »Nein, gar nicht teuer. Und, wissen Sie – wissen Sie –«

»Ja?«

»Ich habe das Essen mit Ihnen genossen«, sagte er und nickte ein paarmal mit Nachdruck. »Un– unendlich genossen.« Er nickte nochmals. »Unendlich! Ja.« Dann dämpfte er seine Zigarette auf dem Fußboden aus, dehnte und streckte sich und legte seinen Arm auf die Lehne hinter meinem Kopf. Ich sank noch tiefer in die weichen Kissen. »Unendlich«, wiederholte er und wandte mir das Gesicht voll zu. Ich sah zu ihm auf. »Wir sollten – also, ich finde, wir sollten endlich das Du-Wort – Ich meine, wir sollten – uns duzen. Genau. Uns duzen. Finden Sie – findest du –« Sein Gesicht kam immer näher, und seine langen Finger begannen sacht meinen Nacken zu streicheln. Ich rührte mich nicht. Da läutete das Mobiltelefon in meiner Handtasche, die neben mir auf dem Fußboden stand.

»Entschuldige – entschuldigen Sie, bitte«, sagte ich und begann in der Tasche zu kramen. Ich fand das Handy gleich. Das Display zeigte Stefans Nummer an. Es war das erste Mal seit meiner Abreise, dass er mich anrief.

Anders nahm den Arm vom Sofa, seufzte und stand auf. Er schwankte leicht. »Sie können auf dem Balkon telefonieren, da sind Sie un–« Er setzte von neuem an. »Un– wie sagt man schon?« Er griff nach dem leeren Teller. »Ist ja egal.«

In dem Augenblick läutete das Festnetztelefon, das neben dem Sofa auf einem kleinen Tischchen stand. Wir sahen einander an.

»Eigenartiger Zufall«, sagte Anders und hob den Hörer ab. »Bestimmt Allegra. Sie ruft un– unun–« Er holte Luft. »– un-unterbrochen an, wegen der Kinder, wissen Sie.«

Der exzentrische Mensch hatte also eine Exfrau und Kinder. Erstaunlich.

»Ja, eigenartig«, sagte ich und nahm das Gespräch entgegen. Ich trat auf den Balkon hinaus. Inzwischen war der Wind stärker geworden, ich hörte, wie die Wellen weit unter mir an die Kaimauer der Marina Corricella, an die Wände der dort verankerten Boote schlugen.

»Wie, eigenartig?«, fragte Stefan. »Was, eigenartig? Du klingst so heiter. Die Finnen sind doch ernste Menschen. Wo bist du überhaupt? Sissi? Sissi!«

»Ja, ja, ich bin da, ich bin da«, sagte ich. »Wie geht es dir?«

»Wo bist du?«, wiederholte Stefan misstrauisch. »Bist du nüchtern?«

»Bei einem Essen«, sagte ich. »Und natürlich bin ich nüchtern. Ein offizielles Essen für die Teilnehmer der Konferenz. Im großen Festsaal des Rathauses von Helsinki. Der Bürgermeister hat eben eine Rede gehalten.« Gab es in Helskini einen Bürgermeister? In diesen skandinavischen Ländern wurden doch so viele politische Ämter von Frauen bekleidet. Egal, Stefan würde es nicht wissen. »Eine lustige Rede.«

»Lustig? Auf Finnisch?«, fragte Stefan. »Du verstehst doch kein Wort Finnisch! Kein Mensch versteht Finnisch. Außer den Finnen.«

Ich hätte ihm gern den Inhalt der Rede des Bürgermeisters von Helsinki in großen Zügen wiedergegeben, beschloss dann aber, mich im Zaum zu halten.

»Nein, auf Englisch natürlich. Die Finnen haben eine Begabung für Fremdsprachen. Die Bürgermeisterin spricht fünf Sprachen – ich meine, der Bürgermeister. Was gibt es?«

»Was ist das für ein Geräusch im Hintergrund? Klingt wie Meeresrauschen.«

»Ist es auch. Ich stehe auf dem Balkon des Rathauses, um mich besser mit dir unterhalten zu können. Hier ist es ruhiger. Das Rathaus von Helsinki liegt direkt am Meer, wusstest du das nicht?«

»Bist du verrückt? Im Freien? Bei dieser Kälte! Es hat minus drei Grad! Ich schaue jeden Morgen im Net nach, wie das Wetter in Helsinki ist. Und du, dem festlichen Anlass entsprechend in einem leichten Kleid! Du wirst dich erkälten! Du fehlst mir, Prinzessin, weißt du das?«

»Du mir auch. Was gibt es Neues?«

»Nichts Besonderes. Ziemlich viel Arbeit. – Ach ja, es gab eine kleine Aufregung hier. Deine Kusine Imelda. Sie hatte einen Schock.«

»Aber weshalb denn?«

»Einen leichten. Sie hat sich bald wieder erholt. Florian – der Bruder des Forstgehilfen, du kennst ihn ja –«

»Was ist mit ihm?«

»Er hat deine Kusine belästigt. In der Nähe der Mühle. Es hat sie sehr erschreckt. Ihrer Ansicht nach war es ein Vergewaltigungsversuch. Florian bestreitet das. Er sagt, er habe nur ihre blonden Haare streicheln wollen, und als sie das nicht zuließ, habe er sie umgestoßen. Sie behauptet, er habe sich auf sie geworfen und sich an ihr vergehen wollen. Jedenfalls halten ihn die meisten im Dorf für sexuell abartig, sie sind dafür, dass er in eine Anstalt kommt. Aber sein Bruder will nichts davon wissen. Er meint, Florian sei gutmütig und völlig harmlos.«

»Das glaube ich auch.«

»Ich bin mir da nicht so sicher. Meiner Ansicht nach ist er ziemlich verhaltensgestört. Schwer einzuschätzen, wozu er imstande ist. Ich traue ihm jedenfalls einiges zu. Diesmal ist es noch gutgegangen. – Aber wir müssen aufhören, Prinzessin, sonst holst du dir auf dem finnischen Rathausbalkon noch den Tod. Ich melde mich wieder. Ich umarme dich.«

»Ich dich auch.«

Ich schaltete das Mobiltelefon aus und ging zurück ins Wohnzimmer. Anders lag auf dem Sofa. Seine Füße ragten über den Rand hinaus. Er hatte sein Handy ans rechte Ohr gelegt und schlief. Ich beschloss, ihn nicht zu wecken und zurück zur Pension zu fahren.