3

Der dritte Fehler war es, Stefans Einladung anzunehmen und ihm bei der Weinernte zu helfen.

Zwei Wochen später, zu Herbstbeginn, fuhr ich also wieder in den Sausal. Der Himmel war dunkelblau, die Landschaft wie in Gold getaucht. Diesmal war Emma nicht mitgekommen. Sie sah sich gezwungen, ihr Detektivbüro einen Monat lang allein zu führen, denn Mick Hammerl, ihr dicklicher, hypochondrischer Mitarbeiter, hatte vor kurzem geheiratet und befand sich mit Asli, seiner türkischen Frau, auf Hochzeitsreise in Anatolien.

»Er sollte längst zurück sein«, sagte Emma verärgert, »aber er hat beschlossen, an einem Workshop der tanzenden Derwische in Konya teilzunehmen.«

Mick war Anhänger des Mevlevi-Ordens und versuchte sein stilles Zentrum zu finden, indem er sich einen hohen Zylinder aus braunem Filz aufsetzte, einen langen weißen Glockenrock und eine weiße Bolerojacke anzog und sich stundenlang im Kreis drehte.

Ich fuhr langsam an ausgedehnten, hie und da schon abgeernteten Sonnenblumenkulturen vorüber. Zum Teil standen die Pflanzen noch vertrocknet auf den Feldern und wurden von riesigen Maschinen mit vorgesetzten, gefährlich aussehenden Schneidewerken geschnitten. Auch die Kürbisernte hatte schon begonnen. Wo maschinell geerntet wurde, lagen die Früchte in langen, geraden Reihen, durch welche bunte Erntemaschinen fuhren, die die gelbgrünen Kugeln auf große Räder spießten. Auf einem kleinen Acker saßen drei dicke Frauen mit im Nacken verknoteten Kopftüchern auf alten Stühlen neben einer Vogelscheuche, einen Berg halbierter Kürbisse und rote Plastikeimer vor sich, und entfernten die Kerne mit den Händen aus dem Fruchtfleisch.

Ich fuhr durch das Dorf und stellte meinen alten, flaschengrünen Polo an der Stelle, wo der Weg zur Mühle abzweigt, am Straßenrand ab. Unter einem Birnbaum in der Wiese stand ein Mann in einer blauen Arbeitsbluse mit einem kleinen Strohhut auf dem Kopf und schärfte mit einem Wetzstein ein Sensenblatt. Er tat, als sehe er mich nicht. Ich betrat den Waldweg und ging an den Holunder- und Haselsträuchern, den Ebereschen vorüber ins kühle Halbdunkel hinein. Den Großeltern würde ich erst später meine Aufwartung machen. Meine Großmutter konnte anstrengend sein.

Vor dem Eingang zur Mühle zog ich den großen eisernen Schlüssel aus meiner Tasche. Erst als ich im Begriff war, das Tor aufzusperren, fiel mein Blick auf den Hackstock. Ein riesengroßer orangefarbener Kürbis stand darauf. Ein Kopf. Ein Gesicht. Ausgeschnittene Schlitze waren die Augen, ein Dreieck die Nase. Der Mund war breit, auf der Unterseite deuteten scharf ausgesägte Zacken die Zähne an. Licht drang aus den Öffnungen. Die Axt, die im Hackstock gesteckt hatte, fehlte. Ich trat näher. Der flackernde Schein vermittelte der Fratze etwas Lebendiges, ihre Züge wirkten aufgrund der Schlitzaugen und der Haifischzähne zugleich aggressiv und verschlagen. Ich hob den Kürbis hoch. Darunter stand eine Kerze, ein Grablicht in einer roten Plastikumhüllung. Man konnte sehen, dass sie noch nicht lange brannte. Ich schaute mich um. Nichts rührte sich, niemand war zu sehen. Ich blies die Flamme aus.

Auf der Fahrt zu Stefans Haus kam ich wieder an dem nun verwaisten exotischen Bauwerk vorüber, in dem ich aufgewachsen war. Als ich sah, dass sich jemand im Schwimmbecken zu schaffen machte, hielt ich an, stieg aus und ging durch das hohe dürre Gras hin zum Bassin. Darin stand ein Mann mit einem kleinen Oberlippenbart, einem schmierigen dunkelgrünen Lodenhut und einer mit einem rosa Pflaster geklebten dicken Brille und schaufelte die trockenen Blätter aus dem Becken. Er bemerkte mich, hielt in seiner Arbeit inne, stützte sich auf den Spatenstiel und strich sich mit der rechten Hand über die Stirn. Ich sah, dass ihm der Zeigefinger fehlte.

»Grüß Gott, Frau Doktor!«, sagte er.

»Was machen Sie denn hier? Wer hat Ihnen das angeschafft?«

»Die alte Frau Fux. Die Blätter müssen verbrannt werden.«

»Wer sind Sie überhaupt? Ich kenne Sie nicht.«

Er griff nach einer Flasche Bier, die auf dem Rand des Bassins stand, und trank einen Schluck. Dann hielt er mir die Flasche hin. Ich schüttelte den Kopf.

»Aber ich dich«, sagte er dann. »Du bist die Sissi. Wir sind miteinander in die Volksschule gegangen. Ich darf doch du sagen?«

Ich ignorierte die Frage.

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Ich schon.« Er maß mich mit einem unverfrorenen Blick von oben bis unten. »Groß bist du geworden, ganz schön lang. In letzter Zeit habe ich dich ein paarmal bei der Mühle gesehen.« Er grinste anzüglich. »Mit einer Frau. Ich wohne auch im Graben.«

»Dann sind Sie der Forstgehilfe?«

Er nickte.

»Genau. Meinen Bruder kennst du ja. Jag ihn einfach weg, wenn er dir lästig wird. Er hat als Kind eine schwere Hirnhautentzündung gehabt. Eine Infektion. Seither kann er nicht mehr richtig reden.« Er lachte. Es schien ihn nicht zu stören, dass ich ihn weiter in der Höflichkeitsform ansprach. »Und er ist auch sonst ein bisschen wunderlich. Aber du brauchst dich nicht vor ihm zu fürchten. Er mag dich.«

Er nahm den Spaten wieder in die Hand und fuhr in seiner Verrichtung fort.

»Deine Großeltern haben manchmal Arbeit für mich«, sagte er. »Das ist gut, ich brauche das Geld.« Er deutete mit dem Kinn auf das Gebäude. »Aber hier bin ich nicht gern.«

»Warum nicht?«

»Weil die Ausländerin im Haus umgeht. Die Hexe.«

Typisch. Diese Dorfidioten.

»Seien Sie vorsichtig mit Ihren Behauptungen. Meine Mutter ist keine Hexe. Und sie lebt in Brasilien.«

Der Mann sah mich spöttisch an. Eine Spur von Verachtung lag in seinem Blick. Auch wenn ich hier aufgewachsen war, auch wenn ich Ärztin war, ich war eine Frau und ein Bastard und hatte im Grunde nichts an diesem Ort zu suchen.

»Kann schon sein, aber sie geht hier um. Ohne Kopf, mit einem Fisch in der Hand. Sie seufzt und stöhnt und weint und redet ununterbrochen. Kein Mensch versteht das Kauderwelsch. Bei Vollmond kommt sie aus dem Haus, legt sich in die Hängematte und schaukelt hin und her. Der Binder, unser Gendarm, hat sie gesehen. Seitdem zuckt sein linkes Augenlid ununterbrochen. Der Pfarrer hat schon zweimal alles mit Weihwasser besprengt und mit Weihrauch ausgeräuchert, aber es hat nichts genützt. Niemand kauft das Haus.« Er lachte laut und schüttelte den Kopf. »Deine Großeltern möchten es seit Jahren loswerden, aber keiner will es.«

»Unsinn!«, sagte ich. »Das ist dummer Aberglaube.«

»Kein Aberglaube«, sagte der Forstgehilfe. »Und nicht dumm. So etwas gibt es.«

»Meine Mutter lebt in Brasilien«, hatte ich gesagt. Tatsache war, dass ich das vermutete, aber nicht genau wusste. Sobald ich schreiben konnte, und das war früh, schickte ich Zeichnungen und Briefe an die Adresse, die wir von ihr hatten. Sie kamen alle zurück. Ob nicht angenommen oder unzustellbar, ließ sich nicht exakt feststellen. Ich schrieb trotzdem weiter, jahrelang.

»Hör endlich auf damit«, sagte meine Großmutter. »Du siehst doch, dass es keinen Sinn hat. Sie hat euch vergessen, dich und Caspar. Du brauchst ihr keine Träne nachzuweinen, das ist sie nicht wert. Sorgen wir vielleicht nicht gut für dich? Sicher hat Olinda inzwischen eine reiche Erdkröte geheiratet, so wie ihre Mutter. Obwohl sie von Rechts wegen ja noch mit deinem Vater verheiratet ist. Eine Bigamistin und Ehebrecherin, deine Mutter, nichts anderes.« Sie lächelte, und ihre schwarzen Hexenaugen leuchteten. »Das ewige Höllenfeuer ist ihr sicher.«

Irgendwann gab ich auf.

Aus den Kronen einiger hoher italienischer Pappeln, die die Staubstraße säumten, welche zum alten Winzerhaus führte, waren dicke Äste gebrochen, zum Teil befanden sie sich zersägt im Gras darunter. Auf der Fahrbahn lagen verstreut kleine Äste, Zweige und Laubwerk. Seit meinem letzten Besuch musste es einen Sturm gegeben haben. Der an seinem Wipfel rot verfärbte Spitzahorn neben dem niedrigen Gebäude, das er um viele Meter überragte, war von weitem zu sehen. Das Haus war das einzige auf der Kuppe des kleinen Hügels, ein exponierter Standort, von dem aus der Blick in alle vier Windrichtungen ging. Als ich den Wagen am Straßenrand abstellte, sah ich Stefan rauchend in Jeans und T-Shirt an einem runden Steintisch im Baumschatten sitzen. Er stand auf, dämpfte die Zigarette aus und kam lächelnd auf mich zu.

»Du bist also doch gekommen«, sagte er, strich mit den Händen leicht über meine Oberarme und küsste mich ebenso leicht auf beide Wangen. »Möchtest du etwas trinken, bevor wir an die Arbeit gehen? Ich habe gestern schon mit der Lese angefangen, ein paar Freunde haben mir geholfen. Es ist nicht mehr viel zu tun.«

Nach drei Stunden Arbeit im Weinberg brannte mir die Sonne auf den Kopf, und mein Rücken schmerzte. Stefan hatte recht gehabt, das Arbeiten auf dem schrägen Terrain war anstrengend. Er redete viel, und ich versuchte mir meine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen und legte weiter sorgfältig Traube für Traube in den grünen Plastikeimer neben mir. Meine Hände waren klebrig und schmutzig, an einem Finger hatte sich eine Blase gebildet, da ich seit vielen Jahren keine Leseschere mehr in der Hand gehabt hatte. Stefan hatte mir aufgetragen, unansehnliche oder faule Traubenteile samt dem Stiel auszuschneiden. Sobald der Eimer voll war, trug er ihn zu dem alten Pritschenwagen, mit dem er so nahe wie möglich an die Weinstöcke herangefahren war, und leerte die Trauben auf die Ladefläche.

»Wir müssen heute noch pressen«, sagte er. »Oder spätestens morgen früh. Die Maische darf nicht lange stehen, sonst oxidiert der Wein.« Er schaute mich an. »Deine Wangen glühen. Sollen wir eine Pause machen?«

»Nein, nein«, sagte ich und richtete mich auf. »Noch nicht. Es macht Spaß.«

Stefan trat zu mir und strich mir eine Haarsträhne aus der Stirn. Die Langsamkeit und Zärtlichkeit der Geste überraschten mich.

»Immer noch die alte Kämpferin«, sagte er leise. »Man sieht es dir nicht an, zerbrechlich, wie du wirkst. Regina erschien viel stärker, aber in Wahrheit –«

Ich unterbrach ihn.

»Wirklich, es macht Spaß«, sagte ich und roch an den hellroten Blüten des kleinen Rosenstrauchs am Beginn der Rebzeile. »Schön, die Rosen. Eine hübsche Idee.«

»Regina hat sie gepflanzt«, sagte Stefan und entfernte ein paar welke Blütenblätter ebenso zärtlich und langsam wie die Haare aus meinem Gesicht. »Sie haben eine Funktion«, sagte er dann. »Rosen sind empfindlicher als Weinstöcke und werden schneller von Schädlingen befallen. So kann man die Reben früh genug schützen.«

»Ich weiß«, sagte ich.

Später saßen wir unter dem niedrigen Edelkastanienbaum, der mitten im Weinberg stand, tranken Traubensaft und aßen Brot und Bauernsalami. Ich hatte den Rücken an den glatten, silbrig grauen Stamm gelehnt und schaute hinunter ins Tal. Etwas weiter entfernt hörte man das Geräusch eines der für die Gegend typischen hölzernen Windräder, die mit ihrem Klappern die Vögel aus den Weingärten verscheuchen. Stefan griff nach einer der Früchte, die unter dem Baum lagen, und löste die glänzende rotbraune Esskastanie aus ihrer stacheligen Hülle.

»Die Maroni müsste ich auch ernten«, sagte er. »Ich frage mich nur, woher ich die Zeit nehmen soll. Mit Regina war das einfacher. Wir haben uns die Arbeit geteilt.« Er hielt inne und schaute mich an. »Wir haben alles geteilt.«

»Ich weiß«, sagte ich.

»Ja, du kennst sie. So war Regina. Intensiv. Sie verlangte viel und gab viel.«

Ich wechselte das Thema.

»Eigenartig. Ich bin hier geboren und aufgewachsen und lebe in Wien. Du bist nicht aus der Gegend und hast dich hier niedergelassen.«

»Es war ihre Idee. Sie wollte hierher. Weil sie mit dir so oft hier gewesen war. Schon damals, als ihr noch in Graz zur Schule gegangen seid. Sie hat häufig von diesen Hügeln, diesem Himmel gesprochen. Von euch. Deine Freundschaft hat ihr sehr viel bedeutet.«

Ich gab auf. Er würde nicht aufhören, von ihr zu reden.

»Ja«, sagte ich. »Und jetzt bist du immer noch hier. Ohne sie.«

Ich weiß nicht, weshalb ich nach diesem Satz plötzlich auflachte. Jedenfalls nicht genau. Es war unangebracht. Stefan schaute mich irritiert an.

»Entschuldige«, sagte ich. »Bitte entschuldige.«

Am Nachmittag trugen wir die geernteten Trauben in Eimern über eine gewundene Steintreppe mit unregelmäßig hohen Stufen in den kühlen Weinkeller des Winzerhauses. Der Stein war glatt und dunkel und glänzte wie eingefettet. Im Lauf der Jahrzehnte und Jahrhunderte waren viele Füße darüber gegangen. Es dauerte eine Weile, bis ich mich an die schlechte Beleuchtung in dem alten Gewölbe mit den feuchten braunroten Ziegelwänden und dem gestampften Lehmboden gewöhnt hatte, wo es stark nach Moder, nach dem Holz der Fässer und nach Wein roch. Stefan leerte einen Teil der Trauben in zwei große Holzbottiche.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte ich.

Er lachte.

»Du hast wirklich wenig Ahnung von der Winzerei«, sagte er. »Kaum zu glauben, dass deine Großeltern Weinbauern sind. Jetzt maischen wir. Ich mache das noch auf die altmodische Art.« Er griff nach einem Paar grüner Gummistiefel, die neben einem Regal mit Weinflaschen standen, und warf sie mir zu. »Fang auf!«, rief er. »Du hast doch dieselbe Schuhnummer wie Regina, nicht? Zieh sie an. Und dann steig in den Bottich.«

Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit nackten Füßen in Reginas Stiefeln zu stecken und die Trauben zu zertreten. Ich blickte auf die Kuppen und konzentrierte mich. Stefan summte vor sich hin.

»Hilfst du mir noch beim Pressen?«, fragte er nach einer Weile.

»Wenn du willst«, sagte ich.

Da trat er aus seinem Bottich und stieg in meinen. Darin war nicht viel Platz für zwei. Er legte seine Hand leicht auf meine Taille, ergriff meine Rechte mit seiner Linken und hob und streckte sie, wie bereit zu einem Tanz.

»Dann musst du über Nacht bleiben«, flüsterte er mir ins Ohr und drehte mich langsam einmal in dem Traubensumpf herum.

Wir saßen in der Stube, Stefan am Tisch und ich mit angezogenen Beinen und barfuß in dem mit dunkelblauem Leder bezogenen Schaukelstuhl neben dem Regal mit den CDs. Ich hatte geduscht und mir die Haare gewaschen und war in den langen weinroten Hausmantel geschlüpft, der an einem Haken im Badezimmer hing. Es war still. Vor den Fenstern war es dunkel geworden. Ich blätterte entspannt in einem Buch über Weinbau. Etwas von der alten Vertrautheit zwischen uns hatte sich eingestellt.

»Angenehm, dein Kimono«, sagte ich und zog den Gürtel ein wenig enger.

»Es ist nicht meiner«, entgegnete Stefan, ohne mich anzusehen. »Er gehört Regina.«

Natürlich.

»Entschuldige, das habe ich – Ich ziehe ihn –«

»Nein, nein«, unterbrach Stefan. »Behalte ihn an, er steht dir. Nimm ihn mit. Es ist gut, dass wieder jemand Verwendung dafür hat.« Er schaute mich an. Seine Iris war dunkelgrau, der Blick ging in die Tiefe. Ich hatte diese Augen immer interessant gefunden. »Weißt du, nachdem ich mich bei deinem letzten Besuch deiner Freundin gegenüber so schroff verhalten habe, bin ich in mich gegangen und habe beschlossen, mit meinem Reliquienkult aufzuhören.« Er machte eine Pause. »Ich habe sehr lange nichts weggeben können, was ihr gehört hat«, meinte er dann.

Ein Fensterladen schlug heftig gegen die Hauswand. Stefan stand auf.

»Es hat Sturmwarnung gegeben«, sagte er. »Ich muss die Läden festmachen.«

Er ging aus dem Zimmer. Ich trat an eines der Fenster und sah mich darin gespiegelt, lang, mager, eckig, mit hängendem dünnem Haar. Unwillkürlich zog ich den Kimono noch fester um mich zusammen. Ich gefiel mir nicht, auch wenn Emma noch so oft sagte, sie fände mich sexy. Regina musste in dem Weinrot hinreißend ausgesehen haben. Stefans undeutliche Konturen tauchten vor dem Fenster auf und überlagerten sich mit meinem Spiegelbild. Er schloss die Läden, und ich zog die Vorhänge vor und setzte mich wieder in den Schaukelstuhl. Gleich darauf kam er in die Stube.

»Es ist kühl geworden«, sagte er und rieb sich die Oberarme. »Ich kann mich nicht erinnern, dass es früher im Herbst solche Stürme gegeben hätte.« Er sah mich an. »Ich mache mir Sorgen um den Ahorn, seine Krone wird allmählich zu schwer. Ein paar waagrechte Äste habe ich schon notdürftig gestützt. Er steht so dicht neben dem Haus, bei jedem Sturm habe ich Angst, ein Ast könnte brechen und auf das Dach fallen.« Er seufzte. »Ich liebe den Baum, er ist weit über hundert Jahre alt und denkmalgeschützt. Regina und ich sind so oft darunter gesessen. Es wäre schlimm für mich, wenn wir ihn absägen müssten.«

»Der Ahorn schützt vor Hexen«, sagte ich. »Zuverlässig. Und vor Blitzschlag.«

Stefan lachte.

»Leider stand keiner auf dem Friedhof …«

»Hast du etwas zu trinken?«, fragte ich. »Ein Glas Rotwein vielleicht?«

»Ach, entschuldige bitte, ich bin ein unaufmerksamer Gastgeber.«

Er ging hinaus in den mit Steinplatten ausgelegten Flur und weiter in die Küche. Ich hörte ihn dort herumhantieren, hörte Geräusche, ein Quietschen, wahrscheinlich die Scharniere eines der vielen Türchen der alten Kredenz, ein Scharren, vielleicht eine Lade, ein Knistern, dann Gläserklingen. Er kam mit einem kleinen runden Holztablett zurück, auf dem zwei bauchige Weingläser, ein Korkenzieher, eine Schale mit Erdnüssen und eine Flasche standen, und stellte es auf dem kleinen Beistelltischchen ab, das zwischen meinem Schaukelstuhl und einem alten Lehnsessel stand.

»Den Wein hat mir ein Patient geschenkt«, sagte er. »Blauer Zweigelt. Seine kleine Tochter hatte eine akute Appendizitis mit nachfolgender Peritonitis, und er behauptet, ohne mein rasches Reagieren wäre sie gestorben.« Er lächelte. »Manchmal bezahlen einen die Bauern in Naturalien. Wein, Fleisch, Brennholz. Ich habe nichts dagegen.« Er zog den Korken aus der Flasche und roch daran. »Er sollte noch etwas atmen, bevor wir ihn trinken.«

»Ich möchte jetzt gleich einen Schluck«, sagte ich schnell.

Er sah mich an.

»Du kannst es nicht erwarten«, meinte er leise.

Er goss wenig Wein in ein Glas und hob es hoch.

»Eine wunderbare Farbe«, sagte er. »Rubinrot, mit violettem Schimmer. Fast wie der Kimono, den du trägst.« Er kostete. »Guter Jahrgang. Neunziger.« Dann schenkte er das zweite Glas halb voll und reichte es mir.

»Auf Regina«, sagte er. »Auf die Vergangenheit. Auf uns drei.«

Mit einem Singen stießen die Gläser aneinander. Stefan ließ sich im Lehnsessel nieder und starrte auf sein Glas, während er den Stiel langsam zwischen Daumen und Zeigefinger drehte. Ich empfand das Schweigen nicht als unangenehm.

»Die Insel heißt Procida«, sagte er nach einer Weile. »Ich meine, der Ort, wo es passiert ist. Habe ich es dir am Telefon gesagt?«

»Procida«, wiederholte ich. »Ich erinnere mich nicht. Ich weiß kaum noch, was du gesagt hast. Es war etwas unzusammenhängend. Du warst verstört. Und ich auch.«

»Es ist eine kleine Insel in der Nähe von Neapel. Nicht weit von Capri und Ischia. Pastellfarbene alte Häuser. Bigotte Bewohner. Schwarze Strände. Laute Mopeds.« Er schwieg und hörte auf, das Weinglas zu drehen. »Es war im Mai. Wir hatten uns auf den Urlaub gefreut. Regina hatte eine lange Konzertreise hinter sich, und ich hatte viel gearbeitet. Wir waren beide erschöpft.«

Er atmete tief ein und aus und drehte das Weinglas von neuem.

»Überall duftete es nach Orangen- und Zitronenblüten. Wir wohnten in der Pensione Paradiso.« Er blickte kurz auf. »Elsa Morante hat dort geschrieben, auf einem Felsvorsprung, der steil zum Meer abfällt. Einen Roman mit dem Titel Arturos Insel. Eine dunkle Geschichte. Das Ödipus-Thema.«

»Kenne ich nicht«, sagte ich. »Weder die Autorin noch das Buch.«

»Sie lebt nicht mehr. Sie war lange mit Alberto Moravia verheiratet.«

»Kenne ich auch nicht. Ich lese nicht gern.«

»Regina kannte sich da aus. Deshalb wollte sie in dieser Pension wohnen. Du weißt, sie hat Bücher verschlungen.«

Regina, die Kultivierte, Beschlagene. Die nicht nur schön war und talentiert, sondern auch klug und gebildet. Die alles las, über alles Bescheid wusste. Die gelegentlich selbst schrieb. Ihre Kurzgeschichten waren interessant. Die ebenso gut Schriftstellerin hätte werden können wie Sängerin. Oder Bildhauerin. Malerin. Die aus dem Vollen schöpfte. War es nicht beneidenswert, eine so außergewöhnliche Person gekannt zu haben?

Wieder hörte Stefan auf, das Glas zu bewegen.

»An dem Tag hatten wir beschlossen, zu Fuß nach Vivara zu gehen. Ein der Insel im Westen vorgelagertes Inselchen, durch eine Brücke mit der Hauptinsel verbunden. Ein Vogelschutzgebiet, sehr schön und ruhig. Es gibt nur Vögel dort, kaum Menschen. Vögel und wilde Kaninchen. Keinen Sandstrand, nur Felsen. Wir wollten schwimmen. Regina ist – sie war eine sehr gute und ausdauernde Schwimmerin, das weißt du ja.«

»Ich weiß.«

»Aber gerade ausgezeichnete Schwimmer ertrinken nicht selten. Sie gehen Risiken ein. Jedenfalls breiteten wir unsere Decke auf einem Felsplateau drei Meter über dem Meer aus und zogen unsere Badesachen an. Regina meinte, sie habe Lust, quer über die Bucht zwischen Vivara und der Hauptinsel bis zu dem kleinen Felsvorsprung zu schwimmen, der das Halbrund auf der anderen Seite begrenzte, sich dort ein bisschen auszuruhen und dann wieder umzukehren. Ich versuchte sie von dieser Idee abzubringen, denn die Strecke war weit. Außerdem hatte ich gehört, dass es in der Bucht gefährliche Unterströmungen und Strudel gab.« Er schaute auf. »Wegen des vulkanischen Ursprungs der Inselgruppe«, sagte er erklärend. »Aber sie lachte nur, trat an den Felsrand, beugte sich vor und hob die Arme. Ich weiß noch, dass ich stolz war auf ihren graziösen, fehlerlosen Körper in dem knappen schwarzen Badeanzug, auf dieses Geschenk, das sie mir gemacht hatte, nur mir, und dass ich dachte, was für ein Glück es war, mit einer solchen Frau zu leben. In einem eleganten Bogen sprang sie kopfüber ins Wasser, das heftig an die Felsen schlug. Ich sah zu, wie sie sich von mir entfernte, immer kleiner wurde. Dann schwamm sie um die Felswand herum, und ich verlor sie aus den Augen.«

Er senkte den Kopf und begann lautlos zu weinen. Eine Träne hing an seiner Nasenspitze und tropfte ins Weinglas. Beinahe hätte ich dem Impuls nachgegeben, aufzustehen und ihm den Arm um die Schultern zu legen. Mit ihm um Regina zu weinen. Aber ich hielt mich zurück. Nach einer Weile richtete er sich wieder auf.

»Es war das letzte Mal, dass ich sie sah. Bis heute weiß ich nicht genau, was passiert ist.«

»Was hast du unternommen?«

»Zunächst gar nichts«, sagte er. »Ich habe stundenlang auf ihre Rückkehr gewartet. Am späten Nachmittag ging ich den langen Weg um die Bucht herum, bis hinaus zu dem Felsvorsprung am anderen Ende, zu dem sie hatte schwimmen wollen. Nirgends eine Spur von ihr. Dann kehrte ich zurück zur Pension, aber auch dort war sie nicht. Ich suchte im Ort nach ihr, in dem Restaurant, in dem wir manchmal aßen, in der Eisdiele, den kleinen Boutiquen, ging zum Hafen hinunter, zu den Fährschiffen, den Schnellbooten, die zwischen Neapel und Procida verkehren, und hinaus auf die Mole. Nichts. Schließlich beschloss ich, Ruhe zu bewahren und die Nacht abzuwarten. Sicher würde sie in den nächsten Stunden auftauchen, sicher gab es eine einfache Erklärung für ihre Abwesenheit. Aber das ungute Gefühl, das mich in dem Augenblick überkommen hatte, als sie hinter den Felsen verschwunden war, ließ sich nicht verscheuchen.«

Stefan seufzte, stützte die Ellbogen auf den Knien auf und nahm den Kopf zwischen die Hände.

»Es wurde die längste Nacht meines Lebens. Als Regina am Morgen noch immer nicht zurück war, meldete ich sie bei der lokalen Polizei als vermisst.«

»Und dann?«

»Die Wasserpolizei hat wegen der Strömungen und Wasserwirbel in der Bucht sofort einen Unfall vermutet und das Meer bis weit hinaus und in große Tiefe durchsucht. Mit Booten und Tauchern. Sogar ein Hubschrauber wurde eingesetzt. Und Hunde, die das Ufer der Bucht abliefen und Reginas Geruch aufspüren sollten.«

Er hielt inne und schaute mich mit großen Augen an. Ein hilfloser, kummervoller Blick.

»Und das Schlimmste, Sissi – das Schlimmste war, dass sie auch mich verhört haben. Sie trieben einen Dolmetscher auf und vernahmen mich lange, stellten mir alle möglichen Fragen. Ob unsere Ehe intakt war, solche Sachen. Ich war verdächtig, verstehst du. Der Ehemann ist immer verdächtig.«

Plötzlich verzog er das Gesicht und begann zu schluchzen.

»Kannst du dir das vorstellen? Ob unsere Ehe intakt war! Intakt! Du weißt, wie unsere Ehe war, Sissi, du weißt, wie glücklich wir waren. Von Anfang an. Wir haben einander rückhaltlos vertraut. Das weißt du doch, Sissi! Es gab keine Eifersucht in unserer Beziehung. Wir waren einander treu. Du weißt es genau, Sissi, nicht wahr? Es war die beste Ehe, die ich kenne. Die allerbeste!«

Seine Schultern hoben und senkten sich. Der Ausbruch beunruhigte mich, ich reagierte innerlich abwehrend, fühlte mich getrennt von Stefan, unbeteiligt, obwohl ich selbst den Verlust meiner besten Freundin lange nicht hatte hinnehmen können, obwohl kein Tag verging, an dem sie mir nicht einfiel, an dem ihr Gesicht nicht vor mir auftauchte, ihre Stimme sich nicht in meinem Kopf vernehmen ließ.

»Die allerbeste«, wiederholte ich, »natürlich.« Ich stand auf und ging zu Stefan hin, in einem halbherzigen Versuch, ihm Trost zu bieten. Er zog mich zu sich hinunter, und ich kniete mich neben den Lehnsessel auf die alten Dielen. Als ich zu ihm hochblickte, in die Augen voller Tränen, begann auch ich zu weinen. Es entsprang keinem Mitgefühl, es war einfach ansteckend.

»Wir haben sie beide geliebt, jeder auf seine Weise«, sagte ich und streichelte seine Wange, im selben Augenblick peinlich berührt von der Abgedroschenheit des Satzes und meiner Geste. Die Situation erschien mir befremdlich, so, als stünde ich neben der Szene. Wie eine Dritte. Wie Regina zum Beispiel.

Er nahm mein Gesicht in die Hände und küsste mich. Ich hatte ein Empfinden, als fülle seine Zunge meine Mundhöhle vollkommen aus. Mein Körper reagierte augenblicklich auf die Stimulation.

Ich wachte auf, weil die Sonne in mein Gesicht schien. Mir war nicht gleich klar, wo ich mich befand. Links und rechts schräge Holzwände, dunkle Dachsparren, spitz nach oben zulaufend. Ich hob den Kopf. Ein großer länglicher Raum, in dem es nach altem Holz roch. Das Licht fiel durch ein Fenster über dem Bett, in dem ich lag. Ich hatte nichts an. Neben mir ein zerknülltes hellgraues Kopfkissen, auf der Marmorplatte eines Nachtkästchens ein halbvolles Glas Rotwein, ein Digitalwecker. Zehn nach zehn. Ein schwarzer Scherenschnitt in einem Rahmen. Ein vertrautes Profil. Regina. Ich setzte mich auf und stieß dabei mit dem Kopf gegen einen Balken. Ich lag in Stefans Bett, dem vormaligen Ehebett des vormaligen ehelichen Schlafzimmers im ausgebauten Dachboden des Winzerhauses. Abends zuvor hatte ich den Raum kaum wahrgenommen, wir hatten viel getrunken und waren im Dunkeln die Treppe hinaufgestiegen. Stefan hatte mich vor sich hergeschoben, seine Hände auf meinen Hüften.

Ich stieg aus dem Bett und griff nach einem Kleidungsstück, das davor auf dem Boden lag. Ein hellblaues Männerhemd. Ich streifte es über, knöpfte es zu, schwankend. Mir war schwindlig und leicht übel, und ich hatte das vage Gefühl, einen Verrat begangen zu haben. Weshalb? Regina war seit zwei Jahren abgängig und höchstwahrscheinlich tot.

Stefan war weder in der Küche noch im großen Zimmer im Erdgeschoß. Während ich barfuß über die Steinplatten im Flur ging, läutete das Mobiltelefon in meiner Handtasche, die auf dem Garderobenständer hing. Ich nahm den Anruf entgegen und lehnte mich an den Rahmen der offenen Eingangstür. Der alte Freund stand gebückt unter dem Ahorn, sammelte Zweige und kleine Äste auf, die der Sturm in der Nacht vom Baum gebrochen hatte, und legte sie auf andere Äste und Zweige, die er zu einem kleinen Stoß aufschichtete. Er bemerkte mich nicht gleich.

»Guten Morgen«, sagte Emma. »Ich habe schon einmal angerufen. Wie hast du geschlafen?«

»Ausgezeichnet«, sagte ich und musste gähnen.

»Es ist lächerlich, aber in der Nacht habe ich mir Sorgen um dich gemacht. Die Mühle liegt so einsam. Und dieser Verrückte mit dem umgedrehten Kreuz, ganz in deiner Nähe …«

Ich dachte an den von innen erleuchteten Kürbis auf dem Hackstock.

»Es ist alles in Ordnung«, sagte ich. »Florian ist völlig harmlos.«

»Wo bist du jetzt?«, fragte Emma.

»Na, in der Mühle natürlich. Ich koche gerade Kaffee.«

Stefan richtete sich auf und dehnte und streckte sich.

»Dann bin ich beruhigt«, sagte Emma. »Ich muss los, ich arbeite heute. Bis morgen Abend.«

Nun hatte er mich gesehen. Ich lächelte und winkte ihm zu. Die Mühelosigkeit, mit der ich gelogen hatte, hob meine Stimmung.

»Ja, bis morgen«, sagte ich. »Ich freue mich auf dich.« Dann beendete ich das Gespräch.

»Ausgeruht, Prinzessin?«, rief Stefan mir zu.

Ich trat in die Wiese vor dem Haus und ging ihm entgegen. Das Gras war angenehm kühl und nass. In diesem Augenblick fuhr ein Auto auf der Straße vorüber, und die Fahrerin hupte ein paarmal und streckte den Kopf aus dem Fenster. Es war die Frau, die Emma und mir den Weg zum Winzerhaus gewiesen hatte, die grauhaarige Frau mit den Nike-Laufschuhen und dem scharfen Blick.

»Schönen guten Morgen, Herr Doktor König!«, rief sie im Vorbeifahren. »Ein solcher Sturm! Er hat meinen Gartenzaun umgerissen, stellen Sie sich das vor! Eine Katastrophe!«

Am frühen Abend fuhr ich zurück nach Wien. Vorher stattete ich meinen Großeltern noch einen kurzen Besuch ab. Als ich in die Stube trat, blickten mir sechs Augenpaare entgegen. Das siebente, das des Großvaters, und das achte, das des hölzernen Christus an dem kleinen, mit einem vertrockneten Palmkätzchenstrauß geschmückten Kreuz im sogenannten Herrgottswinkel in der Ecke, konnte man nicht mitzählen, denn diese vier Augen waren geschlossen. Außer meinen Großeltern saßen noch Onkel Rudolf und Onkel Hannes mit ihren Ehefrauen sowie Hochwürden Wojcik um den Tisch, in dessen Zentrum eine Zweiliterflasche ohne Etikett stand, zu einem Drittel mit einer durchsichtigen Flüssigkeit gefüllt. Hausbrand, sechzigprozentig. Alle hatten Schnapsgläser vor sich stehen und gerötete Wangen, die Männer, einschließlich des Pfarrers, zusätzlich einen glasigen Blick.

Meine Großmutter stand auf und rückte ihre leicht verrutschte blonde Perücke mit einem energischen Handgriff zurecht.

»Man hat dich gesehen«, sagte sie.

Ich schaute von einem zum anderen. Die Augenpaare blickten anklagend.

»Hast du uns nichts zu sagen?«, fragte Tante Beate.

»Ich wüsste nicht –«, setzte ich an.

»Man hat dich gesehen, Sissi«, wiederholte meine Großmutter, die Hexe, um etliche Dezibel lauter. »Bei unserem Doktor König. Auf seiner Wiese. Barfuß und im Nachthemd.«

»Am Tag des Herrn«, sagte Hochwürden Wojcik und griff sich mit der schlecht vernarbten knochigen Rechten müde an die Stelle, unter der sich sein infarktgeschwächtes Herz befinden musste. »Zweiter Sonntag vor Michaelis. So kurz vor dem Erntedankfest.« Seine Haare waren noch nicht ganz nachgewachsen, grauer Flaum bedeckte seinen Kopf, was ihn wie ein Raubvogeljunges aussehen ließ. Er war schlechter rasiert und gelber im Gesicht denn je.

»Die Dirnböck ist zufällig am Haus vorbeigekommen und hat uns alles berichtet«, sagte Onkel Hannes und blinzelte. »Wahrheitsgemäß. Eine achtbare Witwe, die Dirnböck.«

»Und ein vertrauenswürdiges Mitglied unserer Gemeinde«, fügte Hochwürden Wojcik hinzu. »Ihr obliegt seit Jahren die Instandhaltung der pfarreigenen Bildstöcke, eine Aufgabe, die sie in vorbildlicher Weise erfüllt. Ehrenamtlich.« Der Alkoholgenuss verstärkte zwar seinen polnischen Akzent, schien aber seine sonstige Kompetenz in der Fremdsprache eher zu verbessern.

»Würdest du uns freundlicherweise mitteilen, was genau du in diesem peinlich kurzen Nachthemd bei unserem Doktor König zu suchen hattest?«, fragte Tante Dagmar. Sie sprach langsam.

»Ich –«, begann ich.

»Ich bitte dich, Dagmar, was sie gesucht und offenbar auch gefunden hat, ist doch sonnenklar«, unterbrach mich Tante Beate in leicht gereiztem Ton. »Der Gesichtsausdruck sagt alles.«

»Es muss die Großstadt sein, die das Kind derartig verändert hat«, vermutete Onkel Hannes. »Wien ist für seine losen Sitten bekannt. Ein gefährlicher Boden für rechtschaffene Menschen aus der Provinz.« Er schüttelte langsam den Kopf. »Sie hätte bei uns bleiben sollen.«

Mein Großvater ließ seinen runden Schädel weit nach hinten sinken und schnarchte kurz auf.

»Er schläft schon wieder«, sagte meine Großmutter. »Er schläft andauernd. Es ist ein Jammer.«

»Ich kenne Stefan seit Jahrzehnten, das wisst ihr doch«, sagte ich. »Wir waren sehr gut befreundet, Regina, er und ich.«

»Eben«, sagte meine Großmutter. »Eine innige Kameradschaft zwischen drei jungen Leuten. So etwas hält man in Ehren.«

Der Großvater wachte auf und begann fröhlich zu singen: Schwarzbraun ist die Haselnuss, / Schwarzbraun bin auch ich, ja ich …

Die Großmutter unterbrach ihn barsch.

»Halt den Mund, Ägyd! Schlaf weiter!«

Er sackte in sich zusammen. Sie wandte sich wieder an mich.

»Wo war ich?«, sagte sie. »Ach ja. Unschuldig und innig. Eine solche Freundschaft behält man in teurer Erinnerung, noch dazu, wo sich doch später diese furchtbaren Ereignisse abgespielt haben. Du hast Reginas Andenken beschmutzt, traurig, aber wahr. Alles hat seine Grenzen, Sissi. Aber Grenzen hast du nie respektiert, schon gar nicht die des Anstands. In diesem Punkt bist du deiner Mutter ähnlich, das muss gesagt werden.«

»Genau«, warf Onkel Rudolf ein und rülpste, »es ist das schlechte südamerikanische Blut. Das Mädchen ist nur zum Teil verantwortlich.«

»Aus der Art geschlagen, so ist es und nicht anders«, sagte meine Großmutter-Hexe und skandierte die Wörter »Art«, »ist« und »anders« durch Schläge mit der flachen Hand auf die Tischplatte.

»Exakt«, sagte Onkel Rudolf und zog seinen Kopf eingeschüchtert zurück. »Aus der Art geschlagen.«

»Und meiner Carmen blieb der Weg in diese Welt verwehrt. Das ist schmerzlich«, sagte Tante Dagmar. Ihre Aussprache war undeutlich.

»Aber ich habe doch –«, hob ich an.

»Schmerzlich und ungerecht«, nuschelte die Tante weiter. »Umgarnt diesen reizenden Menschen und hält ihn ab von seiner aufopfernden Tätigkeit.« Sie stand schwankend auf und erhob den rechten Zeigefinger. »Zweiter Brief des Johannes: Denn viele Verführer sind in die Welt ausgegangen …«

»Sei still, Dagmar, du bist ja betrunken«, sagte meine Großmutter.

»Betrunken …«, murmelte der Großvater, griff nach der Flasche in der Mitte des Tisches und schenkte sich mit unsicherer Hand nach. Der Hausbrand floss über. Er näherte das Schnapsglas vorsichtig seinem Mund und leerte es in einem Zug.

Auf der Rückfahrt nach Wien schob ich eine CD von Regina in den Player, die ich heimlich aus Stefans Regal genommen hatte, die Dowland-Lieder, die sie in London mit einem bekannten englischen Lautenisten aufgenommen hatte. Ich mochte sie besonders, der elegische, melancholische Ton dieser Musik aus der Elisabethanischen Zeit ließ ihre Stimme eine ganz spezielle Färbung annehmen, ließ Schmerz, Enttäuschung, Verzweiflung anklingen, Gefühle, die die beschwingte, lebensfrohe Regina, jemand, der die Menschen mühelos für sich einnahm, nicht zu kennen schien.

I sit, I sigh, I weep, I faint, I die / In deadly pain and endless misery, sang meine einstige Freundin, und mit einem Mal sah ich sie deutlich vor mir. Sie blickte mich durch die Windschutzscheibe an, ihre Miene war ernst, fast düster, und ich erschrak und schaute kurz zur Seite. Die Sonne stand tief, und in einer Wiese, auf die Bäume ihre langen Schatten warfen, schleuderte ein Mädchen in einem langen weißen Kleid in diesem Moment einen Strohhut mit einem blauen Band in die Höhe. Der Hut segelte in weitem Bogen durch die Luft und blieb an einem Ast hängen.

Der Lenker des Wagens, der mich gerade überholte, hupte und tippte sich an die Stirn. Ich war auf der Fahrbahn zu weit nach links geraten. Rasch korrigierte ich den Kurs und richtete den Blick wieder nach vorn. Reginas Gesicht war nicht mehr da.

»Cold love is like to words written on sand / Or to bubbles which on the water swim.«

Diese Stimme. Hatte ich mir in der vergangenen Nacht etwas genommen, was mir nicht zustand? Hatte ich tatsächlich eine Grenze überschritten, wie es mir das Familientribunal vorgeworfen hatte? Den ganzen Tag schon hatte ich das Gefühl, mir etwas angemaßt zu haben. Als hätte ich mit einem Geliebten im Ehebett der Eltern geschlafen.

Ich war längere Zeit mit keinem Mann zusammen gewesen, bevorzugte seit einigen Jahren Frauen. Ich fand sie körperlich ansprechender, sie waren feingliedrig, ihre Gesten sanft, die Bewegungen geschmeidig, ihre Haut zart und glatt: Wenn ich eine Frau umarmte, begegnete ich mir selbst. Das erstaunte und entzückte mich jedes Mal von neuem.

Und nun Stefan. Meine Erinnerung an seinen Körper, an unsere Berührungen in der Finsternis war nicht sehr klar, da ich betrunken gewesen war. Mein Verlangen, durch den Alkohol verstärkt, war heftig gewesen, so viel wusste ich, auch, dass mich der männliche Körper anfangs etwas irritiert hatte, die Kraft und Schwere, die ich nicht mehr gewohnt war, der Geruch, die Behaarung. Der Wind hatte ums Haus gejammert und die Balken und Sparren zum Knacken, zum Seufzen gebracht. Stefan hatte ständig leise vor sich hin gesprochen, Worte gemurmelt, die für mich unverständlich waren bis auf meinen und Reginas Namen. Und damit, dass er ihren Namen nannte, beschwor er ihre Anwesenheit. Irgendwann schliefen wir zu dritt miteinander, draußen der Sturm. Reginas Fingerkuppen glitten gleichzeitig über meine Hüften und Stefans Bauch, ihre schwarzen Haare legten sich zugleich auf meine Brust und auf Stefans Gesicht, ihr Mund biss leicht in meinen Hals und dann in sein Ohr. Es war das Phantom Regina, das die Verbindung zwischen uns beiden herstellte, unsere Lust gestattete und steigerte.

Warum empfand ich mein Verhalten dann als unzulässig?

Alas, I am condemned ever / No hope, no help there does remain / But down, down, down, down I fall / And arise I never shall, sang Regina.

Ich sah sie, das Gesicht verhüllt von den langen Haaren, die ihren Kopf umschlangen wie die Arme eines Polypen, langsam in die Tiefe sinken, von der hellen, durchsichtigen Wasseroberfläche hinunter in dunklere Gewässer, bis in undurchdringliche Schwärze.

Then all must as they may / In darkness learn to dwell.

Wie versprochen, hatte ich Stefan am Vormittag noch beim Pressen der Trauben geholfen. Er war freundlich und zuvorkommend, erwähnte aber unsere gemeinsame Nacht mit keinem Wort und wirkte abwesend, wenn er mir ab und zu leicht und flüchtig über die Wangen, die Schultern, den Kopf strich und den Blick dabei nicht direkt auf mich richtete, sondern über mich hinaus in unbestimmte Distanz. Die Korbpresse stand im Keller, gemeinsam schöpften wir die zerstampften Trauben aus den Bottichen und schütteten die Masse in die Öffnung.

»Jetzt lasse ich den Most vierundzwanzig Stunden ruhen«, erklärte er und strich sich mit dem Unterarm über die Stirn. »Zucker und Hefe müssen auch noch zugesetzt werden. Dann kann der Saft gären. Der Keller ist der ideale Ort dafür.«

Nach dem Pressen füllten wir den klaren, von Schalen, Samen und Stielen befreiten Traubensaft sofort in große Glasballons.

»In der Nacht hast du ein paarmal Reginas Namen genannt«, sagte ich.

Stefan legte den Trichter, durch den er die Flüssigkeit in die Glasbehälter geschüttet hatte, beiseite, trat auf mich zu, nahm meine Hände in seine, schob mich zur Kellerwand hin, hob meine Arme hoch, presste meine Handrücken gegen die kalten Ziegel, drückte sich an mich, ließ seine Stirn auf meine Schulter sinken und verharrte eine Weile wortlos in dieser Stellung. Dann zog er den Kopf ein wenig zurück.

»Tatsächlich?«, sagte er. »Ach, Prinzessin, ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich nur an wenig erinnern.« Er legte den Kopf schief und lächelte mich an. »Regina und ich hatten eine leidenschaftliche Beziehung. Es war die Erfüllung, Sissi. Unsere Sexualität hat sich nie abgenutzt, nie verbraucht, im Gegenteil. Sie war bis zum Ende ungemein befriedigend.«

Da war es. Deshalb hatte ich das Gefühl, mich auf verbotenem Terrain zu bewegen. Stefan gehörte Regina. Man hatte ihre Leiche nie gefunden. Die Bindung zwischen ihnen war unauflöslich. Was wollte ich? Hatte ich mich mit der schönen, unwiderstehlichen Freundin messen wollen? Ich würde mich zurückziehen. Sofort.

»Lass mich los«, sagte ich.

But o, the fury of my restless fear! / The hidden anguish of my flesh desires!, sang Regina.

Inzwischen war die Sonne untergegangen, der Himmel im Westen war nicht mehr blutrot und orange, sondern zartlila und violett. Ich fühlte mich nicht gut, normalerweise trank ich wenig Alkohol. Ich bog auf den Parkplatz vor einer Raststätte ein und stieg aus. Eine stark geschminkte Frau in einem schwarzen T-Shirt mit dem giftgrünen Aufdruck BAD GIRL kämmte sich vor dem Rückspiegel eines weißen Motorrollers die Haare. Sie lächelte mich an.

»Müde?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich, »ich brauche einen Kaffee.«