Jossele, ich und der Leser - wir alle hängen von jenem berühmten Finger ab, der plötzlich auf einen Knopf drücken könnte, worauf wir binnen kurzem in eine fröhliche Schar radioaktiver Wolken verwandelt wären. Zugegeben, das ist keine sehr behagliche Situation. Aber sie hat auch ihre Lichtseiten.

 

FALSCHER ALARM

 

Als ich an unserem Stammcafe auf der Dizengoff-Straße vorbeikam, saß zufällig Jossele dort und las die Zeitung - eine für Jossele höchst ungewöhnliche Beschäftigung, denn er war kein großer Leser. Er sah denn auch sehr mitgenommen aus, und seine Finger trommelten nervös auf der Tischplatte.

»Geld?« fragte ich. »Zögernde junge Dame? Oder was?«

»Frieden.«

»Wie bitte?«

»Der Friede. Du hast mich doch gefragt, was mir Sorgen macht. Ich sage es dir. Der Friede.«

Ich zahlte den Kaffee für ihn, und wir gingen die strahlend beleuchtete Dizengoff-Straße hinunter. Es war ein wunderschöner Abend. Die Zuschauer kamen gerade aus der letzten Kinovorstellung, und ringsum wimmelte es von hüftenschwenkenden Mädchen.

»Sehen wir den Dingen ins Auge«, sagte Jossele. »Ich bin ein Nichtsnutz. Ein Taugenichts. Ein Halbstarker. Ein Bezprizorny. Ein Beatnik.«

»Das genügt.«

»Aber ich bin kein Opportunist, der sein Mäntelchen nach dem Winde hängt. Ich bin wenigstens ein konsequenter Taugenichts. Seit ich zu denken begann, wußte ich mit absoluter Sicherheit, daß es im Leben keine absolute Sicherheit gibt. Das war ein wunderbares Gefühl. Unsere Großväter mußten sich ununterbrochen um die Familie sorgen, und um ihr eigenes Alter, und ob die Pension ausreichen würde, und lauter so dummes Zeug. Wir hingegen sind frei wie die Vögel. Du fragst mich, was in dreißig Jahren sein wird? Ich pfeif drauf. Es interessiert mich nicht einmal, was nächste Woche sein wird.«

Unser Freund Gyuri rannte vorbei.

»Nach dem Theater bei Putzi!« rief er zu Jossele herüber.

»Bring mindestens eine Flasche und mindestens ein Mädchen!«

»Leider!« rief Jossele zurück. »Ich muß morgen um halb elf aufstehen.«

»Bleib liegen!« klang Gyuris Stimme ihm nach.

»Ich kann dort nicht hingehen, weil ich schon zu einer andern Party eingeladen bin«, erklärte mir Jossele. »Wenn man zur verlorenen Generation gehört, gehört man sozusagen einer Weltorganisation an. Früher einmal hätte sich ein junger Mann meines Alters gesagt: >Am Tag faulenzen, bei Nacht saufen - wo soll das hinführen, wie soll das enden?< Aber wir Angehörigen der verlorenen Generation wissen, wie es enden wird: mit einem großen Knall und einer pilzförmigen Rauchwolke, wenn die Atombombe fällt ...«

»Und wenn sie nicht fällt?«

»Das wäre ein Pech. Aber vorläufig darf man noch hoffen.

Ohne diese Hoffnung wäre das Leben nicht mehr lebenswert.

Wenn ich erst einmal anfangen muß, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was ich morgen oder gar übermorgen machen soll, oder wenn ich mir vorstellen müßte, als zahnloser Greis mein Ende abzuwarten, dann werde ich verrückt. Das alles ist vollkommen überflüssig. Früher war das anders. Früher mußte man seiner Angebeteten etwas von Kindersegen ins Ohr flüstern und mußte ihr ein sicheres Heim und Wärme und Geborgenheit versprechen, damit man etwas bei ihr erreicht. Heute sagt man ganz einfach: >Was soll ich dir viel von morgen erzählen, wo wir doch gar nicht wissen, ob wir den morgigen Tag überhaupt erleben werden?< Und damit ist die Sache geregelt.«

Ein Taxichauffeur hupte wild, weil wir bei rotem Licht die Straße überquerten.

»Hast du keine Augen im Kopf, du Idiot?« brüllte Jossele ihn an. »Siehst du nicht, daß du fahren kannst? Wir gehen ja bei rotem Licht!«

Dem Chauffeur blieb der Mund offen. Verwirrt murmelte er etwas von Vorschriften und Gesetzen. Jossele langte mit der Hand nach seinem Kopf und zerraufte ihm das Haar.

»Vorschrift?« sagte er. »Gesetze? Mann, nächstes Jahr hat China die Atombombe. Gesetze, sagt er! Fahr ab!«

Plötzlich blieb Jossele stehen. Seine Stirn verfinsterte sich:

»Gestern nacht - oder vormittag - also kurz und gut: während meiner Schlafenszeit fuhr ich plötzlich hoch, und ein fürchterlicher Gedanke zuckte mir durch den Kopf: was geschieht, wenn sie plötzlich Frieden machen und alle Atombomben vernichten? Dann stehe ich, ein einsamer Beatnik, mitten auf der Dizengoff-Straße, ohne die geringste moralische Grundlage, ohne Beruf, ohne Geld, nur mit einer Zukunft vor mir ... Es ist ein entsetzlicher Albtraum.«

»Nun, nun. So schlimm wird's schon nicht sein.«

»Halt's Maul«, fauchte Jossele. »Die sind imstande und ziehen mir den Boden unter den Füßen weg. Plötzlich werde ich im praktischen Leben stehen und einen bürgerlichen Beruf ergreifen müssen ... und womöglich Kinder kriegen und einen Bauch ... und meine kläglichen Ersparnisse mit 3 3/4 Prozent Zinsen anlegen. In den öffentlichen Verkehrsmitteln wird plötzlich Disziplin herrschen. Die jungen Leute werden aufstehen und ihre Sitze den älteren anbieten. Sie werden Bücher lesen und bei Nacht schlafen. Ihre Kleider werden gebügelt und gepflegt sein, und von den Mädchen wird man nichts mehr haben können. Grauenhaft. Wirklich grauenhaft.«

Jossele schauderte zusammen und stieß mit dem Fuß einen Abfallkübel um, so daß der Inhalt sich aufs Straßenpflaster ergoß.

»Es ist sehr leicht für ein paar Schwachköpfe, von Abrüstung zu reden«, sagte er. »Aber wer übernimmt die Verantwortung für die Folgen?«