Unsere Väter, die vor einigen tausend Jahren die hebräische Schrift erfunden haben, müssen Linkshänder gewesen sein, denn sie schrieben von rechts nach links. Außerdem hatten sie es sichtlich darauf angelegt, daß die Schrift der Heiligen Bücher nicht von jedem hergelaufenen Laffen gelesen werden könnte. Deshalb eliminierten sie, wie in der Stenographie, alle Vokale. Und deshalb ist es leichter, hebräisch zu schreiben als hebräisch zu lesen. Kein Wunder, daß die hebräischen Schriftsteller ständig auf fiebriger Suche nach Lesern sind. Ihre durchschnittliche Leserzahl beläuft sich auf drei: den Verleger, den Drucker und den Korrektor. Als vierten wollen sie mich.

 

WIE MAN EIN BUCH BESPRICHT, OHNE ES ZU LESEN

 

Die Sache mit Tola'at Shani bedrückte mich. Nein, das war wirklich nicht schön von mir: vor einem halben Jahr hatte er mir sein neues Buch geschickt, das ich sofort auf den Schreibtisch oder sonst irgendwo hingelegt hatte - und dort, wo immer das war, setzte es seither Spinnweben an.

Zu Beginn kam ich noch mit den üblichen Ausreden durch:

»Schon bekommen!« rief ich vorbeugend, wenn ich Tola'at Shani von weitem sah. »Sobald ich ein paar freie Stunden habe, lese ich es!« Und der vielversprechende junge Autor lächelte mir dankbar zu.

Als ich ihn nach ein paar Wochen unversehens beinahe über den Haufen rannte, ließ ich mich zu der Bemerkung hinreißen, daß ich bereits mitten in der Lektüre sei und daß wir nachher darüber sprechen müßten.

Bald darauf kam es zu einem höchst peinlichen Zwischenfall.

Tola'at Shani betrat das Cafe, und sein Blick fiel genau in der gleichen Sekunde auf die Küchentür, als ich hinausschlüpfte. Ich entsinne mich noch ganz genau, daß ich an diesem Tag den festen Entschluß faßte, das Buch sehr sorgfältig zu durchblättern, wenn ich nach Hause käme. Irre ich nicht, so hatte ich sogar schon die Hand danach ausgestreckt.

Aber gerade da ging das Telephon, oder es läutete an der Tür, oder es geschah sonst etwas - jedenfalls kam meine Hand nicht bis an das Buch heran. Und dabei blieb es.

Vor ein paar Tagen, als ich mich um Kinokarten anstellte, fühlte ich mich plötzlich am Arm gepackt. Es war Tola'at Shani, und es gab kein Entrinnen.

»Haben Sie das Buch schon ausgelesen?« fragte er mich.

Ich nickte mehrmals und ernsthaft:

»Wir müssen uns ausführlich darüber unterhalten. Ich habe Ihnen eine ganze Menge zu sagen. Aber hier - in dieser Schlange - auf einem Bein -«

Ich hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als an der Kassa die Tafel »Ausverkauft« hochging. Mein Schicksal war besiegelt.

Nur ein plötzlich herabstoßender Steinadler hätte mich retten können, und in Tel Aviv gibt es leider keine Steinadler.

Hingegen gibt es sehr viele Kaffeehäuser, so viele, daß man in einem von ihnen mit größter Wahrscheinlichkeit einen Tisch für zwei Personen findet. Tola'at Shani, der meinen Arm noch immer nicht losgelassen hatte, fand einen Tisch für zwei Personen. Und jetzt saßen wir einander gegenüber.

»Also«, sagte Tola'at Shani. »Sie wollten mit mir über mein Buch sprechen.«

»Ja«, sagte ich. »Ich bin froh, daß ich Sie endlich getroffen habe.«

Irgendwie erinnerte mich die Situation an den dramatischen Höhepunkt mancher Wildwestfilme, wenn Sheriff und Schurke im Saloon der menschenleeren Hauptstraße zusammenstoßen und die endgültige Abrechnung sich nicht mehr aufhalten läßt. Auch die Dizengoff-Straße schien plötzlich menschenleer. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals so entvölkert gesehen zu haben. Kein einziges bekanntes Gesicht wollte auftauchen.

Verzweifelt suchte ich mir das Buch ins Gedächtnis zu rufen, aber vor meinem geistigen Auge erschien immer nur die braune Packpapierhülle, die ich noch nicht entfernt hatte.

Wenn ich wenigstens wüßte, um was für eine Art von Buch es sich handelte! War es ein Roman? Eine Sammlung von Kurzgeschichten? Von Gedichten? Ein Theaterstück? Ein Essayband?

Die bleierne Stille drohte mir den Atem abzuschnüren. Ich mußte etwas sagen:

»Etwas muß ich sagen«, sagte ich. »Sie haben enorme Arbeit an dieses Buch gewendet.«

»Drei Jahre«, nickte Tola'at Shani. »Aber das Thema habe ich noch viel länger mit mir herumgetragen.«

»Das spürt man sofort. Es ist ein reifes Werk.«

Stille. Bleierne Stille. Und keine Rettung. Freunde in der Not? Daß ich nicht lache.

»Sagen Sie mir jetzt bitte Ihre Meinung«, forderte mich der vielversprechende junge Autor mit vor Erwartung bebender Stimme auf.

»Ich bin sehr beeindruckt.«

»Von allem, was drinsteht?«

Im letzten Augenblick entging ich der Falle. Tola'at Shani beobachtete mich scharf aus den Augenwinkeln. Hätte ich jetzt geantwortet: »Ja, von allem« - er hätte sofort gewußt, daß ich das Buch nicht gelesen habe.

»Ich will ganz offen sein«, sagte ich. »Den Anfang finde ich nicht gerade überwältigend.«

»Auch Sie?« Tola'at Shani seufzte resigniert. »Das hätte ich nicht gedacht. Ein erfahrener Schriftsteller wie Sie müßte doch wissen, daß jedes Buch eine Exposition braucht.«

»Exposition, Schmexposition«, gab ich ein wenig unbeherrscht zurück. »Die Frage ist, ob man von einem Buch sofort gefesselt wird oder nicht.«

Tola'at Shani senkte den Kopf und sah so traurig drein, daß er mir leid tat. Aber warum schreibt er auch so langweilige Expositionen.

»Später kommt die Sache in Schwung«, tröstete ich ihn. »Ihre Figuren sind sehr gut gezeichnet. Und die Geschichte hat Atmosphäre. Und Rhythmus.«

»Sind Sie auch der Meinung, ich hätte die rein beschreibenden Teile des Buches um die Hälfte kürzen sollen?«

»Wenn Sie das getan hätten, wäre es ein Bestseller geworden.«

»Möglich«, sagte Tola'at Shani frostig. »Aber mir war es wichtiger, ganz genau zu erklären, warum Boris sich den Rebellen anschließt.«

Boris!!

»Boris ist allerdings ein Charakter, den man nicht so bald vergessen wird«, mußte ich zugeben. »Man merkt, daß ihm Ihre ganze Liebe gilt.«

Aus schreckhaft geweiteten Augen starrte Tola'at Shani mich an:

»Liebe? Ich liebe Boris? Dieses Schwein? Diesen Verbrecher? Ich halte ihn für die widerwärtigste Figur, die ich je geschaffen habe!«

»Das glauben Sie nur«, wies ich ihn zurecht. »Lassen Sie sich von mir gesagt sein, daß Sie sich im innersten Kern Ihres geheimen Ich mit ihm identifizieren.«

Tola'at Shani erbleichte.

»Was Sie da sagen, trifft mich wie ein Keulenschlag«, murmelte er tonlos. »Als ich das Buch zu schreiben begann, habe ich Boris gehaßt, das weiß ich genau. Aber dann, als er in den Streit zwischen Peter und dem Marine-Attache verwickelt wird und trotzdem seiner Mutter nichts davon erzählt, daß er Abigail vergewaltigt hat ... Sie erinnern sich doch?«

»Und ob ich mich erinnere! Er erzählt seiner Mutter nichts ...«

»Richtig. Da fragte ich mich also: ist dieser Boris, mit all seinen Verirrungen und Unzulänglichkeiten, nicht immer noch ein wertvollerer Mensch als der Zoologe?«

»Wir alle sind Menschen«, bemerkte ich tolerant. »Manche sind so, manche sind anders, aber im Grunde sind wir alle gleich.«

»Eben darauf wollte ich ja hinaus. Haarscharf.«

Sollte ich das Buch am Ende doch gelesen haben? Sozusagen unterbewußt, ohne es zu merken?

»Man versichert mir von vielen Seiten«, sagte Tola'at Shani zögernd, »daß dieses Buch, zumindest was die Handlung betrifft, mein bisher stärkstes ist.«

Ich sah nachdenklich zur Decke hinauf, als wollte ich die bisherige Produktion des vielversprechenden jungen Autors mit einem einzigen Blick umfassen. Dabei habe ich noch keine Zeile von ihm gelesen. Wozu auch? Wer ist dieser Tola'at Shani überhaupt? Warum schickt er mir seine Bücher? Es galt, die Dinge an ihren Platz zu rücken.

»Ich würde nicht direkt sagen, daß es Ihr stärkstes Buch ist. Aber es ist bestimmt Ihr spannungsreichstes.«

Tola'at Shani zuckte zusammen. Kein Zweifel, ich hatte ihn an seinem empfindlichsten Punkt erwischt. Tut mir leid. Oder soll ich vor Ehrfurcht zusammenknicken, wenn er seinen Dilettantismus ins Kraut schießen läßt?

»Ich wußte es. So wahr mir Gott helfe, ich wußte es.« Die ganze Bitterkeit des Nichtskönners, der sich von einem überlegenen Geist durchschaut weiß, schwang in seiner Stimme mit.

»Sie meinen das Abendessen in der Wohnung des Sturmtruppenkommandanten, nicht wahr. Ich hätte schwören können, daß Ihr Chauvinismus an dieser Szene Anstoß nehmen würde. Hätte ich vielleicht die ganzen Ereignisse in diesem von der Flut heimgesuchten Gebirgstal in Saccharin verpacken sollen, damit sie sich angenehmer lesen? Wenn Sie - erinnern Sie sich.«

»Stottern Sie nicht«, ermahnte ich ihn. »Meine Geduld hat Grenzen.«

»Erinnern Sie sich an die Schilderung des nächtlichen Kamelwettrennens um den Harem des Scheichs? Das hat Ihnen doch gefallen, oder nicht?«

»Sogar sehr gut. Das war eine farbige Szene.«

»Und daß Jekaterina die Tischlampe am Kopf des Richters zerschlägt - auch damit sind Sie einverstanden?«

»Unter Umständen.«

»Dann können Sie unmöglich etwas gegen das Schicksal einzuwenden haben, das ich Meir-Kronstadt und seinesgleichen bereite!«

Heftiger Widerspruch stieg in mir auf. Hoppla, mein Junge, dachte ich. Du kannst begeifern, wen du willst - aber Meir- Kronstadt laß mir ungeschoren! Der ganze Verlauf des Gesprächs widerstrebte mir. Viel zu vage und unsachlich war das alles. Jetzt sollten die Funken stieben. Jetzt ging es mit meiner Zurückhaltung zu Ende.

»Hören Sie, Tola'at Shani! Ich an Ihrer Stelle wäre auf diese Sache mit Meir-Kronstadt nicht so stolz!«

»Ich bin aber stolz auf ihn!«

Das Blut schoß mir in den Kopf. Unglaublich! Der Kerl wagt mir zu widersprechen!

»Kronstadt ist ein Schwindler«, sagte ich scharf. »Was er tut, überzeugt keinen Menschen. Mehr als das: er ist überflüssig. Sie könnten ihn ohne Schaden für das Buch vollkommen weglassen.«

»Und wie, wenn ich fragen darf, soll ich dann den eigentlichen Konflikt vorbereiten?«

»Nun - wie? Was glauben Sie wohl?«

»Sie denken wahrscheinlich an den Zoologen.«

»An wen denn sonst.«

»Und Jekaterina?«

»Soll mit dem Richter durchgehen!«

»Im neunten Monat?«

»Nachher.«

»Stellen Sie sich das nicht ein wenig zu einfach vor? Außerdem scheinen Sie zu vergessen, daß Jekaterina von einem Auto überfahren wird!«

»Muß sie denn unbedingt überfahren werden? Gerade sie? Wenn schon jemand überfahren werden muß, dann Abigail.«

»Lächerlich. Was soll das für einen Sinn haben?«

Das war mir zuviel. Das darf man einem Fachmann wie mir nicht sagen. Seit dreißig Jahren lese ich so gut wie ununterbrochen Bücher - und dann kommt so ein Stümper und sagt »lächerlich«.

»Sagten Sie >lächerlich<, Sie Stümper? Und Ihr idiotisches Kamelwettrennen ist vielleicht nicht lächerlich? Was sage ich: lächerlich. Ekelhaft ist es! Ich hatte Mühe, nicht zu erbrechen!« »Ausgezeichnet. Genau das lag in meiner Absicht. Ein Mensch, dem vor sich selber übel wird, lernt sich wenigstens kennen. Und ich meine Sie!«

Wir hatten uns auf das unabsehbar weite Feld persönlicher Beleidigungen begeben. Tola'at Shani war gelb vor Ärger.

Sein Atem keuchte.

»Ich werde Ihnen sagen, was Ihnen an meinem Buch mißfällt«, gurgelte er. »Daß ich gewagt habe, auf banale Lösungen zu verzichten! Daß ich Boris nicht in der Überschwemmung zugrunde gehen lasse! Stimmt's?«

Boris! Der hat mir gerade noch gefehlt.

»Scheren Sie sich zum Teufel mit Ihrem Boris!« schnarrte ich.

»Sie sind diesem Lumpen ja geradezu verfallen! Und wenn Sie es wissen wollen: seine Liebesaffäre mit Abigail ist ganz und gar unwesentlich!«

»Unwesentlich!« stöhnte der vielversprechende junge Autor. »Zu irgend jemandem muß sie doch gehören!«

»Aber doch nicht zu Boris! Gibt es denn keinen ändern?«

»Wen?« Tola'at Shani sprang mich an, packte mich am Rockaufschlag und schüttelte mich. »Wen?!«

»Meinetwegen den Zoologen - wie heißt er gleich - Kronstadt!«

»Kronstadt ist kein Zoologe.«

»Er ist ein Zoologe! Und wenn nicht Kronstadt, dann der Sturmtruppenkommandant.«

»Kronstadt ist der Sturmtruppenkommandant!«

»Da haben Sie's! Von mir aus kann er sein, was er will! Und von mir aus kann es jeder sein, nur Boris nicht! Sogar der Marine-Attache wäre logischer! Oder Peter! Oder Birnbaum!«

»Wer ist Birnbaum?«

»Er ist um nichts schlechter als Kronstadt, das garantiere ich Ihnen! Sie glauben offenbar, daß es schon genügt, Papier zu bekritzeln, damit ein Buch daraus wird. Hüten Sie sich! Wie steht's mit der Handlung, Sie Patzer? Mit den Charakteren? Mit den inneren Konflikten? Mit der Tiefe?« Jetzt war es ich, der ihn würgte. »Auf die Tiefe kommt es an - nicht auf Bla-bla und Abrakadabra, wie bei Ihnen! Boris! Boris! Das soll ein Buch sein? Für wen? Für das Publikum gewiß nicht! Kein Mensch liest so ein Buch! Auch ich habe es nicht gelesen!«

»Sie haben es nicht gelesen?«

»Nein. Und ich denke auch gar nicht daran!«

Damit ließ ich ihn sitzen.

Wahrscheinlich sitzt er immer noch dort, der Idiot. Recht geschieht ihm.