INKOGNITO

 

Der bedeutende Maler, der im ganzen Lande höchstes Ansehen genießt, will eine Krawatte kaufen und betritt inkognito ein Modewarengeschäft. Insgeheim hat er jedoch keinen sehnlicheren Wunsch, als daß der Ladeninhaber sein Inkognito durchschaut und ihm nicht nur die gebührende Bewunderung zuteil werden läßt, sondern auch den gebührenden Preisnachlaß.

Der Ladeninhaber seinerseits mißt den bedeutenden Maler mit einem völlig leeren, gleichgültigen Blick. Offenbar ahnt er nichts von der Ehre, die ihm da widerfährt.

Im allgemeinen ist der bedeutende Maler immer von einem Schwarm junger Bewunderer begleitet, die in solchen Fällen den betreffenden Ladeninhaber vorsorglich informieren, welche prominente Persönlichkeit seinen Laden betritt. Diesmal hat der bedeutende Maler aus irgendwelchen Gründen den Laden allein betreten und befindet sich somit in einiger Verlegenheit. Er kann ja dem Ladeninhaber nicht gut sagen:

»Ich bin Jizchak Bar Honig, der bedeutende Maler.« Das ließe seine Bescheidenheit niemals zu. Was kann er also tun? Er kann versuchen, das Gespräch unauffällig in eine Richtung zu lenken, die ihm Gelegenheit gibt, seinen Namen wie zufällig fallenzulassen. Und das spielt sich also folgendermaßen ab:

DER LADENINHABER: Bitte sehr?

DER BEDEUTENDE MALER: Ich möchte eine Krawatte.

DER LADENINHABER: Was für eine?

DER BEDEUTENDE MALER: Eine Krawatte für einen Künstler.

DER LADENINHABER: Bitte sehr. (Legt Krawatten vor.)

DER BEDEUTENDE KÜNSTLER: Darf ich meine Tasche auf diesen Sessel legen? Sie enthält Malutensilien.

DER LADENINHABER: Bitte sehr.

DER BEDEUTENDE MALER: (eine Krawatte prüfend) Sehr geschmackvolles Muster .

DER LADENINHABER: Unsere Krawatten werden von ersten Künstlern entworfen.

DER BEDEUTENDE MALER: Ja, das sieht man. Von diesen Dingen verstehe ich etwas. In gewissem Sinn könnte ich mich sogar als Fachmann bezeichnen, hehehe.

DER LADENINHABER: Sie sind aus der Branche?

DER BEDEUTENDE MALER: Nein, ich bin Kün -

VERKAUFER: (unterbricht) Kassa 1 Pfund 70, Herr Steiner!

DER LADENINHABER: Besten Dank, gnädige Frau.

DER BEDEUTENDE MALER: Also, wie ich sagte .

DER LADENINHABER: Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ich zeige Ihnen gerne noch andere Muster. Wie gefällt Ihnen die gelbe Krawatte hier?

DER BEDEUTENDE MALER: Ein wenig zu schreiend, mein Freund. Ich habe eine ähnliche in Venedig gesehen, als ich einen Preis gewann.

DER LADENINHABER: Wieso denn? Ich finde dieses Gelb sehr hübsch.

DER BEDEUTENDE MALER: Ich sagte Ihnen ja schon, daß ich eine ganz ähnliche Krawatte in Venedig gesehen habe, gelegentlich der Preisverteilung damals.

DER LADENINHABER: Sie waren in Venedig?

DER BEDEUTENDE MALER: Ich habe dort einen ersten Preis gewonnen.

DER LADENINHABER: Ich war auch einmal in Italien. Wunderschön, was man dort alles sieht. Ich sage noch zu Dwascha, meiner Frau, sage ich noch: »Dwascha, wenn ich ein Maler wäre, mein Ehrenwort, das würde ich malen!«

DER BEDEUTENDE MALER: Ich habe in Venedig als Maler einen ersten Preis gewonnen.

DER LADENINHABER: Zu Hause hab ich auch ein paar Preise. Zwei für Auslagen-Arrangements und einen Gymnastikpreis. In meiner Jugend war ich ein sehr guter Turner. Sogar heute mache ich noch jeden Morgen Gymnastikübungen. Außer es regnet. Ich sage immer: Gesundheit ist das wichtigste. Hab ich nicht recht?

DER BEDEUTENDE MALER: Ja.

DER LADENINHABER: Das Blau hier ist auch sehr schön. Eine satte Farbe.

DER BEDEUTENDE MALER: Niemand weiß besser als ich, wie satt ein Farbton sein kann, mein Freund.

DER LADENINHABER: Stimmt. Für Farben muß man Verständnis haben. Besonders in meiner Branche. Gott sei Dank habe ich einen ausgezeichneten Farbensinn. Er hat sich jedenfalls in den letzten siebenundzwanzig Jahren bestens bewährt.

Siebenundzwanzig Jahre ...

DER BEDEUTENDE MALER: Sonderbar. Ich hätte geschworen, daß Sie nicht immer Geschäftsmann waren.

DER LADENINHABER: Ich bin seit siebenundzwanzig Jahren in der Branche.

DER BEDEUTENDE MALER: Nicht jedem Menschen ist der Beruf ins Gesicht geschrieben. Nicht jedem. Nehmen Sie mich, zum Beispiel. Man könnte mich für einen Arzt halten, obwohl ich -

DER LADENINHABER: Sie arbeiten für die Krankenkasse, Herr Doktor?

DAS VERDAMMTE TELEPHON: (läutet)

DER LADENINHABER: Entschuldigen Sie, das Telephon. (Hebt ab, führt ein Gespräch, kommt zurück.) Wo sind wir stehengeblieben? Richtig, ich erinnere mich. Da habe ich erst gestern einen sehr guten Ärztewitz gehört. Hoffentlich werden Sie nicht beleidigt sein, wenn ich ihn erzähle. Also ein Mann sagt zu seinem Arzt: »Herr Professor, sind Sie sicher, daß ich Lungenentzündung habe? Einer meiner Bekannten wurde auf Lungenentzündung behandelt und ist an Typhus gestorben.« Sagt der Professor: »Herr, ich behandle Sie auf Lungenentzündung, und Sie werden an Lungenentzündung sterben!« Hahahaha .

DER BEDEUTENDE MALER: Ha.

DER LADENINHABER: Was kann ich Ihnen sonst noch zeigen, Herr Professor?

DER BEDEUTENDE MALER: Haben Sie Leinwand? Zum Malen?

DER LADENINHABER: Großer Gott, wo soll ich das hernehmen?

DER BEDEUTENDE MALER: Ich dachte nur. Falls Sie nämlich Leinwand für mich als Maler hätten .

DER LADENINHABER: Nein. Führen wir nicht.

DER BEDEUTENDE MALER: Halt! Bleiben Sie in dieser Stellung! Ohne sich zu bewegen! Großartig ... Was für ein großartiges Profil . Wohl wert, von eines Künstlers Pinsel festgehalten zu werden.

DER LADENINHABER: (ohne sich zu bewegen) Ja, das hat man mir schon öfter gesagt. An meinem Profil scheint etwas dran zu sein.

DER BEDEUTENDE MALER: Ich bin bereit, Sie zu porträtieren.

DER LADENINHABER: Leider habe ich zuviel zu tun.

DER BEDEUTENDE MALER: Es würde nur ein paar Minuten dauern. Porträts sind meine Spezialität. Und es würde ein wunderbares Bild werden.

DER LADENINHABER: Danke vielmals, aber bei uns zu Hause hängen schon genug Bilder herum. Zwei im Salon und eins im Kinderzimmer. Ich habe sehr viel für Malerei übrig, müssen Sie wissen.

DER BEDEUTENDE MALER: Oh. Das freut mich.

DER LADENINHABER: Mein Bub malt sehr hübsch. Er ist erst acht Jahre alt, aber der Lehrer schwört auf sein Talent.

DER BEDEUTENDE MALER: Ich komme demnächst einmal zu Ihnen, um mir die Arbeiten Ihres Sohnes anzuschauen.

DER LADENINHABER: Sie werden staunen. Der Lehrer behauptet, daß es an der ganzen Schule noch nichts dergleichen gegeben hat.

DER BEDEUTENDE MALER: Ich bin selbst Maler.

DER LADENINHABER: Der Bub ist auch in Arithmetik sehr gut.

DER BEDEUTENDE MALER: Ich bin der berühmte Maler Bar Honig.

DER LADENINHABER: Mit der Grammatik tut er sich ein bißchen schwer. Na, ich frage Sie: ist Grammatik gar so wichtig?

DER BEDEUTENDE MALER: Jizchak Bar Honig, der große Maler! Ich bin der weltberühmte Jizchak Bar Honig!!

DER LADENINHABER: Sogar die Lehrer machen manchmal grammatikalische Fehler - aber - was ist mit Ihnen? Sind Sie verrückt? Lassen Sie sofort meine Kehle los ... Hilfe ... Mörder ...!

DER BEDEUTENDE MALER: Bar Honig! Der große Maler! Ich bin der weltberühmte Bar Honig! Ich! Jizchak Bar Honig!

DER LADENINHABER: Moment, Moment - sagten Sie Bar Honig?

DER BEDEUTENDE MALER: Ja. Der bin ich.

DER LADENINHABER: Ausgeschlossen.

DER BEDEUTENDE MALER: Ich schwöre.

DER LADENINHABER: Nein, diese Freude! Ist es die Möglichkeit?

DER BEDEUTENDE MALER: Fassen Sie sich, guter Freund. Vor Ihnen steht Jizchak Bar Honig persönlich.

DER LADENINHABER: Wenn ich das gewußt hätte ... nein, wirklich ... darf ich Sie küssen?

DER BEDEUTENDE MALER: Nur zu.

DER LADENINHABER: Es ist kaum zu glauben! Und in meinem Geschäft! Sie sind doch verwandt mit Getzl Bar Honig aus Czernowitz? Dem Bürstenhändler?

DER BEDEUTENDE MALER: Ein Cousin von mir. Warum?

DER LADENINHABER: Ich bin mit Getzl in die Schule gegangen.

Er war mein bester Freund. So eine Überraschung. Entschuldigen Sie, daß ich Sie wie eine gewöhnliche Kundschaft behandelt habe! Wählen Sie, was Ihnen gefällt ... der ganze Laden gehört Ihnen ... Dwascha! Dwascha! Weißt du, wer da ist? Getzls Cousin!

DWASCHA: (eilt mit ausgebreiteten Armen herbei.)

 

 

 

 

Gegen Künstler gibt es keine wirksame Gegenwehr. Auch ihren Schöpfungen kann man nicht entgehen. Mit Recht heißt es darum in den Zehn Geboten: >Du sollst dir kein Bildnis machen! < Was fehlt, ist ein ausdrückliches Gebot gegen das Schenken bereits gemachter Bildnisse.