Was die Finessen der Weltpolitik betrifft, so haben wir die anderen Völker noch nicht ganz eingeholt. Hingegen ist es uns gelungen, den Mann einzuholen, der die Vernichtung unseres eigenen Volkes durchzuführen hatte, und ihn vor Gericht zu stellen. Der Fall hatte etwas Surrealistisches an sich. Man konnte im Gerichtssaal beinahe plastisch die Gedankengänge einer überwirklichen Ratte verfolgen.

 

2X2 = SCHULZE

 

Ein avantgardistisches Fragment (Die Szene spielt in einem imaginären Gerichtssaal)

STAATSANWALT: Wieviel ist Ihrer Ansicht nach zwei mal zwei?

ADOLF: Herr Staatsanwalt, ich bin kein Mathematiker.

STAATSANWALT: Ich möchte trotzdem wissen, wieviel Ihrer Ansicht nach zwei mal zwei ist.

 ADOLF: Ich habe mich mit solchen Dingen nie beschäftigt.

Wenn ich es mit Problemen dieser Art zu tun bekam, habe ich sie an die zuständige Abteilung weitergeleitet. Die Entscheidungen wurden in jedem Fall von Schulze getroffen.

STAATSANWALT: Sie wissen also nicht, wieviel zwei mal zwei ist?

ADOLF: Ich kann darüber keine Angaben machen, Herr Staatsanwalt.

 STAATSANWALT: Und wenn ich Ihnen auf den Kopf zu sage, daß Sie es wissen?

ADOLF: Ziffern waren die Sache von Schulze.

STAATSANWALT: Immer, wenn Sie wissen wollten, wieviel zwei mal zwei ist, haben Sie nach Schulze geschickt?

ADOLF: Nicht immer. Manchmal konnten die betreffenden Fragen auch telephonisch geklärt werden. Ich möchte bei dieser Gelegenheit bemerken, daß Schulze Ende 1943 in das Salzkammergut versetzt wurde und daß ich ihn erst dort zusammen mit Lehmann getroffen habe.

STAATSANWALT: Wußte auch Lehmann, wieviel zwei mal zwei ist?

ADOLF: Daß weiß ich nicht. Danach habe ich ihn nie gefragt. Mein Vorgesetzter war, wie schon erwähnt, Schulze.

STAATSANWALT: Wußte Schulze die richtige Antwort auf die Frage: »Wieviel ist zwei mal zwei?«

ADOLF: Das kann ich nicht sagen. Ich hatte keine Möglichkeit, in sein Inneres zu sehen.

STAATSANWALT: Aber Sie durften sicher sein, daß er die Antwort wußte?

ADOLF: Ich habe mir niemals ein Urteil über meine Vorgesetzten angemaßt.

STAATSANWALT: Wieso wissen Sie dann, daß Schulze für diese Dinge zuständig war? Er kann doch nur dann zuständig gewesen sein, wenn er wußte, wieviel zwei mal zwei ist? Woher wissen Sie, daß er das nicht wußte? Oder daß er es wußte?

ADOLF: Ich wußte es nicht. Wenn ich mich richtig erinnere, habe ich sogar daran gezweifelt. Ich bin kein Mathematiker.

STAATSANWALT: Dann erklären Sie mir, wieso das Dokument Nr. 6013 in Ihrer Handschrift den Vermerk »2x2= 4« trägt.

ADOLF: Das ist unmöglich.

STAATSANWALT: Hier. (Reicht ihm ein Dokument) Haben Sie das geschrieben?

ADOLF: (nach sorgfältiger Prüfung des Dokuments) Ja.

STAATSANWALT: Das ist also Ihre Handschrift?

ADOLF: Nein.

STAATSANWALT: Nein? Wieso nicht?

ADOLF: Zu dem auf diesem Dokument angegebenen Zeitpunkt war ich nicht in Berlin.

STAATSANWALT: Das Dokument wurde in München ausgefertigt.

ADOLF: Ich war auch nicht in München. Ich hatte damals gerade in Dachau zu tun.

STAATSANWALT: Was hatten Sie in Dachau zu tun?

ADOLF: Mir fällt soeben ein, daß ich in Linz war.

STAATSANWALT: Wie kommt dann Ihre Unterschrift auf dieses Dokument?

ADOLF: Sie wurde später hinzugefügt. Ich möchte darauf hinweisen, daß die auf diesem Dokument angebrachten Ziffern nicht sehr gut leserlich sind. Besonders die Ziffer 4 ist undeutlich und kann sehr leicht mit der Ziffer 7 verwechselt werden.

STAATSANWALT: Zwei mal zwei wäre dann also sieben? ADOLF: Das habe ich nicht gesagt. Ich bin kein Mathematiker.

Meine Bemerkung bezog sich ausschließlich auf die Form der Ziffer 4, die mich an die Form der Ziffer 7 im Dokument Nr. 6013 erinnert.

STAATSANWALT: Wollen Sie jetzt angeben, wo Sie sich zum fraglichen Zeitpunkt aufgehalten haben?

ADOLF: In Dachau.

VORSITZENDER: Angeklagter, Sie sollen die Frage beantworten, wieviel zwei mal zwei ist.

ADOLF: Nicht sieben. Ich habe nie gesagt, daß es sieben ist. Ich habe nur gesagt, daß mich die Ziffer 4 auf manchen Dokumenten an die Ziffer 7 erinnert.

STAATSANWALT: Wir sprechen jetzt nicht über »manche Dokumente«. Wir sprechen über das Dokument Nr. 6013.

ADOLF: Für dieses Dokument bin ich nicht verantwortlich, weil ich zur Zeit seiner Ausfertigung in Linz war. STAATSANWALT: Also doch Linz und nicht Dachau? ADOLF: Soweit ich das aus dem Gedächtnis rekonstruieren kann.

STAATSANWALT: Für mich besteht nicht der geringste Zweifel, daß Sie ganz genau wissen, wieviel zwei mal zwei ist. ADOLF: Ich muß wiederholen, daß ich kein Mathematiker bin. STAATSANWALT: Heben Sie zwei Finger Ihrer rechten Hand.

ADOLF: (tut es) Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen ... STAATSANWALT: Ich habe Sie zu keiner Eidesleistung aufgefordert, sondern nur dazu, zwei Finger zu heben.

ADOLF: Darf ich in diesem Zusammenhang noch eine Aussage machen?

STAATSANWALT: Ja.

ADOLF: Lehmann wurde 1943 ins Protektorat versetzt, so daß ihn Schulze in diesem Jahr unmöglich im Salzkammergut treffen konnte.

STAATSANWALT: Ich verstehe den Zusammenhang nicht. ADOLF: Wenn ich einen Eid ablege, Herr Staatsanwalt, dann lege ich einen Eid ab, um die Wahrheit zu sagen. Lehmann hatte mit Schulzes Angelegenheiten nichts zu tun.

STAATSANWALT: Schön. Er hatte nichts mit ihnen zu tun. Aber darum handelt es sich nicht. Es handelt sich darum, wie viele Finger Lehmann gehoben hat.

ADOLF: Soweit ich mich erinnern kann, hat Lehmann niemals irgendwelche Finger gehoben.

STAATSANWALT: Es war ja auch nicht Lehmann gemeint, sondern Sie. Wieviele Finger sind es, die Sie jetzt gehoben haben?

ADOLF: Ich glaube: zwei. Vorsorglich und in jedem Fall möchte ich mich dagegen verwahren, für etwaige Ungenauigkeiten auf diesem Gebiet verantwortlich gemacht zu werden. Ich bin kein Mathematiker.

STAATSANWALT: Lassen wir das. Heben Sie jetzt noch zwei Finger Ihrer linken Hand.

ADOLF: (tut es).

STAATSANWALT: Wieviele Finger sehen Sie jetzt?

ADOLF: Zehn.

STAATSANWALT: Ich meine: erhobene Finger.

ADOLF: Aber ich kann auch die anderen sehen.

STAATSANWALT: Uns interessieren jetzt nur Ihre erhobenen Finger.

ADOLF: Auch die nicht erhobenen Finger gehören mir. Sie stellen insgesamt 60 Prozent meiner Fingeranzahl dar, also eine Majorität von 50 Prozent im Vergleich zu den erhobenen Fingern.

STAATSANWALT: Ich möchte von Ihnen nichts anderes hören als die Gesamtanzahl der zwei mal zwei Finger, die Sie gehoben haben.

ADOLF: Jetzt?

STAATSANWALT: Ja. Zählen Sie.

ADOLF: (versucht es erfolglos) Ich kann nicht.

STAATSANWALT: Warum nicht?

ADOLF: Ich bin gewohnt, so zu zählen, daß ich den Finger über die zu zählenden Gegenstände gleiten lasse. Im hier vorliegenden Fall ist der Finger, mit dem ich zählen soll, identisch mit einem der zu zählenden Finger, was mich sehr verwirrt. Außerdem könnte es zu Ungenauigkeiten führen, und da ich unter Eid stehe, muß ich auf größte Genauigkeit bedacht sein. Darf ich noch eine Aussage machen

STAATSANWALT: Ja.

ADOLF: Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als ob ich die Lesart, derzufolge zwei mal zwei unter bestimmten Voraussetzungen das Ergebnis vier oder ein annähernd ähnliches Ergebnis haben kann, vollkommen von der Hand weisen wollte. Dessen ungeachtet lege ich Wert auf die Feststellung, daß ich mich mit Arbeiten auf diesem Gebiet niemals beschäftigt habe, weil das eine Überschreitung der mir übertragenen, genau umschriebenen Zuständigkeit bedeutet hätte. Ich beantrage daher die Einvernahme des Zeugen Schulze, der zum fraglichen Zeitpunkt Gauleiter in Wuppertal war.

STAATSANWALT: Wenn ich Sie richtig verstehe, sind Sie mit Schulze de facto einer Meinung darüber, daß zwei mal zwei vier ist?

ADOLF: Ich habe bereits wiederholt ausgesagt, daß ich über diesen Punkt nicht aussagen kann, solange ich unter Eid stehe. Aber ich werde selbstverständlich alle aus meiner Aussage entstehenden Folgen auf mich nehmen, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich mich meiner Verantwortung entziehen will.

STAATSANWALT: Schön. Wieviel ist zwei mal zwei?

ADOLF: Wenn ich nicht irre, habe ich darüber bereits ausgesagt.

STAATSANWALT: Ich möchte es noch einmal hören.

ADOLF: Ich habe darüber bereits ausgesagt, wenn ich nicht irre.

STAATSANWALT: Wiederholen Sie Ihre Aussage.

ADOLF: Bitte sehr. Ich kann nach bestem Wissen und Gewissen nur aussagen, daß das Ergebnis der hier wiederholt gestellten mathematischen Aufgabe annähernd dem entspricht, was Sie, Herr Staatsanwalt, vor einigen Minuten als Ergebnis festgestellt haben.

STAATSANWALT: Also vier.

ADOLF: Soweit ich das beurteilen kann.

STAATSANWALT: Vier!

ADOLF: Nach allgemeinem Dafürhalten.

STAATSANWALT: Zwei mal zwei ist vier - ja oder nein?

ADOLF: Das erstere.

STAATSANWALT: Danke. Das ist alles, was ich wissen wollte.