ÜBERWÄLTIGUNG IN A-DUR

 

Gestern nacht ging ich zeitig zu Bett, weil ich am Morgen schon um halb zehn aufstehen mußte. Es glückte mir, verhältnismäßig rasch einzuschlafen. Aber nach etwa einer Stunde wurde ich rüde geweckt.

»Wir wollen schlafen!« brüllte eine haßerfüllte Stimme.

»Es ist zehn Uhr vorbei. Stellen Sie das Radio ab, Sie Idiot!«

Ich setzte mich im Bett auf. Von fern, aus der äußersten Ecke unseres Häuserblocks, glaubte ich leise Musikklänge zu vernehmen. Ganz sicher war ich nicht, weil das zornig anschwellende Stimmengewirr alles übertönte:

»Wir wollen schlafen! Ruhe! Das Radio abdrehen! Ruhe!«

Nach und nach erwachten auch die Bewohner der angrenzenden Häuser. In vielen Fenstern wurde es hell. Der Delikatessenhändler uns gegenüber formte aus seiner Zeitung einen Schalltrichter und verlangte Respekt vor der neuen AntiLärm-Verordnung. Der jemenitische Eisverkäufer Salah im

Stockwerk unter uns stieß mehrmals den Namen Ben Gurion hervor, was bei ihm ein sicheres Zeichen hochgradiger Erregung ist. Ich selbst schlüpfte rasch in meinen Schlafrock, um mich besser hinausbeugen zu können. Ich liebe es über alles, Leute streiten zu sehen.

Das ist ein menschlicher Zug von mir.

»Ruhe!« brüllte ich in die Nacht hinaus. »Wo ist das Hauskomitee? Komitee!!«

Manfred Toscanini, den meine Leser bereits aus früheren Geschichten kennen und der mit dem gleichnamigen Dirigenten noch immer nicht verwandt ist, erschien auf dem Balkon seiner Wohnung und murmelte etwas Unverständliches.

Manfred Toscanini ist Vorsitzender unseres Hausverwaltungskomitees. Aufmunternde Zurufe klangen ihm entgegen.

»Auf was warten Sie? Sind Sie der Vorsitzende des Komitees oder sind Sie es nicht? Rühr dich! Mach was! Rufen Sie die Polizei! Für diese Art von Ruhestörung gibt es heute bis zu einem Jahr Gefängnis! Los!«

»Einen Augenblick!« schrie Toscanini. »Wenn ihr so einen Lärm macht, kann ich ja gar nicht feststellen, wo der Lärm herkommt!«

Wir verstummten. Es zeigte sich, daß die Musik aus der rechten Eckwohnung im Parterre kam.

»Katzenmusik!« Das war Salah. Seine Stimme überschlug sich. »Sofort die Katzenmusik abstellen! Ben Gurion!«

Toscanini stieg nervös von einem Fuß auf den andern.

Er ist keine Kämpfernatur. Wir haben ihn nur gewählt, weil er eine schöne Handschrift hat und leicht zu behandeln ist.

»Bitte das Radio abzustellen«, stammelte er. »Bitte. Wirklich.«

Nichts geschah. Die Musik strömte in unverminderter Stärke durch die laue Nacht.

Manfred Toscanini merkte, daß sein Prestige, sein Schicksal, seine Zukunft und das Glück seiner Kinder auf dem Spiel standen. Er hob die Stimme:

»Wenn diese Katzenmusik nicht sofort aufhört, rufe ich die Polizei.«

Einige Augenblicke atemloser Spannung folgten. Der Zusammenstoß zwischen Staatsgewalt und Rebellion schien bevorzustehen.

Plötzlich wurde die Musik noch lauter: die Tür der Wohnung, aus der sie kam, hatte sich geöffnet. Im Türrahmen erschien Dr. Nathaniel Birnbaum, Seniorchef der nahegelegenen Zweigstelle des Staatlichen Israelischen Reisebüros.

»Wer ist der Ignorant«, fragte Dr. Birnbaum mit volltönender Stimme, »der die Siebente von Beethoven als Katzenmusik bezeichnet?«

Stille. Tiefe, lautlose Stille. Beethovens Name schwebte zwischen den Häusern einher, drang den Bewohnern in Mark und Bein und wurde wie ein rasch wirkendes Gift von ihrem Nervensystem absorbiert. Manfred Toscanini, das Gesicht zu einer entsetzten Grimasse verzerrt, krümmte sich wie ein Wurm. Ich meinerseits trat einen Schritt vom Fenster zurück, um klarzustellen, daß ich mich mit seinem niveaulosen Verhalten in keiner Weise identifizierte.

Während all dieser Zeit blieb die himmlische Musik diskret hörbar. Dr. Birnbaum verabsäumte es nicht, seinen Sieg bis zur Neige auszukosten:

»Nun? Wo steckt der Analphabet? Für wen ist Beethovens Siebente eine Katzenmusik? Beethovens Siebente!«

Verlegenes Räuspern. Beschämtes Husten. Schließlich flüsterte der schurkische Delikatessenhändler mit verstellter Stimme:

»Es war der Vorsitzende des Komitees .« »Ich gratuliere!« Der Hohn in Dr. Birnbaums Stimme war nur zu berechtigt. »Ich gratuliere uns allen zu einem solchen Vorsitzenden!«

Damit drehte er sich um und verschwand gelassenen Schritts in seiner Wohnung. Eine schwer zu beschreibende Welle kultureller Überlegenheit ging von ihm aus.

Kläglich und vereinsamt blieb Manfred Toscanini auf der Walstatt zurück, ein geschlagener Mann.

»Ich war so zornig«, sagte er entschuldigend, »ich war vor Wut so zornig, daß ich vor Zorn die Siebente von Beethoven nicht erkannt habe.«

»Pst!« zischte es von allen Seiten auf ihn los. »Ruhe! Mund halten! Man kann die herrliche Musik nicht hören!«

Mit gesenktem Kopf zog sich Manfred Toscanini in seinen Bau zurück. Wir andern lauschten im Zustand völliger Verzauberung dem Titanenwerk jenes größten aller Musikgenies. Zahlreiche Hausbewohner streckten sich behutsam auf ihren Liegestühlen aus und schlossen die Augen, um sich den unsterblichen Klängen besser hingeben zu können. Und ich? Ich sah zum sternenbedeckten Himmel empor, und meine Lippen formten leise und demütig ein einziges Wort:

»Beethoven.«

Nur der Jemenite Salah und sein Weib Etroga störten die weihevolle Stille mit ihrem Getuschel.

»Wer ist das?« fragte Etroga.

»Wer ist wer?«

»Dieser Herr ... wie heißt er nur ... Betovi ...«

»Ich weiß nicht.«

»Muß ein wichtiger Mann sein, wenn alle solche Angst vor ihm haben.«

»Ben Gurion«, sagte Salah. »Ben Gurion.« »Und warum hast du geschrien, wenn du nichts weißt?«

»Alle haben geschrien.«

»Alle dürfen. Du darfst nicht. Deine Verkaufslizenz ist nicht in Ordnung. Hast du vergessen, was deinem Freund Shimuni passiert ist, weil er sein großes Maul zu weit aufgerissen hat?«

Salah schlotterte vor Angst.

»Herrlich!« rief er so laut, daß jeder es hören konnte. »Eine herrliche Musik!«

Uri, der Sohn des Apothekers, den die plötzliche Stille geweckt hatte, kam auf den Balkon gestürzt und zeterte:

»Katzenmusik!«

Er bekam von seinem Papa sofort eine Ohrfeige, was allgemeine Billigung fand. Ein Kind, dem man nicht schon im zartesten Alter den nötigen Respekt für die großen Kunstschöpfungen beibringt, kann niemals ein nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft werden und endet am Galgen.

Der Professor in der Wohnung rechts von uns, der seit dem letzten Streit mit seiner Frau, also seit ungefähr vierzig Jahren, kein Wort mehr mit ihr gesprochen hatte, stand jetzt friedlich neben ihr am Fenster. Beethovens Himmelsmusik hatte die entzweiten Ehepartner wieder vereint. Im Bestreben, seine Blamage gutzumachen, summte Manfred Toscanini demonstrativ ein paar Takle mit. Aber seine schamlose Unterwürfigkeit ging noch weiter.

»Doktor Birnbaum!« rief er. »Bitte drehen Sie den Apparat doch ein wenig stärker auf! Man kann von hier aus nicht so gut hören... Danke vielmals!«

Die Musik war lauter geworden. Wie eine große, glückliche Familie saßen die Hausbewohner beisammen und lauschten. Wir alle liebten einander.

»Gigantisch, dieses Rondo«, flüsterte der Apotheker, dessen älterer Sohn Harmonika-Unterricht nahm. »Obwohl ich nicht ganz sicher bin, ob es nicht vielleicht ein Scherzo ist.«

Der Delikatessenhändler äußerte einige verächtliche Worte über gewisse Zeitgenossen, die zwischen einem Rondo und einem Scherzo nicht unterscheiden können.

Die Gattin des Professors flüsterte mehrmals hintereinander:

»A-Dur. A-Dur.«

Salah beugte sich weit aus dem Fenster und legte beide Hände an die Ohren.

Ich schlug verstohlen meinen »Konzertführer« auf und suchte nach der Siebenten von Beethoven. Der »Konzertführer« ist ein handliches Büchlein, das man mühelos vor den Blicken Neugieriger verbergen kann.

»Bekanntlich«, so ließ ich mich vernehmen, »gehört die Symphonie in A-Dur zu Beethovens gewaltigsten Meisterwerken. Die einleitenden Akkorde werden in verschiedenen Variationen wiederholt, ehe sie in das Hauptthema des ersten Satzes übergehen. Moderne Kritiker finden an dieser Exposition etwas auszusetzen ...«

Mein Ansehen unter den Hausbewohnern stieg sprunghaft, ich fühlte das ganz deutlich. Bisher, wohl irregeführt durch mein übertrieben bescheidenes Wesen, hatten sie mich nicht richtig eingeschätzt. Um so zündender wirkte jetzt das Feuerwerk meiner profunden Musikalität. Die Gärtnerstochter von gegenüber schickte ihren kleinen Bruder zu mir und ließ fragen, ob ich ihr nicht mein Opernglas leihen könnte.

In einem lendenlahmen Versuch, mir zu widersprechen, sagte der Apotheker:

»Die Exposition ist vollkommen in Ordnung. Auch ein Bartok hätte sie nicht anders aufbauen können.«

Gleich bei seinen ersten Worten hatte ich eilig in meinem »Konzertführer« zu blättern begonnen.

»Vergessen Sie nicht«, hielt ich dem wichtigtuerischen Tölpel jetzt entgegen, »daß der vierte Satz sich zu unwiderstehlicher Rasanz emporschwingt und besonders im Finale alle irdischen Maße sprengt!«

Der ganze Häuserblock lag mir zu Füßen. Beethovens Genius und meine eigene Brillanz flossen zu sphärischer Einheit zusammen. So stelle ich mir das Nirwana vor.

»Auch Bach ist nicht schlecht«, brummte der Apotheker und hoffte damit sein Gesicht zu wahren.

Die Musik kam noch einmal auf das Hauptthema zurück.

Bläser und Streicher entfalteten sich in einer letzten, vollen Harmonie, ehe die unsterblichen Klänge endgültig verschwebten.

Ein Seufzer namenlosen Entzückens entrang sich den Lippen der Zuhörer. Augenblicke einer nahezu heiligen Stille folgten.

Dann meldete sich die Stimme des Ansagers:

»Sie hörten die Suite >An den Mauern von Naharia< von Jochanan Stockler, gespielt von der Kapelle der Freiwilligen Feuerwehr Petach Tikwah. Im zweiten Teil unseres Abendkonzertes bringen wir klassische Musik auf Schallplatten.

Als erstes hören Sie Beethovens Siebente Symphonie in A- Dur.«

Abermals Stille. Unheilschwangere Stille.

Manfred Toscaninis Gestalt wurde im Fensterrahmen sichtbar und schien gespenstisch über sich hinauszuwachsen.

»Katzenmusik!« röhrte er, besessenen Triumph in der Stimme. »Hören Sie mich, Birnbaum? Katzenmusik! He, Birnbaum! Das nennen Sie Beethoven? Ich nenne es Katzenmusik!«

Die Empörung griff unter den Hausbewohnern um sich wie ein Waldbrand.

»Beethoven!« kreischte die Gattin des Professors und eilte zu einem andern Fenster. »Was jetzt, Birnbaum?«

Der Jemenite Salah packte sein Weib am Arm: »Sie haben uns betrogen!« zischte er. »Wieder einer von ihren schäbigen Tricks!«

»Wenn die Polizei kommt, dann haben wir nichts gesehen«, schärfte ihm seine Gattin ein. »Ben Gurion«, sagte der Jemenite Salah.

Sollte Dr. Birnbaum in seiner lächerlichen Überheblichkeit einem guten Ratschlag noch zugänglich sein, dann sucht er sich eine andere Wohnung. Bei uns hat er ausgespielt.

 

 

 

Die Häuser sind überfüllt, die Straßen vermehren sich wie die sprichwörtlichen Kaninchen. Wo, um des Himmels willen, soll man noch Namen für so viele Straßen finden? Die großen Wohltäter der Menschheit sind längst durch Straßenschilder unsterblich geworden, die Helden sind müde, und die Geschichte hat nur noch ein paar Brosamen für uns übrig. Zum Beispiel den Zionistenkongreß von Helsingfors. Das war der Name der finnischen Hauptstadt, als die Finnen ihn noch aussprechen konnten.