Banker und Pleitegeier: Die Wut um den verlorenen Groschen

Chicago ist eine der legendären Großstädte Amerikas, berühmt für seine Jazzmusik, seine Gangster und seinen politischen Filz. Zu Zeiten der Prohibition lebten hier Al Capone und John Dillinger (der vom FBI erschossen wurde), danach kontrollierten Gangster wie Hymie Weiss und Frank Calabrese die ethnischen Viertel der Stadt. Das Jazz-Musical ›Chicago‹, wo es um Mord, Gier, Korruption, Gewalt, Ausbeutung, Ehebruch und Verrat geht, spielt hier. Standup comedians wie Tina Fey und Steven Colbert traten zuerst im Chicagoer Club Second City auf oder im Steppenwolf-Theatre. ›Some Like It Hot‹ wurde in Chicago gedreht, ›Batman‹, ›Emergency Room‹, ›The Blues Brothers‹ und ›The Oprah-Winfrey-Show‹ wird hier aufgezeichnet. Unzählige Clubs für Jazz, House-Music, Blues und Hip Hop besitzt diese Stadt, in der Nat King Cole lebte, genauso wie Benny Goodman, Charlton Heston, Saul Alinsky, Hillary Clinton und Barack Obama.

Chicago ist die stolze Metropole des Mittleren Westens. Hier standen die Schlachthäuser, für die Millionen von Kühen herangekarrt wurden von den Weiden in Kansas, Wisconsin, Iowa, Oklahoma und Texas. Upton Sinclair schrieb darüber in seinem Roman ›Der Dschungel‹. Chicago ist rauer als Los Angeles oder New York. Gegen die berüchtigte South Side von Chicago, ein »schwarzes Viertel«, in dem Michelle Obama aufwuchs, wirkt Harlem zahm. Ein gutes Drittel der Stadt ist schwarz; unter den Weißen sind die drei größten ethnischen Gruppen Deutsche, Iren und Polen. Chicago hat auch zwei arabische Viertel, das moslemische liegt im Südwesten, das christliche Viertel, wo Immigranten aus dem Irak und Palästina leben, im Nordwesten.

Lake Michigan ist einer der fünf Großen Seen im Grenzgebiet zwischen den USA und Kanada, zusammen sind sie so groß wie die Ost- oder die Nordsee. Oft bläst vom See her ein kalter Wind in die Häuserschluchten. Deswegen nennt man Chicago Windy City. Allerdings auch deshalb – so schrieb einst der New Yorker Journalist Charles Dana –, weil hier so viele »Windbeutel« lebten, die dauernd davon redeten, wie großartig ihre Stadt sei.

Die Stadt ist berühmt für ihren revolutionären Geist, wie er im Aufstand vom Haymarket, dem Haymarket Riot, manifest wurde, aus dem der Tag der Arbeit am 1. Mai hervorging. Hier standen sich im Mai 1886 Polizisten und ein paar Tausend Demonstranten und Streikende gegenüber. Es war der Höhepunkt eines Kampfes um den Achtstundentag, den irische und deutsche Immigranten führten. Plötzlich wurde eine Bombe geworfen, Schüsse fielen, ein Dutzend Menschen, die Mehrzahl Polizisten, wurden getötet. Die Polizei nahm die Aufständischen fest, vier Männer wurden gehenkt.

Im Sommer 1968 protestierten Zehntausende von Studenten während des Parteitags der Demokraten gegen den Vietnamkrieg. Auch hier prügelte die Polizei auf die Demonstranten ein und setzte Tränengas und Wasserwerfer ein. Sieben Studentenführer, die »Chicago Seven«, wurden vor Gericht gestellt, darunter der Anarchist Abbie Hoffman, der Schwarze-Panther-Führer Bobby Seale und der Aktivist Tom Hayden, der 1973 Jane Fonda heiratete.

Die Stadtachse von Chicago ist die Michigan Avenue. Sie läuft vom North Lake Shore Drive nach Süden, bis zum George Washington Memorial. Dort, wo sie den Chicago River kreuzt, steht der neogotische Chicago Tribune Tower. Die ›Chicago Tribune‹ wurde 1847 gegründet. Anfang des 20. Jahrhunderts übernahm sie Colonel Robert McCormick, ein Isolationist, der sie eine »amerikanische Zeitung für Amerikaner« nannte. Als McCormick seinen ersten Korrespondenten nach Europa schickte, wählte er einen aus, der weder Deutsch noch Französisch sprach, damit sein American boy nicht durch Ausländer verdorben würde. In der Lobby kann man heute eine kleine Ausstellung über die großen Momente der Zeitung sehen, etwa wie sie zwei Tage vor Pearl Harbor die Kriegspläne von Franklin D. Roosevelt enthüllte. Roosevelt hätte die ›Tribune‹ dann fast dichtgemacht.

Die Michigan Avenue führt am Goodman Theatre und dem Cadillac Palace Theatre vorbei und unter dem Loop hindurch, der alten, schon etwas rostigen Hochbahn, die ihre Runden um den Stadtkern dreht. Zur Linken beginnt der Millennium Park, ein Museumspark mit einer Promenade am Lake Michigan. Die alten Landungsbrücken, die in den See hineinragen, wurden schick renoviert, mit Restaurants und Riesenrädern. Moderne Skulpturen stehen hier, darunter Cloud Gate, eine riesige verspiegelte Bohne, in die Passanten hineingucken und sich zuwinken, auch das Haus des Chicago Symphony Orchestra liegt hier und das Art Institute of Chicago. Dessen moderner Flügel wurde – wie auf einer Tafel an dem Gebäude steht – von dem langjährigen Bürgermeister Richard M. Daley eröffnet, dem Sohn von Richard J. Daley, der Chicago von 1955 bis 1976 regierte. Als irische Katholiken gingen beide Daleys täglich zur Messe, als machine politicians schlossen die beiden Demokraten Hinterzimmerdeals mit Gewerkschaftlern, Geschäftsleuten und irischen, deutschen und polnischen Gemeindeführern. Heute ist Rahm Emanuel Bürgermeister, Obamas früherer Stabschef.

Weiter westlich, am Bahnhof Union Station, steht der Willis Tower, besser bekannt als Sears Tower. Seit dem Anschlag auf das World Trade Center ist er das höchste Hochhaus der USA, knapp gefolgt vom Trump International Hotel and Tower, ebenfalls in Chicago. Nur wenige Schritte weiter liegt die Börse, die drittgrößte der Welt, im Chicago Board of Trade Building von 1930. Der Wolkenkratzer aus rosa Sandstein ist mit Statuen geschmückt, darunter einem Ägypter, der Weizenähren trägt, und einem Indianer mit einem Büschel Mais in der Hand. Von der Spitze grüßt eine fast zehn Meter hohe, vergoldete Statue von Ceres, der römischen Fruchtbarkeitsgöttin. Dies hier ist der Geburtsort der Tea Party.

Die Geburt der Tea Party: Der Aufstand der Derivatehändler

Es war auf dem Parkett der Chicagoer Börse, wo Rick Santelli am 19. Februar 2009 öffentlich einen Wutausbruch hatte. Santelli ist ein Finanzjournalist, der für den NBC-Wirtschaftssender CNBC arbeitet. Gerade war die Nachricht hereingekommen, dass Barack Obama, der vor sechs Wochen sein Amt angetreten hatte, ein Regierungsprogramm aufgelegt hatte, den Homeowners Affordability and Stability Plan. Damit sollte Leuten geholfen werden, die ihr Häuschen nach dem Platzen der Immobilienblase zu verlieren drohten. Das fand Santelli empörend. Der Börsenjournalist und gebürtige Chicagoer, der noch immer mit dem Akzent der südosteuropäischen Immigranten spricht, forderte zum Widerstand auf: »Wie wäre es mit einem Referendum darüber, ob wir wirklich die Hypotheken dieser Versager subventionieren sollen?«, rief er, live auf CNBC. »Wollen wir nicht lieber die belohnen, die das Wasser tragen, als die, die es trinken?«

Er wurde bejubelt von den Börsenmaklern, die sich um ihn versammelt hatten. Santelli wurde lauter. »Das ist Amerika!«, rief er und wandte sich direkt an die Börsianer neben ihm. »Wie viele von euch wollen die Hypothek ihres Nachbarn bezahlen, der sich ein zweites Badezimmer geleistet hat? Hebt eure Hand! Präsident Obama, hören Sie zu? Das hier ist moralischer Schiffbruch!« Die Börsenmakler pfiffen und klatschten. »Wie wäre es, wenn wir alle nicht zahlen?«, rief einer in Santellis Mikrofon. »Wie wäre es mit einer Tea Party am Lake Michigan, wo wir einige Derivate in den See werfen!«, schlug Santelli vor. »Ich höre, dass Bürgermeister Daley schon die Polizei mobilisiert!« Dann drehte er sich um und deutete auf ein paar Makler auf dem Börsenparkett, die ihn anfeuerten. »Das hier ist ein typischer Querschnitt Amerikas, die schweigende Mehrheit.« – »Nicht ganz so schweigend«, entgegnete der Moderator im Studio trocken. Und auch nicht die Mehrheit, müsste man hinzufügen. Es handelte sich hier um die gleichen Derivatehändler, die die Krise zu verantworten hatten.

Der Moderator schlug nun vor, Santelli solle als Senator kandidieren – worauf der entgegnete, er wolle sich nicht stündlich duschen müssen. »Na, dann herzlichen Glückwunsch zu deiner Reinkarnation als revolutionärer Führer«, meinte der Moderator daraufhin. Und Santelli: »Lies mal die Gründungsväter, Benjamin Franklin und Thomas Jefferson! Die würden sich im Grab umdrehen, wenn sie wüssten, was wir heute in unserem Land machen.« Derweil warnten die Schlagzeilen am Bildrand davor, dass die Technologiebörse Nasdaq die Hälfte ihres Wertes verloren hatte.

Dabei ist das Programm, über das sich Santelli aufregte, bescheiden. Es waren 75 Milliarden Dollar dafür vorgesehen, von denen der Kongress nur dreißig Milliarden Dollar bewilligte – ein Bruchteil dessen, was der Steuerzahler wenige Monate zuvor den Banken gegeben hatte. Damals ging es darum, eine globale finanzielle Kernschmelze zu verhindern, als am 15. September 2008 die Investmentbank Lehman Brothers zusammengebrochen war, gefolgt von Washington Mutual und Beinahe-Pleiten von Citibank und Merrill Lynch.

Aber unter Hausbesitzern herrschte nun durchaus mehr Not als bei Bankern: Häuser wurden zwangsgeräumt und Amerikaner standen auf der Straße oder mussten in Zeltstädten unterkommen, ganze Stadtviertel waren von Wertverfall bedroht. Die meisten von ihnen waren ganz normale Familien, viele Afroamerikaner, denen die Banken die Zinsen erhöht hatten. In Amerika ist es nicht üblich, dass Hypothekenkredite zu Festzinsen vergeben werden, und wenn Schuldner ins Straucheln kommen, ziehen die Banken die Kreditzinsen an. Zudem waren viele dieser Hypotheken sogenannte subprime loans, die von Anfang an überhöht waren, weil der Schuldner als unsolide eingestuft wurde. Santellis Tea Party ist letztlich eine Bewegung von Wall-Street-Bankern, die sich darüber empören, dass der Staat die Leute retten will, die sie durch ihre Spekulationen in den Bankrott getrieben haben.

Die Ursachen der Bankenkrise sind mannigfaltig, aber sie haben viel mit Deregulierung und Überschuldung zu tun. Einer der Verantwortlichen hierfür ist Alan Greenspan, der bereits von Ronald Reagan ernannte Chairman der Federal Reserve. Greenspan propagierte eine Politik des »leichten Geldes«, er ermunterte Hausbesitzer, ihre Immobilien zu belasten, um das Geld in den privaten Konsum zu stecken. Das setzte sein Nachfolger Ben Bernanke fort. Als die Immobilienblase dann platzte, saßen manche Hausbesitzer plötzlich mit Krediten da, die höher waren als der Wert ihres Heimes. Aber auch die Demokraten sind nicht unschuldig. Bill Clintons Finanzminister Robert Rubin hat kommerziellen Banken, die im Massengeschäft tätig sind, erlaubt, mit schwer verständlichen Produkten wie Derivaten und Credit Default Swaps zu handeln, also Kreditausfallversicherungen, die letztlich nichts anderes waren als Wetten auf einen kommenden Immobiliencrash.

Als Lehman in Konkurs ging, brach Panik aus. Demokraten und Republikaner verabschiedeten gemeinsam das Troubled Assets Relief Program (TARP), um die Banken zu retten. Dafür hatte der Kongress zunächst 700 Milliarden Dollar vorgesehen. Bald stellte sich heraus, dass mehr Geld gebraucht wurde, auch für den Versicherungsriesen AIG, der Darlehensausfälle über Credit Default Swaps versichert hatte. Allein AIG bekam 182 Milliarden Dollar an Staatshilfen. Nach und nach wuchs der Betrag auf rund 2,5 Billionen an – so ganz genau weiß es keiner. Millionen von wütenden Wählern schrieben Protestbriefe und beschwerten sich in Anrufen – aber TARP wurde bewilligt.

Kaum hatte sich die Aufregung darüber gelegt, fand die ›New York Times‹ heraus, dass Banken, die TARP-Gelder in Anspruch genommen hatten, ihren eigenen Managern hohe Boni auszahlten. Dafür hatten alleine die Großbanken 36 Milliarden Dollar beiseitegelegt, noch während die TARP-Gelder flossen. Sogar Richard Fuld, der Vorstand von Lehman, hatte für seine letzten acht Dienstjahre noch eine halbe Milliarde Dollar mitgenommen.

Aber es waren nicht diese Milliarden, es waren die Regierungsgelder für Not leidende Hausbesitzer, die aus Santelli den »Katalysator der Tea Party« machten, wie das ›Wall Street Journal‹ schrieb. Aber war der Ausbruch wirklich so spontan, wie er, auch noch Monate später, versicherte?

Als Santelli live vom Leder zog, sahen ihn ein paar Hunderttausend Zuschauer. Vier Tage später waren es bereits 1,7 Millionen. Dabei war damals weder Santelli sonderlich bekannt noch hat CNBC substanzielle Einschaltquoten. Aber das Video von dem Auftritt machte sofort die Runde. Matt Drudge stellte es auf seine Website, die konservative Heritage Foundation lud es auf YouTube, auch die rechte Website WND.com und die ›National Review Online‹ berichteten darüber. Und nicht nur das: Es gab bereits seit 2008 die – inaktive – Website ChicagoTeaParty. com, auch die zeigte binnen Stunden das Video und postete Reaktionen. Zack Christenson hatte sie registrieren lassen, Produzent des konservativen Talkradios ›Extension 720 with Milt Rosenberg‹ und beim Heartland Institute für Web und Social Media verantwortlich. Heartland ist ein Think-Tank aus Chicago, der »freie Marktlösungen« bei Gesundheit und Erziehung sucht und gegen die »Klimalüge« kämpft. Finanziert wird er von der Exxon-Mobil-Stiftung und den Stiftungen von Richard Mellon Scaife und den beiden Koch-Brüdern. Kurze Zeit später wurden weitere derartige Websites registriert, unterstützt von konservativen Geldgebern. Schließlich griffen NBC und die großen Zeitungen das Thema auf.

Innerhalb einer Woche wurden mehr als vierzig Tea Partys gegründet, mit Unterstützung von Dick Armeys FreedomWorks – die dafür eine Facebook-Seite geschaltet hatten – und der von Koch finanzierten Organisation Americans for Prosperity: in Chicago, aber auch in New York, Boston, Atlanta, Dallas, Phoenix, Los Angeles, Denver, Seattle und Oklahoma City. In Pittsburgh stellten empörte Bürger die historische Boston Tea Party nach – allerdings nur mit Teebeuteln, die sie in den Allegheny und Monongahela River warfen.

Die Wut kulminierte am Tax Day, dem 15. April 2009, als rund 750 Tax Day Tea Partys stattfanden. Von Seattle bis Washington, D.C. sammelten sich jeweils Hunderte von erbosten, meistenteils weißen Steuerzahlern, bewaffnet mit Teebeuteln und Klapperschlangenfahnen. Sie protestierten nicht nur gegen die Staatshilfen für Immobilienkredite, sondern auch gegen den »Stimulus«, ein von der Obama-Regierung beschlossenes Paket von 787 Milliarden Dollar, das sich aus Steuernachlässen und neuen Ausgaben zusammensetzte. Der Stimulus enthielt eine Finanzspritze für Medicaid und für Langzeitarbeitslose, aber auch Investitionen für Schulen, Straßen, Brücken und den Umweltschutz. Das, hoffte Obama, werde Arbeitsplätze schaffen. Auch eine »Abwrackprämie« war dabei (cash for clunckers), dazu 13 Milliarden Dollar für Hochgeschwindigkeitszüge.

Fox News hatte gleich drei Reporter zu den Demonstrationen geschickt, darunter den Nachrichtensprecher Sean Hannity, der aus Atlanta berichtete. Glenn Beck kommentierte vom Studio aus: »Ich habe lange davor gewarnt«, meinte er. »Diese Entrechtung wird sich irgendwann in Wut verwandeln, und was dann geschieht, weiß nur Gott.« Damit entdeckten auch prominente Republikaner, die bereits im Senat und im Kongress gegen den Stimulus gestimmt hatten, ihre Nähe zur Tea Party. Einer davon war Rick Perry, der Gouverneur von Texas, bald darauf der Präsidentschaftskandidat, der in den Umfragen führte. In New York trat Newt Gingrich vor die Massen. Er meinte, die Bürger sollten ihrer Legislative sagen: »You’re fired«, falls sie nicht gegen den Stimulus stimmen würden. Offenbar fühlte er sich wie Donald Trump.

Gingrich, einer der ersten Republikaner, die sich an die Spitze der neuen, revolutionären Tea Party gestellt haben, ist eigentlich Urgestein aus Washington. Der weißhaarige 68-Jährige aus Pennsylvania, der im Gespräch jovial wirkt, ist seit 1978 im Repräsentantenhaus, er vertritt Georgia. In den neunziger Jahren stieg der wortgewaltige Berufspolitiker erst zum Amt des Minority Whip auf, verantwortlich dafür, die Fraktion zusammenzuhalten (als Nachfolger von Dick Cheney), und dann zum Fraktionsvorsitzenden, er wurde Bill Clintons Nemesis.

Gingrich ist der geistige Vater des konservativen Contract with America, den er zusammen mit sechs Republikanern veröffentlichte, darunter Armey und Tom DeLay, beides ultrarechte Abgeordnete aus Texas, sowie John Boehner, der heutige Fraktionschef. Im Contract with America, der kurz vor den Kongresswahlen von 1994 veröffentlicht wurde – damals war Clinton gerade zwei Jahre Präsident –, forderte die GOP, die Grand Old Party, eine schlankere Regierung, weniger Steuern, einen ausgeglichenen Staatshaushalt und eine Reform des Sozialstaats, was so viel heißen sollte wie: weniger Sozialausgaben! Es war ein Neuaufguss der Politik von Ronald Reagan, der 1976 in einer Wahlkampfrede beispielhaft über eine welfare queen geschimpft hatte, eine Frau, die sich mit falschen Papieren und gefälschten Adressen 150 000 Dollar an Sozialhilfe erschlichen habe, aber Cadillac fahre. Diese (fiktive) Frau lebte – selbstredend – in der Chicago South Side, dem berüchtigten schwarzen Ghetto der Stadt, in das kaum ein weißer Amerikaner seinen Fuß setzen würde. Reagan setzte damals Einschnitte im sozialen Netz durch.

Nach Reagan schaffte es auch Gingrich, mit diesen Ideen die GOP wieder an die Macht im Repräsentantenhaus zu bringen. Diese »republikanische Revolution« machte ihn zum Star. 1995 kam er auf das Cover des ›Time Magazine‹ als »Mann des Jahres«, ein Jahr später trat er in der TV-Serie ›Murphie Brown‹ auf, die in Washington spielt. Er stellt sich selbst dar, wie er laut darüber nachdenkt, das First Amendment abzuschaffen, den ersten Verfassungsartikel, der die Redefreiheit garantiert. Gingrich hatte damals einen Verbündeten hinter den Kulissen: Grover Norquist. Der ›New Yorker‹ nannte den libertären Juristen und Aktivisten einen »Visionär«; seine Vision ist, dass die Regierung so klein wird, dass man »sie in einer Badewanne ertränken kann«. Norquist hat keine Berührungsängste mit Moslems oder Asiaten, wenn sie nur konservativ sind. Und noch heute ist er einflussreich bei allen Gruppierungen der Rechten: Evangelikalen, Neocons, Libertären, Republikanern des big business und der Tea Party.

Der 55-jährige Norquist, ein WASP aus Boston, der in Harvard studiert hat, kam nach Washington, als Reagan Präsident war. Er reiste damals nach Afghanistan, um die Mudschaheddin zu unterstützen, und engagierte sich in der Waffenlobby NRA. Norquist machte sich rasch Freunde, allen voran Karl Rove und den Lobbyisten Jack Abramoff (der später wegen Betrugs im Knast landete). Und er machte Karriere: 1985 berief ihn Reagans Stabschef an die Spitze des Vereins Americans for Tax Reform, dessen Ziel es ist, unter keinen Umständen die Steuern zu erhöhen (und der Spenden von einer Koch-Stiftung bekommt). Er gründete auch den Verein K Street Project, der Konzerne – erfolgreich – davon abbringt, Geld an die Demokraten zu geben.

Berühmt aber wurde er durch Gingrich, für den er den Contract with America formulierte. Damit schaffte es Gingrich, erfolgreich Druck auf Clinton auszuüben. Der Präsident senkte die Kapitalertragssteuer und demontierte die Sozialhilfe. Heute ist die Wohlfahrt praktisch auf ledige Mütter begrenzt.

Außerdem gelang es den Konservativen, die Krankenversicherungspläne der Clinton-Regierung zu sabotieren, die letztlich am Widerstand der Pharma- und der Gesundheitsindustrie und deren Lobbyisten scheiterte. Einer davon war Roger Ailes, heute Chef von Fox News. Ailes wurde damals von zwei Zigarettengiganten bezahlt, die gegen eine Sondersteuer von einem Dollar pro Päckchen opponierten; das Geld sollte in die geplante Krankenkasse fließen. Ailes schaffte Busladungen von empörten Rauchern nach Washington und ließ sie pausenlos bei Kongressmitgliedern anrufen. Aber auch Norquist wirkte hinter den Kulissen daran mit. Die anderen Sozialprogramme – Medicaid, Medicare und Social Security, die Rente also – blieben weitgehend unangetastet. Das will Gingrich heute nachholen. Nun führen die Republikaner den dritten Schlag gegen das Sozialsystem, diesmal mit Hilfe der Tea Party.

Die GOP zwang Clinton auch, einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen – nach ewigem Tauziehen, das darin gipfelte, dass Behörden wochenlang geschlossen waren und Beamte nicht bezahlt wurden. Letztlich schadete dies den Republikanern, denn sie wurden von den Wählern dafür verantwortlich gemacht. Daraufhin gab es eine innerparteiliche Revolte gegen den Fraktionsvorsitzenden – angeführt von John Boehner –, die Gingrich jedoch niederschlagen konnte. Als die GOP aber bei den Wahlen 1998 tatsächlich Sitze verlor, trat er von allen Ämtern zurück.

Der Niedergang von Detroit

Die Union Station in Chicago ist ein mächtiger alter Bahnhof, benannt nach der Union Pacific Railroad, der größten Bahngesellschaft Amerikas, die 1869 die erste transkontinentale Linie nach San Francisco eröffnete. Die Union Station ist ein beeindruckendes Bauwerk in Marmor und Granit mit dorischen Säulen; der Verkehr der meisten Bahnlinien wurde allerdings inzwischen eingestellt. Noch drei Mal am Tag fährt hier der Wolverine nach Detroit ab. Für den Weg von fast 500 Kilometern braucht der Dieselzug fünfeinhalb Stunden. Das ist für die Verhältnisse von Amtrak, der amerikanischen Eisenbahngesellschaft, noch recht schnell. Eigentlich soll aus der Strecke von Chicago nach Detroit ein Hochgeschwindigkeitskorridor werden, dafür gab es Bundesmittel. Nur gebaut wurde leider noch nichts.

Der Wolverine rattert am Ufer des Lake Michigan vorbei, wo die riesigen, Feuer spuckenden Fabriken Indianas stehen. Dies hier ist der nördlichste Teil des sogenannten Rust Belts im Nordosten der USA, der von Cleveland und Cincinnati in Ohio bis nach Gary in Indiana reicht. Hier war einst das Kernland der Stahlindustrie. Aber die meisten Arbeitsplätze sind heute nach China ausgelagert. Die Reise geht weiter: durch die Wälder und die Seenlandschaft Michigans, durch Kalamazoo, Battle Creek, die Universitätsstadt Ann Arbor und durch Dearborn, wo Henry Ford seine legendäre Autofabrik gründete; Endstation: Detroit.

Wie Chicago, so hat auch Detroit einen Prachtbahnhof aus Marmor und Granit, mit Säulen und hohen Gewölbegängen, die alte Michigan Central Station. Aber das Gebäude ist leer und verfallen. Der Zug hält an einem provisorischen Bahnhof zwischen dem Henry Ford Hospital und dem Edsel Ford Freeway, an der Woodward Avenue, dem zentralen Boulevard der alten Autostadt. Auch Detroit liegt an einem der großen Seen, dem Lake Erie. Die Stadt von Ford, Chrysler und General Motors wurde von Franzosen gegründet und als Fort im Indianerland errichtet. Sie ist mehr als 300 Jahre alt und damit fast doppelt so alt wie Chicago.

Detroit – einst das »Paris des Westens« genannt – ist gleichfalls berühmt für seine Architektur, für seine mächtigen Art-déco-Wolkenkratzer, wie das Cadillac Hotel oder das Fisher Building. Albert Kahn hat in Detroit gebaut, Frank Lloyd Wright und Ludwig Mies van der Rohe. An achtspurigen Alleen reihen sich Beaux-Art-Prachtbauten aneinander, wie das Detroit Institute of Arts, das Detroit Science Center und die Wayne State University.

Aber die Straßen der Downtown sind gespenstisch leer, auch tagsüber. Es gibt kaum Geschäfte, nicht einmal Fastfood, außer in ethnischen Vierteln wie Greektown. Am Detroit River, der die USA von Kanada trennt, liegt das Renaissance Center, ein Ensemble von gläsernen Wolkenkratzertürmen. Hier befindet sich das Hauptquartier von General Motors – zumindest noch. Der einst größte Autobauer der Welt zieht sich nach und nach aus Detroit zurück. Der Prozess begann bereits in den sechziger Jahren, als japanische, dann auch deutsche und koreanische Autobauer auf den Markt drängten. Bei den »großen Drei« arbeiteten gewerkschaftlich organisierte Arbeiter, die gute Sozialleistungen bis ins Rentenalter bekamen. Toyota, Honda und Mercedes aber bauten Fabriken im Süden, wo es keine Verpflichtung gibt, Gewerkschaftler einzustellen. Die Cadillac-Fertigung in Detroit machte 1987 dicht, weitere Fabriken folgten. Und mit den Autobauern verschwanden die Zulieferbetriebe und die Arbeitsplätze.

Am Tag nach der Lehman-Pleite (der gleichzeitig der Tag nach dem hundertjährigen Bestehen von General Motors war) reisten die drei Vorstandsvorsitzenden von GM, Chrysler und Ford nach Washington, jeder in seinem eigenen Firmenjet, und baten den Kongress um Subventionen von 7,5 Milliarden Dollar. Das war noch unter George W. Bush. Zwei Monate später kamen sie wieder; nun wollten sie 25 Milliarden Dollar haben. Unter Obama sollten dann mehr als achtzig Milliarden Dollar fließen. Das bewahrte GM aber nicht vor einem Konkurs. Gewerkschaften, Aktionäre und natürlich die Steuerzahler verloren viel Geld. General Motors wurde restrukturiert und baut heute wieder Autos, aber als deutlich verschlankter Konzern. Mitt Romney hatte damals in der ›New York Times‹ gefordert, die Autobauer in den Konkurs gehen zu lassen, um sie zum Umbau zu zwingen. Er wurde dafür viel gescholten, aber letztlich war es das, was Obama tat.

Aber nicht nur wegen des Niedergangs von General Motors verließen die Detroiter die Stadt in Scharen, auch die Suburbanisierung Amerikas trug dazu bei. Detroit war einst die viertgrößte Stadt der USA mit fast zwei Millionen Menschen. Heute sind es noch 714 000. Von denen sind achtzig Prozent schwarz (zwölf Prozent hispanisch oder arabisch und acht Prozent weiß) und viele arm. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei zwanzig Prozent, inoffiziell ist sie jedoch doppelt so hoch. Der Stadtkasse fehlt es an Geld für die Feuerwehr und die Polizei. Detroit liegt in der Kriminalitätsrate an dritter Stelle in den USA (an erster Stelle liegt St. Louis, Missouri, gefolgt von Camden, New Jersey).

Die Schwarzen kamen mit der Great Migration, die um 1910 begann. Damals flohen Millionen von Afroamerikanern vor der Diskriminierung in den Südstaaten in die Städte des Nordens: New York, Chicago, Baltimore, Washington, D.C. und Detroit. Sie brachten den Jazz mit, den Blues und die Armut. Die Weißen wehrten sich, erst mit politischen Mitteln, dann mit illegalen, zum Teil mit Gewalt, bis hin zur Brandstiftung. Schließlich zogen sie weg, in die Suburbs, um »bessere Schulen zu finden und um der Kriminalität zu entgehen«, wie der Historiker Thomas Sugrue in der ›New York Times‹ darlegte. Das sei die Umschreibung für »von den Schwarzen wegziehen«. Damals verlor Detroit die Hälfte der Bevölkerung, fast ausschließlich Weiße.

Seit den fünfziger Jahren subventionierte Washington Häuslebauer in den Suburbs, aber Schwarze bekamen in solchen Wohngegenden keinen Bankkredit für den Hauskauf. Banken und Makler betrieben das sogenannte redlining, rote Linien markierten auf einem Stadtplan, wo Kredite restriktiv gehandhabt wurden. Das sollte sich jedoch ändern, als mit der Bürgerrechtsbewegung auch Lobbys wie die NAACP (National Association for the Advancement of Colored People) Einfluss gewannen. Die Clinton-Regierung und ihr Wohnungsbauminister Henry Cisneros setzten sich gegen redlining ein, mit Subventionen und Sanktionen, Zuckerbrot und Peitsche. Nun konnten endlich auch Mittelklasse-Afroamerikaner Häuser in den Suburbs erwerben.

In den letzten zehn Jahren zog die schwarze Mittelklasse aus Detroit fort, also noch einmal ein Viertel der Bevölkerung und damit mehr als aus jeder anderen US-amerikanischen Stadt – New Orleans ausgenommen. Zurück blieben die Menschen, von denen Rick Santelli glaubt, dass sie durch ihre Anspruchshaltung »den amerikanischen Staat ausplündern«. Aber auch die Schwarzen, die in die Suburbs gezogen waren, fanden »zu ihrem Ärger heraus, dass Integration nur eine vorübergehende Phase meinte«, schreibt Sugrue. »Nämlich die Phase zwischen dem Tag, an dem die ersten Schwarzen einzogen, und dem Tag, an dem die letzten Weißen ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen nahmen.«

 

Im Sommer 2011 kommt eine Gruppe von Stadtplanern von der New Yorker Columbia University zu einer Tagung nach Detroit. Sue Mosey von der örtlichen halbstaatlichen Gesellschaft Midtown Development Group Inc., eine resolute Frau, führt die Gäste durch mehrere desolate Stadtviertel. Durch Viertel wie »Indian Village« mit seinen Stadtvillen, die trotz der blätternden Farbe noch imposant wirken, und wo die Eigentümergemeinschaften dafür sorgen, dass verlassene Gärten nicht verwahrlosen, damit die Grundstückspreise nicht sinken; aber auch durch einfachere Gegenden, wo jedes dritte Haus verrammelt ist. »Detroit war einmal berühmt dafür, dass sich auch Handwerker ein Häuschen leisten konnten«, sagt Mosey.

Von der Immobilienkrise von 2008 wurde die Stadt härter getroffen als viele andere. Jeder, der es sich noch leisten konnte, zog möglichst schnell weg. Deshalb brachen die Hauspreise in Detroit noch stärker ein als andernorts, im Schnitt fielen sie von 77 000 Dollar auf 45 000 Dollar. Einer von 68 Haushalten ging bankrott, weil die Kreditzinsen zu teuer wurden. »Viele ließen das Haus marode und leer zurück und gingen einfach«, sagt Sue Mosey. Dann fragt sie, ob wir noch mehr blight, urbanen Verfall, sehen wollen. Die Stadt habe zwanzig Prozent Brachfläche. Sie könne uns aber auch urbane Gärten zeigen, wo die Detroiter Gemüse züchten, für den eigenen Kochtopf. Die Gärten liegen zwischen Abbruchhäusern; die drei jungen schwarzen Männer, die dort arbeiten, wirken nicht so, als wüssten sie, wie man den Boden bestellt. Ich frage Mosey, ob es hier eine Tea Party gibt. Sie grinst. »Eher nicht«, sagt sie. Es gibt zwar ein message board für eine Detroiter Tea Party im Internet, aber die letzte Nachricht ist Jahre alt.

Am Abend diskutieren vier Bürgermeister aus dem Rust Belt über die Krise, darunter David Bing aus Detroit und Dayne Walling, der aus dem nahen Flint kommt, der Heimatstadt von Michael Moore. Alle Städte des Rust Belt haben massiv Einwohner verloren, alle Bürgermeister – außer Walling – sind schwarz; und alle klagen, dass die Stadtkassen genauso wenig haben wie die Bewohner: »Früher war der Reichtum in den Städten, heute ist er in den Suburbs«, sagt David Bing. »Deshalb sind die viel besser versorgt, was Schulen, Krankenhäuser oder Polizei angeht. Das muss anders verteilt werden.« Aber die Leute in den Suburbs wollten nichts abgeben, die seien ja gerade deshalb weggezogen. Walling meint, man dürfe noch nicht einmal reden über die shrinking cities, die schrumpfenden Städte des Rust Belt. »Ich habe den Begriff einmal in der ›New York Times‹ verwendet, danach hat mich Rush Limbaugh im Radio drei Tage lang als Verschwörer, Sozialist und Wachstumsgegner bezeichnet.«

Nun kommt der Stargast des Abends: Henry Cisneros, Bill Clintons Generalsekretär des HUD (Department of Housing and Urban Development). Cisneros, der frühere Bürgermeister von San Antonio, war ein aufstrebender Politstar, bis ihm eine Affäre zum Verhängnis wurde, bei der herauskam, dass er Gelder an seine frühere Geliebte gezahlt hatte. Aus Sicht der Tea Party ist er einer der Hauptschuldigen an der Bankenkrise. Er hat die Politik des Fair Housing und die Fair Lending Laws zu verantworten; unter ihm wurden die Regeln der Kreditvergabe beim Hausbau gelockert, er ging zudem mit Strafzahlungen gegen Banken vor, die Kredite verweigerten. Am Ende von Clintons Amtszeit besaßen 67,5 Prozent der Amerikaner ihre eigene Bleibe, ein Zuwachs von vier Prozent. Das lag vor allem daran, dass nun auch Ärmere und ethnische Minderheiten Häuser erwerben konnten.

Cisneros ist ein begnadeter Redner. Er schlägt den Bogen von der Großen Depression 1929, dem Zweiten Weltkrieg, der Bürgerrechtsbewegung zu den Krawallen von 1967, als Schwarze in Detroit einen bürgerkriegsartigen Aufstand probten. Erst nach fünf Tagen des Plünderns und Brandschatzens hatte Michigans Gouverneur George Romney – Vater von Mitt Romney – die Nationalgarde geschickt und Präsident Lyndon B. Johnson die Armee. Zurück blieben 43 Tote und mehr als 2000 ausgebrannte Gebäude. Es dauerte auch deshalb so lange (schrieb Geschichtsprofessor Sidney Fine in ›Violence in the Model City‹), weil sich die Verantwortlichen uneins waren: Bürgermeister Jerome Cavanagh, ein irischer Katholik, mochte den Gouverneur, einen Mormonen, nicht um Hilfe bitten, während der Demokrat Johnson mit Hilfe zögerte, weil der Republikaner Romney vorhatte, bei den Präsidentschaftswahlen gegen ihn zu kandidieren. Derweil brannte die Stadt.

Cisneros spricht nun über die Wende in den achtziger Jahren, als die Restaurierung der Innenstädte einsetzte – nur eben leider nicht in Detroit. »Unsere Städte sind unsere Identität«, sagt Cisneros. Ich frage ihn, was er von Sarah Palins Ansicht hält, dass echte Amerikaner aus Suburbs und Kleinstädten kommen. Er schüttelt den Kopf. »Amerika wurde in den Städten geschaffen, von den Immigranten«, sagt er. Aber daraus einen Gegensatz zu konstruieren, sei falsch. »Wir müssen unser Land gemeinsam aufbauen.«

Cisneros war erfolgreich in seinem Kampf gegen das redlining, aber leider zeitigte dies unschöne Nebenwirkungen: Drei große Hypothekenbanken hatten das Gros der Kredite vergeben, Fannie Mae und Freddie Mac (die im Rahmen des New Deal gegründet wurden und den Demokraten nahestehen) sowie Countrywide. Allein Countrywide hielt zwanzig Prozent aller Immobilienkredite. Dem Druck aus Washington und den gelockerten Regulierungen geschuldet vergaben die drei nun zwar mehr Hypotheken an ärmere und schwarze Amerikaner, aber eben oft die beklagten subprime loans zu schlechteren Konditionen und überhöhten Zinsen. Countrywide hatte sogar gezielt schwarze und hispanische Familien kontaktiert, um ihnen Verträge mit hohen Zinsen anzudienen. Als die Immobilienblase platzte, gingen diese Familien als Erste unter. 2009, auf dem Höhepunkt der Krise, bewilligte der Kongress bis zu anderthalb Billionen Dollar aus Steuergeldern, um Fannie, Freddie, Countrywide und andere Sparkassen aufzufangen – sehr zum Ärger der Tea Party.

Der Ärger war auch deshalb besonders groß, weil die Tea Party diese Hypothekenbanken als Selbstbedienungsläden für die Demokraten ansah. Und nicht zu Unrecht: Noch vor der Lehman-Krise, im Juli 2008, hatte das Wirtschaftmagazin ›Condé Nast Portfolio‹ herausgefunden, dass Angelo Mozilo, der Vorstand von Countrywide, eine Liste führte: »Friends of Angelo«. Wer daraufstand, bekam bessere Kreditzinsen und musste weniger oder gar keine Gebühren zahlen. Zu diesen »Freunden« zählten Kent Conrad, der Chairman des Senate Budget Committee, und Christopher Dodd, der Chairman des Senate Banking Committee – beides Demokraten; außerdem zwei leitende Manager von Fannie Mae; auch Cisneros selbst, der nach seinem Rücktritt von seinem Amt bei Housing and Urban Development nun Aufsichtsrat von Countrywide geworden war, wurde von Angelo als »Freund« geführt. Allerdings standen auch Republikaner auf der Liste, wie Ed Royce, der dem House Committee on Financial Services vorstand. Countrywide wurde von der Bank of America aufgekauft, die 14 Milliarden Dollar für faule Kredite in die Bilanz einstellen musste.

Und ewig grüßt das Murmeltier: Der Contract from America

Anderthalb Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, die von der britischen Barclays Bank aufgekauft wurden, hatten sich die Banken und der Immobilienmarkt noch nicht erholt, aber die Krise hatte die Staatskasse weniger gekostet als vermutet. Viele Banken haben TARP-Gelder zurückgezahlt, als der Kongress ihnen drohte, dass sie sonst keine Millionenboni an Manager mehr zahlen dürften, desgleichen Chrysler und GM. Von den 75 Milliarden Dollar für den Homeowners Affordability and Stability Plan, über den sich Rick Santelli so erregt hatte, waren von 750 000 Familien allenfalls vier Milliarden abgerufen worden. Für die Vermittler von Hypotheken, aber auch für Banken war ein Konkurs oft günstiger. Aber die Tea Party hatte ihr Thema gefunden: die Sanierung der Staatsfinanzen. Nur ging es inzwischen nicht mehr um Hilfen für Autobauer und Hausbesitzer, sondern um Medicare, Medicaid, Social Security und ObamaCare.

Um das durchzusetzen, haben die Tea Party Patriots, der organisierte Arm der Bewegung, den Contract from America formuliert, der am 12. April 2010 veröffentlicht wurde, drei Tage vor dem Tax Day. Autor dieses Papiers ist der texanische Anwalt Ryan Hecker, ein früherer Mitarbeiter von Rudy Giuliani; beteiligt war auch diesmal Armeys Organisation FreedomWorks. Auch Newt Gingrich hatte im Magazin ›NewsMax‹ ein paar Ideen beigesteuert. Das ist kein Zufall, denn der Contract from America ähnelt verflixt dem alten Contract with America, den Gingrich, Armey, Boehner und Tom DeLay 16 Jahre zuvor als Leitlinie der Republikaner durchgesetzt hatten. Zu dieser Politik wollten Gingrich, Boehner und Armey nun mit Hilfe der Tea Party zurück. DeLay wurde inzwischen wegen Geldwäsche zu drei Jahren Haft verurteilt. Immerhin: Er hat die Zeit seit seinem Rückzug aus der aktiven Politik genutzt, um ein Buch zu schreiben, mit Vorworten von Rush Limbaugh und Sean Hannity, wo er Liberale mit Rassisten, Holocaust-Leugnern und Hitler vergleicht.

Gemäß dem Contract from America muss der Bundeshaushalt ausgeglichen sein, die Bundesausgaben dürfen nur mit der Inflation und der Bevölkerung wachsen und es soll ein Moratorium für earmarks geben, ein vorübergehender Stopp. Earmarks sind Steuergeschenke an Kommunen, die an Gesetze gekoppelt sind, ein klassischer Dreh, den Wahlkreis daheim zu bedienen. Auch die Steuern sollen stark vereinfacht werden. Zu den Ideen, die kursieren, zählt eine flat tax, eine Steuer, die für jeden gleich ist, oder aber die gänzliche Abschaffung der Einkommenssteuer und dafür eine sehr viel höhere sales tax, die in den USA der Mehrwertsteuer entspricht. Außerdem sollen die unter Bush ergangenen Kürzungen der Einkommenssteuer, der Erbschaftssteuer und der Kapitalertragssteuer beibehalten werden. Und: Die neue ObamaCare soll wieder abgeschafft werden.

Mit dem Contract hat die Tea Party die Wende geschafft, von einer außerparlamentarischen Bewegung, die sich über Steuergeschenke für Banker und Staatshilfen für Bankenopfer erregte, zu einer politischen Strömung, die sich gegen Sozialversicherungsprogramme stellt. Der Contract wurde im Internet debattiert; nach Angaben von Hecker stimmten 450 000 Leute darüber ab. Aber nur siebzig Republikaner unterschrieben in Washington den Contract, denn viele ihrer Anhänger, vor allem Rentner, sind gegen eine Kürzung von Medicare und Social Security.

Wohl auch deshalb sind die Republikaner damit nie erfolgreich gewesen. Nicht nur unter Gingrich, sondern auch danach unter der Präsidentschaft von George W. Bush hat die GOP schon versucht, die Social Security zu privatisieren und die Amerikaner zu veranlassen, stattdessen Aktienpakete zu erwerben. Ihnen wurde versichert, dass sie höhere Erträge bekämen, zudem würde die Social Security angesichts der vielen in Rente gehenden Babyboomer austrocknen. Social Security, Medicare und Arbeitslosengeld werden aus der payroll tax finanziert, einer Steuer, die der deutschen Sozialversicherung entspricht. Die Rente ist also, fiskalisch gesehen, nicht Teil des Haushalts; in der Praxis ist es aber doch so, dass Washington gelegentlich Anleihen bei der Rentenkasse nimmt. Zudem ist Social Security keine Rücklagenversicherung. Vielmehr werden die Kosten für die gegenwärtige Rentnergeneration aus den laufenden Beiträgen beglichen. Der Vorstoß, dies stattdessen der Wall Street anzuvertrauen, scheiterte jedoch, als die Vorboten des Bankenkrachs schon zu erkennen waren.

Auch für die Tea Party ist es nicht ungefährlich, solche Forderungen zu propagieren. Ihre Anhänger sind in der Anfangsphase vor dem Kapitol mit Schildern aufgezogen, auf denen stand: »Government, hands off my Medicare«, Regierung, Finger weg von meiner Medicare. Offenbar glaubten sie, dass Medicare eine private Versicherung ist, dabei ist es ein Bundesprogramm, wie auch Social Security und Medicaid, im New Deal unter Roosevelt eingeführt. Wenn sich die Tea Party allzu laut auf Kürzungen solcher Programme kapriziert, dürften ihr die Mitglieder davonlaufen. Deshalb wehrt sich Michele Bachmann öffentlich gegen Kürzungen bei Medicare.

Für konservative Christen wie Bachmann, Rick Santorum oder Rick Perry geht es sowieso weniger um das Budget als vielmehr darum, über eine Mittelkürzung bei Medicaid ihre christlich-konservativen Ideen durchzusetzen und damit Abtreibung, Verhütung sowie die »Pille danach« zu verbieten. Allerdings: Teilen wollen die Medicare-Bezieher ungern. Als bei einer Debatte alle Kandidaten gefragt wurden, ob ein verunglückter Dreißigjähriger ohne Krankenversicherung medizinische Hilfe bekommen solle, riefen mehrere Zuschauer: »Let him die«, lasst ihn sterben.

Das Comeback der alten Garde

Für die alte Republikaner-Garde um Gingrich, Armey und Boehner ist die Tea Party nur ein neues Vehikel, um ein Comeback in Washington zu inszenieren und den Sozialstaat zu demontieren, soweit sie das unter Clinton noch nicht geschafft haben. Als Fraktionsvorsitzender war Gingrich 1998 zurückgetreten, aber im Rampenlicht war er geblieben, er machte nun das, was alle Politiker tun: Geld verdienen. Er schrieb Bücher, darunter eines, in dem er die Ansicht vertrat, dass die Gründungsväter ein christliches Amerika gewollt hatten. Das brachte ihm eine Einladung des Evangelisten Jerry Falwell ein. Er trat in Dokumentarfilmen auf und er ließ sich als Berater von Think-Tanks wie dem neokonservativen American Enterprise Institute und der libertären Hoover Institution engagieren. Er hielt bezahlte Reden und er gab als Gastkommentator bei Fox News seine Meinung zum Besten.

Als Kandidat allerdings hat er ein paar Handicaps: Er ist zwei Mal geschieden, und er hat eine seiner Ehefrauen auf dem Krankenbett verlassen (der zum Katholizismus Konvertierte sagt dazu, Gott habe ihm vergeben). Die Tatsache, dass seine Schwester Candace Gingrich-Jones eine lesbische Aktivistin ist, bringt ihm bei Konservativen auch keine Pluspunkte. Und so recht ist sein Wahlkampf auch nicht vom Fleck gekommen: Er begann ihn damit, indem er auf Wunsch seiner Frau Callista zu einer Kreuzfahrt zu den griechischen Inseln aufbrach, anstatt in Iowa und New Hampshire auf anstrengende Kampagnentour zu gehen. Prompt kündigten sein Wahlkampfchef und fast alle Mitarbeiter, weil sie den Eindruck hatten, er nehme die Wahl nicht ernst und überlasse Callista das Heft. Einige von ihnen liefen zum texanischen Gouverneur Rick Perry über. Dann fanden Zeitungen heraus, dass er beim New Yorker Luxusjuwelier Tiffany einen Kreditrahmen von einer halben Million Dollar hat; auch nicht gerade ein Zeichen für einen Mann des Volkes. Als Nächstes brüskierte er auch noch öffentlich die Tea Party: Im Fernsehen bezeichnete er die geplanten Sozialprogrammreformen als »right-wing social engineering«, einen radikalen Gesellschaftsumbau von rechts, der nicht gut für eine freiheitliche Gesellschaft sei. Als er sofort zurückruderte, wirkte er, als wisse er nicht, was er sage.

Nun ist Gingrichs Wahlkampagne tief verschuldet. Dabei nutzt er seine neuerliche TV-Präsenz, die er seinem Wahlkampf verdankt, um überall seine vielen Bücher und DVDs anzupreisen. Aber die Erlöse daraus lässt er seiner Privatschatulle zukommen, nicht der Wahlkampfkasse. Beobachter vermuten, dass er nur noch auf die PR aus ist. Und vielleicht geht es dem alten Parteilöwen auch um ein wenig Aufmerksamkeit für seine Person.

Obwohl Gingrich sich laufend im Namen der Tea Party zu Wort meldet, sind es heute doch andere Republikaner, die als Vertreter der Bewegung gelten. Der Tea Party gelang der Durchbruch in Washington mit der Wahl von 2010 zum Repräsentantenhaus, als frustrierte Obama-Wähler und erboste Republikaner der Grand Old Party eine parlamentarische Mehrheit bescherten. Das brachte auch ein paar Dutzend Abgeordnete und Senatoren nach Washington, die der Tea Party nahestehen, wie Rand Paul, aber auch David Vitter aus Louisiana, Mike Lee aus Utah und Jim DeMint aus South Carolina. Und als John Boehner der Tea Party seine Ergebenheit versicherte, wurde er Fraktionsvorsitzender im Repräsentantenhaus.

Mit ihrer neuen Mehrheit hatte die Tea Party erstmals seit Obamas Wahl eine reale Chance, den Anstieg der Staatsausgaben tatsächlich zu stoppen. Mit den Republikanern gegen sich konnte der Präsident die gesetzlich vorgeschriebene Schuldenobergrenze von 14,3 Billionen Dollar nicht erhöhen. Und die Tea Partier stellten Bedingungen: keine Steuererhöhungen, vielmehr erhebliche Einsparungen durch Einschnitte ins soziale Netz und das Versprechen, künftig einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen, am besten sichergestellt durch einen neuen Verfassungszusatz.

Das entsprach aber nicht unbedingt dem, was die Republikaner wollten. Denn die standen unter dem Druck von Banken und Wirtschaft, die Staatsschulden zu erhöhen. Zwar wollten sie durchaus an der Wohlfahrt sparen, aber aus politischen Prinzipien, nicht aus fiskalischer Verantwortung. Der Staatshaushalt war vielen Republikanern egal. Unter George W. Bush, als die Staatsschulden mit den beiden Kriegen im Irak und in Afghanistan stiegen, hatte dessen Vize Dick Cheney die Parole ausgegeben, »deficits don’t matter«, Haushaltdefizite schaden nicht. Cheney berief sich auf Reagan und Irving Kristol. Auch Boehner gehörte zu dieser Schule, er hatte drei Jahre vorher dem TARP-Programm zugestimmt. Zuvor hatte er übrigens noch Aktien verkauft, von denen er wusste, dass sie mit TARP sinken würden.

Aber die Steuerrebellen hatten einen Washingtoner Insider, der ihnen half: Grover Norquist mit seinem Verein Americans for Tax Reform. Der hatte viele Republikaner einen pledge, ein Ehrenwort, unterschreiben lassen, dass sie unter keinen Umständen einer Steuererhöhung zustimmen würden. Nach wochenlangem Streit, oft bis tief in die Nacht hinein, erreichten Boehner und Obama in letzter Minute einen Kompromiss, mit dem niemand zufrieden war, auch nicht die Tea Party: Die Schuldenobergrenze wird zwar um 2,4 Billionen Dollar erhöht, nicht aber die Steuern, nicht einmal Schlupflöcher werden geschlossen. Dafür wird es zwar auch Kürzungen geben, aber gestreckt auf zehn Jahre, und auch dort, wo die Tea Party gar nicht sparen wollte, nicht bei ObamaCare, sondern bei Medicare und beim Pentagon.

Letztlich stimmten die Tea Partier dann diesem Kompromiss doch nicht zu; ihre Senatoren hatten ihre Kollegen sogar dazu aufgerufen, mit Nein zu votieren. Als kurz darauf die Kreditwürdigkeit Amerikas – zum ersten Mal in der Geschichte des Landes – von einer Ratingagentur herabgestuft wurde, gaben viele Amerikaner der Tea Party die Schuld. Die ›New York Times‹ nannte deren Anhänger »Terroristen« und »Geiselnehmer«, und die Beliebtheit der Tea Party fiel bei Amerikanern auf zwanzig Prozent.

Allerdings stieg auch die Politikverdrossenheit insgesamt: Noch mehr Wähler hatten nun einen schlechten Eindruck vom Kongress, und auch die Beliebtheit von Obama hatte Schaden genommen – ob er sich davon jemals erholt, ist fraglich.

Erst Ende 2011 sollten wieder echte Kritiker der Wall Street und der Banken öffentlich auftreten, als die Initiative »Occupy Wall Street« entstand. New Yorker, viele davon jung, campierten nahe der Börse an der Liberty Street, in einem kleinen Park zwischen dem Neubau des World Trade Centers und dem Hochhaus der Bank Brown Brothers, Harriman. Erst Hunderte, dann Tausende protestierten gegen die Banken, gegen die Arbeitslosigkeit und dagegen, dass ein Prozent der Amerikaner mehr als die Hälfte des Vermögens aller US-Bürger besitzt.

Die »Occupier« halten Versammlungen ab und veranstalten öffentliche Foren, wo »menschliche Megafone« die Redebeiträge in die letzten Ecken des Parks weitertragen. Auf Schildern wird gefordert: »Enteignet die Banken« und »Schafft die Fed ab«. Sie demonstrieren und werden gelegentlich von der New Yorker Polizei mit Pfefferspray und Gummiknüppeln attackiert. Einmal werden sogar 700 Menschen festgenommen, die bei dem Versuch, über die Brooklyn Bridge zu laufen, die Fahrbahn betreten.

Arbeiter von der World-Trade-Center-Baustelle schauen vorbei, sogar ein paar Banker, und als sich auch Mitglieder der städtischen Gewerkschaften dem Protest anschließen, schwillt die Menge der Demonstranten vorübergehend auf 20 000 an. Auch Intellektuelle und Celebrities unterstützen »Occupy Wall Street«: Joseph Stieglitz von der Columbia University in New York, Cornell West von der Princeton University, Susan Sarandon, Roseanne Barr, Alec Baldwin und Yoko Ono. Jon Stewart und Keith Olbermann berichten im Fernsehen über die Demonstrationen, Michael Moore, der Filmemacher aus Flint, Michigan, taucht auf und versichert seine Solidarität. Und auch in anderen Städten Amerikas wird demonstriert, und Zeltstädte sprießen aus dem Boden: in Boston, Washington, Los Angeles, Phoenix, Iowa City, Atlanta, Detroit, Chicago und in vielen mehr. Und, wie die Tea Party, berufen sich die Demonstranten auf die Verfassung, auf die Rede- und Versammlungsfreiheit.

Kein Wunder, dass Journalisten und Politiker – darunter der ›New York Times‹-Kommentator Paul Krugman und Vizepräsident Joe Biden – die neue Protestwelle mit der Tea Party vergleichen. Somit rächt es sich, dass diese immer so getan hat, als sei sie kritisch gegenüber Banken, die Steuergelder einsackten. Dabei sind Tea Partier gar nicht begeistert von der Konkurrenz. Am lautstärksten positioniert sich Herman Cain. »Ich habe keine Fakten, um das zu beweisen, aber ich glaube, dass diese Demonstrationen geplant und orchestriert wurden, um von dem Versagen der Obama-Regierung abzulenken«, meint er und wirft den Demonstranten auch gleich noch »Klassenkampf« vor. Und er fügt hinzu: »Wenn du arm bist und keinen Job hast, beschuldige nicht die Wall Street oder die Großbanken, du bist selber schuld.«

Der republikanische Senator Eric Cantor, der bei der Haushaltsdebatte vom Sommer Obama zu Kürzungen am sozialen Netz gezwungen hatte, nannte die Okkupanten einen »Mob«. Bill O'Reilly fand, die bräuchten eine Dusche und einen Job. Brendan Steinhauser von FreedomWorks sagte, die Okkupanten seien »unglücklich und wütend« und die Tea Partier »glücklich und fröhlich«; eine absurde Behauptung angesichts der Bilder, die waffentragende Rednecks zeigen, die Obama als afrikanischen Hexendoktor mit Hitlerbärtchen abbilden oder schwarze Abgeordnete bespucken. Wall-Street-Okkupanten, fügte Steinhauser hinzu, agierten in der Tradition von Malcolm X, die Tea Party hingegen in der von Martin Luther King. Dabei landeten bei den von King angeführten Protesten Tausende im Gefängnis. Amy Kremer, die Vorsitzende vom »Tea Party Express« war wenigstens ehrlich, als sie erklärte, der Unterschied sei: Die Tea Party kämpfe für den Kapitalismus, die Okkupanten aber dagegen. Vorsichtig ist nur Newt Gingrich, der meinte, unter den Demonstrierenden gebe es auch saubere, ordentliche Leute, die die Tea Party abwerben sollte.

Den Vogel schoss natürlich wieder Glenn Beck ab, der Occupy Wall Street für eine weltweite, von Kommunisten gesteuerte Verschwörung hält, mit dem Ziel, die Wirtschaft der USA zu zerstören, und hinter der letztlich der Oberkommunist im Weißen Haus stecke, Barack Obama. Derweil schoss sich Michele Bachmann auf Becks Erzfeind ein; sie behauptete, Occupy Wall Street werde von George Soros finanziert, während die Tea Party doch eine »echte Grassroots-Bewegung« sei. Der Beweis: Soros hatte vor einigen Jahren 3,5 Millionen Dollar an das liberale Tides Center in San Francisco gegeben, das wiederum 185 000 Dollar an die kanadische Zeitung ›Adbusters‹ spendete. Und ›Adbusters‹ unterstützt Occupy Wall Street. Eine dünne Verbindung, aber für Rush Limbaugh reichte das zu behaupten, das Geld von George Soros stecke hinter alledem. Dass eine Bewegung in den USA von einer kanadischen Zeitung unterstützt wird, gefällt Tea Partiern ohnehin nicht. Immerhin sind ihre großen Vorbilder Thomas Jefferson und James Madison 1812 in Kanada einmarschiert.

Generell versucht die Tea Party, die Demonstranten zu diskreditieren, zu delegitimieren und als fremdgesteuerte Hippies darzustellen, keine richtigen Amerikaner eben. Zeitungen, die der Tea Party nahestehen, wie Murdochs ›New York Post‹, werfen ihnen vor, sie zahlten keine Steuern – war die Tea Party nicht ursprünglich eine Bewegung gegen Steuern? –, und sie posten Bilder von Demonstranten, die ungewaschen aussehen. Und auch Mark Meckler, Gründer der Tea Party Patriots, distanzierte sich von der neuen linken Bewegung. Diese habe, sagte er auf Fox News, ganz und gar keine Ähnlichkeit mit der Tea Party. »Diese Leute sind keine gesetzesfürchtigen Bürger«, meinte er. »Sie campieren in einem Park, was verboten ist. Sie brechen das Gesetz, indem sie die Brooklyn Bridge betreten, was ebenfalls verboten ist. So benimmt sich keiner, der Amerika liebt.«

Damit forderte er Jon Stewart heraus, der Meckler daran erinnerte, worum es bei der ursprünglichen Tea Party in Boston gegangen war: Damals seien Patrioten in ein fremdes Schiff eingedrungen, hätten Lagerräume aufgebrochen, Kisten mit Tee gestohlen und ins Meer geworfen. »Das war ein Verbrechen«, rief Stewart. »Eine Fahrbahn zu betreten ist eine Ordnungswidrigkeit.«

Einen vorsichtigen libertären Unterstützer haben die Wall-Street-Besetzer allerdings: Ron Paul, dessen Anhänger sich von Anfang an bei Occupy Wall Street eingereiht haben und Plakate gegen die Federal Reserve hochhalten. Und der Kandidat selber meinte, die Anliegen der Bewegung seien berechtigt. »Wenn sie friedlich demonstrieren, Argumente haben und sich auf unsere Seite stellen, was die Abschaffung der Federal Reserve betrifft – ich würde sagen, das ist gut!«