Kapitel 11

Selbst wenn ich es gewollt hätte: Ich konnte einfach nicht aufstehen, um nachzusehen, was dort auf der Veranda Lag! Bill und Eric schienen mir beide reichlich erschüttert, und wenn Vampire erschüttert sind, dann will man wirklich nicht losziehen und feststellen, weswegen.

„Wir werden die Hütte niederbrennen müssen“, hörte ich Eric sagen. „Ich wünschte, Kallisto hätte ihren Dreck selbst weggemacht!“

„Das hat sie doch noch nie getan“, sagte Bill. „Jedenfalls meines Wissens nicht. Das ist nun mal der wahre Wahnsinn: Was schert es ihn, entdeckt zu werden?“

„Ach, ich weiß nicht“, sagte Eric beiläufig. Er hörte sich an, als hebe er gerade etwas Schweres hoch. Dann hörte ich etwas zu Boden fallen. „Ich kannte durchaus ein paar Leute, die eindeutig wahnsinnig waren und das recht geschickt verbergen konnten.“

„Auch wahr“, gab Bill zu. „Sollen wir ein paar von denen lieber auf der Veranda liegen lassen?“

„Wer kann hinterher den Unterschied feststellen?“

„Stimmt auch wieder. Es kommt höchst selten vor, daß wir so oft einer Meinung sind.“

„Sie hat mich angerufen und mich gebeten, ihr zu helfen!“ Erics Bemerkung bezog sich auf irgendwelche Beiklänge, nicht auf das, was Bill gesagt hatte.

„Dann ist es ja gut. Aber du erinnerst dich schon an unsere Übereinkunft?“

„Wie könnte ich unsere Übereinkunft vergessen?“

„Du weißt, daß Sookie uns hören kann.“

„Das macht mir nichts aus“, ließ Eric sich lachend vernehmen. Ich lag da, starrte in die Nacht hinaus und fragte mich, worüber zum Teufel die beiden wohl redeten. Allzu neugierig war ich allerdings nicht. Wir waren hier schließlich nicht in Rußland! Ich war kein Päckchen, das man wohlverschnürt von einem Diktator an den nächstmächtigeren übergeben konnte. Neben mir ruhte Sam nun wieder in Menschengestalt und splitterfasernackt, was mir im Moment allerdings gleichgültig war. Da Sam Gestaltwandler war, machte ihm die Kälte nichts aus.

„He! Hier lebt noch eine!“ rief Eric.

„Tara“, rief Sam.

Tara kletterte unbeholfen die Verandastufen herab und gesellte sich zu uns. Sie schlang mir die Arme um den Hals und weinte haltlos. Ich war unendlich müde, als ich sie so in den Armen hielt und schluchzen ließ, ich immer noch im Daisy Duke-Outfit, sie in der feuerroten Unterwäsche, zwei große weiße Wasserlilien in einem eiskalten Teich. Ich zwang mich, mich aufzusetzen, wobei ich Tara weiterhin an mich gedrückt hielt.

„Ob es in der Hütte wohl eine Wolldecke gibt?“ wandte ich mich hoffnungsvoll an Sam. Er trabte hinüber zu den Verandastufen; der Anblick seiner nackten Rückfront war höchst interessant. Wenig später trabte er die Treppe wieder herunter - oh Mann! der Anblick war atemberaubend - und wickelte eine Decke um Tara und mich.

„Dann werde ich es wohl überleben“, murmelte ich.

„Wie kommst du darauf?“ wollte Sam neugierig wissen. Die Ereignisse der Nacht schienen ihn nicht besonders überrascht zu haben.

Daß der Anblick seiner nackt die Treppe herunterhüpfenden Gestalt in mir die Überzeugung geweckt hatte, durchaus noch am Leben zu sein und wohl auch so schnell nicht sterben zu wollen, konnte ich ihm wohl kaum anvertrauen. „Wie geht es Eggs und Andy?“ fragte ich statt dessen.

„Eggs und Andy - das hört sich an wie der Titel einer Radiosendung“, sagte Tara plötzlich. Das Kichern, mit dem sie diese Worte begleitete, wollte mir ganz und gar nicht gefallen.

„Die beiden stehen noch da, wo sie sie hingestellt hat“, wußte Sam zu berichten. „Sie starren immer noch vor sich hin.“

„I'm still staring“, sang Tara daraufhin auf die Melodie von Eltons I'm still standing.

Eric lachte.

Bill und er waren nun kurz davor, das Feuer anzuzünden, weswegen sie zu uns herübergeschlendert kamen, um einen letzten prüfenden Blick auf alles zu werfen.

„Mit welchem Auto sind Sie gekommen?“ wollte Bill von Tara wissen.

„Oh! Ein Vampir!“ kicherte meine Freundin. „Sie sind Sookies Schatz, oder? Warum waren Sie denn neulich nacht mit dieser Kuh Portia beim Footballspiel?“

„Nett scheint sie auch zu sein!“ bemerkte Eric trocken. Er betrachtete Tara von oben herab mit einem gütigen, aber auch leicht enttäuschten Gesichtsausdruck, wie ein Hundezüchter vielleicht, der ein süßes, aber leider nicht reinrassiges Hundebaby begutachtet.

„Mit welchem Auto sind Sie gekommen?“ wiederholte Bill. „Kommen Sie! Wenn Sie vernünftig sein können, dann will ich das jetzt erleben.“

„In dem weißen Camaro“, sagte Tara plötzlich recht nüchtern. „Den werde ich jetzt heimfahren. Oder vielleicht lieber nicht. Sam?“

„Klar, ich fahre dich heim. Bill, braucht ihr noch Hilfe?“

„Ich glaube, wir schaffen das allein. Kannst du den Mageren da auch mitnehmen?“

„Eggs? Mal sehen.“

Tara drückte mir einen Kuß auf die Wange und machte sich langsam auf den Weg hinüber zu ihrem Auto. „Die Schlüssel habe ich stecken lassen“, rief sie uns über die Schulter zu.

„Was ist mit deiner Handtasche?“ Die Polizei würde sicher Fragen stellen, wenn sie Taras Handtasche in einer Hütte voller Leichen entdeckte.

„Oh ... die ist noch da drin.“

Ich warf Bill einen stummen Blick zu, woraufhin er ins Haus ging, um die Tasche zu holen. Bald darauf kehrte er mit einem großen Umhängebeutel zurück, in den nicht nur Make-up und all die Dinge, die man im Alltag so braucht, paßten, sondern auch ein Satz Kleider zum Wechseln. „Ist sie das?“

„Ja.“ Tara nahm Bill die Tasche so vorsichtig aus der Hand, als hätte sie Angst, ihre Finger könnten die seinen streifen. 'Na, vorhin war sie aber nicht so zimperlich!', schoß es mir durch den Kopf.

Inzwischen trug Eric Eggs zum Auto. „Er wird sich an nichts erinnern“, versicherte er, während Sam die hintere Wagentür öffnete, damit Eric Eggs auf den Rücksitz bugsieren konnte.

„Ich wünschte, das könnte ich von mir auch sagen.“ Taras Züge schienen unter dem Gewicht der Ereignisse der Nacht nachzugeben, sie wirkte unendlich erschöpft. „Ich wollte, ich hätte dieses Etwas - was immer das war - nie zu Gesicht bekommen. Ich wünschte, ich wäre überhaupt nie hergekommen. Mir war das ganze ohnehin zuwider. Ich dachte nur, Eggs sei es wert.“ Damit warf sie einen Blick auf die reglose Gestalt auf dem Rücksitz. „Aber das stimmt nicht. Er ist es nicht wert. Niemand ist das wert.“

„Auch deine Erinnerungen könnte ich tilgen“, erbot sich Eric.

„Nein“, sagte Tara. „Ein paar der Dinge hier muß ich im Gedächtnis behalten, das ist wichtig. Das ist es auch wert, die Last der Erinnerung an die anderen Sachen zu tragen.“ Sie hörte sich an, als sei sie mit einem Schlag um zwanzig Jahre gealtert. Manchmal werden wir innerhalb weniger Minuten erwachsen. Mir war das so ergangen, als ich ungefähr sieben war und meine Eltern starben. Tara hatte es in dieser Nacht erlebt.

„Sie sind alle tot, bis auf mich, Eggs und Andy“, fuhr meine Freundin fort. „Haben Sie denn keine Angst, daß wir reden? Kommen Sie uns holen, wenn wir das tun?“

Eric und Bill wechselten vielsagende Blicke, woraufhin Eric näher an Tara herantrat. „Sieh mal“, hob er in einem ganz vernünftigen, beiläufigen Ton an, weshalb Tara den Fehler machte, zu ihm aufzusehen. Sobald sie ihm in die Augen sah, machte Eric sich daran, ihre Erinnerungen an diese Nacht zu löschen. Ich war einfach zu müde, um dagegen zu protestieren, was aber auch keinen Sinn gehabt hätte. Wenn Tara eine Frage wie die eben gestellte überhaupt aufbrachte, dann durfte man sie nicht mit dem Wissen um das Geschehene belasten. Ich hoffte sehr, sie würde die Fehler nicht wiederholen, die sie hierhergeführt hatten, selbst wenn man sie von der Erinnerung an die Folgen ihres Tuns befreite; auf keinen Fall jedoch durfte man zulassen, daß sie irgend etwas ausplapperte.

Tara, Eggs und Sam (der Eggs Hose ausgeborgt hatte) waren gerade rückwärts vom Grundstück gefahren, als Bill auch schon das Feuer aufbaute, durch das die Hütte abbrennen sollte. Es würde aussehen wie ein ganz normaler Hüttenbrand. Derweil war Eric auf der Veranda offenbar damit befaßt, Knochen zu zählen. Er wollte sichergehen, daß die Leichen vollständig genug waren, um bei einer eventuellen Untersuchung keinen Verdacht zu erregen. Als er seine Arbeit beendet hatte, ging er zu Andy, um nachzusehen, wie es mit ihm stand.

„Warum haßt Bill die Bellefleurs so?“ fragte ich ihn erneut, als er an mir vorbeikam.

„Das ist eine ganz alte Geschichte“, erwiderte Eric. „ Aus der Zeit vor Bills Wandlung.“ Andys Zustand schien ihm wohl zufriedenstellend, und er machte sich wieder an etwas anderem zu schaffen.

Ich hörte, wie sich ein Auto näherte, und sowohl Bill als auch Eric traten sofort heraus zu mir auf die Lichtung. Von einer Ecke der Hütte erklang bereits leises Knistern. „Wir können nur an einer Stelle Feuer legen“, sagte Bill zu Eric. „Wenn wir verschiedene Stellen gleichzeitig anstecken, finden die womöglich noch heraus, daß es Brandstiftung war. Wie ich die Fortschritte der polizeilichen Untersuchungsmethoden hasse!“

„Hätten wir nicht beschlossen, mit unserer Existenz an die Öffentlichkeit zu gehen, dann müßten die die Sache hier einem von denen in die Schuhe schieben“, entgegnete Eric mit einem Blick auf die Leichen auf der Veranda. „Aber wie die Dinge liegen, geben wir so attraktive Sündenböcke ab ... das ist schon ärgerlich! Besonders, wenn man bedenkt, daß wir soviel stärker sind als die.“

„He, Leute“, warf ich ein, „ich bin kein Marsmännchen, ich bin Mensch! Ich kann euch ganz genau hören.“ Wütend starrte ich die beiden an. Sie wirkten vielleicht zu einem Fünftel so, als würde das ihnen etwas ausmachen. Da stieg Portia aus ihrem Auto, um an die Seite ihres Bruders zu eilen. „Was habt ihr mit Andy gemacht?“ keuchte sie mit einer rauhen Stimme, die jeden Moment zu brechen drohte. „Ihr verdammten Vampire!“ Hektisch zupfte sie auf der Suche nach Bißspuren an Andys Hemdkragen herum.

„Sie haben ihm das Leben gerettet“, teilte ich ihr mit.

Eric warf Portia einen langen, abschätzenden Blick zu und fing dann an, die Autos der toten Nachtschwärmer zu durchsuchen. Er verfügte über sämtliche Autoschlüssel; wie er die bekommen hatte, mochte ich mir nicht ausmalen.

Bill trat zu Andy. „Wach auf“, befahl er so leise, daß man ihn wenige Meter entfernt kaum hören konnte.

Andy blinzelte. Er warf einen Blick zu mir herüber, fragte sich wohl, wie ich ihm hatte entkommen können und sah dann Bill so dicht neben sich stehen, was ihn erschrocken zusammenzucken ließ. Offenbar fürchtete er Vergeltungsmaßnahmen. Dann erkannte er Portia, die ebenfalls direkt neben ihm stand, und dann fiel sein Blick auf die Hütte.

„Es brennt“, bemerkte er langsam.

„Ja“, nickte Bill. „Alle sind tot. Bis auf die beiden, die in die Stadt zurückgefahren sind. Die wußten von nichts.“

„Dann ... haben diese Leute Lafayette wirklich umgebracht?“ „Ja“, mischte ich mich ein. „Mike und die Hardaways, und ich nehme an, daß Jan unter Umständen davon wußte.“

„Aber ich habe keine Beweise!“

„Ich glaube doch!“ rief Eric zu uns herüber, der neben Mikes Lincoln stand und sich über den offenen Kofferraum beugte.

Neugierig versammelten wir uns um den Wagen, um nun ebenfalls in den Kofferraum zu starren. Bill und Eric erkannten mit dem scharfen Blick der Vampire mühelos das Blut auf dem Boden, dazu noch blutverschmierte Kleidungsstücke und eine Brieftasche. Eric griff in den Wagen und schlug die Brieftasche ganz vorsichtig auf.

„Können Sie lesen, wem sie gehört?“ fragte Andy.

„Lafayette Reynold“, erwiderte Eric.

„Wir brauchen also nur den Wagen dort stehenzulassen. Wir können einfach gehen. Die Polizei wird finden, was da im Kofferraum liegt, und ich bin aus dem Schneider! Meine Unschuld ist bewiesen.“

„Oh Gott sei Dank!“ schluchzte Portia. Ihr wenig schönes Gesicht, umstanden von dem dicken kastanienbraunen Haar, fing einen Streifen Mondlicht auf, der durch die Bäume fiel. „Andy, laß uns nach Hause fahren!“

„Portia?“ sagte Bill. „Sieh mich an.“

Sie warf ihm einen kurzen Blick zu und schaute dann rasch weg. „Tut mir leid, daß ich dich so an der Nase herumgeführt habe“, sagte sie, wobei sich ihre Worte fast überschlugen. Es war ihr peinlich, sich bei einem Vampir entschuldigen zu müssen. „Ich wollte doch nur, daß einer der Menschen, die heute hier sind, mich einlädt. Ich wollte herausfinden, was hier vor sich geht.“

„Das hat dann Sookie für dich erledigt“, verkündete Bill.

Portia wandte ihren Blick mir zu. „Ich hoffe, es war nicht allzu schlimm“, sagte sie und überraschte mich damit nicht wenig.

„Es war wirklich schrecklich“, erwiderte ich. Portia zuckte zusammen. „Aber es ist vorbei.“

„Danke, daß du Andy geholfen hast“, sagte Portia tapfer.

„Ich habe nicht Andy geholfen. Ich habe Lafayette geholfen!“ fuhr ich sie an.

Sie holte tief Luft. „Natürlich“, sagte sie dann so würdevoll, wie es ihr unter den gegebenen Umständen möglich war. „Er war dein Kollege.“

„Er war mein Freund“, berichtigte ich sie.

Portias Rücken straffte sich. „Dein Freund“, wiederholte sie.

Mittlerweile brannte das Feuer in der Hütte lichterloh. Bald würde es hier von Polizei und Feuerwehr nur so wimmeln. Es wurde Zeit zu gehen.

Es entging mir nicht, daß weder Eric noch Bill sich erboten, Andys Erinnerungen zu löschen.

„Ihr solltet verschwinden“, riet ich dem Polizisten. „Am Besten wäre es, du führest zusammen mit Portia zurück in euer Haus und bätest eure Großmutter zu beschwören, daß ihr es die ganze Nacht über nicht verlassen habt.“

Ohne weitere Worte kletterten Bruder und Schwester in Portias Audi und fuhren weg. Eric faltete sich in die Corvette, um die Rückfahrt nach Shreveport anzutreten, während Bill und ich durch den Wald zu Bills Auto gingen, das er zwischen den Bäumen an der Straße versteckt hatte. Bill trug mich, wie er es nun einmal gerne tat. Es gibt Gelegenheiten, muß ich sagen, da gefällt mir das sehr gut; diese Nacht war so eine.

Es blieb nicht mehr viel Zeit bis Sonnenaufgang. Damit würde eine der längsten Nächte meines bisherigen Lebens enden. Ich lehnte mich in den Autositz zurück, so müde, daß mir eigentlich alles egal war.

„Wohin Kallisto wohl gegangen sein mag?“ fragte ich Bill.

„Das weiß ich nicht. Sie wandert von Ort zu Ort. Nicht viele Mänaden haben den Verlust ihres Gottes überlebt, und die, die es noch gibt, suchen sich Wälder, in denen sie umherstreifen können. Sie ziehen weiter, ehe ihre Anwesenheit entdeckt wird. Darin sind sie sehr gut. Sie lieben Krieg und Wahnsinn, man findet sie selten weit von einem Schlachtfeld entfernt. Ich glaube, sie würden alle in den Nahen Osten ziehen, wenn es dort mehr Wald gäbe.“

„Kallisto war hier, weil...?“

„Sie war auf der Durchreise. Vielleicht zwei Monate lang hat sie sich hier aufgehalten, und nun zieht sie weiter nach ... wer weiß, wohin? Zu den Everglades, oder den Fluß hoch in die Ozarks.“

„Ich verstehe wirklich nicht, wie Sam ... nun, mit ihr herumtollen konnte.“

„So nennst du das?“

Ich griff hinüber und stupste ihn in den Arm, was so war, als drücke man gegen Holz. „Ach du!“ sagte ich.

„Vielleicht wollte er ein wenig seine wilde Seite ausleben“, meinte Bill. „Es ist auch wirklich schwer für Sam, jemanden zu finden, der bereit ist, ihn in seiner wahren Natur anzunehmen.“ Es folgte eine bedeutungsschwangere Pause.

„So etwas ist aber auch wirklich nicht einfach“, erklärte ich dann, wobei ich daran denken mußte, wie Bill mit rosigen Wangen in die Villa in Dallas zurückgekehrt war. Ich schluckte. „Aber genauso schwer ist es, Liebende auseinanderzubringen“, fuhr ich fort. Ich erinnerte mich, wie mir zumute gewesen war, als ich zu hören bekam, Bill sei mit Portia zusammen. Ich erinnerte mich, wie ich reagiert hatte, als ich ihn bei diesem Footballspiel wiedersah. Ich streckte die Hand aus und drückte sanft seinen Oberschenkel.

Er lächelte, die Augen unverwandt auf die Straße gerichtet. Seine Fänge waren ein wenig ausgefahren.

„Hast du mit den Gestaltwandlern in Dallas alles regeln können?“ fragte ich nach einer Weile.

„Das hatte ich innerhalb von einer Stunde erledigt - oder vielmehr: Stan Davis hat es getan. Er hat ihnen für die Vollmondnächte für die nächsten vier Monate seine Ranch angeboten.“

„Das war aber nett von ihm!“

„Nun, es kostet ihn ja eigentlich nichts, und da er selbst nicht jagt, muß der Hirschbestand dort ohnehin dringend dezimiert werden, wie er mir erklärt hat.“

„Oh“, sagte ich verstehend und dann, eine Sekunde später: „Oooooh!“

„Sie jagen.“

„Klar. Verstehe.“

Als wir bei meinem Haus ankamen, war nicht mehr viel Zeit bis Sonnenaufgang. Eric würde es wohl gerade so eben bis Shreveport schaffen. Während Bill duschte, schmierte ich mir ein Brot mit Erdnußbutter und Marmelade, denn ich wußte schon nicht mehr, wann ich das letzte Mal etwas zu essen bekommen hatte. Dann putzte ich mir die Zähne.

Zumindest mußte Bill nicht in aller Eile irgendwohin aufbrechen. Er hatte im vergangenen Monat ein paar Nächte damit verbracht, sich in meinem Haus einen sicheren Platz zu schaffen. Dafür hatte er in meinem alten Zimmer, in dem ich so lange Jahre gewohnt hatte, bis meine Oma starb und ich in ihr Zimmer gezogen war, den Boden aus dem Schrank geschnitten und zu einer Luke umgebaut. Er konnte die Luke öffnen, in sein Versteck kriechen und die Tür wieder über sich schließen und außer mir ahnte niemand, was sich darunter verbarg. War ich noch wach, wenn er unter die Erde ging, stellte ich einen alten Koffer und ein paar alte Schuhe in den Schrank, damit es normaler aussah. In dem Hohlraum unter dem Schrankboden hatte Bill eine Kiste zum Schlafen stehen, denn da unten war es ziemlich eklig. Oft blieb er nicht dort, aber ein- oder zweimal hatte sich das Versteck schon als sehr praktisch erwiesen.

„Sookie?“ erklang Bills Stimme aus dem Badezimmer. „Komm. Ich habe Zeit, dich abzuschrubben.“

„Wenn du mich abschrubbst, kann ich hinterher nicht einschlafen.“

„Warum denn nicht?“

„Weil ich dann frustriert bin.“

„Frustriert?“

„Ja! Weil ich dann sauber bin, aber ... ungeliebt.“

„Die Sonne geht schon sehr bald auf“, mußte Bill zugeben. Er steckte den Kopf aus der Dusche. „Aber morgen nacht werden wir Zeit haben.“

„Wenn Eric uns nicht sagt, daß wir irgendwo hin müssen!“ murmelte ich finster, als Bills Kopf wieder sicher unter dem Wasserfall verschwunden war. Wie immer brauchte er fast mein ganzes heißes Wasser auf. Ich schälte mich mühsam aus den verdammten Shorts und nahm mir fest vor, sie gleich am nächsten Tag wegzuwerfen. Ich zog auch das T-Shirt aus und streckte mich auf dem Bett aus, um auf Bill zu warten. Zumindest hatte mein neuer BH die Sache heil überstanden. Ich drehte mich auf die Seite und schloß die Augen, um nicht vom Lichtstreifen geblendet zu werden, der unter der halboffenen Badezimmertür hervordrang.

„Schatz?“

„Du bist raus aus der Dusche?“ fragte ich verschlafen.

„Ja, seit zwölf Stunden schon.“

„Was?“ Ich riß die Augen auf. Draußen vor den Fenstern war es dunkel, wenn auch nicht stockfinster.

„Du bist eingeschlafen.“

Eine Decke lag auf mir, und ich trug immer noch den stahlblauen BH mit passendem Höschen. Ich kam mir vor wie ein alter, verschimmelter Laib Brot. Dann sah ich Bill an: Er war nackt.

„Bleib, wie du bist!“ sagte ich und suchte rasch das Badezimmer auf. Als ich zurückkam, lag Bill auf den Ellbogen gestützt auf dem Bett und wartete auf mich.

„Hast du den Fummel gesehen, den du bezahlt hast?“ wollte ich wissen und vollführte eine kleine Pirouette, damit er mich von allen Seiten bewundern und voll in den Genuß seiner Großzügigkeit kommen konnte.

„Wunderbar, aber für den Anlaß vielleicht doch etwas zu viel.“

„Was für ein Anlaß denn?“

„Den besten Sex deines Lebens.“

Tief in mir verspürte ich ein Gefühl reiner Lust, aber ich verzog keine Miene. „Bist du sicher? Der beste?“

„Aber ja!“ insistierte er, und seine Stimme wurde so glatt und kalt wie Wasser, das über Steine rinnt. „Da bin ich ganz sicher, und du kannst es auch sein.“

„Na, dann beweise es mir!“ sagte ich, ein ganz kleines Lächeln auf den Lippen.

Bills Augen lagen im Schatten, aber am Schwung seiner Lippen erkannte ich, daß er zurücklächelte. „Nur zu gern!“ gab er zurück.

Später hatte ich Mühe, wieder zu mir zu kommen. Bill lag dicht neben mir, ein Arm ruhte auf meinem Bauch, ein Bein hatte er mir über die Hüfte geworfen. Mein Mund war so müde, er schaffte es kaum, sich zu spitzen und Bill zu küssen. Bills Zunge leckte ganz sanft die Bißspuren auf meiner Schulter.

„Weißt du, was wir tun sollten?“ fragte ich so faul, daß ich gar nicht wußte, ob ich mich je wieder rühren wollte. „Na?“

„Die Zeitung holen.“

Eine Weile später löste Bill sich langsam von mir und schlenderte zur Vordertür. Die Frau, die mir die Zeitung bringt, fährt meine Auffahrt herauf und wirft die Zeitung grob in Richtung Veranda, weil ich ihr dafür ein großzügiges Trinkgeld zukommen lasse.

„Guck mal!“ sagte Bill dann, woraufhin ich die Augen öffnete. In den Händen hielt er einen großen, in Alufolie verpackten Teller; die Zeitung hatte er sich unter den Arm geklemmt.

Ich rollte vom Bett, und ganz automatisch begaben wir uns beide in die Küche. Während ich hinter Bill hertappte, zog ich meinen rosa Bademantel an. Mein Liebster ging im Adamskostüm. Ich genoß den Anblick.

„Ich habe eine Nachricht auf dem AB“, sagte ich, während ich die Kaffeemaschine anstellte. Damit war das Wichtigste erledigt, und ich pellte die Alufolie von dem Teller. Darunter kam ein hoher, gefüllter Kuchen mit Schokoladenguß zum Vorschein, reich mit Pekan-Nüssen bestückt und oben mit einem Sternenmuster verziert.

„Der Schokokuchen der alten Mrs. Bellefleur!“ flüsterte ich ehrfürchtig.

„Vom Anschauen weißt du, von wem der Kuchen ist?“

„Natürlich! Dieser Kuchen ist berühmt. Eine Legende. Nichts ist so lecker wie Mrs. Bellefleurs Schokokuchen. Wenn sie den beim Backwettbewerb auf dem Gemeindefest einreicht, steht eigentlich schon fest, wer den ersten Preis einheimst. Sie bringt ihn vorbei, wenn jemand gestorben ist. Jason sagt, ein Todesfall in unserer Gemeinde lohnt sich schon allein deswegen, weil man dann ein Stück von Mrs. Bellefleurs Kuchen bekommt.“

„Er riecht wunderbar!“ sagte Bill, was mich sehr erstaunte. Dann bückte er sich und schnupperte an dem Kuchen. Bill atmet ja nicht, weswegen ich noch nicht genau herausgefunden habe, wie er riechen kann, aber er kann es. „Wenn du das als Parfum trügest, würde ich dich auffressen.“

„Das hast du bereits.“

„Ich würde es glatt noch einmal tun.“

„Ich glaube nicht, daß ich das aushalten könnte.“ Bei diesen Worten goß ich mir eine Tasse Kaffee ein. Dann starrte ich auf den Kuchen, und allerhand Fragen gingen mir durch den Kopf. „Ich wußte nicht einmal, daß sie weiß, wo ich wohne.“

Bill drückte den Knopf meines AB. „Miß Stackhouse“, erklang da die Stimme einer sehr alten, sehr südstaatlichen Dame von Stand. „Ich habe geklopft, aber Sie waren wohl beschäftigt. Ich habe einen Schokoladenkuchen für Sie dagelassen, denn ich wußte nicht, wie ich Ihnen sonst für das, was Sie, wie Portia mir berichtete, für meinen Enkel Andrew getan haben, hätte danken sollen. Ein paar Leute waren in der Vergangenheit so nett, mir zu versichern, der Kuchen sei gut. Ich hoffe, er schmeckt Ihnen. Wenn ich Ihnen je zu Diensten sein kann, rufen Sie mich an.“

„Sie hat keinen Namen genannt.“

„Caroline Holliday Bellefleur erwartet, daß jeder sie an der Stimme erkennt.“

„Wer?“

Ich sah Bill an, der am Fenster lehnte, während ich am Tisch saß und aus einer der geblümten Tassen meiner Oma meinen Kaffee trank.

„Caroline Holliday Bellefleur“, wiederholte ich.

Bill konnte unmöglich blasser werden, als er ohnehin schon war, aber er war offensichtlich erschüttert. Mit einem Plumps ließ er sich auf den Stuhl fallen, der neben dem meinen stand. „Sookie? Tust du mir einen Gefallen?“

„Klar doch, Schatz. Was soll ich tun?“

„Geh rüber in mein Haus und hol mir aus dem Bücherschrank im Flur die Bibel.“

Bill schien so erschüttert, daß ich keine weiteren Fragen stellte. Wortlos schnappte ich mir meinen Schlüsselbund und fuhr so, wie ich war, nur mit dem Bademantel bekleidet, hinüber zu seinem Haus. Ich hoffte sehr, daß ich unterwegs niemandem begegnen würde. Aber es wohnen nicht viele Menschen an unserer schmalen Landstraße, und niemand von denen war an diesem Tag um vier Uhr morgens schon unterwegs.

Ich schloß die Tür auf, betrat Bills Haus und fand die Bibel da, wo er gesagt hatte. Vorsichtig nahm ich sie aus dem Bücherschrank, denn man konnte sehen, daß sie schon sehr alt war. Als ich das kostbare Stück die Stufen zur Eingangstür meines Hauses hinauftrug, war ich so nervös, daß ich fast gestolpert wäre. Bill saß noch genauso, wie ich ihn verlassen hatte. Als ich ihm die Bibel hinlegte, starrte er sie lange Zeit einfach nur an, und ich fragte mich schon, ob er überhaupt in der Lage sein würde, sie aufzuschlagen. Da er mich aber nicht um Hilfe bat, wartete ich einfach ab, was geschehen würde. Dann streckte er zögernd die Hand aus und seine weißen Finger strichen liebkosend über den abgegriffenen Ledereinband. Das Buch war groß und schwer, die in den Ledereinband gestanzten Buchstaben vergoldet und verschnörkelt.

Sanft öffnete Bill das Buch und blätterte die erste Seite um. Auf der nächsten Seite, die nun aufgeschlagen vor ihm lag, standen in unterschiedlicher Handschrift Eintragungen über Geburten und Sterbefälle in der Familie, die Tinte war stark verblaßt.

„Die stammen von mir“, flüsterte mein Vampir, wobei er auf ein paar der Zeilen deutete.

Mit einem dicken Kloß im Hals trat ich an seine Seite, um ihm über die Schulter zu sehen. Ich legte Bill die Hand auf die Schulter; so wollte ich ihn an das Hier und Jetzt binden.

Ich konnte die einzelnen Handschriften kaum entziffern.

William Thomas Compton, hatte seine Mutter geschrieben - oder vielleicht auch sein Vater. Geboren am 9. April 1840. Eine andere Hand hatte geschrieben: Gestorben am 25. November 1868.

„Du hast einen Geburtstag“, sagte ich - ausgerechnet so ein dummer Spruch! Ich hätte einfach nie gedacht, daß Bill einen Geburtstag haben könnte.

„Ich war der zweite Sohn meiner Eltern“, erklärte Bill. „Der einzige, der das Erwachsenenalter erreichte.“

Ich erinnerte mich daran, daß Robert, Bills älterer Bruder, im Alter von zwölf Jahren gestorben war. Zwei weitere Kinder waren bereits als Säuglinge zu Tode gekommen. Auf der Seite, auf der Bills Finger ruhten, waren all diese Geburten und Tode notiert worden.

„Sarah, meine Schwester, starb kinderlos.“ Auch daran erinnerte ich mich. „Der junge Mann, dem sie versprochen war, starb im Krieg. Alle jungen Männer starben im Krieg. Nur ich nicht. Ich überlebte, um später zu sterben. Das hier ist mein Todestag, soweit es meine Familie betrifft. Sarah hat das geschrieben.“

Ich preßte die Lippen ganz fest zusammen, um nur ja keinen einzigen Laut von mir zu geben. Irgend etwas in der Art, wie Bill redete, wie er die alte Bibel berührte, war kaum zu ertragen. Ich spürte, wie sich meine Augen langsam mit Tränen füllten.

„Hier steht der Name meiner Frau“, meinte er nun, wobei seine Stimme immer leiser wurde.

Ich beugte mich vor und las: Caroline Isabelle Holliday. Für eine Sekunde verrutsche das Zimmer um mich herum, bis mir klar wurde, daß das nicht sein konnte.

„Wir hatten Kinder“, sagte er. „Wir hatten drei Kinder.“

Auch ihre Namen standen da. Thomas Charles Compton, geb. 1859. Sie war also unmittelbar nach der Heirat schwanger geworden.

Ich würde nie ein Kind von Bill bekommen können.

Sarah Isabelle Compton, geb. 1861. Benannt nach ihrer Tante und ihrer Mutter. Sie war zur Welt gekommen, als Bill in den Krieg ziehen mußte. Lee Davis Compton, geb. 1866. Ein Baby, gleich nach seiner Heimkehr gezeugt. Gest. 1867, war in einer anderen Handschrift hinzugefügt worden.

„Damals starben Säuglinge wie die Fliegen“, flüsterte Bill. „Wir waren so arm nach dem Krieg, und es gab keine Medikamente.“

Ich fühlte mich wie ein kleines, heulendes Häufchen Elend und wäre am liebsten gegangen, um Bill meinen Anblick zu ersparen. Aber wenn er diese Erinnerungen ertragen konnte, dann mußte ich das auch können. Irgendwie schien mir nichts anderes übrig zu bleiben.

„Die anderen beiden Kinder?“ wollte ich wissen.

„Sie haben überlebt“, sagte er, und die Spannung in seiner Stimme ließ ein wenig nach. „Da war ich bereits fort. Tom war neun, als ich starb, und Sarah war sieben. Ein Blondschopf wie ihre Mutter.“ Bill lächelte leise, ein Lächeln, das ich noch nie auf seinem Gesicht gesehen hatte. Er sah fast menschlich aus. Es war, als sähe ich ein ganz anderes Wesen hier in meiner Küche sitzen, ganz und gar nicht mehr die Person, die ich noch vor einer knappen Stunde so ausgiebig geliebt hatte. Ich zog ein Kleenex aus der Schachtel auf der Arbeitsplatte und tupfte mir das Gesicht ab. Auch Bill weinte, und ich reichte ihm ebenfalls ein Kleenex. Erstaunt schaute er es sich an. Er schien etwas anderes erwartet zu haben - ein Baumwolltaschentuch vielleicht, mit einem aufgestickten Monogramm. Dann tupfte er sich die Wangen ab, woraufhin das Kleenex sich rosa verfärbte.

„Ich habe kein einziges Mal nachgesehen, was aus ihnen geworden ist“, sagte er kopfschüttelnd. „Ich habe die Trennung endgültig vollzogen. Ich bin auch nicht wiedergekommen, solange noch die Chance bestand, daß einer von ihnen am Leben war. Das wäre zu grausam gewesen.“ Er las weiter, wobei sein Finger die Seite hinunterfuhr.

„Mein Nachkomme Jessie Compton, von dem ich das Haus bekommen habe, war der letzte Nachkomme in direkter Linie“, erklärte er. „Auch von der Seite meiner Mutter her gab es keine direkten Verwandten mehr. Die Loudermilks, die hier immer noch leben, sind nur entfernt verwandt. Aber Jessie stammte von meinem Sohn Tom ab, und offenbar hat meine Tochter Sarah 1881 geheiratet. Sie bekam ein Baby im Jahre - Sarah hatte ein Baby! Sie hatte vier Kinder! Aber eins von ihnen kam tot zu Welt.“

Ich konnte Bill nicht einmal ansehen. Statt dessen starrte ich aus dem Fenster. Es regnete. Meine Oma hatte ihr altes Blechdach sehr geliebt, also hatten wir das Haus, als es neu gedeckt werden mußte, wieder mit Blech decken lassen, und das Geräusch von Regentropfen, die auf dieses Dach trommelten, empfand ich in der Regel als das beruhigendste Geräusch der Welt. In dieser Nacht erlebte ich das nicht so.

„Schau, Sookie“, sagte Bill und wies auf einen Eintrag. „Sieh doch! Die Tochter meiner Tochter Sarah, die nach ihrer Großmutter Caroline genannt worden war, heiratete einen ihrer Cousins, Matthew Philips Holliday, und ihr zweites Kind hieß Caroline Holliday.“ Er strahlte.

„Dann ist die alte Mrs. Bellefleur deine Urenkelin?“

„Ja“, sagte er, als könne er es selbst nicht glauben.

„Dann ist Andy“, fuhr ich fort, ehe ich es mir anders überlegen konnte, „dein Ur-Ur-Urenkel, und Portia ...“

„Ja“, wiederholte Bill, schon weit weniger glücklich.

Ich wußte wirklich nicht, was ich sagen sollte, also sagte ich, was selten vorkommt, lieber gar nichts. Nach einer Weile bekam ich das Gefühl, es sei besser, mich ein wenig rar zu machen, weswegen ich erneut versuchte, mich an Bill vorbei aus der engen Küche zu quetschen.

„Was brauchen die drei?“ fragte Bill und packte mich am Handgelenk.

Na gut. „Geld“, sagte ich sofort. „Mit ihren persönlichen Problemen kannst du ihnen nicht helfen, aber sie sind arm, und zwar sehr, was Bargeld betrifft. Die alte Mrs. Bellefleur will ihr Haus nicht aufgeben, und das verschlingt jeden einzelnen Penny.“

„Ist sie stolz?“

„Ich denke, das konntest du schon ihrer Nachricht auf meinem Anrufbeantworter entnehmen! Ich weiß genau, daß sie mit zweitem Namen Holliday heißt, wer das aber nicht weiß, denkt sicher, ihr zweiter Name sei 'Stolz'.“ Bei diesen Worten warf ich Bill einen schrägen Blick zu. „Das liegt wohl in der Familie.“

Irgendwie schien es Bill besser zu gehen, seit er wußte, daß er etwas für seine Nachkommen würde tun können. Nun würde er wohl ein paar Tage in Erinnerungen schwelgen; ich wollte ihm das nicht übelnehmen. Sollte er aber planen, sich Andys und Portias Rettung permanent auf die Fahnen zu schreiben, dann könnte sich das durchaus zu einem Problem entwickeln.

„Bis jetzt konntest du den Namen Bellefleur nicht leiden“, sagte ich, und es überraschte mich selbst, daß ich dieses Thema ausgerechnet jetzt zur Sprache brachte. „Warum nicht?“

„Als ich den Vortrag im Verein deiner Oma hielt, erinnerst du dich, bei den Nachkommen ruhmreicher Toter?“

„Sicher.“

„Da habe ich die Geschichte von dem verwundeten Soldaten erzählt, der mitten in einem Feld lag und nicht aufhören wollte, um Hilfe zu schreien, und ich habe erzählt, wie mein Freund Tolliver versucht hat, ihn zu retten?“

Ich nickte.

„Tolliver kam bei dem Versuch ums Leben“, sagte Bill mit ausdrucksloser Stimme, „und der verwundete Soldat hat gleich nach Tollivers Tod wieder angefangen, um Hilfe zu rufen. In der Nacht gelang es uns, ihn zu retten. Es war Jebediah Bellefleur. Er war damals siebzehn.“

„ Ach, mein Gott - und mehr hattest du bis heute zu den Bellefleurs nicht im Kopf?“

Bill nickte.

Ich versuchte krampfhaft, mir etwas Bedeutungsvolles einfallen zu lassen, das ich darauf hätte sagen können. Irgend etwas über den Gang der Welt. Der Mensch denkt, doch Gott lenkt? Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus?

Statt dessen versuchte ich erneut, die Küche zu verlassen. Aber Bill packte mich am Arm und zog mich an sich. „Ich danke dir.“

Das war nun das letzte, was ich zu hören erwartet hätte. „Wofür denn?“

„Du hast dafür gesorgt, daß ich das Richtige tat, obgleich ich keine Vorstellung davon hatte, womit ich letztlich belohnt werden würde.“

„Bill, ich bin doch gar nicht in der Lage, dafür zu sorgen, daß du irgend etwas tust!“

„Du hast dafür gesorgt, daß ich wie ein Mensch denke, als sei ich immer noch am Leben.“

„Das Gute, das du tust, kommt aus dir, nicht von mir.“

„Ich bin Vampir, Sookie. Ich bin schon viel länger Vampir, als ich vorher Mensch war. Ich habe oft Dinge getan, die dich erschütterten. Um die Wahrheit zu sagen, manchmal verstehe ich nicht, warum du so handelst, wie du es tust, weil es schon so lange her ist, daß ich ein Mensch war. Es ist nicht immer angenehm, sich daran zu erinnern, was es bedeutete, ein Mann zu sein. Manchmal will ich nicht daran erinnert werden.“

Das war mir zu hoch. „Ich weiß nicht, ob es recht oder unrecht ist, was ich tue, aber ich weiß nicht, wie ich anders sein könnte“, sagte ich. „Ich wäre todtraurig, wenn es dich nicht gäbe.“

„Wenn mir irgend etwas zustößt“, sagte Bill, „dann solltest du zu Eric gehen.“

„Das hast du schon einmal gesagt“, stellte ich fest. „Wenn dir irgend etwas zustößt, muß ich zu überhaupt niemandem gehen. Ich bin ein eigenständiger Mensch. Ich darf selbst entscheiden, was ich tue. Du mußt einfach dafür sorgen, daß dir nichts zustößt.“

„Wir werden in den nächsten Jahren noch Arger mit der Bruderschaft bekommen“, erklärte Bill. „Wir werden in einer Weise handeln müssen, die für dich als Menschen abstoßend sein könnte, und auch mit deinem Beruf sind Gefahren verknüpft.“ Damit meinte er nicht meinen Beruf als Kellnerin!

„Darum werden wir uns kümmern, wenn es soweit ist.“ Auf Bills Schoß zu sitzen war toll, besonders, da er immer noch nackt war. Mein Leben hatte nicht viele wunderbare Augenblicke vorzuweisen gehabt, bis ich Bill kennenlernte. Nun ergab sich jeden Tag ein wundervoller Augenblick, oder auch zwei.

In der schwach beleuchteten Küche, in der der Kaffee (auf seine Art) ebenso wundervoll roch wie der Schokoladenkuchen und wo der Regen aufs Dach trommelte, erlebte ich einen wunderbaren Augenblick mit meinem Vampir, einen, könnte man sagen, warmen, zwischenmenschlichen Augenblick.

Aber vielleicht sollte ich gar nicht in diesen Begriffen denken, sagte ich mir, während ich meine Wange an Bills rieb. An diesem Abend hatte Bill sehr menschlich ausgesehen, und ich ... nun, als wir uns auf den sauberen Laken meines Bettes geliebt hatten, da hatte ich sehen können, wie Bills Haut in der Dunkelheit schimmerte. In der ihr eigenen wundervollen, nicht von dieser Welt stammenden Art - und die meine ebenso.