Kapitel 5

Es gab zahlreiche Menschen, denen es gründlich mißfallen hatte, feststellen zu müssen, daß sie den Planeten mit Vampiren teilten, auch wenn sie das ja - allerdings zugegebenermaßen ohne es zu wissen - immer schon getan hatten. Nun, da diese Menschen um die Existenz der Untoten wußten, waren sie fest entschlossen, alle Vampire zu vernichten. Was die Wahl der Methoden anging, mit der sie ihr Vorhaben umsetzen wollten, so waren diese Menschen auch nicht wählerischer als etwa ein abtrünniger Vampir, was dessen Wahl der Waffen betraf.

Als abtrünnigen Vampir bezeichnete man diejenigen Untoten, denen der Fortschritt verhaßt war, die den alten Zeiten nachtrauerten und diese wieder haben wollten. Diese Abtrünnigen hatten die Menschheit gar nicht von ihrer Existenz in Kenntnis setzen wollen, ebenso wenig, wie bestimmte Menschen bereit gewesen waren, die Existenz von Vampiren zur Kenntnis zu nehmen. Abtrünnige Vampire weigerten sich, das synthetische Blut zu trinken, das heutzutage für Vampire die Ernährungsgrundlage darstellt, und waren der festen Überzeugung, für Vampire läge die einzige Hoffnung auf eine Zukunft im erneuten Untertauchen in der Versenkung, in der Rückkehr zur geheimen Existenz, zur Unsichtbarkeit. Es kam vor, daß abtrünnige Vampire aus lauter Jux und Tollerei Menschen abschlachteten; sie legten es darauf an und sähen es gerne, wenn man sie und ihresgleichen wieder verfolgen würde. Sinnloses Blutvergießen dient den abtrünnigen Vampire als Mittel, Vampire, die eine bürgerliche Existenz anstrebten, davon zu überzeugen, das sei gar nicht möglich und der Weg in die Zukunft für Vampire könne nur einer im Verborgenen sein. Diese Vampire sahen die Verfolgung, unter der alle Untoten früher zu leiden hatten, noch dazu als eine Art Geburtenkontrolle.

Von Bill erfuhr ich zusätzlich noch, daß es Vampire gab, die nach einem langen Leben von schlimmer Reue oder aber auch von Langeweile geplagt wurden. Diese sogenannten Abschwörer legten es darauf an, der Sonne 'entgegenzutreten' - das ist der Vampirbegriff für Selbstmord. Ein Vampir, der der Sonne entgegentreten will, möchte sich umbringen, indem er sich bei Tagesanbruch eben nicht verbirgt, sondern weiterhin draußen unterwegs ist.

Wieder einmal machte mich der Liebste, den ich mir ausgesucht hatte, mit Dingen bekannt, von denen ich sonst nie im Leben etwas mitbekommen hätte. Von denen ich ja auch sonst nichts hätte mitbekommen müssen! Ich hätte mir, wäre ich nicht mit der Gabe oder Behinderung der Telepathie zur Welt gekommen, wahrscheinlich in meinen kühnsten Träumen nicht ausmalen können, mit jemandem zusammen zu sein, der bereits verstorben war. Aber so, wie die Dinge bei mir standen, galt ich für das Gros der menschlichen Männer als abnormal, als Paria sozusagen. Sicher kann sich jeder vorstellen, wie unmöglich es ist, mit jemandem auszugehen, dessen Gedanken man lesen kann! Als ich Bill traf, begann die glücklichste Zeit meines Lebens. Aber zweifellos hatte ich in den paar Monaten, in denen ich jetzt mit ihm zusammen war, auch mehr um die Ohren gehabt als in den ganzen vorherigen fünfundzwanzig Jahren meiner Existenz. „Ihr seid also der Meinung, Farrell sei bereits nicht mehr am Leben?“ fragte ich ihn, wobei ich mich bemühte, mich ganz auf die vorliegende Krise zu konzentrieren. Ich stellte diese Frage nur ungern, aber sie mußte einfach gestellt werden.

.Vielleicht“, sagte Stan nach einer langen Pause.

.Vielleicht halten sie ihn versteckt“, ergänzte Bill. „Wir wissen, wie gern diese Leute die Presse dabeihaben, wenn eine ... Zeremonie stattfindet.“

Wieder starrte Stan eine Weile vor sich hin. Dann erhob er sich. „Derselbe Mann war in der Bar und auf dem Flugplatz“, sagte er und es hörte sich an, als würde er diese Worte an sich selbst richten. Dann fing Stan Davis, der Obervampir von Dallas, der aussah wie ein strebsamer Stubenhocker, an, nervös im Zimmer auf und ab zu laufen. Das machte mich wahnsinnig, was ich aber unmöglich so deutlich sagen konnte. Immerhin war Stan hier in seinem eigenen Haus, und sein 'Bruder' war verschwunden. Aber es fällt mir schwer, lange, unheilschwangere Schweigeminuten zu ertragen. Außerdem war ich müde und wollte ins Bett.

„Also!“ sagte ich, wobei ich mir alle Mühe gab, frisch und munter zu klingen. „Woher wußten die, daß ich am Flughafen sein würde?“

Wissen Sie, was schlimmer ist als ein Vampir, der einen anstarrt? Zwei Vampire, die einen anstarren!

„Wenn sie rechtzeitig erfahren wollten, wann und wie du ankommst... es gibt einen Verräter!“ erklärte Stan, woraufhin die Luft im Zimmer vor lauter Spannung zu vibrieren und Funken zu sprühen schien.

Mir jedoch kam die Idee, daß alles auch wesentlich undramatischer verlaufen sein mochte. Ich schnappte mir den Notizblock, der auf dem Tisch lag und schrieb darauf: „VIELLEICHT WERDEN SIE ABGEHÖRT.“ Daraufhin glotzten die beiden Vampire mich an, als hätte ich die Unhöflichkeit besessen, ihnen einen Big Mäc anzubieten. Vampire verfügen als Individuen über unglaubliche und vielfältige Fähigkeiten und Talente. Oft fehlt ihnen aber das Verständnis dafür, daß auch die Menschheit ein paar Fähigkeiten entwickelt hat und über einige Techniken verfügt. Stan und Bill warfen einander skeptische Blicke zu, aber keiner von ihnen hatte einen praktischen Vorschlag parat.

Na, dann eben nicht! Ich kannte so etwas ja auch nur aus Filmen, aber ich ging davon aus, daß derjenige, der in diesem Haus eine Wanze plaziert hatte, es dabei eilig gehabt und vermutlich ziemliche Ängste ausgestanden hatte. Es war also wahrscheinlich, daß die Wanze nicht allzuweit entfernt und nicht allzu geschickt versteckt angebracht worden war. Also schälte ich mich aus der grauen Kostümjacke und streifte die Pumps ab. Ich war ja nur ein Mensch, was hieß, ich hatte mir nichts zu vergeben, in Stans Augen zumindest; also ließ ich mich auf alle Viere fallen, schlüpfte unter den Tisch und kroch dort von einem Ende zum anderen, wobei ich die Drehstühle zur Seite schob, wenn sie mir im Weg standen. Zum bestimmt millionsten Mal an diesem Tag wünschte ich, ich hätte eine Hose an.

Nur ein paar Meter von dem Stuhl entfernt, auf dem Stan gesessen hatte, fiel mir etwas Merkwürdiges ins Auge. Dort befand sich an der Unterseite des heilen Holztischs eine dunkle Erhebung. Diese sah ich mir so genau an, wie mir das ohne Zuhilfenahme einer Taschenlampe möglich war. Um einen alten Kaugummi handelte es sich nicht!

Nachdem ich die kleine mechanische Abhörvorrichtung gefunden hatte, wußte ich nicht, wie ich weiter vorgehen sollte. Also kroch ich etwas staubiger als zuvor wieder unter dem Tisch hervor und fand mich direkt zu Stans Füßen wieder. Er streckte mir die Hand hin, die ich widerstrebend ergriff. Stan zog ganz sanft an mir - oder zumindest hatte es den Anschein, als zöge er sanft. Urplötzlich jedoch stand ich auf den Füßen, dem Obervampir direkt gegenüber. Stan war nicht groß, und so blickte ich ihm länger in die Augen, als ich eigentlich je vorgehabt hatte. Daraufhin hielt ich mir einen Finger in Augenhöhe vor das Gesicht, um sichergehen zu können, daß Stan auch mitbekam, was ich tat, und zeigte dann mit demselben Finger unter den Tisch.

In Windeseile hatte Bill das Zimmer verlassen. Stans farbloses Gesicht wirkte womöglich noch blasser als sonst: Seine Augen sprühten Funken. Nervös irrte mein Blick im Zimmer umher, um Stan nicht direkt ansehen zu müssen. Ich mochte ungern diejenige sein, auf der sein Blick ruhte, während sein Verstand die Information verarbeitete, daß jemand in seinem Audienzzimmer eine Wanze plaziert hatte. Irgendwer hatte ihn verraten - nur nicht so, wie er zuerst gedacht hatte.

Panisch grübelte ich nach, wie sich meine Lage wohl verbessern ließe. Ich strahlte Stan an; ich langte völlig automatisch hoch, um den Sitz meines Pferdeschwanzes zu überprüfen, wobei ich feststellte, daß mein Haar ja immer noch in diesem komplizierten Knoten hinten am Kopf steckte, der nun allerdings nicht mehr ganz so ordentlich saß. Also befaßte ich mich mit meinem Haar; das bot eine gute Ausrede dafür, konzentriert auf den Boden zu starren.

Ich war ziemlich erleichtert, als Bill zurückkam, begleitet von Isabel und dem Mann, der vorhin in der Küche Geschirr abgewaschen hatte. Nun trug dieser Tellerwäscher eine Schüssel voll Wasser. „Stan?“ sagte Bill laut und deutlich, „so leid es mir tut - ich glaube, Farrell ist inzwischen tot. Wenn wir die Informationen zusammenfassen, die wir heute erhalten haben, müssen wir einfach davon ausgehen. Also werde ich morgen mit Sookie nach Louisiana zurückkehren, es sei denn, Sie benötigten uns noch in einer anderen Sache.“ Während Bill sprach, deutete Isabel auf den Tisch und der Mann, der mit den beiden Vampiren gekommen war, stellte seine Schüssel Wasser dort ab.

„Ich brauche Sie nicht mehr“, sagte Stan, dessen Stimme so kalt wie Eis war. „Sie können wieder nach Hause fahren, und schicken Sie mir Ihre Rechnung. In dieser Frage war Eric, Ihr Herr und Meister, ja unerbittlich. Irgendwann werde ich mich einmal mit ihm treffen müssen.“ Das klang, als plane Stan, ein solches Treffen für Eric sehr unerfreulich verlaufen zu lassen.

„Du dummer Mensch!“ rief da mit einem Mal Isabel. „Du hast mein Glas umgekippt!“ Im selben Moment langte Bill an mir vorbei, pflückte die Wanze von der Tischunterseite und ließ sie in die Schüssel fallen. Dann packte Isabel die Schüssel vorsichtig mit beiden Händen und verließ das Zimmer, sorgsam darauf bedacht, auch ja den Inhalt nicht zu verschütten. Der Mann, der mit ihr zusammen gekommen war, blieb zurück.

Letztlich waren wir unsere Wanze ja recht einfach losgeworden, und unter Umständen hatten sich die, die uns zuhörten, von unserer inszenierten kleinen Unterhaltung auch in die Irre führen lassen. Nun, wo die Wanze nicht mehr unter uns weilte, entspannten wir uns alle sichtlich. Selbst Stan wirkte plötzlich nicht mehr ganz so furchterregend.

„Laut Isabel haben Sie Anlaß zu der Annahme, Farrell sei von der Bruderschaft entführt worden“, sagte nun der Mann, der mit Bill und Isabel gekommen war. „Vielleicht können die junge Dame hier und ich ja morgen in die Zentrale der Bruderschaft gehen, um herauszufinden, ob in nächster Zeit eine Zeremonie geplant ist.“

Bill und Stan sahen ihn nachdenklich an.

„Gute Idee“, meinte Stan dann. „Als Pärchen würdet ihr weniger auffallen.“

„Was denkst du, Sookie?“ wollte Bill wissen.

„Von euch kann da niemand hingehen“, sagte ich. „Vielleicht können wir uns den genauen Lageplan der Zentrale einprägen, wenn wir dort sind. Falls ihr wirklich denkt, Farrell könnte dort gefangengehalten werden.“ Wenn es mir gelang herauszufinden, wo in der Zentrale der Bruderschaft sich welche Räume und möglichen Verstecke befanden, dann konnte ich vielleicht verhindern, daß die Vampire die Zentrale angriffen. Das würden sie nämlich ansonsten mit Sicherheit tun! Kein Vampir ging in einer solchen Situation zum nächsten Polizeirevier und erstattete dort Vermißtenanzeige in der Hoffnung; die Polizei würde dazu zu bewegen sein, die Zentrale der Bruderschaft zu durchsuchen. Die Vampire von Dallas mochten ja anstreben, sich ausschließlich innerhalb des von Menschen geschaffenen Gesetzesrahmens zu bewegen, um sich in Gänze der Vorteile erfreuen zu können, die das bürgerliche Leben bietet - sollte jedoch unsere Vermutung zutreffen und in der Zentrale der Bruderschaft der Sonne saß wirklich ein Vampir aus Dallas als Gefangener in der Falle, dann würde das eine Menge Menschen das Leben kosten. Vielleicht gelang es mir ja, ein solches Blutvergießen zu verhindern, indem ich herausfand, wo sich der vermißte Farrell aufhielt.

„Wenn es stimmt, daß der tätowierte Vampir, der mit Farrell zusammen in der Bar war, ein Abschwörer ist und plant, der Sonne entgegenzutreten und Farrell mitzunehmen“, sagte Bill, „und wenn die entsprechende Zeremonie von der Bruderschaft vorbereitet wird, dann können wir davon ausgehen, daß der Mann, der sich als Priester verkleidet hat, um dich am Flughafen zu entführen, für die Bruderschaft arbeitet. Das heißt, die Bruderschaft kennt dich. Du wirst die Perücke tragen müssen.“ Bei den letzten Worten umspielte ein zufriedenes Lächeln Bills Lippen. Das mit der Perücke war seine Idee gewesen.

Eine Perücke bei dieser Hitze! Das hatte mir gerade noch gefehlt. Ich versuchte, nicht allzu verdrossen dreinzuschauen, denn immerhin war es besser, mir juckte der Kopf, als man erkannte mich in der Zentrale der Bruderschaft als die Frau wieder, die sich mit Vampiren eingelassen hatte. „Wahrscheinlich ist es wirklich besser, wenn noch ein Mensch mitkommt“, sagte ich, auch wenn mir die Tatsache, daß ich so einen weiteren Menschen einer Gefahr aussetzte, unendlich leid tat.

„Der Mann ist zur Zeit Isabels Liebhaber“, sagte Stan. Dann schwieg er. Wahrscheinlich funkte er Isabel jetzt an - oder tat, was immer er sonst tun mochte, wenn er mit seinen Untergebenen Kontakt aufnehmen wollte.

Kurz darauf glitt dann in der Tat Isabel ins Zimmer. Bestimmt war es extrem praktisch, andere so herbeizitieren zu können. Man brauchte weder Gegensprechanlage noch Telefon. Welche Reichweite diese Befehle wohl haben mochten - wie weit durfte ein anderer Vampir entfernt sein, wenn Stans Signale ihn erreichen sollten? Jedenfalls war ich ziemlich froh, daß Bill nicht auf diese Art und Weise mit mir kommunizieren konnte, denn sonst wäre ich mir wie ein Sklavenmädchen vorgekommen. Ob Stan wohl auch Menschen so herbeirufen konnte? Allerdings war ich nicht sicher, ob ich es herausfinden wollte.

Der Mann im Zimmer reagierte auf Isabel wie ein Hund, der Witterung von seinem Lieblingswild aufgenommen hat. Oder wie ein hungriger Mann, der das saftige Steak schon vor sich stehen hat, aber noch abwarten muß, bis die Gastgeberin das Dankgebet gesprochen hat. Man sah jedenfalls förmlich, wie ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Ich konnte nur hoffen, daß ich nicht auch so aussah, wenn ich mit Bill zusammen war!

„Isabel, dein Mann hat sich bereiterklärt, zusammen mit Sookie die Zentrale der Bruderschaft aufzusuchen. Meinst du, er kann überzeugend einen frisch Bekehrten spielen?“

„Ja, ich glaube, dazu ist er in der Lage“, erwiderte Isabel, wobei sie dem Mann in die Augen starrte.

„Du kannst gehen. Nein - sag mir erst noch, ob sich heute abend Besucher im Haus aufhalten.“

„Ja, einer. Aus Kalifornien.“

„Wo ist er jetzt?“

„Im Haus.“

„War er in diesem Zimmer?“ Natürlich hätte es Stan gefallen, wenn derjenige, der die Wanze plaziert hatte, ein Fremder gewesen wäre.

„Ja.“

„Bring ihn her.“

Fünf Minuten später kam Isabel zurück, gefolgt von einem großen blonden Vampir. Der war bestimmt zwei Meter zwanzig groß, vielleicht sogar noch größer. Er war muskulös, glattrasiert, und sein Haupt zierte eine dichte, weizenblonde Mähne. Sobald ich einen Blick auf ihn geworfen hatte, schlug ich die Augen nieder und studierte angelegentlich den Boden vor meinen Füßen. Auch Bill, der neben mir stand, schien wie erstarrt und verharrte reglos.

Isabel sagte: „Das ist Leif.“

„Leif“, sagte Stan mit samtweicher Stimme. „Willkommen in unserem Nest. Wir haben ein kleines Problem heute abend.“

Ich starrte auf meine Zehen und wünschte mir - mehr als ich mir je in meinem Leben irgend etwas gewünscht hatte -, ich wäre allein mit Bill, und sei es nur für zwei Minuten. Dann hätte ich ihn nämlich fragen können, was zum Teufel hier gespielt wurde. Dieser große blonde Vampir war bestimmt nicht aus Kalifornien, und Leif hieß er auch nicht.

Vor uns stand Eric.

Nun tauchte Bills Hand in meinem Blickfeld auf und schloß sich um die meine. Sanft und vorsichtig drückte mein Liebster meine Finger, und ich erwiderte den Druck. Dann schlang er die Arme um mich, und ich ließ mich gegen ihn sinken. Wie gut es tat, sich etwas anzulehnen! Das hatte ich weiß Gott gebraucht.

„Wie kann ich behilflich sein?“ erkundigte sich Eric höflich - nein, Moment: nicht Eric, sondern Leif.

„Allem Anschein nach ist jemand in dieses Zimmer eingedrungen und hat sich als Spion betätigt.“

Welch eine nette, harmlose Art, um den heißen Brei herumzureden. Stan schien die Sache mit der Wanze im Moment nicht an die große Glocke hängen zu wollen. Angesichts der Tatsache, daß sich mit Sicherheit ein Verräter im Haus befand, war das keine so schlechte Idee.

„Ich bin Gast in deinem Nest und habe weder mit dir noch mit einem der Deinen irgendwelche Probleme.“ Leif klang völlig ruhig und überzeugend. Das fand ich eine beeindruckende Leistung, denn allein die Tatsache, daß er sich hier unter falschem Namen eingeschlichen hatte, war ja schon der reinste Schwindel und ein Affront und diente höchstwahrscheinlich der Wahrung irgendwelcher höchst geheimer vampirischer Eigeninteressen.

„Verzeihen Sie bitte!“ warf ich rasch ein, wobei ich versuchte, so zerbrechlich und menschlich wie irgend möglich zu klingen.

Stan schien nicht erfreut über die Unterbrechung, im Gegenteil: Er wirkte reichlich verärgert. Zum Teufel mit ihm!

„Das - das Ding, das betreffende - ist doch bestimmt nicht erst heute hier angebracht worden“, sagte ich, wobei ich versuchte, das so klingen zu lassen, als sei ich sicher, daß auch Stan sich bereits über diese Tatsache klar geworden war. „Sonst hätte man keine Einzelheiten über unsere Ankunft in Dallas erfahren können.“

Stan fixierte mich mit ausdrucksloser Miene.

Nun steckte ich so weit in der Tinte, da konnte mir eh schon alles egal sein! „Sie müssen mich jetzt entschuldigen, ich bin völlig erschöpft. Könnte mich Bill bitte ins Hotel bringen?“

„Isabel wird dich zurückbringen“, sagte Stan. „Allein.“

„Nein, Sir.“

Hinter den Brillengläsern aus Fensterglas schossen Stans Augenbrauen steil empor. „Nein?“ Das hörte sich an, als sei dieses Wort für ihn etwas völlig Neues.

„In meinem Vertrag ist festgeschrieben, daß ich keinen einzigen Schritt tue, es sei denn in Begleitung eines Vampirs aus meiner Region. Dieser Vampir ist Bill. Nachts gehe ich ohne ihn nirgendwo hin.“

Wieder fixierte mich Stan ausführlich und mit unnachgiebiger Miene. Ich war froh, daß ich diejenige gewesen war, die die Wanze entdeckt hatte. Ich war froh, daß ich mich auch anderweitig als nützlich erwiesen hatte, denn sonst hätte ich in Stans Wigwam wohl nicht lange überlebt. „Geht“, sagte der Obervampir von Dallas schließlich, woraufhin Bill und ich keine Zeit verschwendeten. Wir würden Eric ohnehin nicht helfen können, sollte Stan auf die Idee kommen, ihn zu verdächtigen. Im Gegenteil, es war durchaus möglich, daß wir ihn verrieten, ohne es zu wollen. Das galt besonders für mich: ein Wort, eine falsche Geste, die Stan sah, und schon wäre es geschehen. Immerhin beobachten und studieren die Vampire uns Menschen schon seit Jahrhunderten, und zwar wie Raubtiere, die versuchen, möglichst viel über das Wild herauszufinden, das ihnen als Beute dient.

Isabel ging mit uns aus dem Haus. Wir kletterten wieder in ihren Lexus, um uns zurück ins Silent Shore fahren zu lassen. Man konnte die Straßen von Dallas zwar auch um diese Uhrzeit nicht als leer bezeichnen, aber es ging wesentlich ruhiger zu als noch vor ein paar Stunden bei unserer Ankunft im Nest. Ich schätzte, bis zum Sonnenaufgang würden uns höchstens noch zwei Stunden bleiben.

„Danke“, sagte ich höflich, als wir unter dem Baldachin des Hotels hielten.

„Mein Mensch wird dich morgen um fünfzehn Uhr abholen kommen“, entgegnete Isabel.

Ich mußte mich zusammenreißen, um nicht die Hacken zusammenzuschlagen und der Vampirin ein forsches 'Jawoll, die Dame!' zuzurufen. Statt dessen teilte ich ihr zivilisiert mit, fünfzehn Uhr sei mir recht. „Wie heißt der Mann eigentlich?“ wollte ich dann noch wissen.

„Sein Name ist Hugo Ayres“, antwortete Isabel.

„Gut.“ Daß der Mann klug war und es ihm nicht an Ideen mangelte, hatte ich bereits mitbekommen. Ich ging in die Hotelhalle, und wenige Sekunden später folgte auch Bill. Schweigend fuhren wir im Fahrstuhl zu unserer Suite.

Als wir an der Zimmertür angekommen waren, fragte Bill, ob ich meine Keycard noch hätte.

Ich hatte schon halb geschlafen. „Wo hast du denn deine?“ fragte ich nicht besonders freundlich zurück.

„Ich würde gern zusehen, wenn du deine hervorholst!“ erklärte Bill.

Schlagartig hob sich meine Laune, und das ganz erheblich. „Möchtest du selbst danach suchen?“ schlug ich vor.

Ein männlicher Vampir mit einer schwarzen Mähne, die ihm bis zur Taille reichte, schlenderte den Flur entlang, den Arm um ein rundliches junges Mädchen mit lockigem rotem Haar gelegt. Sobald sie weiter den Gang entlang hinter einer Tür verschwunden waren, machte sich Bill daran, meine Keycard zu suchen. Er hatte sie schnell gefunden.

Kaum befanden wir uns in unserer Suite, da hob Bill mich hoch und küßte mich lange und ausführlich. Eigentlich hätten wir miteinander reden sollen, denn in der langen Nacht, die hinter uns lag, war wirklich viel passiert, aber mir war überhaupt nicht nach Reden, und Bill ging es ähnlich.

Bald fand ich heraus, daß das Nette an Röcken ist, daß man sie ganz einfach nach oben schieben kann. Wenn man darunter nur einen Tanga trägt, hat man auch den schnell beiseite geschafft. Die graue Kostümjacke landete auf dem Boden, das enge weiße Hemd direkt daneben, und ich hatte Bill die Arme um den Nacken geschlungen, ehe man noch „Fick den Vampir!“ hätte sagen können.

Bill hatte sich gerade an die Wand im Wohnzimmer gelehnt, bemüht, seine Hose aufzuknöpfen, während ich mich zärtlich um ihn rankte - da klopfte es an der Tür.

„Verdammt“, murmelte mein Liebster leise. „Verschwinde!“ rief er dann lauter. Ich rieb mich weiterhin an ihm. Er fummelte das Hairagami und die Haarnadeln aus meiner Frisur, und gleich darauf fiel mir das lange blonde Haar weich auf die Schultern.

„Ich muß unbedingt mit euch reden!“ drang eine vertraute Stimme gedämpft durch die Tür.

„Nein“, stöhnte ich. „Sag, daß es nicht Eric ist!“ Eric war das einzige Wesen auf der ganzen weiten Welt, dem wir die Tür öffnen mußten.

„Ich bin's, Eric!“ drängte die Stimme.

Ich lockerte den Klammergriff meiner Beine um Bills Taille, und mein Freund ließ mich sanft zu Boden gleiten. Fuchsteufelswild stürmte ich ins Bad, um mir den Morgenmantel überzuwerfen. Ich hatte weiß Gott nicht vor, mühsam all meine Klamotten zusammenzusuchen und mich wieder zuzuknöpfen.

Als ich aus dem Bad kam, erteilte Eric Bill gerade ein Lob für die gute Arbeit, die er an diesem Abend geleistet hatte.

„Du warst natürlich wunderbar, Sookie!“ gratulierte er dann auch mir, wobei er meinen recht kurzen, pinkfarbenen Morgenmantel mit anerkennendem Blick zur Kenntnis nahm. Ich blickte zu ihm auf - und auf und auf! - und verdammte ihn in die tiefsten Tiefen des Red River, und zwar mitsamt seinem umwerfenden Lächeln, den goldenen Locken und dem ganzen ansehnlichen Rest.

„Oh“, sagte ich unwirsch, „schönen Dank auch, daß du hergekommen bist, um uns das mitzuteilen! Ohne ein wohlwollendes Schulterklopfen von dir hätten wir ja unmöglich zu Bett gehen können.“

Eric wirkte einfach entzückt - soweit ihm das möglich war. „Du meine Güte!“ flötete er. „Habe ich gestört? Sollte das dir gehören?“

Dabei hielt er ein schwarzes Etwas hoch, das einmal eine Hälfte meines Tangas gewesen war.

„Ja“, stellte Bill fest. „Ja auf beide Fragen. Gibt es sonst noch etwas, was du mit uns besprechen wolltest, Eric?“ Beim Klang von Bills kalter Stimme hätte selbst ein Eisberg angefangen zu zittern.

„Dazu bleibt heute wohl nicht mehr die Zeit.“ Eric klang, als bedaure er dies sehr. „Bald wird es hell, und ich muß dringend noch ein paar Sachen erledigen, ehe ich mich hinlege. Morgen jedoch müssen wir unbedingt ein Treffen arrangieren. Sobald klar ist, welche Aufträge Stan für euch hat, hinterlaßt ihr mir eine entsprechende Nachricht an der Rezeption, und wir verabreden etwas.“

Bill nickte. „Auf Wiedersehen dann“, sagte er.

„Ihr wollt nicht noch einen kleinen Schlummertrunk mit mir nehmen?“ fragte Eric hoffnungsvoll. Hoffte er, wir würden ihm eine Flasche synthetischen Blutes anbieten? Der Blick des großen Vampirs glitt zum Kühlschrank, um sich dann wieder auf mich zu heften. Da tat es mir leid, daß ich nur ein dünnes Fähnchen aus Nylon trug, nichts anständiges Dickes aus Baumwolle oder Frottee. „Ganz warm?“ fuhr Eric fort, „frisch aus der Quelle?“ Bill gelang es, eisiges Schweigen zu wahren.

Seufzend trat Eric auf den Flur, den Blick bis zur letzten Sekunde auf mich gerichtet. Kaum stand er draußen, da schloß Bill die Tür hinter ihm.

„Meinst du, er bleibt da stehen und lauscht?“ wollte ich nervös wissen, als mein Liebster mir den Gürtel des Morgenmantels aufknüpfte.

„Das ist mir total egal!“ verkündete Bill und wandte seinen Kopf anderen Dingen zu.

* * *

Als ich gegen dreizehn Uhr aufstand, herrschte tiefste Stille im ganzen Hotel. Das Gros der Gäste schlief natürlich noch, und tagsüber ließ sich keines der Zimmermädchen hier blicken. Nachts stellten Vampire den Sicherheitsdienst - das war mir am Abend zuvor aufgefallen. Am Tage würde das anders geregelt sein müssen, wobei gerade die Sicherheit, die das Hotel tagsüber garantierte, die Gäste so tief in die Tasche greifen ließ, wenn sie hier 'übernachten' wollten. Zum ersten Mal in meinem Leben rief ich an der Rezeption eines Hotels an und bestellte Frühstück aufs Zimmer. Da ich in der Nacht zuvor keinen Bissen gegessen hatte, war ich nun hungrig wie ein Wolf. Ich war gerade mit dem Duschen fertig geworden und hatte mich in meinen Bademantel gehüllt, als der Kellner auch schon klopfte. Nachdem ich sichergestellt hatte, daß er auch derjenige war, für den er sich ausgab, ließ ich ihn ein.

Immerhin hatte man am Vortag auf dem Flughafen versucht, mich zu entführen - Gott sei Dank erfolglos. Aber nun wollte ich lieber auf Nummer sicher gehen und nichts als gegeben hinnehmen. Während der junge Mann also mein Frühstück und den Kaffee auf dem Tisch anrichtete, hielt ich die ganze Zeit mein Pfefferspray bereit, entschlossen, dem Mann eine ordentliche Ladung zu verpassen, sollte er auch nur einen einzigen Schritt auf die Tür zu machen, hinter der Bill in seinem Sarg schlummerte. Aber der junge Kellner, Arturo, war nicht neu in diesem Metier und gut geschult. Kein einziges Mal glitt sein Blick hinüber zur Schlafzimmertür und auch mir sah er nicht direkt ins Gesicht. In Gedanken allerdings beschäftigte er sich durchaus mit mir, was dazu führte, daß ich mir wünschte, meinen BH angelegt zu haben, ehe ich ihm die Tür öffnete.

Nachdem Arturo sich zurückgezogen hatte - Bills Anweisungen folgend hatte ich der Rechnung für das Frühstück, ehe ich sie unterzeichnet hatte, noch ein Trinkgeld hinzugefügt -, aß ich alles auf, was er mir gebracht hatte: Würstchen, Pfannkuchen und eine kleine Schüssel mit Melonenbällchen. Wie köstlich das alles war! Es gab echten Ahornsirup zu den Pfannkuchen, und die Melonen waren genau so, wie sie sein sollten, reif genug, aber nicht zu reif. Auch die Würstchen schmeckten toll. Ich war froh, daß Bill nicht da war, um mir zuzusehen. Ich fühlte mich immer ein wenig unwohl, wenn er mir beim Essen zusah, denn er tat es nicht wirklich gern. Besonders verhaßt war ihm, wenn ich Knoblauch aß.

Dann putzte ich mir die Zähne, bürstete mein Haar und richtete mein Make-up, denn es wurde Zeit, mich auf meinen Besuch in der Zentrale der Bruderschaft der Sonne vorzubereiten. Ich teilte mein Haar in Strähnen, die ich oben auf dem Kopf feststeckte; darauf holte ich die Perücke aus ihrer Schachtel. Die Perücke hatte eine unauffällige braune Kurzhaarfrisur, und als Bill angeregt hatte, sie zu kaufen, hatte ich gedacht, er sei übergeschnappt. Noch immer wußte ich nicht genau, wieso er auf die Idee gekommen war, ich würde eine Perücke brauche können, aber mittlerweile war ich froh, das gute Stück zu besitzen. Ich hatte auch eine Brille aus Fensterglas, wie die Stans, die lediglich am unteren Rand ein wenig vergrößerte und die ich so ganz legitim als meine Lesebrille ausgeben konnte. Diese Brille schob ich mir auf die Nase.

Was trug man wohl als Fanatiker, wenn man einen Ort aufsuchen wollte, an dem weitere Fanatiker versammelt waren? Viel Erfahrung hatte ich nicht in dieser Frage, aber ich ging davon aus, daß Fanatiker sich konservativ kleideten - entweder, weil sie zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt waren, um sich mit Modeangelegenheiten zu befassen oder weil sie es für eine Sünde hielten, sich schick anzuziehen. Zu Hause hätte ich einfach schnell ins nächste Einkaufszentrum fahren und mir das Nötige zusammensuchen sowie Anregungen holen können. Aber hier hockte ich nun im fensterlosen, teuren Silent Shore ... Bill hatte allerdings gesagt, ich könne jederzeit unten beim Empfang anrufen, wenn ich etwas brauchte! Das tat ich dann auch.

„Rezeption!“ meldete sich eine menschliche Stimme, deutlich bemüht, den weichen Tonfall eines Vampirs nachzuahmen, der schon seit geraumer Zeit tot ist. „Womit kann ich dienen?“ Am liebsten hätte ich dem Mann gesagt, es sei sinnlos, er solle es lieber lassen. Wer würde sich denn in einem Haus, in dem das Original so vielfach vertreten war, mit einer Kopie zufriedengeben?

„Sookie Stackhouse, Suite dreihundertvierzehn. Ich brauche einen langen Jeansrock, Größe achtunddreißig, und eine pastellfarbene Bluse mit Blümchenmuster oder einen pastellfarbenen Pulli, dieselbe Größe.“

„Gern, die Dame“, sagte der Mann nach einer längeren Pause. „Wann soll ich Ihnen die Sachen bringen lassen?“

„Bald.“ Mann, das machte Laune. „Je eher, desto besser.“ Ich gewöhnte mich rasch an das gute Leben! Es gefiel mir, mich eines Spesenkontos zu bedienen, das jemand anders auffüllte.

Während ich auf die Kleidung wartete, sah ich mir im Fernsehen die Nachrichten an. Es handelte sich um die typischen Nachrichten, wie man sie in jeder amerikanischen Stadt zu sehen bekommt: Verkehrsprobleme, Bebauungsprobleme, Morde.

„Der Polizei ist es gelungen, die Identität einer Frau festzustellen, die gestern nacht im Müllcontainer eines Hotels gefunden wurde“, verkündete der Nachrichtensprecher gerade in angemessen ernsthaftem Tonfall. Er zog sogar die Mundwinkel nach unten, um zu zeigen, wie sehr ihn die Geschichte, die er da erzählen mußte, bewegte und bekümmerte. „Man fand die Leiche der einundzwanzigjährigen Bethany Rogers hinter dem Silent Shore. Das Silent Shore ist vielen in unserer Stadt wohlbekannt, da es als erstes und bislang einziges Hotel in Dallas auch untoten Gästen zur Verfügung steht. Rogers kam durch einen einzelnen, gezielten Kopfschuß ums Leben. Die Polizei spricht von Mord im Stil einer Exekution. Wie Detective Tawny Kelner unserem Reporter vor Ort mitteilte, gehen die Ermittlungen zur Zeit in verschiedene Richtungen.“ Nun wurde der so bemüht ernst und besorgt dreinblickende Sprecher ausgeblendet, und die Kamera richtete sich auf ein Gesicht, das echte Besorgnis ausdrückte. Ich schätzte die Beamtin auf um die vierzig, eine sehr kleine Frau, der ein langer Zopf auf den Rücken hing. Dann schwenkte die Kamera kurz zur Seite, um auch den Reporter ins Bild zu bringen, der Detective Kelner interviewte, einen kleinen, dunkelhäutigen Mann in einem fabelhaft geschnittenen Anzug. „Detective Kelner“, fragte der Reporter, „stimmt es, daß Bethany Rogers in einer Vampir-Bar gearbeitet hat?“

Die Sorgenfalten auf der Stirn der Polizistin gruben sich womöglich noch tiefer ein. „Ja“, antwortete sie. „Sie arbeitete dort als Kellnerin, nicht als Entertainerin.“ Entertainerin? Was machten denn Entertainer im Bat's Wing? „Sie arbeitete dort erst seit ein paar Monaten“, fuhr die Polizeibeamtin fort.

„Können wir aus der Tatsache, daß die Leiche ausgerechnet dort deponiert worden ist, wo man sie jetzt gefunden hat, schließen, daß Vampire an diesem Verbrechen beteiligt waren?“ Der Reporter fragte hartnäckiger, als ich zu fragen gewagt hätte.

„Im Gegenteil. Ich glaube, die Stelle wurde bewußt gewählt, um den Vampiren eine Nachricht zukommen zu lassen“, gab Kelner kurz und ein wenig ungehalten zurück, wobei es aber gleich darauf den Anschein hatte, als bereue sie bereits, das gesagt zu haben. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“

„Aber sicher“, erwiderte der Reporter ein wenig verdattert. Dann wandte er sich wieder direkt an die Kamera, als könne er durch sie hindurch den Nachrichtensprecher im Studio sehen. „Nun, Tom“, kommentierte er, „man kann wohl sagen, daß dies ein ziemlich brisantes Thema ist.“

Wieso das?

Auch der Nachrichtensprecher schien mitbekommen zu haben, daß die Worte seines Reporters wenig Sinn ergaben, denn er wandte sich rasch dem nächsten Thema zu.

Die arme Bethany war also tot, und es gab niemanden, mit dem ich darüber hätte reden können. Hastig wischte ich mir die Tränen aus dem Gesicht, die mir spontan in die Augen geschossen waren. Ich, ganz besonders ich, hatte ja wohl kaum das Recht, um dieses Mädchen zu trauern! Aber ich konnte nicht verhindern, daß ich darüber nachdachte, was mit Bethany geschehen sein mochte, nachdem man sie letzte Nacht aus dem Eßzimmer im Nest der Vampire geführt hatte. Waren an ihr keine Fangzahnspuren festgestellt worden, dann war sie ganz sicher nicht von einem Vampir umgebracht worden. Es kommt nämlich wirklich äußerst selten vor, daß sich Vampire die Gelegenheit zum Blutsaugen entgehen lassen.

Leise schniefte ich vor mich in, der Tränen wegen, die ich zu unterdrücken suchte und auch, weil mir generell miserabel zumute war. Ich ließ mich auf die Couch fallen und durchsuchte meine Handtasche nach einem Bleistift, fand aber nur einen Kugelschreiber, mit dessen Hilfe ich mich dann unter der Perücke am Kopf kratzte. Selbst in der mit einer Klimaanlage ausgestatteten Finsternis des Hotels juckte meine Kopfhaut! Wohl eine halbe Stunde saß ich so da, dann klopfte es an der Tür. Auch diesmal warf ich vorsichtig einen Blick durch den Türspion, und auch diesmal stand Arturo auf dem Flur, über dem Arm ein Bündel Kleider.

„Was Sie nicht wollen, können wir zurückgeben“, sagte er, wobei er mir das Bündel reichte und sich Mühe gab, nicht neugierig auf mein Haar zu starren.

Ich bedankte mich und gab dem Mann ein Trinkgeld. Es fiel mir nicht schwer, mich an all die Annehmlichkeiten zu gewöhnen, die das Leben in diesem Hotel mit sich brachte.

Nun war es nicht mehr lange hin zum geplanten Treffen mit diesem Ayres, Isabels Zuckerschnutchen. Ich ließ den Morgenmantel fallen, wo ich gerade stand und sah mir an, was Arturo mir gebracht hatte. Die blaßgelbe Bluse mit den cremefarbenen Blümchen war genau das richtige, und der Rock ... nun ja. Einen Jeansrock hatte Arturo wohl nicht auftreiben können; so hatte er mir zwei khakifarbene Leinenröcke zur Auswahl gebracht. Aber einer von denen würde wohl auch gehen. Also probierte ich den ersten an. Er lag für meine Zwecke zu eng an, und so war ich froh, daß mir der junge Mann auch gleich noch einen zweiten gebracht hatte, der ganz anders, viel züchtiger, geschnitten war, genau richtig für den Eindruck, den ich machen wollte. Ich schlüpfte in flache Sandalen, steckte mir winzige Ohrringe in die Ohren, und schon war ich fertig zum Ausgehen. Sogar eine alte, schon etwas zerknautschte Strohhandtasche, die das ganze Ensemble abrunden würde, nannte ich mein eigen. Zwar handelte es sich leider um die Handtasche, die ich auch sonst immer trug, aber sie paßte perfekt auch zu meinem neuen Stil. Rasch nahm ich alles heraus, anhand dessen man mich als Sookie Stackhouse identifizieren konnte, wobei ich mir wünschte, darauf wäre ich schon eher gekommen und nicht erst in letzter Sekunde. Welche weiteren dringend erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen hatte ich wohl sonst noch außer acht gelassen?

Fertig getarnt trat ich hinaus auf den stillen Flur. Er sah noch genauso aus, wie er am Abend zuvor ausgesehen hatte. Es gab weder Fenster noch Spiegel, und der Eindruck, völlig eingeschlossen zu sein, war äußerst stark, wozu auch der weinrote Teppich und die in patriotischen Blau-, Rot- und Weißtönen gehaltene Tapete nach Kräften beitrugen. Sobald ich auf den Rufknopf gedrückt hatte, glitt die Fahrstuhltür auch schon auf. Ganz allein fuhr ich hinab ins Foyer. Es gab noch nicht einmal Musik wie sonst immer in Fahrstühlen - das Silent Shore wurde seinem Namen wirklich in allen Punkten gerecht.

Als ich den Fahrstuhl in der Hotelhalle wieder verließ, konnte ich feststellen, daß seine Türen an beiden Seiten von bewaffneten Wachleuten flankiert wurden, die ein wachsames Auge auf den Haupteingang des Hotels gerichtet hielten. Dieser Eingang war offenbar verschlossen. Über den Türen selbst waren Kameras angebracht, und auf einem Bildschirm konnte man verfolgen, was unmittelbar vor dem Hotel passierte. Ein weiterer Monitor vermittelte einen Einblick ins Geschehen auf einem größeren Stück Straße.

Das alles machte den Eindruck, als rechne man hier in nächster Zukunft mit einem schrecklichen Angriff. Erschrocken, stocksteif und mit heftig klopfendem Herzen blieb ich stehen. Nachdem jedoch ein paar Sekunden lang nichts geschehen war, gelangte ich beruhigt zu der Einsicht, die Wachen stünden wohl immer dort und überwachten mit Hilfe der Monitore den Hoteleingang. Deshalb stiegen Vampire in diesem und ähnlich speziell ausgestatteten Hotels ab, wenn sie auf Reisen waren. An den Wachen vor den Fahrstühlen konnte sich nun gewiß niemand vorbeischmuggeln. Also konnte auch niemand in die Zimmer gelangen, in denen sich die schlafenden und von daher völlig hilflosen Vampire aufhielten. Das Hotel hatte horrende Preise - kein Wunder bei dem zusätzlichen Service. Die beiden Männer, die neben den Fahrstuhltüren Wache schoben, waren groß und wirkten sehr kräftig. Sie steckten wie alle Hotelangestellten in einer schwarzen Uniform. (Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien alle Welt der Meinung, Vampire seien von der Farbe Schwarz förmlich besessen.) In meinen Augen wirkten die Pistolen, die die beiden Wachposten am Gürtel trugen, riesig; ich muß aber zugeben, daß ich mich mit Handfeuerwaffen nicht besonders gut auskenne. Mir warfen beide nur einen kurzen Blick zu, als ich aus der Fahrstuhlkabine trat; dann konzentrierten sie sich mit leicht gelangweilten Mienen wieder ganz auf die Überwachung des Eingangsbereiches.

Selbst das Personal an der Rezeption war bewaffnet, und hinter dem Empfangstresen hingen Gewehre in einer Vorrichtung, die speziell dafür angebracht worden war. Ich fragte mich, wie weit die Angestellten wohl gehen würden, um ihre Gäste zu schützen. Waren sie bereit, andere Menschen zu erschießen, wenn diese als Eindringlinge kamen? Was wären die juristischen Folgen, wenn so etwas geschah?

In einem der Sessel, die in Abständen den Marmorboden der Eingangshalle zierten, hatte es sich ein Mann mit Brille bequem gemacht. Er mochte etwa dreißig Jahre alt sein, groß und schlaksig mit sandfarbenem Haar. Er trug einen leichten khakifarbenen Sommeranzug aus Leinen, dazu Halbschuhe. Der Tellerwäscher aus dem Nest der Vampire!

„Hugo Ayres?“ fragte ich.

Er sprang auf, um mir die Hand zu schütteln. „Sie sind Sookie? Aber Ihr Haar ... Sie waren gestern nacht blond.“

„Ich bin nach wie vor blond. Das ist nur eine Perücke.“

„Sieht aus wie echt.“

„Wunderbar. Sind Sie so weit? Können wir gehen?“

„Mein Wagen steht vor der Tür.“ Der Mann berührte leicht meinen Rücken, um mir die Richtung zu zeigen, als fürchte er, ich könne ohne seine Hilfe den Weg zur Tür nicht finden. Ich wußte die Höflichkeit dieser Geste zu schätzen, nicht jedoch das, was sie mir unter Umständen unterstellte. Ich versuchte, ein Gefühl dafür zu bekommen, was für ein Mensch dieser Hugo Ayres war. Das Englisch, das er sprach, hatte einen texanischen Einschlag; er hatte sich nicht die Mühe gemacht, es zu nivellieren und den Nachrichtensprechern aus dem Radio anzupassen, die sich eine Mischung aus dem Akzent des nördlichen Mittleren Westens und der Hochsprache der Ostküste zuzulegen pflegten.

„Wie lange sind Sie jetzt schon mit Isabel zusammen?“ fragte ich ihn, als wir in seinem Caprice saßen und gerade dabei waren, die Sicherheitsgurte anzulegen.

„Das dürften mittlerweile elf Monate sein“, erwiderte Hugo. Was für große Hände der Mann hatte - beide Handrücken von Sommersprossen übersät. Es wunderte mich sehr, daß Hugo nicht irgendwo in einem Vorort lebte, zusammen mit einer Frau, die sich Strähnchen ins Haar machen ließ und zwei sandfarbenen, sommersprossigen Kindern.

„Sind Sie geschieden?“ fragte ich impulsiv. Dann tat es mir leid, mit ansehen zu müssen, wie sich sein Gesicht bekümmert verzog.

„Ja“, sagte er. „Noch nicht lange.“

„Das tut mir leid.“ Ich wollte schon nach Kindern fragen, aber dann wurde mir klar, daß mich das eigentlich gar nichts anging. Ich hatte seinen Gedanken gut genug folgen können, um zu wissen, daß er eine kleine Tochter hatte, hatte aber weder Alter noch Namen des Kindes mitbekommen können.

„Stimmt es, daß Sie Gedanken lesen können?“ wollte er von mir wissen.

„Ja, das stimmt.“

„Kein Wunder, daß die Sie so attraktiv finden.“

Autsch, Hugo, das tat weh. „Das ist wahrscheinlich einer der Gründe“, sagte ich, wobei ich mich bemühte, möglichst unbeteiligt zu klingen. „Welchem Broterwerb gehen Sie nach?“

„Ich bin Anwalt“, erwiderte Hugo.

„Kein Wunder, daß Sie für die so attraktiv sind“, sagte ich daraufhin, und mein Tonfall war weiterhin so neutral, wie ich es irgend fertig brachte.

„Das hatte ich verdient, nehme ich an“, sagte Hugo nach einer längeren Pause.

„Vergessen wir das. Wir sollten uns eine gute Geschichte zur Tarnung ausdenken.“

„Könnten wir Schwester und Bruder sein?“

„Das ist denkbar. Ich habe schon Geschwisterpaare erlebt, die einander weniger ähnlich sahen, als wir das tun. Aber wenn wir uns als Liebespaar ausgeben, würde das eher erklären, warum wir so wenig voneinander wissen. Falls wir getrennt werden und man uns einzeln befragt. Ich sage ja nicht, daß so etwas auf jeden Fall passieren wird; ich wäre sogar sehr erstaunt, wenn es wirklich passierte. Aber für den Fall aller Fälle: Wären wir Geschwister, so würde man erwarten können, daß wir alles voneinander wissen.“

„Da haben Sie recht. Warum erzählen wir denen nicht einfach, wir hätten uns vor kurzem in der Kirche kennengelernt? Sie sind gerade erst nach Dallas gezogen, und ich lernte Sie im Bibelkreis der Sonntagsschule der Methodistengemeinde von Glen Craigue kennen. Das ist die Gemeinde, der ich wirklich auch angehöre.“

„Das hätten wir dann also. Was halten Sie davon, wenn ich behaupte, ich sei die Managerin eines Restaurants?“ Die Rolle würde ich spielen können, wenn man mich nicht allzu eingehend befragte. Immerhin kellnerte ich ja im Merlottes.

Hugo schien überrascht, meinte dann aber, die Geschichte höre sich gut an und sei auch nah genug an der Wahrheit, um glaubwürdig vorgetragen werden zu können. „Ich bin kein guter Schauspieler“, sagte er dann. „Ich bleibe lieber der, der ich bin. Mir wird schon nichts geschehen.“

„Wie haben Sie und Isabel einander kennengelernt?“ fragte ich, denn natürlich war ich ungeheuer neugierig, was diese Frage betrifft.

„Ich vertrat Stan vor Gericht. Nachbarn hatten gegen ihn geklagt. Sie wollten die Vampire nicht in ihrer Wohngegend dulden. Die Nachbarn verloren.“ Hugo hatte gemischte Gefühle, was seine Beziehung zu einer Vampirin betraf und war sich auch nicht sicher, ob es wirklich richtig gewesen war, das Verfahren vor Gericht damals zu gewinnen.

Hugos Gefühle Isabel gegenüber waren unter dem Strich total gemischt!

Das hatte mir gerade noch gefehlt! Nun hatte ich noch mehr Angst vor der Mission, zu der wir aufgebrochen waren, als zuvor schon. „Wurde in der Zeitung darüber berichtet? Daß Sie Stan als Anwalt vertreten haben?“ fragte ich.

Hugo wirkte niedergeschlagen. „Ja. Es stand in der Zeitung. Verdammt! Vielleicht erkennt ja jemand dort meinen Namen wieder! Oder mich - mein Bild war nämlich auch in der Zeitung.“

„Das kann unter Umständen ein Vorteil sein. Sie erzählen denen einfach, nachdem Sie die Vampire besser kennengelernt hätten, hätten Sie erkannt, daß es ein Fehler war, sie vor Gericht zu vertreten.“

Hugo dachte über meinen Vorschlag nach, während sich seine riesigen sommersprossigen Hände ruhelos auf dem Lenkrad hin- und herbewegten. „Gut“, sagte er schließlich. „Wie gesagt: Ein großer Schauspieler bin ich nicht, aber ich denke, das bringe ich schon zustande.“

Ich schauspielere eigentlich die ganze Zeit, um mich machte ich mir weiter keine Sorgen. Wenn man als Kellnerin die Bestellung eines Mannes aufnimmt und gleichzeitig so tut, als bekäme man gar nicht mit, daß er sich fragt, ob die Haare, die man an anderen Stellen des Körpers hat, wohl auch so blond sind wie die auf dem Kopf, dann ist das eine ungeheuer gute Übung in Schauspielerei. Meist kann man den Leuten ja keine Vorwürfe machen für das, was sie denken. Man muß einfach lernen, es sich nicht zu Herzen zu nehmen und über den Dingen zu stehen.

Ich hatte Hugo eigentlich vorschlagen wollen, mich bei der Hand zu nehmen, sollten die Dinge irgendwie heikel werden, um mir so gedanklich mitteilen zu können, wie er sich unser weiteres Vorgehen vorstellte. Aber die gemischten Gefühle, die um den Mann waberten wie billiges Rasierwasser, veranlaßten mich zu schweigen. Gut möglich, daß der Mann Isabel sexuell verfallen war; unter Umständen liebte er sie sogar, liebte die Gefahr, die sie repräsentierte. Aber ich glaube nicht, daß er sich ihr ganz und gar, mit Herz und Hirn, verschrieben hatte.

Es folgte ein kurzer, unangenehmer Moment, in dem ich mich selbstkritisch fragte, ob Ähnliches nicht auch auf Bill und mich zutraf. Es war jetzt aber weder die rechte Zeit noch der rechte Ort, dieser Frage nachzugehen. Aus Hugos Kopf drangen genügend Gedanken zu mir herüber, die die Frage nahelegten, ob ich ihm auch wirklich voll und ganz vertrauen konnte, was unsere kleine Mission betraf. Von dieser Überlegung zur Frage, wie sicher ich mich in seiner Gegenwart fühlen konnte, war nur ein kleiner Schritt. Zudem fragte ich mich, wie viel Hugo Ayres wohl von mir wußte. Letzte Nacht hatte er sich nicht in dem Zimmer aufgehalten, in dem ich arbeitete, und Isabel machte auf mich nicht den Eindruck einer besonders schwatzhaften Frau. Es war also durchaus möglich, daß der Mann gar nicht allzuviel über mich mitbekommen hatte.

Die vierspurige Straße, die durch einen großen Vorort führte, war lange gesäumt von den Filialen verschiedener Schnellimbißketten sowie aller möglichen überall in den USA vertretenen Ladenketten, aber nach und nach wurden die Geschäfte weniger, Wohnhäuser traten an ihre Stelle, und aus dem Beton links und rechts der Fahrspuren wurden grüne Rasenflächen. Die Verkehrsdichte jedoch schien nicht nachlassen zu wollen. In einer Stadt von dieser Größe hätte ich auf Dauer nicht leben können! Mit einem solchen Leben würde ich im Alltag nicht fertig werden.

Nun näherten wir uns einer großen Kreuzung. Hugo fuhr langsamer und blinkte. Wir schickten uns an, auf den Parkplatz einer riesigen Kirche einzubiegen; zumindest hatte das Gebäude früher einmal als Kirche gedient. Das Gotteshaus war an den Maßstäben von Bon Temps gemessen ungeheuer groß. Wo ich herkam, hätten es nur die Baptisten geschafft, ein solches Gotteshaus zu füllen, und das auch nur, wenn sie alle Gemeinden der Gegend zusammenriefen. Das Gotteshaus war zweistöckig; es wurde rechts und links von zwei langen, einstöckigen Flügeln flankiert. Das ganze Haus war aus weißgestrichenen Ziegeln errichtet worden, die Fenster bestanden aus Buntglas. Das Haus war von einer Rasenfläche umgeben, die so grün war, daß man unwillkürlich geneigt war zu glauben, hier sei Chemie zum Einsatz gekommen, und der Parkplatz, der zu dem Komplex gehörte, war enorm.

Auf dem gepflegten Rasen stand ein großes Schild mit der Aufschrift: ZENTRALE DER BRUDERSCHAFT DER SONNE - nur Jesus ist von den Toten auferstanden!

Während ich meine Wagentür öffnete und Hugos Auto entstieg, schnaubte ich: „Das stimmt doch gar nicht. Lazarus ist auch auferstanden. Diese Typen haben noch nicht mal die Bibel richtig gelesen.“

„Mit dieser Haltung kommen Sie im Moment nicht weit“, warnte mich Hugo, während er ausstieg und den Wagen abschloß. „Die sollten Sie sich schleunigst aus dem Kopf schlagen. Sie werden mir zu sorglos, wenn Sie so verächtlich über die Bruderschaft denken! Diese Leute sind gefährlich. Sie haben öffentlich erklärt, zwei Vampire an kommerzielle Blutsauger übergeben zu haben. Das haben sie damit begründet, daß so die Menschheit zumindest vom Tod dieser Vampire profitieren könne.“

„Die geben sich mit kommerziellen Blutsaugern ab?“ Mir wurde schlecht. Diese Blutsauger gingen einer extrem gefährlichen Arbeit nach: Sie lockten Vampire in die Falle, fesselten sie mit silbernen Ketten und ließen sie zur Ader, bis die armen Wesen völlig blutleer waren.

Das Blut wurde auf dem Schwarzmarkt teuer verkauft. „Die Leute in dieser Zentrale haben Vampire an die Blutsauger weitergegeben?“

„Das behauptete zumindest ein Mitglied der Bruderschaft in einem Zeitungsinterview. Natürlich hat sich der Anführer der Bruderschaft am nächsten Tag vor allen Fernsehkameras lautstark von dieser Erklärung distanziert und die ganze Sache vehement geleugnet, aber ich glaube, das war nur Show. Die Bruderschaft vernichtet Vampire auf jede nur denkbare und mögliche Art und Weise. Sie ist der Ansicht, Vampire seien abartig und des Teufels und von daher zu allem bereit und in der Lage. Wenn man der beste Freund eines Vampirs ist, können die Leute hier einen ganz schön unter Druck setzen, wenn sie es darauf anlegen. Das sollten Sie nicht vergessen, ehe Sie da drin den Mund aufmachen.“

„Das gilt aber auch für Sie, Sie Experte für düstere Warnungen.“

Langsam näherten wir uns dem Gebäude, wobei wir Gelegenheit hatten, es uns erst einmal von außen ganz genau anzusehen. Etwa zehn Wagen standen auf dem Parkplatz - alte, teilweise recht zerbeulte, aber auch funkelnagelneue Wagen der gehobenen Fahrzeugklasse. Am besten gefiel mir ein schneeweißer Lexus, der so schön war, daß man fast hätte denken können, er gehöre einem Vampir.

„Irgendwer macht wohl gute Geschäfte mit dem Haß“, bemerkte Hugo.

„Wer ist der Chef hier?“

„Ein Typ namens Steve Newlin.“

„Wetten, daß das sein Auto ist?“

„Das würde den Aufkleber auf der Stoßstange erklären.“

Ich nickte. Der Aufkleber lautete WEG MIT DEM 'UN' BEI DEN UNTOTEN. Am Rückspiegel baumelte die Nachbildung eines Pfahls - oder war es gar keine Nachbildung?

Dafür, daß Samstag war, herrschte in der Zentrale reges Treiben. Neben dem Gebäude befand sich ein umzäuntes Stück Land mit einigen Schaukeln und Klettergerüsten. Dort spielten, beaufsichtigt von einem gelangweilten Teenager, ein paar Kinder. Von Zeit zu Zeit schaffte es der Teenager sogar, von den Fingernägeln aufzusehen, an denen er herumfeilte, und einen Blick auf die spielenden Kleinen zu werfen, um festzustellen, ob noch alles in Ordnung war. Da es bei weitem nicht so heiß war wie am Tag zuvor - anscheinend hatte der Sommer nun wirklich seine letzte Schlacht geschlagen und war verdammt dazu, sich zurückzuziehen, wofür Gott gedankt sein sollte - stand die Tür zum Haus offen, um den schönen Tag und die milden Temperaturen einzulassen.

Hugo nahm meine Hand. Überrascht zuckte ich zusammen, aber rasch wurde mir klar, daß er das nur tat, damit wir eher wie ein Pärchen aussahen. Er persönlich hatte kein Interesse an mir, was mir gerade recht war. Wir brauchten ein paar Sekunden, um unsere Schritte einander anzupassen, aber dann, glaube ich, sahen wir recht normal aus. Durch den Körperkontakt waren mir Hugos Gedanken noch leichter zugänglich als vorher; ich stellte fest, daß er wohl besorgt, aber auch fest entschlossen war. Er fand es unangenehm, mich anfassen zu müssen. Dieses Gefühl kam stark zu mir herüber, danach fühlte ich mich so Hand in Hand mit ihm nicht mehr wirklich wohl. Es war ja wunderbar, daß der Mann kein Interesse an mir hatte! Aber daß er einen regelrechten Widerwillen mir gegenüber empfand, verunsicherte mich nun doch nicht unerheblich. Hinter diesem Widerwillen verbarg sich nämlich noch etwas anderes, eine Grundhaltung ... aber nun tauchten direkt vor uns Leute auf, und so konzentrierte ich mich auf meine Arbeit. Ich spürte, wie sich meine Lippen wieder einmal zu dem vertrauten Lächeln verzogen.

Bill hatte in der Nacht zuvor daran gedacht, meinen Hals in Ruhe zu lassen; so brauchte ich keine Fangzahnspuren zu verbergen. Der Tag war schön, ich trug die passende Kleidung für die Gelegenheit - da fiel es mir nicht schwer, einen fröhlichen, ausgeglichenen Eindruck zu machen, als Hugo und ich nun einem Pärchen mittleren Alters zunickten, das gerade aus der Eingangstür der Zentrale der Bruderschaft trat.

An den beiden vorbei betraten wir das Haus, in dem ein angenehmes Halbdunkel herrschte. Der Hautpeingang hatte uns in den Seitenflügel geführt, der früher einmal wohl die Räume der Sonntagsschule der Kirche beherbergt hatte. An den Türen zu beiden Seiten des Flures hingen Hinweisschilder, die relativ neu wirkten: 'Haushalt und Finanzen' stand dort, 'Werbung' und, in meinen Augen besonders vielsagend, 'Öffentlichkeitsarbeit und Pressekontakte'.

Aus einer Tür weiter hinten im Flur trat nun eine Frau und kam den Flur hinunter auf uns zu. Sie mochte Mitte vierzig sein, mit wunderschöner Haut und kurzen braunen Haaren. Auf den ersten Blick machte die Frau einen sehr angenehmen Eindruck auf mich; sie wirkte irgendwie lieb und nett. Das sehr rosafarbene Rosa auf ihren Lippen war farblich perfekt abgestimmt auf das sehr rosafarbene Rosa auf ihren Fingernägeln, und ihre Unterlippe ragte ein wenig über die Oberlippen hinaus, was ihr einen überraschend sinnlichen Schmollmund verschaffte. Diese Sinnlichkeit stand in provokantem Widerspruch zu den angenehmen Rundungen, die der Körper der Frau sich zugelegt hatte. Sie trug einen Jeansrock und einen Strickpulli, den sie sich ordentlich in den Rockbund gesteckt hatte - es sah fast haargenau so aus wie die Kombination, die ich gewählt hatte. Im Geiste klopfte ich mir lobend auf die Schulter.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte die Frau, wobei sie hoffnungsvoll dreinschaute.

„Wir würden uns gern über die Bruderschaft informieren“, sagte Hugo, wobei er einen mindestens ebenso netten und ernsthaften Eindruck machte wie unsere neue Bekannte. Diese trug, wie ich jetzt erst bemerkte, ein Namensschild, auf dem der Name S. NEWLIN stand.

„Wir freuen uns, daß Sie den Weg zu uns gefunden haben!“ verkündete die Frau. „Ich bin die Frau des Direktors, Steve Newlin. Ich heiße Sarah.“ Daraufhin schüttelte sie Hugo die Hand, mir nicht. Manche Frauen finden es falsch, anderen Frauen die Hand zu schütteln, also machte ich mir darüber keine Gedanken.

Höflich versicherten wir einander reihum, wie froh wir seien, einander kennenzulernen. Dann wies Sarah mit einer perfekt manikürten Hand auf eine Doppeltür am Ende des Flurs. „Wenn Sie mir folgen würden, zeige ich Ihnen, wie wir die Dinge bewegen, die wir bewegen wollen.“ Dabei lachte sie leise, als sei die Vorstellung, wirklich das zuwege zu bringen, was man sich vorgenommen hatte, ein wenig lächerlich.

Entlang des Flures standen sämtliche Türen offen, und in den Räumen dahinter herrschte eine geschäftige, aber völlig offene Arbeitsatmosphäre. Das, was hier getan wurde, durfte jeder sehen, und jeder konnte sich daran beteiligen. Sollte die Organisation, der der Mann von Mrs. Newlin vorstand, irgendwo Gefangene verstecken oder der Planung und Durchführung verdeckter Operationen nachgehen, dann wurden diese Dinge in einem anderen Teil des Gebäudes betrieben. Ich sah mir alles so genau wie möglich an, entschlossen, meinen Kopf mit denkbar vielen Informationen zu füllen. Bis jetzt wirkte das Innere der Zentrale der Bruderschaft der Sonne ebenso blendend sauber wie deren Äußeres und die Menschen, die hier arbeiteten, machten beileibe keinen finsteren oder heimtückischen Eindruck.

Mit scheinbar lockeren, in Wirklichkeit aber zügigen, ausgreifenden Schritten ging Sarah vor uns her, wobei sie in kurzer Zeit eine erstaunliche Wegstrecke bewältigte. Sie hielt einen Stapel Aktenmappen an die Brust gedrückt und plauderte munter über die Schulter mit uns; das von ihr angeschlagene Tempo jedoch stellte sowohl Hugo als auch mich vor eine ziemliche Herausforderung. Wir hielten nicht länger Händchen; wir mußten lange Schritte machen und uns ordentlich anstrengen, wenn wir mit der Frau Schritt halten wollten.

Der Gebäudekomplex erwies sich als viel größer, als ich zunächst vermutet hatte. Am äußersten Ende des rechten Flügels hatten wir das Haus betreten; nun durchquerten wir gerade das, was einmal das eigentliche Gotteshaus gewesen war. Inzwischen hatte man das Kirchenschiff mit Tischen und Bänken ausgestattet und nutzte es offenbar als Versammlungshalle. Von dort aus gelangten wir in den zweiten Seitenflügel. In diesem gab es weniger Räume als im ersten, und sie waren insgesamt größer. Das Zimmer, das dem eigentlichen Gotteshaus am nächsten lag, hatte früher wohl dem Pfarrer als Büro gedient. Nun prangte ein Schild mit der Aufschrift: G. STEVEN NEWLIN, DIREKTOR an seiner Tür.

Dies war die erste geschlossene Tür, die ich in diesem Haus bisher zu Gesicht bekommen hatte.

Sarah klopfte, wartete kurz und trat ein. Hinter dem Schreibtisch saß ein großer, schlaksiger Mann, der sich bei unserem Eintreten erhob, um uns erwartungsvoll und strahlend entgegenzusehen. Irgendwie schien der Kopf des Mannes zu klein für den Körper. Seine Augen waren blau und wirkten verschwommen; seine Nase war so spitz und so stark gebogen, daß sie fast schon wie ein Schnabel wirkte, und sein Haar war fast ebenso braun wie das seiner Frau, nur daß sich bereits einige Strähnchen Grau in dieses Braun mischten. Ich hätte nicht genau sagen können, welche Vorstellungen von einem Fanatiker bei mir im Kopf herumspukten, aber der Mann da hinter dem Schreibtisch wollte diesen Vorstellungen so ganz und gar nicht entsprechen. Fast schien es, als würde ihn das Leben, das zu führen er sich entschieden hatte, eher belustigen, als könne er sich selbst nicht recht ernst nehmen.

Er hatte sich gerade mit einer Frau unterhalten, die stahlgraues Haar hatte. Die Frau trug Hosen und eine Bluse, machte aber den Eindruck, als hätte sie sich in einem Geschäftskostüm wohler gefühlt. Sie war perfekt und nicht gerade unauffällig geschminkt und wirkte verärgert über irgend etwas - vielleicht über die Störung, die wir durch unser Eintreten verursacht hatten.

„Was kann ich denn heute für Sie tun?“ fragte Steve Newlin, während er gleichzeitig Hugo und mich mit einer Handbewegung aufforderte, doch Platz zu nehmen. Wir setzten uns auf die beiden grünen Ledersessel direkt vor dem Schreibtisch, und Sarah, die eigentlich gar nicht zum Sitzen aufgefordert worden war, wählte einen ähnlichen Sessel, der an der einen Wand stand. „Entschuldige, Steve“, sagte sie dabei, um gleich darauf fortzufahren: „Kann ich Ihnen etwas zu trinken bringen? Kaffee? Limo?“

Hugo und ich sahen einander an und schüttelten den Kopf.

„Schatz, das sind - oh, ich habe noch nicht einmal nach Ihren Namen gefragt!“ Sie warf uns einen charmant verwirrten, fragenden Blick zu.

„Mein Name ist Hugo Ayres“, erklärte Hugo, „und das hier ist meine Freundin Marigold.“

Marigold? War der Typ meschugge! Es fiel mir schwer, das Lächeln, das mir auf den Lippen klebte, nicht verrutschen zu lassen. Dann sah ich die Vase mit Ringelblumen auf dem Tisch neben Sarah und wußte zumindest, wie er auf die Idee gekommen war. Einen Fehler hatten wir also bereits gemacht; natürlich hätten wir die Frage mit den Namen auf der Herfahrt klären müssen. Wenn die Bruderschaft für die Wanze verantwortlich war, dann konnte man mit Fug und Recht annehmen, daß ihr der Name Sookie Stackhouse vertraut war. Gott sei Dank war Hugo das wohl klar gewesen.

„Hugo Ayres - der Name sagt uns etwas, nicht wahr, Sarah?“ Steve Newlins Gesicht drückte aus, daß der Mann angestrengt nachdachte: die Stirn gerunzelt, die Brauen fragend emporgezogen, der Kopf leicht zur Seite geneigt.

„Ayres?“ wiederholte die Frau mit dem stahlgrauen Haar nachdenklich. „Ich bin im übrigen Polly Blythe, die Zeremonienmeisterin der Bruderschaft.“

„Oh Polly, das tut mir so leid! Ich war abgelenkt und habe ganz vergessen, dich vorzustellen!“ Sarah warf den Kopf leicht nach hinten, und auch ihre Stirn legte sich in Falten - um sich dann aber umgehend wieder zu glätten. Sie strahlte ihren Mann an: „Gab es da nicht einen Anwalt, der Hugo Ayres hieß? Der, der die Vampire im Rechtsstreit mit den Anwohnern am University Park vertreten hat?“

„Stimmt“, sagte Newlin, wobei er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und die langen Beine übereinander schlug. Er winkte jemandem zu, der auf dem Flur entlangging, dann schlang er die ineinander gefalteten Hände um die Knie. „Interessant, daß Sie uns einen Besuch abstatten! Dürfen wir hoffen, daß Sie inzwischen auch die andere Seite des Vampirproblems zu Gesicht bekommen haben?“ Aus sämtlichen Poren des Direktors drang tiefe Befriedigung, so greifbar wie der Gestank, der von einem Stinktier ausgeht.

„So kann man es ausdrücken, und das wäre vielleicht auch angemessen ...“, setzte Hugo an, aber Steves Stimme rollte über ihn hinweg und immer weiter und weiter.

„Die blutsaugende, die finstere Seite der Vampirexistenz? Haben auch Sie herausgefunden, daß sie uns alle umbringen wollen, daß sie über uns herrschen wollen mit ihrer verräterischen Art und ihren leeren Versprechungen?“

Meine Augen waren so rund wie Untertassen. Sarah nickte ernst und nachdenklich vor sich hin, wobei sie immer noch so süß und nichtssagend aussah wie ein Vanillepudding. Polly dagegen machte den Eindruck, als erlebe sie gerade einen düsteren Orgasmus. Steve fuhr immer noch lächelnd fort: „Wissen Sie, es mag sich ja gut anhören, die Sache mit dem ewigen Leben hier auf Erden, aber sie verlieren dabei die Seele und dann, irgendwann einmal, wenn ich sie erwische nämlich - das muß natürlich nicht ich selbst sein, vielleicht ist es auch erst mein Sohn oder irgendwann meine Enkelin -, dann pfählen wir sie und verbrennen sie und dann landen sie in der finstersten Hölle. Die wird nicht besser dadurch, daß man die Reise dorthin aufgeschoben hat! Für Vampire hält unser Herr nämlich eine spezielle Ecke bereit! Für Vampire, die Menschen benutzt haben wie Klopapier, benutzt und ins Klo gespült und ...“

Igittigitt. Das ganze ging rasend schnell den Bach runter. Von Steve bekam ich nichts weiter mit als diese schier bodenlose, strahlende Selbstzufriedenheit, gepaart mit einem ordentlichen Schuß Schlauheit - keine einzige konkrete Information.

„Entschuldige, Steve?“ erklang mit einem Mal von der Tür her eine tiefe Stimme. Ich drehte mich um und sah einen gutaussehenden, schwarzhaarigen Mann mit kurzgeschnittenem Haar und der Muskulatur eines Gewichthebers dort stehen. Er lächelte die im Zimmer Anwesenden mit derselben Herzlichkeit und Gutwilligkeit an, die alle hier zur Schau stellten. Anfänglich hatte diese Herzlichkeit mich beeindruckt. Inzwischen fand ich sie einfach unheimlich. „Unser Gast wartet“, fuhr der Neuling fort.

„Wirklich? Noch eine Minute“, antwortete Steve.

„Mir wäre es lieber, du kämest jetzt gleich. Ich bin sicher, deine Besucher haben nichts dagegen, etwas zu warten?“ Der Schwarze mit dem Kurzhaarschnitt warf Hugo und mir einen bittenden Blick zu, und Hugo dachte unvermittelt an einen dunklen Ort tief unter dem Erdboden. Ein kurzer Gedanke nur, der ihm in Bruchteilen einer Sekunde durch den Kopf huschte, den ich aber höchst merkwürdig fand.

„Gabe, ich komme, sobald ich das Gespräch mit unseren Gästen beendet habe“, erklärte Steve fest und entschieden.

„Aber Steve ...“ Gabe wollte nur ungern nachgeben, aber da traf ihn ein wütender Blick aus Steves Augen. Der Direktor hatte sich im Stuhl aufgerichtet und hielt die Beine nicht mehr lässig übereinandergeschlagen. Gabe verstand die Botschaft. Er warf seinem Vorgesetzten einen Blick zu, der wenig Verehrung beinhaltete, dann ging er.

Der Wortwechsel der beiden hatte vielversprechend geklungen. Ich fragte mich, ob sich Farrell wohl irgendwo in diesem Haus befand, hinter einer verschlossenen Tür. Ich malte mir schon aus, wie es sein würde, wenn ich ins Nest der Vampire von Dallas zurückkehrte, um Stan haargenau mitzuteilen, wo sein verschwundener Nestbruder gefangengehalten wurde. Dann ...

Ja, was dann? Dann würde Stan zum Angriff auf die Bruderschaft blasen, alle Mitglieder umbringen, Farrell befreien und dann ... ach du meine Güte!

* * *

„Wir wollten eigentlich nur wissen, ob hier in nächster Zeit irgendwelche größeren Veranstaltungen geplant sind, an denen wir vielleicht teilnehmen könnten. Irgend etwas, was uns einen Einblick in die Arbeit geben könnte, die hier geleistet wird.“ Hugo klang interessiert. „Vielleicht kann uns ja auch Miss Blythe diese Frage beantworten, wo sie doch gerade hier ist.“

Ich bekam mit, daß Polly Blythe Steve einen Blick zuwarf, ehe sie antwortete und daß Steves Miene recht verschlossen wirkte. Polly Blythe erklärte, sie sei höchst erfreut darüber, von uns um Auskunft gebeten worden zu sein und freue sich überhaupt darüber, daß wir den Weg hierher gefunden hatten, um die Bruderschaft zu besuchen und uns über deren Aktivitäten zu informieren.

„Es sind in der Tat einige größere Veranstaltungen geplant“, fuhr die grauhaarige Frau fort. „Heute nacht wird es zum Beispiel eine besondere Nacht der Kirche geben und danach, am Sonntagmorgen, planen wir ein Sonnenaufgangsritual.“ „Das klingt sehr interessant!“ warf ich ein. „Ist das wörtlich zu verstehen? Das Ritual findet bei Sonnenaufgang statt?“

„Oh ja, haargenau bei Sonnenaufgang sogar. Wir rufen vorher den Wetterdienst an, um ganz sicher zu gehen“, sagte Sarah lachend.

„Unser Gottesdienst bei Sonnenaufgang ist unvergleichlich“, meinte Newlin. „Unglaublich inspirierend - Sie werden ihn nie vergessen.“

„Was für eine Zeremonie - nun: Was genau geschieht bei Sonnenaufgang?“ wollte Hugo nun wissen.

„Es erfolgt der Beweis dafür, daß Gott allmächtig ist“, lächelte Newlin. „Sie werden diesen Beweis mit eigenen Augen sehen können.“

Das klang wirklich äußerst unheilverkündend! „Oh Hugo!“ rief ich aus. „Wie aufregend, nicht?“

„Wirklich aufregend!“ pflichtete Hugo mir bei. „Wann soll die Nacht der Kirche denn anfangen?“

„Um achtzehn Uhr dreißig. Wir möchten, daß unsere Mitglieder hier eintreffen, ehe sie sich erheben.“

Einen Moment lang war ich verwirrt, dann wurde mir klar, daß Steve damit meinte, er wolle alle Mitglieder versammelt haben, ehe die Vampire sich erhoben.

„Aber irgendwann wird die Gemeinde ja auch wieder heimgehen. Was dann?“ Ich konnte nicht anders, ich mußte diese Frage einfach stellen.

„Oh, Sie haben wohl nie als Teenager an einer Nacht der Kirche teilgenommen?“ rief Sarah aus. „Es macht solchen Spaß! Die ganze Gemeinde kommt, und alle bringen ihre Schlafsäcke mit. Wir kochen und essen zusammen, spielen ein paar Spiele, lesen aus der Bibel vor, eine Predigt gibt es auch, und wir alle verbringen die ganze Nacht zusammen in der Kirche.“ Also war die Bruderschaft durchaus eine Gemeinde, zumindest in Sarahs Augen, und das Haus, in dem wir uns gerade befanden, war und blieb für sie ein Gotteshaus. Wahrscheinlich sahen die anderen Mitglieder der Geschäftsführung das ähnlich. Wenn es aussah wie eine Kirche und arbeitete wie eine Kirche, dann war es auch eine Kirche, ganz gleich, welchen Steuerstatus die Bruderschaft hatte.

Ich hatte als Teenager durchaus an ein paar solchen Kirchennächten teilgenommen und war damals kaum in der Lage gewesen, diese Veranstaltungen zu ertragen. Ein Haufen Pubertierender, die ganze Nacht streng bewacht in einem Gebäude eingesperrt, dazu eine schier endlose Flut an Filmen, Süßkram, irgendwelchen Aktivitäten, Limonade und Cola. Zudem für mich außer all dem Gekreische und Gejohle ein wahres mentales Bombardement aus den hormongesteuerten Ideen und Impulsen der anderen Teenager, unter dem ich jedesmal stark gelitten hatte.

Das würde jetzt anders sein, versicherte ich mir. Hier würden heute nacht nur Erwachsene beisammen sein, und zwar Erwachsene, die alle durch ein bestimmtes Vorhaben miteinander verbunden waren. Da würden bestimmt nicht Millionen Chipstüten herumliegen, und unter Umständen konnte man sogar halbwegs vernünftig schlafen. Wenn Hugo und ich daran teilnahmen, ergab sich vielleicht die Gelegenheit, das ganze Gebäude zu durchsuchen und Farrell zu retten. Ich war sicher, daß er derjenige war, der am Sonntag bei Tagesanbruch der Sonne entgegentreten sollte, ob er nun die Wahl hatte oder nicht.

„Sie sind herzlich willkommen“, sagte Polly. „Es ist genug zu essen da, und wir haben auch genügend Feldbetten.“

Wir warfen einander unsichere Blicke zu.

„Lassen Sie uns zuerst einen Rundgang durch das Haus machen“, schlug Sarah vor. „Ich begleite Sie. Dann können Sie sich alles in Ruhe ansehen und sich danach entscheiden.“ Ich nahm Hugos Hand und empfing einen wahren Schwall gemischter Gefühle. Die zerrissene Gefühlswelt meines Begleiters erfüllte mich nicht gerade mit Vertrauen. Bloß weg hier! dachte er.

Ich warf meine bisherigen Pläne über Bord. Wenn Hugo so verstört war, dann sollten wir eigentlich wirklich nicht mehr hier sein. Alle Fragen, die wir noch nicht geklärt hatten, konnten warten. „Wir gehen zu mir und packen unsere Schlafsäcke und die Kissen, Schatz!“ verkündete ich fröhlich. „Was meinst du?“

„Ich muß auch noch die Katze füttern“, meinte Hugo. „Aber wir kommen wieder. Um halb sieben, sagten Sie?“

„Steve, haben wir im Lager nicht noch ein paar alte Schlafsäcke?“ fragte Sarah. „Noch von damals, als das andere nette Pärchen eine Weile hier bleiben wollte?“

„Sie sehen, am liebsten würden wir Sie hier behalten, bis die anderen kommen!“ drängte Steve, dessen Lächeln wieder so strahlend war wie eh und je. Ich wußte, daß man uns irgendwie bedrohte; ich wußte, wir mußten das Weite suchen - aber konkret bekam ich rein psychisch von den Newlins nur eine solide Mauer der Entschiedenheit. Polly Blythe dagegen schien voller Schadenfreude. Also war es wohl so, daß man Hugo und mich irgendwie verdächtigte. Ich wollte allerdings ungern nachbohren - sollten wir es schaffen, hier herauszukommen, versprach ich mir, würde ich nie wieder in dieses Haus zurückkehren. Auch würde ich nie wieder als Detektivin für Vampire tätig werden. Fürderhin wollte ich im Merlottes kellnern und mit Bill schlafen - mehr nicht.

„Wir müssen aber jetzt wirklich los“, sagte ich fest, aber höflich. „Wir sind sehr beeindruckt von der Arbeit hier und wollen heute abend auch gern wiederkommen und an der Nacht in der Kirche teilnehmen, aber vorher müssen wir noch ein, zwei Sachen erledigen und dafür ist ja auch noch genügend Zeit. Sie wissen ja selbst, was sich alles ansammelt, wenn man die Woche über arbeiten muß. All die Kleinigkeiten, die liegen bleiben.“

„Die laufen Ihnen schon nicht weg!“ meinte Steve jovial. „Die sind bestimmt noch da, wenn die Nacht der Kirche morgen vorbei ist. Sie müssen einfach hier bleiben - Sie beide!“

Nun gab es kaum noch die Möglichkeit, uns zu verabschieden, ohne daß unsere Tarnung endgültig aufflog. Ich wollte auch ungern die erste sein, die unser Inkognito lüftete, jedenfalls nicht, solange noch die Hoffnung bestand, vielleicht doch noch irgendwie einfach zu verschwinden. Hier waren ja ziemlich viele Leute. Wir traten aus dem Büro und wandten uns nach links. Sarah ging voran, Polly zu unserer Rechten und Steve folgte. So trotteten wir gemeinsam den Flur entlang. Sobald wir an einer offenen Tür vorbeikamen, rief jemand: „Steve, kann ich dich kurz sprechen?“ oder: „Steve, Ed sagt, hier an der Stelle müssen wir uns einen anderen Text einfallen lassen.“ Aber Newlin ging nicht weiter auf diese Bitten ein. Seine einzige Reaktion war ein gelegentliches Zwinkern oder ein leichtes Zucken um den Mund.

Ich fragte mich, wie lange die Bruderschaft wohl weiterbestehen würde, wenn man Steve entfernte. Dann aber schämte ich mich für diesen Gedanken, denn eigentlich hatte ich damit ja gemeint: wenn man Steven umbrächte. Sowohl Polly als auch Sarah schienen durchaus in der Lage, in Steves Fußstapfen zu treten, wenn man es ihnen erlaubte, denn beide Frauen machten einen stahlharten Eindruck.

Alle Bürotüren, an denen wir vorbeikamen, standen sperrangelweit offen, und die Arbeit, die in diesen Büros stattfand, schien völlig harmlos und unschuldig zu sein - gesetzt den Fall, man hielt die ideologische Grundlage der Bruderschaft für harmlos und unschuldig. Die Menschen, die hier arbeiteten, wirkten durchweg völlig durchschnittlich - vielleicht ein wenig geleckter als der gewöhnliche Amerikaner. Es gab sogar ein paar farbige Helfer - und einen gab es, der war nicht menschlich.

Wir kamen an einer zierlichen kleinen Frau lateinamerikanischer Abstammung vorbei. Ihr Blick glitt neugierig über uns - da fing ich ein geistiges Signal von einer Art auf, wie ich es bisher nur einmal zuvor aufgefangen hatte, von Sam Merlotte nämlich. Diese Frau war Gestaltwandlerin! Ihre Augen weiteten sich erstaunt, als sie spürte, daß auch ich 'anders' war. Ich versuchte, ihren Blick aufzufangen. Einen Moment lang sahen wir einander an. Ich bemühte mich, ihr eine Botschaft zu senden; sie strengte sich an, sie nicht zu empfangen.

„Sagte ich schon, daß die erste Kirche auf diesem Gelände in den frühen 60er Jahren errichtet wurde?“ fragte Sarah, als die zierliche Gestaltwandlerin sich an uns vorbeigezwängt hatte, um dann in Windeseile den Flur hinab zu verschwinden. Sie war fast schon nicht mehr zu sehen, da drehte sie sich noch einmal um, und unsere Blicke trafen sich. Die Augen der Frau blickten verängstigt; meine riefen eindeutig um Hilfe.

„Nein“, antwortete ich auf Sarahs Frage, verwirrt über die plötzliche Wendung, die die Unterhaltung genommen hatte.

„Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte“, lockte Sarah. „Dann haben Sie die ganze Kirche gesehen.“ Wir hatten die hinterste Tür in diesem Flügel erreicht, durch deren Pendant man im anderen Flügel nach draußen gelangte. Von außen betrachtet schienen die beiden Seitenflügel der Kirche völlig identisch. Klar, meine Beobachtungen waren offensichtlich fehlerhaft gewesen, aber dennoch ...

„Genug Platz haben Sie hier ja“, kommentierte Hugo freundlich. Welch gemischte Gefühle ihn auch umgetrieben haben mochten, sie hatten sich nun alle gegeben. Im Gegenteil: Hugo machte sich überhaupt keine Sorgen mehr. Nur jemand, der über kein hellseherisches Talent verfügt, würde sich in einer solchen Situation keine Sorgen machen.

Auf Hugo traf das mit dem Mangel an hellseherischen Talenten offenbar zu: Er wirkte lediglich interessiert, als Polly die letzte Tür öffnete, die sich am hintersten Ende des Flurs befand. Die Tür, die uns nach draußen hätte führen müssen.

Die statt dessen jedoch in die Tiefe führte.