Kapitel 6
„Nein!“ rief ich spontan. „Ich leide doch ein wenig unter Platzangst! Ehe ich hierherzog, wußte ich gar nicht, wie viele Häuser in Dallas einen Keller haben. Ich muß Ihnen leider gestehen, daß ich den hier nicht besichtigen will. Es geht nicht.“ Um meine Worte zu untermauern, klammerte ich mich hilfesuchend an Hugo, wobei ich versuchte, charmant und gleichzeitig peinlich berührt zu lächeln, als schäme ich mich meiner Schwäche.
Hugos Herz raste, als würde es jeden Moment zerspringen. Ich hätte schwören können, daß der Mann vor Angst völlig außer sich war. Beim Anblick der Kellertreppe war ihm die Ruhe irgendwie mit einem Schlag vergangen. Was war nur los mit ihm? Trotz seiner Angst brachte Hugo es fertig, aufmunternd meine Schulter zu tätscheln und unsere Begleiter entschuldigend anzulächeln. „Vielleicht sollten Marigold und ich lieber gehen“, schlug er vor.
„Nein! Ich finde, Sie müssen unbedingt sehen, was wir da unten alles haben“, rief Sarah, wobei sie fast laut gelacht hätte, so sehr freute sie sich darauf, uns in den Untergrund zu führen. „Wir besitzen einen Bunker, stellen Sie sich das einmal vor! Einen voll eingerichteten Bunker - stimmt's, Steve?“
„Wir haben da unten alles mögliche“, gab Steve ihr recht. Der Mann war immer noch so entspannt, jovial und Herr der Lage wie zu Beginn unserer Begegnung, aber inzwischen fand ich diese Eigenschaften an ihm ganz und gar nicht mehr sympathisch. Nun trat er einen Schritt vor, und da er direkt hinter uns stand, mußte ich es ihm nach tun, denn ansonsten hätte er mich womöglich noch berührt, und das wollte ich auf jeden Fall vermeiden.
„Kommen Sie!“ Sarah war immer noch hellauf begeistert. „Ich wette, Gabe ist auch unten. Dann kann Steve gleich fragen, was er wollte, während wir uns in aller Ruhe den Rest unserer Einrichtung ansehen.“ Ebenso flink, wie sie uns voran den Flur entlang geeilt war, kletterte Sarah nun auch die Kellertreppe hinunter, wobei sie ihr rundliches Hinterteil schwenkte, ein Anblick, den ich wahrscheinlich niedlich gefunden hätte, wäre ich nicht kurz davor gewesen, gründlich die Nerven zu verlieren.
Polly Blythe gab uns mit einer Handbewegung zu verstehen, daß wir ihr vorangehen sollten, und das taten wir dann schließlich auch. Ich machte mit, weil Hugo fest davon überzeugt war, daß ihm nichts passieren würde. Das war die geistige Botschaft, die ich nun klar und deutlich von ihm erhielt. Keine Spur mehr von der Panik, unter der er gerade eben noch gelitten hatte. Es war, als hätte er sich mit etwas abgefunden, weil er es sich nun einmal vorgenommen hatte. Als betrachte er seine gemischten Gefühle nunmehr als irrelevant und habe sie von daher ad acta gelegt. Ich wünschte mir vergebens, in Hugos Kopf sei mehr und Detaillierteres zu lesen und wandte meine Aufmerksamkeit Steve Newlin zu, da ich mit Hugo nicht weiterkam. Von ihm empfing ich aber nach wie vor nichts weiter als eine solide Mauer aus Selbstzufriedenheit.
Immer tiefer drangen wir in das Kellergeschoß vor, auch wenn meine Schritte auf den Treppenstufen immer langsamer und langsamer wurden. Hugo, das konnte ich 'hören', war der festen Überzeugung, er werde diese Stufen auch wieder hinaufsteigen können - immerhin war er ein zivilisierter Mensch und befand sich in Gesellschaft anderer, ebenfalls zivilisierter Menschen.
Hugo konnte sich nicht vorstellen, daß ihm etwas nicht wieder Gutzumachendes zustoßen könnte: Er war ein weißer Amerikaner aus der Mittelschicht, der studiert hatte, genau wie alle anderen, die mit uns diese Treppe hinuntergingen.
Leider vermochte ich Hugos Überzeugung nicht zu teilen. Ich war kein durch und durch zivilisierter Mensch.
Eine neue, interessante Überlegung, die Sache mit dem zivilisierten Menschen, aber eine, die, wie viele andere, die ich an diesem Nachmittag angestellt hatte, erst einmal hintangestellt werden mußte, um später darüber nachzudenken. In Ruhe - falls mir eine solche Ruhe je wieder beschert sein würde.
Am Fuß der Treppe stießen wir auf eine weitere Tür. Sarah klopfte - und zwar in einem bestimmten Rhythmus, den ich mir sofort merkte: dreimal kurz, Pause, zweimal kurz. Ich hörte, wie ein Riegel zurückgeschoben wurde.
Der Typ mit dem schwarzen Igelschnitt - Gabe - öffnete. „Besucher!“ begrüße er uns begeistert. „Wie wunderbar!“ Gabes Polohemd war fein säuberlich in die gebügelten Leinenhosen gestopft, die Nike-Turnschuhe, die er trug, waren makellos rein und ohne einen einzigen Fleck, und der Mann war so glatt rasiert, glatter wäre nicht möglich gewesen. Gabe läutete seine Tage mit fünfzig Liegestützen ein, da wäre ich jede Wette eingegangen, und er war auf Speed; in jeder Geste, in jedem Wort schwang kaum verhüllte Erregung mit. Irgend etwas sorgte zweifellos dafür, daß Gabe auf Hochtouren lief.
Ich bemühte mich, das Areal, das vor uns lag, auf Spuren von Leben 'abzuhören', war aber viel zu nervös und aufgeregt, um mich konzentrieren zu können.
„Ich bin froh, daß du gekommen bist, Steve“, fuhr Gabe fort. „Wenn du vielleicht einen kleinen Blick in unser Gästezimmer werfen könntest, während Sarah unseren Besuchern den Luftschutzbunker zeigt?“ Dabei wies er mit dem Kopf auf eine Tür an der rechten Seite eines kleinen Durchgangs, dessen Wände und Decke aus Beton waren. An der linken Seite dieses Durchgangs befand sich auch eine Tür; eine weitere bildete das Ende des kleinen Flurs.
Mir mißfiel es hier unten gründlich. Ich hatte nur vorgegeben, unter Platzangst zu leiden, weil ich der Kellerbesichtigung hatte entgehen wollen; nun, da man mich die Treppe hinuntergelockt hatte, mußte ich feststellen, daß mir so eingesperrt unter der Erde tatsächlich mulmig zumute war. Der modrige Geruch hier unten, das gleißende Kunstlicht, das Gefühl, eingekerkert zu sein - das alles war mir aus tiefster Seele zuwider. Ich wollte keine Sekunde länger bleiben! Auf meinen Handflächen bildete sich ein Schweißfilm, meine Füße fühlten sich an, als seien sie am Fußboden festgewachsen. „Hugo!“ flüsterte ich. „Ich will das hier nicht!“ Nur ein Bruchteil meiner Verzweiflung war noch gespielt, was ich meiner Stimme auch anhörte. Es war mir unrecht, was ich hörte, aber ich konnte nichts dagegen machen.
„Marigold muß wohl wirklich wieder nach oben“, sagte Hugo entschuldigend. „Wenn Sie nichts dagegen haben, gehen wir einfach vor und warten oben auf Sie.“
Ich hoffte, meine kleine Theatervorstellung gut und überzeugend gespielt zu haben, wandte mich zum Gehen - und prallte gegen Steve. Ich blickte in sein Gesicht, nur um feststellen zu müssen, daß der Mann mit einem Mal überhaupt nicht mehr jovial lächelte. „Ich fürchte, Sie werden in einem der anderen Zimmer hier warten müssen, bis meine Arbeit beendet ist“, sagte er. „Dann werden wir uns unterhalten.“ Sein Tonfall verbot jede weitere Diskussion. Sarah öffnete die Tür zu einem winzigen Zimmerchen, in dem sich nur zwei Stühle sowie zwei Feldbetten befanden.
„Nein!“ rief ich, „ich kann nicht!“ Mit diesen Worten versetzte ich Steve einen Stoß. Seit ich Vampirblut zu mir genommen habe, bin ich stark, wirklich sehr stark, und so geriet der Mann, der doch so viel größer war als ich, heftig ins Wanken. So rasch ich konnte lief ich an ihm vorbei die Treppe hinauf. Dann aber schloß sich plötzlich eine kräftige Hand um meinen Knöchel, und ich ging äußerst schmerzhaft zu Boden. Die Kanten der Treppenstufen erwischten mich einfach überall - ich prallte mit dem linken Jochbein auf, mit beiden Brüsten, mit dem linken Knie, und das tat so weh, daß ich mich um ein Haar übergeben hätte.
Wieder unten angekommen, half Gabe mir unsanft auf die Beine. „Kommen Sie schon, meine Dame!“ bemerkte er dazu. „Was haben Sie nur - wie konnten Sie ihr derart wehtun?“ stotterte Hugo ehrlich besorgt und verärgert. „Wir sind hier, weil wir uns mit dem Gedanken tragen, Ihrer Gruppierung beizutreten, und dann behandeln Sie uns so?“
„Ach, lassen Sie doch das Theater!“ empfahl Gabe meinem Begleiter. Dann drehte er mir, ehe ich mich noch von dem Sturz erholen und wieder sammeln konnte, mit viel Schwung den Arm auf den Rücken. Der Schmerz verschlug mir schier den Atem. So gelang es Gabe, mich in das kleine Zimmer zu bugsieren. Als letztes packte er meine Perücke und riß sie mir vom Kopf. Hugo folgte mir freiwillig ins Zimmer, obwohl ich ihm ein heiseres „Nein!“ zugerufen hatte. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloß.
Als Nächstes hörten wir, wie die Tür verriegelt wurde, und das war es dann auch.
* * *
„Sookie!“ sagte Hugo. „An Ihrem linken Jochbein ist die Haut abgeschürft.“
„Was Sie nicht sagen!“ murmelte ich leise, aber sarkastisch.
„Sind Sie schlimm verletzt?“
„Was glauben Sie denn?“
Er nahm meine Frage wörtlich. „Ich glaube, Sie haben blaue Flecken, Prellungen und Quetschungen; vielleicht auch eine Gehirnerschütterung. Knochen sind nicht gebrochen, oder?“
„Höchstens ein oder zwei“, gab ich zurück.
„Schwer verletzt können Sie nicht sein, wenn ihnen das Spotten nicht vergangen ist“, sagte Hugo. Ihm wäre es lieber gewesen, er hätte wütend auf mich sein können - das entnahm ich seinen Gedanken. Erstaunt fragte ich mich, warum das wohl so sein mochte, warum er lieber wütend auf mich gewesen wäre, als mich bedauern zu müssen. Obwohl - eigentlich ahnte ich, warum. Nein, eigentlich wußte ich es inzwischen sogar ganz genau.
Ich ruhte auf einem der Feldbetten und hatte den rechten Arm über die Augen gelegt. Ich wollte ein wenig nachdenken. Von dem, was nach unserem Einschluß auf dem Flur vor sich gegangen war, hatten wir nur sehr wenig mitbekommen. Einmal war mir gewesen, als hätte ich gehört, wie eine Tür aufging und gedämpfte Stimmen an mein Ohr drangen, aber das war auch schon alles gewesen. Diese Mauern waren errichtet worden, um einer Atomexplosion standzuhalten; die Stille hier unten war wohl normal, etwas anderes hätten wir gar nicht erwarten können.
„Haben Sie eine Uhr?“ fragte ich Hugo.
„Ja. Es ist siebzehn Uhr dreißig.“
Noch gut zwei Stunden, ehe sich die Vampire erhoben.
Ich schwieg, und wieder legte sich die Stille um uns. Als ich ganz sicher sein konnte, daß sich der schwer lesbare Hugo vollständig in die eigenen Gedanken zurückgezogen hatte, öffnete ich mein Bewußtsein ganz weit und hörte ihm mit all der Konzentration, die ich irgend aufbringen konnte, zu.
Aber das hätte gar nicht geschehen dürfen, das gefällt mir nicht, bestimmt wird alles gut, was, wenn ich mal muß, ich kann doch nicht hier vor ihr mein Ding rausholen, vielleicht erfährt Isabel ja nichts von alldem, ich hätte es wissen müssen nach der Sache gestern nacht mit dem Mädchen, wie soll ich hier bloß rauskommen, ohne meine Zulassung zu verlieren, wenn ich gleich morgen anfange, mich zu distanzieren, vielleicht kann ich dann Schritt für Schritt...
Ich preßte mir den Arm so fest gegen die Augen, daß es schmerzte. Sonst wäre ich aufgestanden, hätte mir einen der Stühle gegriffen und Hugo windelweich geschlagen. Er hatte wohl noch nicht wirklich begriffen, worum es bei meiner Telepathie ging, und dasselbe traf offenbar auch auf die Bruderschaft zu, denn ansonsten hätten sie ihn nie und nimmer hier unten mit mir eingesperrt.
Andererseits konnte es durchaus sein, daß Hugo für die Bruderschaft ebenso entbehrlich war wie für mich und wie er es ganz sicherlich für die Vampire sein würde: Ich konnte es kaum erwarten, Isabels Reaktion zu erleben, wenn ich ihr erzählte, daß ihr kleiner Lustknabe ein Verräter war.
Bei diesem Gedanken verging mir mein Blutdurst auch schon wieder. Sobald mir klar war, was Isabel Hugo antun würde, war mir auch klar, daß es mir keine Genugtuung verschaffen würde, ihr dabei zuzusehen. Ganz im Gegenteil: Ich würde Todesängste bei einem solchen Schauspiel ausstehen, und mir wäre unter Garantie speiübel.
Irgendwo hinten in meinem Kopf jedoch beharrte ein kleiner Teil meines Bewußtseins weiterhin darauf, daß der Mann hier bei mir im Zimmer eine solche Behandlung eigentlich voll und ganz verdient hätte.
Wem nun aber galt die Loyalität unseres zwiegespaltenen Anwalts?
Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden.
Mühsam richtete ich mich auf, was ziemlich wehtat, und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. Eigentlich erhole ich mich ziemlich schnell von Verletzungen - auch das habe ich dem Vampirblut zu verdanken -, aber unter dem Strich bin ich eben doch lediglich ein Mensch, und von daher war mir ziemlich elend zumute. Ich wußte genau, daß mein Gesicht schlimm zerschunden war und mußte dazu noch befürchten, daß ich mir den verletzten Wangenknochen gebrochen hatte. Meine linke Gesichtshälfte schwoll jedenfalls erschreckend schnell immer stärker an. Aber meine Beine waren in Ordnung, die hatten sie mir nicht gebrochen. Ich konnte also immer noch laufen, wenn sich die Gelegenheit dazu bot.
Nachdem ich es mir so gemütlich gemacht hatte, wie es unter diesen Umständen möglich war, sagte ich: „Wie lange sind Sie schon ein Verräter?“
Wie rot er da wurde! „Verräter?“ wehrte er sich. „Wen habe ich denn verraten? Isabel? Die menschliche Rasse?“
„Das dürfen Sie sich aussuchen.“
„Die menschliche Rasse habe ich verraten, als ich mich vor Gericht auf die Seite der Vampire schlug. Hätte ich auch nur die geringste Ahnung gehabt, wie Vampire wirklich sind ... ich habe den Fall damals übernommen, ohne ihn mir wirklich angesehen zu haben. Ich dachte, es sei eine interessante juristische Herausforderung, genau das richtige für mich. Ich habe als Anwalt immer gern Bürgerrechtsfälle übernommen, und damals fand ich, Vampire hätten dieselben Bürgerrechte wie andere Personen auch.“
Nun hatten sich bei Hugo alle Schleusen geöffnet, und er nahm kein Blatt mehr vor den Mund. „Klar doch“, stichelte ich.
„Ich dachte, ihnen die freie Wahl des Wohnorts zu verweigern sei unamerikanisch“, fuhr er erregt fort, wobei er gleichzeitig sehr bitter klang und so, als habe er die ganze Welt gründlich satt.
Er hatte ja keine Ahnung, wie bitter die Welt sein konnte!
„Aber wissen Sie was? Vampire sind unamerikanisch. Sie sind auch keine Schwarzen. Sie sind weder asiatischer noch indianischer Abstammung, weder Rotarier noch Baptisten - sie sind einfach nur Vampire. Vampir: Das ist ihre Hautfarbe und ihre Religion und auch ihre Nationalität.“
Nun, so läuft es nun mal, wenn eine Minderheit Jahrtausende illegal im Untergrund leben muß! Das hat man davon!
„Zu der Zeit dachte ich, wenn Stan Davis an der Green Vale Road oder im Hundred-Acre Wood wohnen wollte, dann sei das sein gutes Recht als Amerikaner. Also habe ich ihn gegen seine Nachbarn verteidigt und den Prozeß für ihn gewonnen. Ich war sehr stolz auf mich. Dann lernte ich Isabel kennen. Eines Abends ging ich mit ihr ins Bett, wobei ich mir verwegen und mutig vorkam, mich ungeheuer stark fühlte. Was für ein Mann, was für ein emanzipierter Geist!“
Ohne mit der Wimper zu zucken starrte ich ihn an und sagte kein Wort.
„Der Sex ist wunderbar, einzigartig, das wissen Sie ja. Ich geriet in Isabels Bann, konnte nicht genug von ihr bekommen. Meine Kanzlei litt. Ich verabredete mich nur noch nachmittags mit Klienten, weil ich morgens nicht aus dem Bett kam. Morgendliche Gerichtstermine konnte ich nicht mehr wahrnehmen, und nach Einbruch der Nacht war es mir unmöglich, Isabel zu verlassen.“
In meinen Ohren klang das wie die Geschichte eines Trinkers. Hugo war vom Sex mit einer Vampirin abhängig geworden - daß so etwas möglich war, fand ich abstoßend und faszinierend zugleich.
„Dann fing ich an, kleinere Botengänge für Isabel zu übernehmen. Im letzten Monat habe ich mich in dem Haus, das die Vampire bewohnen, um den Haushalt gekümmert, einfach nur, um mit ihr zusammensein zu können. Als sie mich gestern abend bat, eine Schüssel ins Eßzimmer zu tragen, war ich ganz aufgeregt. Nicht der Aufgabe selbst wegen, das war eine simple Sache, reine Handarbeit, und ich bin immerhin Anwalt. Nein, ich war aufgeregt, weil die Bruderschaft mich angerufen hatte, um zu fragen, ob ich vielleicht für sie herausfinden könnte, was die Vampire von Dallas in nächster Zeit planten. Ich war wütend auf Isabel, als die Bruderschaft sich bei mir meldete. Wir hatten einen schlimmen Streit gehabt, wegen der Art, wie sie mit mir umging. So stand ich dem, was die Bruderschaft zu sagen hatte, offen gegenüber. Ich hatte ein Gespräch zwischen Stan und Isabel belauscht und gehört, wie Ihr Name fiel. Den gab ich an die Bruderschaft weiter. Sie hat ein Mitglied, das für Anubis Air arbeitet. Der Mann konnte herausfinden, wann Bills Maschine landen würde, woraufhin die Bruderschaft dann versucht hat, Ihrer am Flughafen habhaft zu werden. Sie wollten herausfinden, was die Vampire von Ihnen wollten und zu welchen Leistungen sie bereit wären, um Sie zurückzubekommen. Als ich dann mit der Schüssel ins Zimmer kam, nannten entweder Bill oder Stan Sie beim Namen, und da wußte ich, daß die Sache mit dem Flughafen nicht geklappt hatte. Nun hatte ich der Bruderschaft etwas wirklich Interessantes mitzuteilen. Wie froh ich war, konnte ich doch so wieder gutmachen, daß die Wanze, die ich ins Eßzimmer geschmuggelt hatte, verloren war.“
„Sie haben Isabel verraten“, sagte ich, „und mich haben Sie auch verraten. Dabei bin ich ein Mensch wie Sie.“
„Na ja“, sagte er, wobei er mir nicht in die Augen sehen konnte.
„Was ist mit Bethany?“
„Der Kellnerin?“
Er wich mir aus. „Der toten Kellnerin“, berichtigte ich.
„Sie haben sie sich geschnappt“, sagte er, wobei sein Kopf von der einen Seite zur anderen pendelte, als wolle er eigentlich sagen: 'Nein, es ist völlig unmöglich, sie können das gar nicht getan haben, es ist bestimmt nicht wahr'. „Sie haben sie sich geschnappt“, wiederholte er, „und ich hatte keine Ahnung, was sie mit ihr tun würden. Ich wußte nur, daß die Frau die einzige war, die Godfrey und Farrell zusammen gesehen hatte; das hatte ich Newlin und den anderen auch gesagt. Als ich dann heute aufstand und erfahren mußte, daß die Frau tot aufgefunden worden war, mochte ich es einfach nicht glauben!“
„Die Bruderschaft hat Bethany entführt, nachdem Sie gemeldet hatten, daß sie bei Stan gewesen war. Nachdem Sie verraten hatten, daß die junge Frau sieh als einzige an das Treffen der beiden Vampire erinnern konnte!“
„Sie haben recht, so muß es wohl gewesen sein.“
„Sie haben gestern nacht bei der Bruderschaft angerufen.“
„Ja. Ich habe ein Handy. Damit ging ich in den Garten hinter dem Haus und rief hier an. Ich ging ein ziemliches Risiko ein - Sie wissen ja selbst, wie gut die Vamps hören. Aber ich habe angerufen!“ Wie gern er vor sich selbst als Held dastehen wollte: ein Anruf direkt aus dem Hauptquartier der Vampire, um die arme kleine Bethany ans Messer zu liefern, die dann wenig später erschossen in einer Sackgasse aufgefunden wird.
„Sie wurde erschossen, nachdem Sie sie verraten hatten.“
„Ja, ich ... ich habe es in den Nachrichten gehört.“
„Raten Sie mal, wer das war, Hugo.“
„Ich ... weiß nicht.“
„Aber sicher wissen Sie das. Bethany war eine Augenzeugin. Noch dazu diente sie als Lektion. Eine Lektion für die Vampire - das machen wir mit Leuten, die für euch arbeiten oder ihren Lebensunterhalt bei euch verdienen, wenn sie sich gegen die Bruderschaft stellen. Verraten Sie mir mal, was die Bruderschaft nun Ihrer Meinung nach mit Ihnen vorhat.“
„Ich habe der Bruderschaft geholfen“, erwiderte er verwirrt.
„Wer außer Ihnen weiß das?“
„Niemand“.
„Wer wäre also tot? Letztlich doch nur der Anwalt, der dafür gesorgt hat, daß Stan Davis dort wohnen kann, wo er wohnen will!“
Hugo war sprachlos.
„Wenn Sie für die Bruderschaft so überaus wichtig sind“, fuhr ich gnadenlos fort, „warum hat man Sie denn dann zusammen mit mir hier eingesperrt?“
„Weil Sie ja bis jetzt gar nicht wußten, was ich getan habe!“ triumphierte er. „Bis jetzt bestand die Möglichkeit, aus Ihnen noch mehr Informationen herauszulocken, die sich dann später gegen die Vampire verwenden lassen könnten.“
„Also werden die Sie jetzt, jetzt, wo ich weiß, wer Sie sind und was Sie getan haben, laufen lassen, ja? Versuchen Sie es doch mal! Ich wäre nämlich lieber allein.“
Genau in diesem Moment ging eine Luke in der Tür auf, von deren Existenz ich vorher nichts mitbekommen hatte, da ich draußen auf dem Flur, wo sie mir hätte auffallen können, zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war. In der Öffnung, die etwa zwanzig Quadratzentimeter groß sein mochte, erschien das vertraute Gesicht eines Mannes.
Gabe grinste fröhlich. „Na?“ fragte er. „Wie steht's da drin?“
„Sookie braucht einen Arzt,“ erklärte Hugo. „Sie jammert nicht, aber ich glaube, ihr Jochbein ist gebrochen.“ Er klang vorwurfsvoll. „Sie weiß über meine Allianz mit der Bruderschaft Bescheid, also können Sie mich genauso gut auch freilassen.“
Obgleich ich nicht wußte, was Hugo vorhatte, versuchte ich, einen möglichst zerschlagenen Eindruck zu machen. Schwer fiel mir das nicht.
„Da habe ich eine prima Idee!“ sagte Gabe. „Ich fing nämlich gerade an, mich hier unten ziemlich zu langweilen, und ich erwarte nicht, daß Steve und Sarah hier in nächster Zeit aufkreuzen. Selbst die gute alte Polly Blythe wird sich eine Weile nicht sehen lassen. Wir haben hier unten noch einen Gefangenen, und der freut sich vielleicht, dich zu sehen. Farrell! Erinnerst du dich an Farrell? Vielleicht hast du ihn ja im Hauptquartier der Bösen kennengelernt?“
„Ja“, erwiderte Hugo. Er schien nicht erbaut über die Wende, die die Unterhaltung mit Gabe genommen hatte.
„Kannst du dir vorstellen, wie froh Farrell bei deinem Anblick sein wird? Wo er doch noch dazu schwul ist. Ein schwuler Blutsauger. Wir sitzen hier so tief unter der Erde, daß er sich angewöhnt hat, früh wach zu werden. Da habe ich mir gedacht, ich stecke dich und ihn zusammen und amüsiere mich derweil mit unserer kleinen Verräterin hier.“ Dabei grinste mich der Kurzgeschorene auf eine Art und Weise an, die mir den Magen umdrehte.
Hugos Gesicht bot einen beeindruckenden Anblick. Einen wahrhaft beeindruckenden Anblick! Mir schossen eine Menge Dinge durch den Kopf, die ich gern gesagt und die auch gut hierher gepaßt hätten, es gelang mir jedoch, mir dies höchst zweifelhafte Vergnügen zu verkneifen. Es war besser, mir die Energie für Wichtigeres aufzusparen.
Dabei sah Gabe so gut aus! Ohne daß ich es wollte, kam mir einer der Lieblingssprüche meiner Oma in den Sinn. „Wahre Schönheit kommt von innen!“ murmelte ich finster vor mich hin, woraufhin ich mich dem äußerst schmerzhaften Prozeß widmete, auf die Beine zu kommen, um mich besser wehren zu können. Gebrochen waren meine Beine nicht, aber das linke Knie befand sich in einem wahrhaft jämmerlichen Zustand, verfärbt und ziemlich geschwollen.
Ob Hugo und ich gemeinsam es schaffen würden, Gabe zu Boden zu werfen, wenn er die Tür öffnete? Diese Frage erübrigte sich, denn als die Tür nun wirklich aufging, mußte ich feststellen, daß der Gefängniswärter sich mit einer Pistole und einem ziemlich gemein aussehenden schwarzen Objekt bewaffnet hatte. Bei dem gemein aussehenden Objekt handelte es sich um einen Knüppel, mit dessen Hilfe man jemanden durch einen Stromstoß betäuben konnte.
„Farrell!“ rief ich. Wenn Farrell wach war, dann konnte er mich hören, er war ja schließlich Vampir.
Gabe zuckte sichtlich zusammen und beäugte mich mißtrauisch.
„Ja?“ erklang eine tiefe Stimme aus dem Raum, der weiter hinten im Flur lag. Ich hörte Kettenrasseln: Der Vampir bewegte sich. Natürlich hatten sie ihn mit Silberketten fesseln müssen, sonst hätte er einfach die Tür aus den Angeln gerissen.
„Stan schickt uns!“ schrie ich, aber da versetzte mir Gabe auch schon mit dem Rücken der Hand, in der er die Pistole hielt, einen kräftigen Schlag. Ich stand direkt an der Wand; der Schlag ließ meinen Kopf schmerzhaft dagegen schlagen. Ich gab einen halb erstickten, schrecklichen Laut von mir, nicht ganz Schrei, aber zu laut, für ein Stöhnen.
„Halts Maul, du Schlampe!“ zischte Gabe mich an. Mit der Pistole hielt er Hugo in Schach, während er den Betäubungsknüppel nur Zentimeter von meinem Körper entfernt in Bereitschaft hielt. „Auf geht's, Herr Anwalt. Raus auf den Flur, und komm mir bloß nicht zu nahe, hast du mich verstanden?“
Mit schweißüberströmtem Gesicht schob sich Hugo in den Flur. Ich sah nicht genau, was da draußen geschah, aber anscheinend war der Flur so eng, daß Gabe Hugo sehr nahe kam, als er nun Farrells Zelle aufschloß. Gerade dachte ich, Gabe sei weit genug entfernt und ich könnte einen Ausfall wagen, da erhielt Hugo den Befehl, meine Zellentür zu schließen und kam diesem Befehl nach, auch wenn ich ihm durch verzweifeltes Kopfschütteln zu verstehen gab, er möge das doch bitte sein lassen.
Ich glaube nicht, daß Hugo mich überhaupt sah. Er hatte sich ganz in sich zurückgezogen. In seinem Inneren brach gerade alles zusammen. Seine Gedankenwelt war ein einziges Chaos. Ich hatte mein Bestes getan, ihm zu helfen, indem ich Farrell mitteilte, daß Stan uns geschickt hatte. Was ja, zumindest was Hugo betraf, eine ziemlich gewagte Interpretation der tatsächlichen Ereignisse war, aber Hugo war viel zu verängstigt, desillusioniert oder beschämt, um irgendwelches Rückgrat zu zeigen. Ein wenig wunderte ich mich über mich selbst. Warum hatte ich es angesichts der Tragweite von Hugos Verrat überhaupt noch auf mich genommen, Farrell Bescheid zu sagen? Sicher hätte ich das nicht getan, wenn ich nicht die Hand des Anwalts gehalten und die Bilder seiner Tochter gesehen hätte.
„Na toll, Hugo“, sagte ich. Kurz tauchte sein Gesicht noch einmal an der Luke in der Tür meiner Zelle auf, ein bleiches Gesicht, verängstigt, verwirrt, dann verschwand es. Ich hörte, wie eine Tür geöffnet wurde, ich hörte Ketten rasseln, ich hörte, wie die Tür wieder geschlossen wurde.
Also hatte Gabe Hugo wirklich gezwungen, zu Farrell in die Zelle zu gehen. Ich holte rasch und tief mehrmals hintereinander Luft, so lange, bis ich das Gefühl hatte, bald hyperventilieren zu müssen. Dann ergriff ich einen der beiden Stühle in der Zelle. Es war ein Plastikstuhl mit vier Metallbeinen, wie jeder ihn kennt, weil wir alle mehr als einmal in einem Gemeindehaus, in einem Klassenzimmer oder bei irgendeiner Versammlung auf so einem Stuhl gesessen haben. Diesen Stuhl hielt ich, wie ein Löwenbändiger ihn gehalten hätte: Die Beine zeigten von mir weg. Mehr war mir zu meinem Schutz nicht eingefallen. Ich dachte an Bill, aber das tat zu weh. Ich dachte an Jason und wünschte mir, er wäre bei mir. Es war schon lange nicht mehr vorgekommen, daß ich diesen Wunsch gehegt hatte.
Die Tür ging auf, und Gabe lächelte schon beim hereinkommen. Es war ein sehr häßliches Lächeln, das die ganze Häßlichkeit seiner Seele offenbarte. Das hier entsprach tatsächlich seiner Vorstellung von Spaß.
„Der kleine Stuhl soll dich schützen?“ fragte er hämisch.
Ich antwortete nicht; mir war nicht nach reden. Auch wollte ich den Schlangen im Kopf dieses Mannes nicht zuhören müssen; also schottete ich meinen Kopf ab und konzentrierte mich ganz auf mich selbst, machte mich stark, um den Dingen entgegenzusehen, die auf mich zukamen.
Gabe hatte die Pistole ins Halfter gesteckt, hielt den Betäubungsknüppel aber nach wie vor griffbereit. Doch dann schien er zu denken, er könne auch ohne Hilfsmittel spielend mit mir fertig werden: Der Knüppel wurde in einer Schlaufe links an seinem Gürtel verstaut. Dann griff er nach den Stuhlbeinen und fing an, den Stuhl von einer Seite zur anderen zu schwingen.
Da griff ich an.
Mein heftiger Gegenangriff traf Gabe so unerwartet, daß ich den Mann fast schon aus der Tür geschoben hatte, als es ihm in letzter Sekunde gelang, die Stuhlbeine seitwärts zu kippen, so daß es mir unmöglich war, ihn durch die enge Tür zu bugsieren. Er stand gegen die Wand mir gegenüber gepreßt, keuchend, mit krebsrotem Gesicht.
„Schlampe!“ zischte er erbost, dann stürzte er sich auf mich, wobei er diesmal versuchte, mir den Stuhl aus den Händen zu winden. Aber ich habe wie gesagt Vampirblut getrunken. Den Stuhl würde Gabe nicht bekommen, und mich auch nicht.
Ohne daß ich es mitbekommen hatte, hatte Gabe den Betäubungsstab wieder gezogen. Nun hob er ihn rasch und geschickt wie eine Schlange über den Stuhl und zog mir den Knüppel über die Schulter.
Er hatte damit gerechnet, daß ich zusammenbrechen würde. Das tat ich zwar nicht, aber ich sank in die Knie, wobei ich immer noch die Stuhllehne umklammert hielt. Ehe mir klar war, was mit mir geschehen war, hatte Gabe mir den Stuhl aus der Hand gerissen und versetzte mir einen kräftigen Stoß, so daß ich umkippte und auf dem Rücken landete.
Ich konnte mich kaum bewegen, aber ich konnte schreien und meine Beine zusammenpressen, und beides tat ich dann auch.
„Halts Maul!“ schrie Gabe. Er hockte auf mir, wir hatten also Körperkontakt; ganz deutlich konnte ich in seinen Gedanken lesen, wie gern er mich bewußtlos gesehen hätte, wie sehr er es genossen hätte, mich in ohnmächtigem Zustand zu vergewaltigen. Einer bewußtlosen Frau Gewalt anzutun, erfuhr ich, machte ihn richtig scharf, das war seine Idealvorstellung überhaupt.
„Wach magst du die Frauen nicht, die du dir nimmst!“ zischte ich keuchend. „Habe ich recht?“ Daraufhin streckte er die Hand aus und zerriß meine Bluse.
In der Ferne hörte ich Hugo schreien, als würde ihm das irgend etwas nützen. Ich biß Gabe in die Schulter.
Der beschimpfte mich daraufhin erneut als Schlampe - es hätte ihm ja auch ruhig mal etwas anderes einfallen können fummelte an seinem Hosenschlitz herum und versuchte, meinen Rock hochzuschieben. Eine Sekunde lang war ich dankbar dafür, einen so langen Rock gekauft zu haben.
„Du hast wohl Angst, die Frauen könnten sich beschweren, wenn sie wach sind, was?“ kreischte ich. „Laß mich los, du Schwein! Runter, runter, runter!“
Irgendwie hatte ich es geschafft, die Arme freizubekommen. Sie hatten den elektrischen Schlag inzwischen auch soweit verkraftet, daß sie wieder funktionsfähig waren, also formte ich mit beiden Händen zwei Schalen und schlug sie Gabe auf die Ohren, während ich gleichzeitig weiter auf ihn einschrie.
Er brüllte auf, fuhr zurück und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Gabe war wütend, so ungeheuer wütend, daß diese Wut sich Bahn brach und über mich hinwegschwemmte, bis ich das Gefühl hatte, von Kopf bis Fuß in Wut und Haß zu baden. Da wußte ich, der Mann würde mich umbringen, wenn sich die Gelegenheit bot, ganz gleich, welche Repressalien er danach zu erwarten hätte. Ich versuchte, mich zur Seite wegzurollen, aber er hielt mich mit den Beinen am Boden fest. Ich konnte zusehen, wie sich seine rechte Hand zur Faust ballte, wie diese Faust auf mich zukam und dabei immer größer wurde, bis sie so groß war wie ein Felsbrocken. Mit einem Gefühl hilfloser Verzweiflung erkannte ich, daß dieser Schlag mich endgültig außer Gefecht setzen würde, und dann wäre alles aus und vorbei...
Doch dann traf der Schlag mich gar nicht!
Statt dessen flog Gabe durch die Luft, mit offenem Hosenstall und baumelndem Pimmel, seine Faust traf nichts als Luft, seine Füße traten hilflos und vergeblich nach meinen Beinen.
Der Mann, der Gabe durch die Luft gewirbelt hatte und nun festhielt, war nicht sehr groß. Er war auch kein Mann, wie ich auf den zweiten Blick sah; er war ein Teenager. Ein uralter Teenager.
Er war blond, trug kein Hemd, und seine Arme sowie der Torso waren über und über mit blauen Tätowierungen bedeckt. Gabe schrie und schlug um sich, aber der Junge stand einfach nur da, ruhig, mit völlig ausdruckslosem Gesicht, bis Gabe die Luft wegblieb. Als der Widerling endlich den Mund hielt, schlang der junge Mann beide Arme um Gabes Taille und drückte zu, bis der Oberkörper meines Widersachers schlaff nach vorne sackte.
Der junge Mann sah auf mich herab, ohne auch nur im Geringsten eine Miene zu verziehen. Mir stand die Bluse offen, und mein BH war in der Mitte entzwei gerissen.
„Sind Sie sehr schwer verletzt?“ erkundigte sich der Teenager schließlich, allerdings offenbar nur recht ungern.
Ich hatte einen Retter, aber keinen besonders enthusiastischen.
Ich stand auf. Das hört sich leichter an, als es war: Eigentlich war es eine ziemliche Leistung, daß ich mich überhaupt hochrappeln konnte, und es dauerte auch eine ganze Weile. Ich stand unter Schock, weswegen ich am ganzen Leib zitterte wie Espenlaub. Als ich endlich stand, konnte ich feststellen, daß ich ebenso groß war wie mein Retter. Der mochte ungefähr sechzehn gewesen sein - in Menschenjahren gerechnet als er Vampir wurde. Wie lange das her war, vermochte ich nicht zu sagen. Der Junge war wahrscheinlich älter als Stan, älter als Isabel. Er sprach ein deutliches, klares Englisch, jedoch mit einem hörbaren Akzent, den ich nicht einzuordnen vermochte. Vielleicht wurde seine Muttersprache, inzwischen tot, schon nicht mehr gesprochen. Wie einsam er sich fühlen mußte!
„Vielen Dank!“ sagte ich. „Wird schon wieder werden.“ Ich versuchte, mir die Bluse zuzuknöpfen - ein paar Knöpfe waren noch dran -, aber das gelang mir nicht, da meine Hände zu sehr zitterten. Ohnehin schien der Vampir nicht sehr erpicht darauf, meine Haut zu sehen. Seine Augen blickten absolut Leidenschaftslos.
„Godfrey!“ sagte Gabe mit ganz dünner Stimme. „Godfrey! Sie hat zu entkommen versucht!“
Godfrey schüttelte den Mann, woraufhin er den Mund hielt.
Das war also Godfrey, der Vampir, den ich in Bethanys Erinnerung, mit Bethanys Augen gesehen hatte. Mit den einzigen Augen, die sich daran erinnern konnten, ihn an jenem Abend im Bat's Wing gesehen zu haben. Godfrey, den ich durch Augen gesehen hatte, die nie wieder irgend etwas erblicken würden.
„Was haben Sie nun mit mir vor?“ wollte ich wissen, wobei ich mich anstrengte, ruhig und gleichmäßig zu reden.
Godfreys blaßblaue Augen flackerten verunsichert. Er wußte es nicht.
Die Tätowierungen hatte sich der Junge machen lassen, als er noch gelebt hatte. Sie waren sehr merkwürdig: Symbole, deren Bedeutung, darauf hätte ich jede Wette abgeschlossen, schon vor Jahrhunderten in Vergessenheit geraten war. Irgendwo saß wahrscheinlich ein Gelehrter, der sein letztes Hemd gegeben hätte, um einen Blick auf diese Tätowierungen werfen zu können, und ich Glückspilz bekam sie einfach so zu Gesicht, ohne auch nur einen Heller dafür zu bezahlen.
„Bitte lassen Sie mich hier raus“, sagte ich mit so viel Würde, wie ich aufzubringen vermochte. „Die töten mich sonst.“
„Aber du verkehrst mit Vampiren“, erwiderte Godfrey.
Verzweifelt zuckte mein Blick im Zimmer hin und her, während ich versuchte, mir auf seine Worte einen Reim zu machen.
„Na ja“, sagte ich endlich ein wenig zögerlich. „Sie selbst sind doch auch Vampir, oder nicht?“
„Morgen tue ich öffentlich Buße für meine Sünden“, sagte Godfrey. „Morgen werde ich den Sonnenaufgang begrüßen. Zum ersten Mal seit tausend Jahren werde ich die Sonne sehen, und dann werde ich das Antlitz Gottes schauen.“
Na dann. „Sie haben Ihre Wahl getroffen“, sagte ich.
„Ja“, erwiderte Godfrey.
„Aber ich nicht, ich hatte keine. Ich will leben.“ Ich gönnte mir einen kurzen Blick in Gabes Gesicht, das inzwischen blau angelaufen war. Offenbar hatte Godfrey in seiner Erregung meinen Beinah-Vergewaltiger enger an sich gedrückt, als für diesen gut gewesen war. Ich fragte mich, ob ich den Vampir darauf hinweisen sollte.
„Du verkehrst mit Vampiren“, warf Godfrey mir vor, und ich sah ihm wieder ins Gesicht. Ich wußte, ich sollte meine Gedanken besser nicht mehr abschweifen zu lassen.
„Ich bin verliebt“, erklärte ich.
„In einen Vampir.“
„Ja. In Bill Compton.“
„Vampire sind verdammt und sollten der Sonne entgegentreten. Wir sind ein Schandfleck auf dem Antlitz der Erde, wir sind Schmutz.“
„Was ist mit den Menschen hier?“ Ich deutete nach oben, um klarzustellen, daß ich die Anhänger der Bruderschaft meinte, „sind die denn soviel besser?“
Der Vampir schaute verunsichert und unglücklich. Mir fiel auf, daß er kurz vorm Verhungern war; sein Haar war derart elektrisch aufgeladen, daß es förmlich um seinen Kopf zu schweben schien, und in dem wachsbleichen Gesicht glühten die Augen wie glanzlose Murmeln. „Sie sind wenigstens Menschen, sie sind Teil von Gottes Plan“, sagte er. „Vampire sind Mißgeburten.“
„Dennoch haben Sie sich mir gegenüber netter verhalten als dieser Mensch da in ihren Armen.“ Der jetzt tot war, wie ich nach einem Seitenblick auf sein Gesicht feststellen konnte. Ich versuchte, mir mein Wissen nicht anmerken zu lassen, nicht sichtlich zusammenzuzucken, sondern konzentrierte mich wieder voll und ganz auf Godfrey, der für mein weiteres Schicksal schließlich entscheidender war.
„Aber wir trinken das Blut der Unschuldigen.“ Godfreys Augen fixierten meine.
„Wer ist denn unschuldig?“ Meine Frage war rein rhetorisch gemeint, und ich hoffte, ich hörte mich nicht allzusehr an wie Pontius Pilatus, als er fragte: 'Was ist die Wahrheit?', obwohl er verdammt genau wußte, was die Wahrheit war.
„Kinder“, erwiderte Godfrey.
„Oh, Sie ... haben von Kindern getrunken?“ Entsetzt schlug ich die Hand vor den Mund.
„Ich habe Kinder getötet.“
Daraufhin wußte ich lange nichts zu sagen. Godfrey stand da und sah mich traurig an, wobei er Gabes Leiche, die er völlig vergessen zu haben schien, immer noch in den Armen trug.
„Was hat Sie veranlaßt, damit aufzuhören?“
„Nichts, ich kann nicht damit aufhören. Nur mein Tod kann dem ein Ende setzen.“
„Das tut mir sehr leid“, sagte ich, was natürlich in dieser Situation eine völlig inadäquate Reaktion war. Aber Godfrey litt und tat mir von daher wirklich von Herzen leid. Wäre er jedoch ein Mensch gewesen, dann hätte ich, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, befunden, er verdiene den elektrischen Stuhl.
„Wann wird es dunkel?“ fragte ich, denn mir fiel sonst nichts ein, was ich hätte sagen können.
Godfrey besaß keine Uhr. Ich nahm an, er war nur deswegen so früh wach geworden, weil er so alt war und sich so tief unter der Erde aufhielt. „In einer Stunde“, sagte er.
„Lassen Sie mich gehen. Ich schaffe es, hier herauszukommen, wenn Sie mir helfen.“
„Aber du wirst alles den Vampiren weitersagen. Sie werden angreifen. Man wird mich daran hindern, die Morgendämmerung zu begrüßen.“
„Warum bis morgen warten?“ fragte ich, plötzlich verärgert. „Gehen Sie hinaus. Tun Sie es jetzt.“
Er war verblüfft. Er ließ Gabe fallen, der mit einem satten Plumps landete. Godfrey hatte nicht einmal einen Blick für ihn übrig. „Die Zeremonie ist für das Morgengrauen geplant. Viele Gläubige werden dort sein und sie bezeugen“, erklärte er. „Auch Farrell wird man nach oben bringen, damit er der Sonne entgegentritt.“
„Welche Rolle hätte ich denn bei der ganzen Sache spielen sollen?“
Er zuckte die Achseln. „Sarah wollte herausfinden, ob die Vampire bereit wären, einen der Ihren gegen dich einzutauschen. Steve hatte andere Pläne: Er wollte dich an Farrell ketten, damit auch du in Flammen aufgehst, wenn er zu brennen anfängt.“
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Nicht, weil Newlin auf eine solch widerwärtige Idee gekommen war, nein, mich erstaunte zutiefst, daß der Mann davon ausging, so etwas könne seiner Gemeinde - und eine Gemeinde stellte die Bruderschaft ja dar - gefallen. Das bedeutete, daß Newlin weitaus durchgeknallter war, als ich bisher angenommen hatte. „Meinen Sie denn auch, das würde vielen Menschen Spaß machen? Zuzusehen, wie eine junge Frau auf so brutale Weise hingerichtet wird, ohne irgendein Gerichtsverfahren? Dachten Sie auch, die Menschen würden das für eine legitime religiöse Zeremonie halten und halten wiederum Sie die Menschen, die einen derart schrecklichen Tod für mich geplant hatten, wirklich für fromm, für gottesfürchtig?“
Zum ersten Mal schien es so, als kämen dem Vampir Zweifel. „Es scheint wirklich ein wenig extrem“, räumte er ein. „Selbst nach menschlichen Maßstäben gemessen. Aber Steve war der Meinung, es ließe sich damit ein wirkungsvolles Zeichen setzen.“
„Natürlich würde man damit ein Zeichen setzen! Besser ließe sich nämlich kaum zeigen, wie durchgeknallt Newlin ist. Ich weiß, es gibt viele schlechte Menschen auf dieser Welt und eine Menge schlechte Vampire, aber ich bezweifle, daß die Mehrheit der Menschen in diesem Lande - oder auch nur im Bundesstaat Texas - den Anblick einer Frau, die vor ihren Augen laut schreiend bei lebendigem Leibe verbrennt, wirklich erbaulich fände.“
Mehr und mehr schien Godfrey von Zweifeln geplagt. Offenbar hatte ich Gedanken ausgesprochen, die er selbst auch schon gehabt hatte, sich aber nicht wirklich hatte eingestehen mögen. „Sie haben den Medien Bescheid gegeben!“ verteidigte er sich, wobei er sich anhörte wie eine Braut, die plötzlich kein Vertrauen mehr in den ihr zugedachten Bräutigam hat, aber die Vorbereitungen zur Hochzeit laufen auf Hochtouren: Aber die Einladungen sind draußen, Mutter!
„Das glaube ich gern. Aber diese Sache wäre das Ende der Bruderschaft, das sage ich Ihnen. Ich kann nur erneut betonen: Wenn Sie persönlich ein Zeichen setzen wollen, wenn Sie sich entschuldigen, um Verzeihung bitten wollen, dann gehen Sie jetzt, in diesem Moment, hier aus dem Haus und stellen sich draußen auf den Rasen. Gott sieht Sie, das verspreche ich Ihnen, und Gott ist der einzige, um den Sie sich momentan Gedanken machen sollten.“
Damit hatte er zu kämpfen, so viel will ich zugestehen.
„Sie haben eine spezielle weiße Robe genäht, die ich tragen soll.“ Aber ich habe das Kleid doch schon gekauft, und die Kirche ist auch schon geschmückt!
„Na und? Wenn wir uns jetzt mit der Kleiderfrage befassen müssen, dann kann ich Ihnen gleich sagen, daß es Ihnen nicht ernst mit der Sache ist, daß Sie es eigentlich gar nicht wollen. Ich wette, Sie kneifen zum Schluß!“
Damit hatte ich doch offenbar mein Ziel aus den Augen verloren! Kaum hatte ich die Worte gesagt, da bereute ich sie auch schon aus ganzem Herzen.
„Du wirst es ja sehen!“ sagte Godfrey bestimmt.
„Das möchte ich aber gar nicht, jedenfalls nicht an Farrel gekettet. Ich bin nicht des Teufels, und ich will nicht sterben.“
„Wann warst du das letzte Mal in der Kirche?“ Die Frage warf er mir hin wie einen Fehdehandschuh.
„Vor einer Woche. Ich bin auch zum Abendmahl gegangen.“ Noch nie hatte mich die Tatsache, daß ich regelmäßig zur Kirche ging, so glücklich gemacht - auf eine solche Frage hätte ich nämlich unmöglich lügen können.
„Oh!“ Mit dieser Antwort hatte der Vampir nicht gerechnet.
„Sehen Sie?“ Ich bekam das Gefühl, daß unsere Unterhaltung Godfrey den letzten Rest seiner ohnehin angeschlagenen Würde raubte, aber das scherte mich nicht. Ich wollte nicht bei lebendigem Leibe verbrennen! Ich wollte Bill, vermißte ihn mit einer Sehnsucht, die derart intensiv war, daß ich fast schon hoffte, sie würde seinen Sargdeckel spontan aufspringen lassen. Wenn ich ihm doch nur mitteilen könnte, was hier los war ... „Komm“, sagte Godfrey plötzlich und streckte mir die Hand hin.
Nach diesem langen Vorspiel wollte ich ihm ungern Gelegenheit geben, sich die Sache noch einmal zu überlegen - also ergriff ich die Hand, die er mir hinstreckte, und stieg über Gabes reglosen Körper hinweg in den Flur hinaus. Aus dem Zimmer von Farrell und Hugo drang auf unheilverkündende Art und Weise kein Laut. Um die Wahrheit zu sagen, ich war viel zu verängstigt, um nach den beiden zu rufen und herauszufinden, was mit ihnen los sein mochte. Wenn mir die Flucht gelang, dachte ich, wäre ich ja auch in der Lage, sie zu retten.
Godfrey roch das Blut an mir und wirkte einen Moment lang hungrig und begierig. Den Ausdruck kannte ich nur zu gut, aber hier begegnete er mir zum ersten Mal ohne Beimischung von Lust. Godfrey machte sich nichts aus meinem Körper. Blut und Sex sind für jeden Vampir eng miteinander verbunden. Da konnte ich wohl von Glück sagen, daß meine Figur eindeutig erwachsene Formen hat. Aus Höflichkeit neigte ich den Kopf und hielt Godfrey mein Gesicht hin. Er zögerte, leckte dann aber letztlich doch das Blut auf, das mir aus der Wunde am Jochbein geflossen war, wobei er eine Sekunde lang die Augen schloß, um sich den Geschmack auf der Zunge zergehen zu lassen. Dann gingen wir Richtung Treppe.
Godfrey mußte mir helfen, die steilen Stufen zu bewältigen, aber gemeinsam schafften wir es. Oben tippte er mit der Hand, die er nicht brauchte, um mich zu stützen, eine Zahlenkombination in die Tür, die daraufhin aufging. „Ich habe hier gewohnt“, erklärte er mit einer Stimme, die kaum lauter war als ein Lufthauch. „Im Zimmer am Ende des Ganges.“
Der Flur hier im Erdgeschoß war leer, aber jederzeit konnte jemand aus einem der Büroräume treten. Godfrey schien das nicht zu befürchten, ich aber schon, und ich war ja schließlich die, deren Freiheit auf dem Spiel stand. Stimmen hörte ich nicht. Anscheinend war die Belegschaft nach Hause gegangen, um sich auf die Nacht der Kirche vorzubereiten, und von den Gästen für diese Nacht war noch niemand eingetroffen. Ein paar der Bürotüren waren geschlossen, wobei die Fenster in den Büros die einzigen Quellen waren, durch die Licht in den Flur drang. Anscheinend war es dunkel genug, daß Godfrey sich wohlfühlte, denn er zuckte kein einziges Mal mit der Wimper. Unter der Tür zu Newlins Büro drang ein breiter Streifen Kunstlicht hinaus auf den Flur.
Wir beeilten uns. Besser gesagt: Wir gaben uns Mühe, uns zu beeilen; meine Beine jedoch waren nicht besonders kooperativ. Ich war mir nicht sicher, auf welche Ausgangstür Godfrey zustrebte, vielleicht ja auf die Doppeltür, die ich vorhin an der Rückwand der eigentlichen Kirche bemerkt hatte. Wenn ich heil und sicher bis zu diesem Ausgang käme, würde ich nicht auch noch den gesamten anderen Flügel durchqueren müssen. Wie ich weiter vorgehen sollte, wenn ich mich erst einmal an der frischen Luft befand, war mir nicht ganz klar; auf jeden Fall hatte ich aber außerhalb des Gebäudes mehr Chancen als innerhalb. Gerade waren wir an der Tür des vorletzten Büros auf der linken Seite angekommen - das Büro, aus dem, als ich mit Steve und den anderen diesen Flur entlanggegangen war, die winzige Frau lateinamerikanischer Abstammung getreten war -, da öffnete sich Newlins Bürotür. Wir erstarrten. Godfreys Arm, den er fürsorglich um mich gelegt hatte, fühlte sich plötzlich an wie ein Band aus Eisen. Aus Steves Büro trat Polly Blythe, und zwar rückwärts, das Gesicht nach wie vor dem Zimmer zugewandt, das sie sich gerade zu verlassen anschickte. Wir standen nur wenige Meter von ihr entfernt.
„... Lagerfeuer“, sagte sie.
„Nein, ich denke, wir haben genug“, erklang Sarahs süße Stimme. „Wenn alle ihre Kärtchen zurückgeschickt hätten, dann wüßten wir auch genauer Bescheid. Ich verstehe wirklich nicht, wie unzuverlässig die Leute sind, was die Bestätigung von Einladungen angeht. Das ist so rücksichtslos, und dabei haben wir es ihnen doch so einfach wie möglich gemacht - sie brauchten einfach nur die Karte zu schicken, um uns mitzuteilen, ob sie heute teilnehmen werden oder nicht.“
Sie regte sich wirklich über Benimmfragen auf! Mein Gott, was hätte Knigge wohl dazu zu sagen gehabt: Ich besuchte neulich, ohne ausdrücklich eingeladen worden zu sein, eine kleine Kirchengemeinde und ging, ohne mich zu verabschieden. Muß ich mich jetzt schriftlich bedanken oder reicht es, wenn ich ein paar Blumen schicke?
Polly schickte sich an, den Kopf zu wenden; nicht lange, dann würde sie uns sehen können. Kaum war mir dieser Gedanke durch den Kopf geschossen, da schob mich Godfrey auch schon in das finstere, leere Büro, vor dessen offener Tür wir gestanden hatten.
„Godfrey? Was tust denn du hier oben?“ Polly hörte sich zwar nicht an, als habe sie Angst vor dem blonden Vampir, besonders glücklich schien sie dessen Anblick aber auch nicht zu machen. Ein wenig hörte sie sich an wie eine Hausherrin, die feststellen muß, daß ihr Gärtner es sich in ihrem Wohnzimmer gemütlich gemacht hat.
„Ich wollte nur nachsehen, ob es noch etwas für mich zu tun gibt.“
„Ist es nicht viel zu früh für dich? Solltest du überhaupt schon wach sein?“
„Ich bin sehr alt“, erklärte Godfrey höflich. „Die Alten brauchen nicht so viel Schlaf wie die Jungen.“
Daraufhin mußte Polly lachen. „Sarah?“ rief sie vergnügt. „Godfrey ist wach.“
Sarahs Stimme klang näher als zuvor. „Godfrey!“ zwitscherte die Frau des Direktors ebenso hell und vergnügt wie Polly. „Hallöchen! Aufgeregt? Ich wette, du kannst es kaum erwarten.“
Sie redeten mit einem tausend Jahre alten Vampir, als sei er ein Kind am Vorabend seines Geburtstags.
„Deine Robe ist fertig“, sagte Sarah Newlin. „Mit Volldampf voraus, was?“
„Was, wenn ich es mir nun anders überlegt habe?“ fragte Godfrey.
Dann sagte ziemlich lange niemand mehr etwas. Ich versuchte, leise und gleichmäßig zu atmen. Je näher die Dunkelheit rückte, desto größer, hatte ich mir überlegt, waren meine Chancen, hier heil und lebend rauszukommen.
Wenn ich nur telefonieren könnte ... ich schielte hinüber zum Schreibtisch des Büros, in dem ich mich versteckt hatte. Richtig, dort stand ein Telefon. Aber würden nicht, wenn ich es benutzte, auch bei allen anderen Telefonen im Haus die Knöpfe für die Leitung, auf der ich sprach, aufleuchten, um zu zeigen, daß diese Leitung belegt war? Zudem wäre es im Moment viel zu laut und zu riskant zu telefonieren.
„Anders überlegt?“ Polly Blythe klang wütend. „Wie kann das sein? Du warst schließlich derjenige, der zu uns gekommen ist, oder hast du das vergessen? Du hast uns von deinem sündigen Leben erzählt, von dem tiefen Schuldgefühl, das dich jedesmal plagte, wenn du ein Kind ermordet hattest und ... nun, auch bei anderen Dingen. Hat sich daran irgend etwas geändert?“
„Nein“, erwiderte Godfrey sehr nachdenklich. „Daran hat sich nichts geändert. Aber ich sehe keine Notwendigkeit, mit mir zusammen auch Menschen zu opfern, und ich glaube inzwischen, daß es auch Farrell selbst überlassen bleiben sollte, wann und wie er seinen Frieden mit Gott schließt. Wir sollten ihn nicht opfern.“
„Wir brauchen Steve“, sagte Polly Blythe leise zu Sarah. „Er muß herkommen.“
Danach hörte ich nur noch Pollys Stimme, weswegen ich davon ausging, daß Sarah zurück ins Büro geeilt war, um ihren Mann anzurufen.
Kurz darauf leuchtete am Telefon in dem Büro, in dem ich mich befand, ein Lämpchen. Sarah sprach mit Steve, und ich hatte recht gehabt mit der Vermutung, daß man in diesem Haus nicht unbemerkt telefonieren konnte; Sarah hätte es mitbekommen, wenn ich eine der anderen Leitungen benutzt hätte. Vielleicht würde ich es in ein paar Minuten versuchen können.
Inzwischen redete Polly Blythe mit Engelszungen auf Godfrey ein. Der sagte nicht viel; ich hätte nicht erraten können, was sich in seinem Kopf abspielte. Ich stand hilflos gegen die Wand gedrückt und konnte nur hoffen: daß niemand in dieses Büro kommen würde, daß niemand in den Keller gehen und dann Alarm schlug, daß Godfrey es sich nicht noch einmal anders überlegte.
Hilfe, Hilfe, Hilfe, dachte ich. Wenn ich doch nur mittels meines siebten Sinnes wirklich um Hilfe rufen könnte!
Da kam mir eine Idee. Oder vielmehr noch keine Idee, sondern eher das Schattenbild einer solchen. Meine Beine zitterten, denn ich stand immer noch unter Schock, und mein ganzes Gesicht tat so entsetzlich weh, daß es kaum auszuhalten war - trotzdem zwang ich mich dazu, einfach ganz ruhig dazustehen und mich zu konzentrieren. Vielleicht würde ich ja wirklich um Hilfe rufen können! Barry nämlich, den Hotelpagen! Barry war Telepath wie ich, er sollte mich hören können. Nicht, daß ich je zuvor einen solchen Versuch gewagt hätte - aber ich hatte ja bisher auch keine anderen Telepathen gekannt. Ich versuchte, mir den Stadtplan von Dallas vorzustellen, um herauszufinden, wo ich mich in Relation zu Barry befand. Ich ging davon aus, daß der Junge bei der Arbeit war. Inzwischen war es so spät, wie es bei unserer Ankunft aus Shreveport gewesen war; es konnte hinkommen, wenn er dieselbe Schicht hatte wie am Abend zuvor. Glücklicherweise hatte ich mir, ehe wir am Nachmittag losgefahren waren, mit Hugo zusammen den Stadtplan angesehen - auch wenn ich nun wußte, daß der Anwalt nur so getan hatte, als wisse er nicht, wo sich die Zentrale der Bruderschaft befand. Meinen Berechnungen nach hielt ich mich hier südwestlich vom Silent Shore auf.
Das geistige Terrain, das ich nun betrat, war vollkommen neu für mich. Ich nahm alle Energie zusammen, die mir noch verblieben war und versuchte, sie in meinem Kopf zu bündeln. Eine Sekunde lang kam ich mir lächerlich vor, aber dann sagte ich mir, es könne nichts schaden, lächerlich zu wirken, wenn die Hoffnung bestand, daß ich auf diese Weise den Menschen und dem Ort hier entfliehen konnte. Ich lenkte meine Gedanken in die Richtung, in der ich Barry wähnte. Wie ich das tat, könnte ich nicht genau beschreiben; am besten läßt es sich so erklären, daß ich meine Gedanken projizierte, wobei es half, daß ich den Namen desjenigen kannte, der sie auffangen sollte und auch wußte, wo er sich aufhielt.
Ich entschied mich, einfach anzufangen. Barry Barry Barry Barry...
Was wollen Sie? Er war völlig panisch. Das war ihm noch nie passiert.
Ich habe das auch noch nie getan. Ich hoffte, ermutigend zu klingen. Ich brauche Hilfe. Ich befinde mich in einer üblen Situation.
Wer sind Sie?
Gute Frage! Wie dumm von mir, das nicht gleich klarzustellen. Ich bin Sookie, die blonde Frau, die gestern nacht mit dem braunhaarigen Vampir zusammen eingetroffen ist. Eine Suite im dritten Stock.
Die mit den Titten? Oh, Entschuldigung.
Zumindest hatte er sich entschuldigt. Ja. Die mit den Titten und dem Freund.
Gut, was ist los?
Nun klingt das alles sehr klar und gut durchdacht, aber Barry und ich verständigten uns nicht wirklich mit Worten. Es war eher, als würden wir uns gegenseitig emotionale Telegramme und Bilder schicken.
Wie sollte ich meine mißliche Lage schildern? Bitte sag meinem Vampir Bescheid, sobald er wach ist.
Was dann ?
Sag ihm, ich sei in Gefahr. Gefahrgefahrgefahr ...
Schon gut, ich habe verstanden! Wo?
Kirche. Ich ging davon aus, daß das als Kurzform für Zentrale der Bruderschaft reichen würde. Ich hätte nicht gewußt, wie ich Barry das hätte übermitteln können.
Er weiß, wo?
Ja. Sag ihm, er soll die Treppe runtergehen.
Sie gibt es wirklich? Ich wußte nicht, daß noch jemand ...
Mich gibt es wirklich. Bitte hilf mir.
In Barrys Schädel tobten die widersprüchlichsten Emotionen, das spürte ich genau. Er fürchtete sich davor, mit einem Vampir zu reden, er hatte Angst, seine Vorgesetzten könnten herausfinden, daß er in seinem Kopf ein 'merkwürdiges Ding am Laufen' hatte, er war froh und erregt, weil es da offenbar noch jemanden gab, der so war wie er. Aber am meisten fürchtete er sich vor dem telepathischen Teil seines Ichs, das ihm nun schon so lange Überraschungen und Ängste beschert hatte.
Mir waren solche Gefühle bekannt. Mach dir keine Sorgen, gab ich Barry zu verstehen, ich kann nachvollziehen, wie dir zumute ist. Ich würde dich auch nicht um Hilfe bitten, wenn die hier nicht vorhätten, mich umzubringen.
Das verängstigte Barry noch zusätzlich, denn nun war ihm die Verantwortung zu viel, die in dieser Angelegenheit auf seinen Schulten lastete. Ich hätte das mit dem Umbringen einfach nicht sagen dürfen.
Dann schaffte es der Junge, eine zwar wacklige, aber undurchdringliche Mauer zwischen sich und mir zu errichten. Mir war nicht klar, wie er sich verhalten würde.
* * *
Während ich konzentriert mit Barry beschäftigt gewesen war, hatten sich die Dinge auf dem Flur weiterentwickelt, und als ich nun meine Aufmerksamkeit wieder dorthin richten konnte, war Steve zurückgekommen und gab sich nun ebenfalls Mühe, Godfrey gegenüber gelassen und strahlend gutgelaunt zu bleiben.
„Godfrey“, sagte er gerade, „Sie hätten uns doch nur Bescheid sagen müssen, wenn Sie sich gegen die Zeremonie entschieden haben. Letztlich haben Sie sich uns gegenüber zu dieser Sache verpflichtet. Wir haben uns auch verpflichtet; zudem haben wir alle nötigen Schritte unternommen, weil wir darauf vertrauten, daß Sie Wort halten würden. Wenn Sie ihr Versprechen, an der Zeremonie teilzunehmen, nun widerrufen, enttäuschen Sie damit eine ganz Menge Menschen, und zwar erheblich.“
„Was haben Sie mit Farrell, mit dem Mann Hugo und der blonden Frau vor?“
„Farrell ist ein Vampir“, erklärte Steve, als sei damit alles gesagt. „Hugo und die Frau sind Kreaturen der Vampire. Auch sie sollen der Sonne entgegentreten, an einen Vampir gefesselt. Sie haben sich frei entschieden, so zu leben, dann soll es auch im Tod ihr Schicksal sein.“
„Ich bin ein Sünder, und ich weiß es, wenn ich also endgültig sterbe, dann geht meine Seele zu Gott“, sagte Godfrey. „Aber Farrell weiß nicht, daß er ein Sünder ist. Stirbt er, dann gibt es für ihn keine Chance mehr, zu bereuen und zu Gott zu kommen. Das gilt auch für den Mann und die Frau. Auch sie erhalten nicht die Chance zu bereuen, sich von dem Weg abzukehren, den sie eingeschlagen haben. Ist es denn gerecht, die beiden umzubringen und so zu einer Existenz in der Hölle zu verdammen?“
„Wir sollten wohl doch lieber in mein Büro gehen!“ sagte Steve mit Bestimmtheit.
Da wurde mir klar, daß Godfrey es die ganze Zeit genau darauf abgesehen hatte. Ich hörte Füße, die über den Boden scharrten, ich hörte Godfrey ungeheuer höflich „Nach Ihnen“ murmeln.
Er wollte als letzter ins Büro gehen, um die Tür hinter sich schließen zu können.
Mein Haar, das unter der Perücke pitschnaß geschwitzt gewesen war, war inzwischen wieder trocken. Ich hatte, während ich der Konversation auf dem Flur lauschte, leise und vorsichtig sämtliche Haarnadeln aus dem Knoten gezogen, so daß mir die einzelnen Haarsträhnen nun wirr ins Gesicht hingen. Angesichts der Tatsache, daß ich immerhin einem Gespräch lauschte, in dem mein weiteres Schicksal entschieden wurde, war es wohl eine ziemlich banale Tätigkeit, sich mit Haaren und Haarnadeln zu beschäftigen, aber ich war derart nervös, daß ich meinen Händen irgend etwas hatte zu tun geben müssen. Nun steckte ich die Haarnadeln vorsichtshalber in die Tasche, fuhr mir mit den Fingern durch das völlig verfilzte Haar und schickte mich an, mich auf Zehenspitzen aus der Kirche zu schleichen.
Vorsichtig spähte ich auf den Flur. Steves Bürotür war geschlossen, wie ich angenommen hatte; also verließ ich leise und vorsichtig den finsteren Raum, in dem ich mich versteckt gehalten hatte, wandte mich nach links und huschte leise weiter bis zur Tür, die in das eigentliche Gotteshaus führte. Dort angekommen drückte ich ganz sachte die Klinke herunter, um behutsam die Tür zu öffnen. Dann trat ich ins Gotteshaus, in dem es bereits recht dämmrig war. Durch die großen Mosaikfenster fiel gerade genug Licht, um mir den Weg durch den Mittelgang zu beleuchten, so daß ich nicht über eine der Sitzreihen stolpern mußte.
Dann hörte ich Stimmen, die immer lauter wurden und sich aus dem weiter entfernten Gebäudeflügel zu nähern schienen. Die Lichter gingen an. Rasch tauchte ich in eine Sitzreihe und ließ mich unter eine der Bänke fallen. Wenig später betrat eine Familie den Raum, deren Mitglieder alle laut miteinander stritten. Besonders die jüngste Tochter der Familie beklagte sich lauthals darüber, daß sie irgendeine Lieblingssendung im Fernsehen verpaßte, nur weil sie zu solch einer blöden Kirchenveranstaltung gehen mußte.
Wie es sich anhörte, brachte ihr das Jammern lediglich einen kräftigen Klaps auf den Po sowie die tadelnde Bemerkung ihres Vaters ein, sie könne sich glücklich schätzen, denn sie würde schon bald mit eigenen Augen einen ganz erstaunlichen Beweis für die Existenz und Macht Gottes sehen dürfen. Hautnah würde sie miterleben können, wie Gott sich eines Sünders erbarmte und ihn rettete!
Selbst unter den gegebenen Umständen, wo ich mir doch eigentlich über andere Dinge hätte den Kopf zerbrechen sollen, konnte ich nicht umhin, die Worte dieses Vaters zu mißbilligen. Hatte der Mann eigentlich verstanden, was der Führer seiner Gemeinde plante? Daß er, seine Familie und die gesamte Gemeinde würden zusehen müssen, wie zwei Vampire bei sozusagen lebendigem Leib in den Flammen den Tod fanden? Wobei mindestens einer der Vampire noch dazu einen Menschen im Arm halten würde, der ebenfalls verbrennen sollte? Ich fragte mich, wie es wohl um die geistige Gesundheit des kleinen Mädchens bestellt sein würde, wenn es erst einmal einen solchen 'erstaunlichen Beweis' für die Existenz und Macht Gottes mit angesehen hatte.
Bekümmert sah ich, wie sich die Familie munter plaudernd anschickte, ihre Schlafsäcke an der Außenwand der Kirche auszubreiten. Immerhin redete man in dieser Familie miteinander! Außer dem immer noch jammernden kleinen Mädchen waren noch zwei ältere Kinder dabei, ein Junge und ein weiteres Mädchen. Die beiden stritten die ganze Zeit wie Hund und Katze, wie es unter Geschwistern üblich ist.
Plötzlich trabte ein Paar kleine, flache rote Schuhe am Ende meiner Sitzreihe vorbei, um durch die Tür zu verschwinden, die zu dem Gebäudeflügel führte, in dem Steves Büro lag. Ob die kleine Gruppe dort wohl immer noch mit ihrer Debatte beschäftigt war?
Wenig später kehrten die rotbekleideten Füße auch schon wieder; diesmal bewegten sie sich erheblich schneller. Was das wohl zu bedeuten hatte?
Ich wartete. Es vergingen etwa fünf Minuten, in denen gar nichts geschah.
Es wurde spät; jetzt würden immer mehr Menschen hier eintreffen. Jetzt oder nie! Ich rollte unter der Bank hervor und stand auf, wobei ich von Glück sagen konnte, daß die Familie davon nichts mitbekam, weil alle gerade anderweitig beschäftigt waren. Zielstrebig und mit großen Schritten eilte ich auf die Doppeltür am hinteren Ende der Kirche zu. Als die Familie nun plötzlich verstummte, wußte ich, daß die Leute meine Anwesenheit mitbekommen hatten.
„Hallo!“ rief die Mutter, richtete sich auf und stand nun, im Gesicht nichts als freundliche Neugierde, neben ihrem leuchtend blauen Schlafsack. „Sie sind wohl neu bei der Bruderschaft? Ich bin Francie Polk.“
„Ja, ich bin neu!“ rief ich und winkte der Frau fröhlich zu. „Ich habe es ein wenig eilig. Bis später!“
Leider kam die Frau näher. „Sind Sie verletzt?“ wollte sie wissen. „Sie müssen entschuldigen, aber Sie sehen fürchterlich aus! Ist das Blut? Das da?“
Ich blickte hinunter auf meine Bluse; auf meiner Brust waren ein paar kleinere Flecken zu sehen.
„Ich bin gefallen“, erwiderte ich, wobei ich versuchte, ein wenig kläglich dreinzuschauen. „Deswegen will ich nochmal nach Hause. Ich brauche ein paar Pflaster und möchte mir auch etwas anderes anziehen. Ich komme aber wieder.“
Es war deutlich zu sehen, daß Francie Polk da ihre Zweifel hatte. „Im Büro ist ein Verbandskasten“, sagte sie. „Ich hole den eben mal schnell. Was sollte dagegen sprechen?“
Dagegen spricht, daß ich es nicht will! „Ich brauche doch aber auch eine frische Bluse!“ sagte ich, wobei ich die Nase rümpfte, um ihr zu zeigen, was ich davon hielt, die ganze Nacht in einer dreckigen Bluse herumzulaufen.
Nun war auch noch eine weitere Frau durch genau die Tür hereingekommen, durch die ich entweichen zu können hoffte. Sie blieb stehen und hörte unserer Unterhaltung zu, wobei ihre schwarzen Augen unablässig zwischen mir und der wild entschlossenen Francie hin- und herhuschten.
„He, Mädel!“ sagte sie mit einem leichten Akzent. „Grüß dich!“ Dann nahm mich die kleine, schwarzhaarige Frau lateinamerikanischer Abstammung, die ich vorher schon im Flur getroffen und als Gestaltwandlerin erkannt hatte, herzhaft in die Arme. Da ich aus einem Kulturkreis stamme, in dem man sich gern und oft umarmt, erwiderte ich die Umarmung automatisch. Während wir einander so in den Armen hielten, zwickte mich die kleine Schwarzhaarige bedeutungsvoll in den Arm.
„Wie geht es dir denn?“ erkundigte ich mich daraufhin strahlend bei ihr. „Wir haben einander so lange nicht mehr gesehen.“
„Bei mir gibt es nichts Neues. Immer das Gleiche, du weißt schon.“ Auch sie lächelte, als sie mich von unten herauf ansah, aber in ihren Augen lag eine gewisse Wachsamkeit. Ihr Haar war dunkel, sehr dunkel, bei näherem Hinsehen stellte ich aber fest, daß es nicht ganz schwarz war, dafür dick und rauh und reichlich vorhanden. Die Haut der Frau hatte die Farbe von Sahnekaramel; ihr Gesicht war voller dunkler Sommersprossen. Ihre üppigen Lippen waren verschwenderisch fuchsienrot bemalt, und sie hatte große, weiße Zähne, die mir in einem breiten Lächeln entgegenstrahlten. Ich starrte auf ihre Füße hinab, und richtig: Sie trug flache, rote Schuhe.
„Komm, gehen wir eine rauchen“, sagte die Gestaltwandlerin.
Francie Polk sah aus, als sei sie bereits ein wenig beruhigt.
„Luna, siehst du denn gar nicht, daß deine Freundin dringend zum Arzt müßte?“ fragte sie.
„Stimmt, du hast da ein paar heftige Beulen und Abschürfungen“, befand auch Luna, wobei sie mich prüfend anschaute. „Bist du etwa schon wieder hingefallen?“
„Du weißt doch bestimmt noch, was meine Mama immer sagt: 'Marigold, du bist so ungeschickt wie ein Elefant im Porzellanladen!'“ „Deine Mama!“ Mißbilligend schüttelte Luna den Kopf. „Als ob solche Sprüche helfen würden.“
„Was soll ich machen?“ bemerkte ich achselzuckend. „Würden Sie uns bitte entschuldigen?“
„Aber natürlich!“ sagte Francie. „Ich nehme an, wir sehen uns später?“
„Klar“, erwiderte Luna. „Die Sache heute werde ich mir gewiß nicht entgehen lassen.“
So kam es, daß ich das Versammlungshaus der Bruderschaft der Sonne an Lunas Seite verließ, wobei ich mich ganz und gar darauf konzentrierte, meinem Gang nichts anmerken zu lassen. Francie durfte auf keinen Fall mitbekommen, daß ich humpelte, denn dann wäre sie nur mißtrauischer geworden.
„Gott sei Dank!“ seufzte ich erleichtert, als wir endlich draußen vor der Tür standen.
„Sie wußten, wer und was ich bin“, sagte Luna als erstes, wie aus der Pistole geschossen. „Woher?“
„Ich habe einen Freund, der Gestaltwandler ist.“
„Wie heißt er?“
„Er lebt nicht hier. Ohne seine Einwilligung werde ich Ihnen nicht sagen, wie er heißt.“
Da starrte Luna mich mit einem Blick an, in dem von der Freundschaft zwischen uns beiden, die sie Francie so gekonnt vorgespielt hatte, nichts mehr zu sehen war.
„Das muß ich respektieren“, sagte sie. „Warum sind Sie hier?“
„Warum interessiert Sie das?“
„Immerhin habe ich Ihnen das Leben gerettet.“
Da hatte sie recht, sehr recht sogar. „Also: Ich bin Telepathin, und euer Fürst hier hat mich angeheuert, um das Schicksal eines Vampirs zu klären, der vermißt wird.“
„Schon besser. Aber mein Fürst ist es nicht. Ein Meta mag ich sein, aber ein verdammter Vampir bin ich deswegen noch lange nicht. Mit welchem Vamp hatten Sie denn zu tun?“
„Das muß ich Ihnen nicht sagen.“
Luna zog die Brauen hoch.
„Wirklich nicht!“
Sie öffnete den Mund, als wolle sie schreien.
„Schreien Sie nur! Es gibt ein paar Sachen, die sage ich einfach nicht. Was ist ein Meta?“
„Ein übernatürliches Wesen. Jetzt hören Sie mir mal zu!“ Luna und ich gingen inzwischen über den Parkplatz, auf den mittlerweile ziemlich regelmäßig Wagen einbogen. Luna hatte viel zu lächeln und zu winken, und ich versuchte, zumindest glücklich auszusehen. Aber inzwischen war nicht zu übersehen, daß ich humpelte und daß mein Gesicht, wie meine Freundin Arlene gesagt hätte, anschwoll wie nichts Gutes.
Mein Gott, wie ich mich plötzlich nach Hause sehnte. Entschlossen schob ich das Gefühl beiseite, um mich ganz auf Luna konzentrieren zu können, die mir offenbar allerhand zu erzählen hatte.
„Du kannst den Vampiren ausrichten, wir überwachen das Teil hier.“
„Wer ist denn 'wir'?“
„'Wir' sind die Gestaltwandler im Großraum Dallas.“
„Ihr seid organisiert? He, das ist ja Klasse! Das muß ich unbedingt ... meinem Freund sagen.“
Luna verdrehte die Augen; offenbar war sie nicht sehr beeindruckt von den Leistungen, zu denen mein Verstand imstande war. „Hör mal, Fräuleinchen, du sagst deinen Vampiren, daß auch wir die Bruderschaft auf dem Hals haben, wenn sie erst mal mitkriegt, was es mit uns auf sich hat, und wir haben nicht vor, uns zu erkennen zu geben und Bürgerrechte einzuklagen. Wir leben verdeckt, und das soll auch so bleiben. Diese verdammten Vampire sind aber auch zu doof! Also: Wir haben ein Auge auf die Bruderschaft, sag ihnen das.“
„Wenn ihr die Bruderschaft so gut im Auge habt, warum habt ihr den Vampiren denn nicht Bescheid gesagt, daß Farrell hier im Keller ist und daß Godfrey öffentlich Selbstmord begehen will?“
„Hör mal, dieser Godfrey will sich endgültig umbringen - das kann uns völlig egal sein. Er ist von sich aus zur Bruderschaft gekommen, sie ist nicht an ihn herangetreten. Die Typen haben sich vor Freude fast in die Hosen gemacht, als er hier einlief - nachdem sie sich daran gewöhnt hatten, mit einem Verdammten im selben Zimmer zu hocken.“
„Aber was ist mit Farrell?“
„Ich wußte nicht, was im Keller war oder was dort vor sich ging“, mußte Luna gestehen. „Ich wußte wohl, daß sie irgendwen gefangen hatten, aber bis in den inneren Kreis bin ich noch nicht vorgedrungen. Ich konnte nicht herausfinden, wer der Gefangene war. Ich habe sogar versucht, mich bei diesem Arschloch Gabe einzuschleimen, aber das hat nichts gefruchtet.“
„Wahrscheinlich wird es dich freuen zu hören, daß er tot ist.“
„Mann!“ Zum ersten Mal schien mir Lunas Lächeln spontan und herzlich. „Das ist eine prima Neuigkeit.“
„Dann hör dir auch noch den Rest an. Sobald es mir gelungen ist, mit den Vampiren Kontakt aufzunehmen, werden die sich hierher in Bewegung setzen, um Farrell zu holen. Wenn ich du wäre, würde ich heute nacht nicht zur Bruderschaft zurückgehen.“
Daraufhin nagte Luna eine Weile nachdenklich an der Unterlippe. Wir standen mittlerweile am äußersten Rand des Parkplatzes.
„Eigentlich“, sagte ich, nachdem wir lange genug geschwiegen hatten, „wäre es toll, wenn du mich zu meinem Hotel fahren würdest.“
„Es ist nun aber nicht meine Hauptbeschäftigung zu tun, was für dich toll wäre!“ zischte Luna, der wohl gerade wieder eingefallen war, was für eine zähe, harte Person sie war. „Ehe hier die Kacke zu dampfen beginnt, muß ich zurück in die Kirche und ein paar Papiere retten. Denk nach, Mädel: Was werden die Vampire mit Godfrey machen? Können sie ihn einfach existieren lassen? Er ist ein Serienmörder und Kinderschänder - er hat so oft gemordet, daß noch nicht mal die Vampire das genau zählen können. Er kann nicht aufhören, und das weiß er auch.“
Die Kirche hatte also auch ihre guten Seiten ... indem sie nämlich Vampiren wie Godfrey die Möglichkeit zum öffentlich bezeugten Selbstmord bot?
„Vielleicht sollten sie die Zeremonie ja auf einem dieser Kabelkanäle zeigen, für die man extra bezahlen muß“, sagte ich zynisch.
„Wenn sie könnten, würden sie das auch tun“, gab Luna zurück, und ihr war ganz ernst damit. „Diese Vampire, die so gern ein bürgerliches Leben führen wollen, können ganz schön rabiat werden, wenn jemand versucht, ihre Kreise zu stören. Godfrey ist nicht gerade der Junge, den man für eine Werbekampagne einsetzen kann.“
„Ich kann nicht alle Probleme lösen, Luna. Ich heiße übrigens in Wirklichkeit Sookie. Sookie Stackhouse. Ich habe jedenfalls getan, was ich konnte. Ich habe die Arbeit erledigt, für die ich eingestellt worden bin, und jetzt muß ich zurück und Bericht erstatten. Godfrey wird entweder weiterexistieren oder endgültig sterben. Ich persönlich glaube an letzteres.“
„Es wäre besser, wenn du recht behieltest“, erwiderte Luna unheilschwanger.
Ich hätte nicht sagen können, warum Luna dachte, es könne meine Schuld sein, wenn Godfrey seine Meinung änderte. Dabei hatte ich nur die Art und Weise, wie er gehen wollte, in Frage gestellt. Aber unter Umständen hatte sie ja recht; vielleicht trug ich in dieser Sache wirklich ein wenig Verantwortung.
Das war alles viel zu viel für mich!
„Auf Wiedersehen!“ sagte ich von daher und fing an, am hinteren Ende des Parkplatzes entlang Richtung Straße zu humpeln. Ich war noch nicht weit gekommen, als von der Kirche her plötzlich großes Geschrei ertönte, woraufhin mit einem Schlag alle Außenlichter angingen. Der plötzliche Glanz ließ mich fast erblinden.
„Vielleicht gehe ich doch nicht zur Bruderschaft zurück!“ kommentierte Luna. „Vielleicht wäre das im Augenblick wirklich nicht besonders schlau.“ Die kleine Gestaltwandlerin lehnte sich aus dem Fenster eines Subaru Outback, der neben mir gehalten hatte. Mühsam kletterte ich auf den Beifahrersitz neben ihr, und schon rasten wir auf die nächste Auffahrt zur vierspurigen Straße zu, die direkt am Parkplatz der Bruderschaft vorbeiführte. Automatisch legte ich den Sicherheitsgurt an.
Aber so schnell wir auch waren, andere waren noch schneller gewesen: Hilflos mußten wir zusehen, wie verschiedene Familienkutschen so plaziert wurden, daß sie sämtliche Ausfahrten des Parkplatzes blockierten.
„Scheiße!“ sagte Luna.
Eine Minute lang hockten wir schweigend da, während Luna nachdachte.
„Die lassen mich hier nie raus, selbst wenn wir dich irgendwie verstecken. Zurück in die Kirche kann ich dich nicht schaffen. Den Parkplatz haben sie im Handumdrehen durchsucht ...“ Wieder kaute Luna nachdenklich auf ihrer Unterlippe.
„Ach, scheiß doch auf den Job!“ sagte sie dann forsch und schaltete schwungvoll in den ersten Gang. Zuerst fuhr sie noch recht maßvoll, um möglichst wenig Aufsehen zu erregen. „Diese Leute wüßten doch noch nicht mal, was Religion ist, wenn sie ihnen direkt ins Gesicht springt!“ Bei der Kirche angekommen gab Luna Gas und fuhr auf die Auffahrt, die den Parkplatz von der Rasenfläche vor dem Gotteshaus trennte. Dann flogen wir in Höchstgeschwindigkeit über diesen Rasen, drehten eine Runde um den eingezäunten Parkplatz, und ich stellte fest, daß ich von einem Ohr zum anderen grinste, auch wenn das höllisch wehtat.
„Jaaaa!“ schrie ich, als wir nun einen der Sprinkler umfuhren, mit denen der Rasen bewässert wurde. Nun flogen wir durch den Vorgarten der Kirche, und noch waren alle so geschockt, daß niemand auf die Idee kam, uns verfolgen zu wollen. Aber es würde nicht lange dauern, bis diese Unverbesserlichen sich wieder berappelt hatten! Dann würden alle hier, die die extremeren Methoden der Bruderschaft noch nicht kannten, ein ziemlich unsanftes Erwachen erleben.
Da bemerkte Luna, die den Rückspiegel im Auge behalten hatte, auch schon: „Sie haben die Ausfahrten freigemacht, und jemand ist hinter uns her.“ Abrupt fädelten wir uns in den Verkehr auf der Straße ein, die an der Vorderfront der Kirche entlang verlief. Auch diese Straße war vierspurig und vielbefahren; unser plötzliches Auftauchen dort wurde mit einem heftigen Hupkonzert kommentiert.
„Heilige Scheiße!“ sagte Luna. Sie drosselte ihr Tempo, bis sich ihre Fahrweise der anderen Verkehrsteilnehmer angepaßt hatte, ließ aber den Rückspiegel nicht aus den Augen. „Es ist schon zu finster. Ich weiß nicht, welche Scheinwerfer unseren Verfolgern gehören.“
Ich fragte mich, ob Barry Bill Bescheid gesagt hatte.
„Hast du ein Handy?“ fragte ich sie.
„Es ist in meiner Handtasche, zusammen mit meinem Führerschein. Die Handtasche steht in meinem Büro in der Kirche. So habe ich überhaupt mitbekommen, daß du frei bist. Ich bin in mein Büro gegangen, wo ich deine Witterung aufgenommen habe. Ich wußte auch, daß du verletzt bist. Also bin ich nach draußen gegangen, um mich dort ein wenig umzusehen, und als ich dich draußen nicht finden konnte, bin ich zurück in die Kirche gegangen. Wir können von Glück sagen, daß ich wenigstens meine Autoschlüssel dabei hatte.“
Gott schütze die Gestaltwandler. Ich bedauerte sehr, daß Luna ihr Handy nicht bei sich im Auto hatte, aber in dieser Frage konnten wir im Moment nichts unternehmen. Ich fragte mich plötzlich, wo meine Handtasche wohl war. Wahrscheinlich im Büro der Bruderschaft. Zumindest hatte ich meinen Führerschein herausgenommen, so würde man mich wenigstens nicht als Sookie Stackhouse identifizieren können.
„Halten wir an einer Telefonzelle oder gleich bei der nächsten Polizeiwache?“
„Was meinst du: Was macht die Polizei, wenn du da Bescheid sagst?“ Luna sprach mit mir wie mit einem dummen Kind, dem man beim Nachdenken auf die Sprünge helfen muß.
„Sie fährt zur Kirche?“
„Ja, und dann? Was geschieht dann?“
„Dann fragen die Polizisten Steve, warum er versucht hat, in seinem Luftschutzkeller einen Menschen gefangenzuhalten.“
„Richtig, und was antwortet Steve?“
„Ich weiß nicht.“
„Steve antwortet: ,Wir haben die Frau nie im Leben gefangengehalten! Sie hat mit unserem Angestellten Gabe Streit bekommen, und Gabe ist tot. Verhaften Sie die Frau'.“ „Oh. Meinst du wirklich?“
„Oh ja.“
„Was ist mit Farrell?“
„Sollte die Polizei auftauchen, so kannst du sichergehen, daß die Bruderschaft für diesen Fall jemanden abgestellt hat, der sich dann in den Keller schleicht und Farrell pfählt. Bis die Bullen kommen, gibt es keinen Farrell mehr. Dasselbe könnten sie mit Godfrey machen, wenn er nicht bereit ist, der Polizei gegenüber ihre Version der Ereignisse zu bestätigen. Godfrey würde wahrscheinlich sogar stillhalten. Der Typ will wirklich nicht mehr existieren.“
„Was ist mit Hugo?“
„Meinst du, Hugo erklärt irgendwelchen Polizisten, wie es dazu kam, daß er im Keller eingesperrt wurde? Ich weiß nicht, was der Idiot den Bullen erzählen würde, wenn sie ihn befragen, aber die Wahrheit bestimmt nicht. Der Mann führt seit Monaten ein Doppelleben. Der weiß doch selbst nicht mehr, ob er noch klar im Kopf ist!“
„Die Polizei können wir also nicht rufen. Wen können wir rufen?“
„Ich muß dich zu deinen Leuten bringen. Meine brauchst du nicht kennenzulernen. Sie wollen nicht, daß unsere Existenz bekannt wird, verstanden?“
„Klar.“
„Du bist wohl selbst irgendein Kuriosum, was? Sonst hättest du mich wohl kaum erkannt.“ „Ja.“
„Was bist du? Ein Vamp wohl kaum, das ist mir schon klar. Eine von uns bist du auch nicht.“
„Ich bin Telepathin.“
„Echt? Kein Witz? Wahnsinn! Buh buh, was?“ Luna gab den Laut von sich, mit dem man sich traditionell über Gespenster lustig macht.
„Nicht mehr 'Buh' als du auch!“ gab ich zurück, wobei ich fand, niemand dürfe es mir übel nehmen, wenn ich ein wenig angestoßen klang.
„Tut mir leid“, sagte Luna, aber es war ihr nicht ernst damit. „Gut - nun also mein Plan ...“
Aber ich kam nicht mehr dazu, mir ihren Plan anzuhören, denn in diesem Moment fuhr jemand von hinten auf unser Auto auf.
* * *
Als ich wieder zu mir kam, hing ich kopfüber im Sicherheitsgurt. Eine Hand schob sich durchs Autofenster und wollte mich nach draußen zerren. Ich erkannte die Fingernägel: Diese Hand gehörte Sarah. Da biß ich zu.
Es ertönte ein schriller Schrei; zugleich verschwand die Hand blitzschnell wieder. „Offenbar hat sie den Verstand verloren“, plapperte Sarahs süßes Stimmchen draußen auf jemanden ein. Dieser jemand, erkannte ich, konnte unmöglich mit der Kirche in Verbindung stehen. Da wurde mir klar, daß ich rasch handeln mußte.
„Hören Sie nicht auf die Frau! Sie hat uns gerammt! Lassen Sie nicht zu, daß sie mich anfaßt“, rief ich.
Ich sah hinüber zu Luna, deren Haarspitzen die Wagendecke berührten. Sie war wach, gab aber keinen Laut von sich. Sie drehte und wendete sich geschickt hin und her, wobei sie wohl versuchte, sich aus ihrem Gurt zu befreien.
Vor der Windschutzscheibe fanden eine Menge Unterhaltungen gleichzeitig statt, von denen ein Großteil kontrovers verlief.
„Wenn ich es Ihnen doch sage: Die Frau ist meine Schwester, und sie ist lediglich betrunken!“ versuchte Polly, einen der Umstehenden zu überzeugen.
„Ich bin nicht betrunken. Ich verlange, daß ein Alkoholtest gemacht wird“, verkündete ich so würdevoll, wie es mir angesichts der Tatsache, daß ich unter Schock stand und noch dazu sozusagen kopfüber in den Seilen hing, möglich war. „Benachrichtigen Sie sofort die Polizei und einen Rettungswagen.“
Sarah spuckte Gift und Galle. Doch nun mischte sich eine tiefe männliche Stimme in die Unterhaltung. „Sie möchte doch offenbar nicht, daß Sie ihr beistehen, meine Dame, und so, wie es sich anhört, hat sie auch allen Grund dazu.“
Als Nächstes tauchte das Gesicht eines Mannes am Fenster auf. Der Mann hatte sich hingekniet und beugte den Kopf zur Seite, um zu mir hereinschauen zu können. „Ich habe den Rettungsdienst verständigt“, sagte die tiefe Stimme, die ich auch gerade zuvor schon gehört hatte. Der Sprecher war unrasiert und wirkte auch sonst etwas ungepflegt, und ich fand ihn hinreißend schön.
„Bleiben Sie, bis der Rettungswagen kommt“, flehte ich.
„Das werde ich ganz bestimmt tun!“ versicherte er mir, und mit diesen Worten war sein Gesicht auch schon wieder verschwunden.
Mittlerweile hatten sich draußen weitere Stimmen dazugesellt. Sarah Newlin und Polly klangen immer schriller. Die beiden waren mit dem Auto auf unseren Wagen aufgefahren. Mehrere Menschen hatten den Unfall mitangesehen; daß die beiden Frauen sich nun gebärdeten, als seien sie unsere Schwestern oder ähnliches, machte auf die umstehende Menge keinen großen Eindruck. Inzwischen hatten sich zu den beiden, wie ich nach einer Weile mitbekam, wohl auch zwei männliche Gemeindemitglieder gesellt, die sich auch nicht gerade beliebt machten.
„Dann gehen wir eben“, verkündete Polly gerade schnippisch und ziemlich wütend.
„Das lassen Sie schön bleiben“, erwiderte mein wundervoller, streitbarer Mann mit der tiefen Stimme. „Sie müssen auf jeden Fall erst die Angaben ihrer Autoversicherungen austauschen.“
„Stimmt“, sagte eine viel jüngere, auch männliche Stimme. „Sie wollen nur nicht für den Schaden am Wagen der beiden Frauen aufkommen. Was ist, wenn die beiden verletzt sind? Haften Sie dann nicht für die Krankenhauskosten?“
Luna hatte es geschafft, ihren Sicherheitsgurt zu lösen und drehte sich nun so, daß es ihr gelang, auf die Innenseite des Autodachs zu fallen, das sich dort befand, wo eigentlich der Boden hätte sein sollen. Mit einer Wendigkeit, um die ich sie nur beneiden konnte, streckte sie den Kopf zum offenen Fenster hinaus und angelte mit den Füßen nach allem, worauf sie sich abstützen konnte. So gelang es ihr, sich aus dem Fenster zu schlängeln. Eines der Dinge, die sie dabei als Fußstütze zur Hilfe nahm, war meine Schulter, aber ich gab keinen Laut von mir. Eine von uns mußte es unbedingt schaffen, sich zu befreien.
Sobald Luna draußen auftauchte, wurde sie von lauten Rufen begrüßt. Dann hörte ich sie fragen: „Wer von Ihnen beiden saß am Steuer?“
Verschiedene Stimmen mischten sich ein, von denen die eine dies, die andere jenes sagte, aber offenbar war allen Umstehenden klar, daß Polly, Sarah sowie deren Gefolgsleute die Täter waren und Luna ein Opfer. Inzwischen standen so viele Menschen um die Unfallstelle herum, daß es die Bruderschaft selbst dann nicht schaffte, uns einfach vom Tatort wegzuschleppen, als ein weiterer Wagen mit Getreuen vorgefahren kam. Gott schütze den amerikanischen Gaffer, dachte ich rührselig, denn ich war in sentimentaler Stimmung.
Der Sanitäter, der mich schließlich aus dem Auto befreite, war der hübscheste Mann, den ich je zu Gesicht bekommen hatte. Er hieß Salazar, zumindest stand das auf seinem Namensschild, und ich sagte: „Salazar“, nur um sicher zu gehen, daß ich so etwas noch sagen konnte. Es kostete mich große Anstrengung, den Namen richtig und vollständig auszusprechen.
„Ja, so heiße ich“, sagte der Sanitäter, und dann hob er mein Lid, um mir ins Auge zu schauen. „Sie sehen reichlich lädiert aus.“
Ich wollte ihm gerade erklären, daß ich mir ein paar Verletzungen bereits vor dem Unfall zugezogen hatte, da hörte ich Luna sagen: „Mein Terminkalender flog vom Armaturenbrett und traf sie voll ins Gesicht.“
„Es wäre wesentlich sicherer, wenn sie nichts auf dem Armaturenbrett liegen ließen“, sagte eine unbekannte Stimme, die etwas flach klang.
„Da haben Sie recht, Officer, inzwischen sehe ich das ja ein.“
Officer? Ich versuchte, den Kopf zu wenden und wurde von Salazar getadelt. „Sie halten sich ruhig, bis ich sie mir von Kopf bis Fuß angesehen habe“, sagte der Mann streng.
„Gut.“ Eine Sekunde später fragte ich: „Ist die Polizei hier?“
„Ja. Wo tut es weh?“
Wir gingen eine ganze Menge Fragen zusammen durch, und die meisten von ihnen konnte ich auch beantworten.
„Ich glaube, Sie werden sich rasch wieder erholen und keine bleibenden Schäden davontragen, aber wir müssen Sie und Ihre Freundin mit ins Krankenhaus nehmen und untersuchen, nur um ganz sicher zu gehen.“ Salazar und seine Partnerin, eine schwergewichtige weiße Frau, taten so, als sei diese Sache etwas völlig Selbstverständliches.
„Nein“, rief ich besorgt. „Wir müssen nicht ins Krankenhaus, oder, Luna?“
„Na klar müssen wir ins Krankenhaus!“ Luna schien völlig überrascht, daß ich mich so dagegen sträubte. „Du mußt dich röntgen lassen. Deine Wange sieht schlimm aus.“
„Ach ja?“ Ich verstand nicht, welche Richtung Lunas Überlegungen inzwischen eingeschlagen hatten. „Na, wenn du meinst, es muß wirklich sein ...“
„Allerdings!“
Also begab sich Luna auf ihren eigenen Beinen zum Krankenwagen; ich wurde auf eine Bahre verladen und ebenfalls dorthin geschafft, und dann machten wir uns mit heulenden Sirenen auf den Weg. Das letzte, was ich sah, ehe Salazar die Türen des Krankenwagens schloß, waren Sarah und Polly. Die beiden unterhielten sich mit einem sehr großen Polizisten und sahen aus, als hätten sie völlig die Fassung verloren. Das fand ich prima.
Das Krankenhaus war, wie Krankenhäuser nun einmal sind. Luna heftete sich an meine Fersen. Sie ließ mich keine Sekunde lang aus den Augen. Als wir zusammen in einer der kleinen Untersuchungskabinen saßen, die jeweils durch einen Vorhang abgetrennt sind, bat sie die Schwester, die gekommen war, um unsere Versicherungsdaten und weitere Einzelheiten aufzunehmen: „Sagen Sie bitte Dr. Josephus, daß Luna Garza und ihre Schwester hier sind.“
Die Schwester, eine junge Afroamerikanerin, warf Luna einen skeptischen Blick zu, sagte jedoch lediglich: „Wenn Sie wünschen“, und verschwand umgehend.
„Wie hast du das denn geschafft?“ wollte ich wissen.
„Wie ich die Schwester dazu gebracht habe, mit dem Ausfüllen der Karteikarten aufzuhören? Ich habe die Sanitäter extra gebeten, uns in dieses Krankenhaus zu bringen. Wir haben in jedem Hospital der Stadt jemanden, aber unseren Mann hier kenne ich am besten.“
„Unseren?“
„Unseren. Die, die zwei Wesen haben.“
„Ach.“ Die Gestaltwandler. Ich konnte es kaum erwarten, Sam davon zu berichten.
„Ich bin Dr. Josephus“, sagte eine ruhige Stimme über mir. Ich hob den Kopf und stellte fest, daß ein zierlicher Mann mit silbergrauem Haar in unser kleines Kabuff getreten war. Sein Haar war bereits ein wenig schütter und sein Gesicht wurde von einer scharfgeschnittenen Nase dominiert, auf der eine Brille mit Stahlrand thronte. Er hatte strahlend blaue Auge, die durch die Brillengläser noch vergrößert wurden.
„Ich bin Luna Garza, und dies ist meine Freundin - Marigold.“ Luna klang mit einem Mal so anders - ich warf ihr einen prüfenden Blick zu, um sicherzugehen, daß wirklich dieselbe Person neben mir saß. „Wir hatten heute nacht bei der Erfüllung unserer Pflichten leider etwas Pech.“
Der Arzt musterte mich mißtrauisch.
„Sie ist es wert“, sagte Luna gewichtig. Mir war nach Kichern zumute. Ich wollte die Feierlichkeit dieses Moments wahrlich nicht stören, aber das fiel mir recht schwer, und ich mußte mich kräftig auf die Innenseite meiner Wangen beißen, um nicht loszuprusten.
„Wir müssen Sie röntgen“, verkündete der Arzt, nachdem er sich mein Gesicht und das grotesk geschwollene Knie angesehen hatte. Ich hatte noch weitere Prellungen und Abschürfungen vorzuweisen, die aber harmlos waren. Knie und Wange stellten die beiden einzigen wirklich schwerwiegenden Verletzungen dar.
„Das müßte dann ziemlich schnell geschehen, und danach müssen wir hier verschwinden, und zwar auf einem sicheren Weg“, sagte Luna in einem Tonfall, der es dem Arzt unmöglich machte, ihr zu widersprechen oder seine Hilfe zu verweigern.
Noch nie hatte ich eine Krankenhausmaschinerie so rasch arbeiten sehen! Wahrscheinlich saß Josephus hier im Aufsichtsrat oder war der Chefarzt, etwas anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Das fahrbare Röntgengerät kam angerollt, die Aufnahmen wurden gemacht, und bereits wenige Minuten später teilte Dr. Josephus mir mit, daß mein Jochbein einen Haarriß abbekommen hatte, der aber von ganz allein wieder heilen würde. Wenn ich wollte, könnte ich, sobald die Schwellung abgeklungen war, einen Chirurgen aufsuchen, der auf kosmetische Chirurgie spezialisiert war. Josephus stellte mir ein Rezept für ein Schmerzmittel aus, erteilte mir eine Unmenge Ratschläge und gab mir einen Eisbeutel für meine Wange und einen weiteren für mein Knie. Das Knie, erklärte er, sei 'geprellt'.
Knapp zehn Minuten später waren wir bereits auf dem besten Weg, das Krankenhaus wieder zu verlassen. Ich saß in einem Rollstuhl, der von Luna geschoben wurde, und Dr. Josephus führte uns durch einen langen unterirdischen Korridor zu einem Lieferanteneingang. Unterwegs kamen uns ein paar Angestellte des Krankenhauses auf dem Weg zur Arbeit entgegen. Keiner von ihnen machte einen vornehmen, wohlhabenden Eindruck; sie alle schienen hier im Krankenhaus eher unterbezahlter Arbeit nachzugehen, etwa als Köchinnen und Putzfrauen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß der ungeheuer selbstsicher wirkende Dr. Josephus sich je zuvor in diesen Tunnel verirrt hatte, aber offenbar kannte er den Weg gut, und anscheinend wunderte sich keiner der Angestellten allzusehr darüber, ihn hier unten anzutreffen. Am Ende des Tunnels drückte er eine schwere Metalltür auf.
Mit wahrhaft königlicher Grazie und Würde nickte Luna dem Mann zu, bedankte sich und rollte mich hinaus in die Nacht. Draußen stand ein großer, alter Wagen, entweder dunkelrot oder braun. Neugierig sah ich mich um, wobei ich feststellte, daß wir uns in einer Gasse hinter dem Krankenhaus befanden. Große Müllcontainer standen an einer Wand entlang aufgereiht, und dazwischen war eine Katze gerade dabei, sich auf irgend etwas zu stürzen - auf was, das wollte ich lieber nicht so genau wissen. Die Krankenhaustür war mit einem unheilverkündenden Zischen hinter uns zugefallen; nun war es mucksmäuschenstill in der Gasse. Erneut beschlich mich ein flaues Gefühl.
Wie satt ich es hatte, mich zu fürchten!
Luna ging hinüber zum Wagen, öffnete eine rückwärtige Tür und sagte etwas zu demjenigen, der im Wagen saß - wer immer das auch sein mochte. Die Antwort, die sie erhielt, schien sie sehr zornig zu stimmen. Sie fing an, in einer mir unbekannten Sprache zu schimpfen.
Der oder die im Auto hielten sich nicht zurück. Ein handfester Streit entstand.
Dann stapfte Luna wütenden Schrittes dorthin zurück, wo sie mich und den Rollstuhl abgestellt hatte. „Ich werde dir eine Augenbinde anlegen müssen!“ sagte sie, wobei sie offenbar fest damit rechnete, bei mir auf Widerstand zu stoßen.
„Damit habe ich kein Problem“, sagte ich und gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, daß ich das auch so meinte und mir eine Augenbinde keine große Sache zu sein schien.
„Du hast nichts dagegen?“
„Nein. Ich kann es verstehen. Jeder schätzt seine Privatsphäre.“
„Wie du meinst“. Sie eilte zum Auto zurück, um mit einem Schal aus grüner und taubenblauer Seide zurückzukehren. Diesen faltete sie zusammen, als wollten wir Blindekuh spielen und verknotete ihn dann sorgfältig an meinem Hinterkopf. „Glaub mir“, flüsterte sie mir ins Ohr. „Die beiden im Auto sind harte Burschen. Nimm dich in acht.“ Na toll, genau das hatte ich mir gewünscht: noch mehr Leute, vor denen ich mich fürchten konnte.
Luna rollte mich zum Auto und half mir beim Einsteigen. Ich nehme an, daß sie den Stuhl danach wieder zum Krankenhauseingang rollte, damit er dort später abgeholt werden konnte; es dauerte jedenfalls fast eine Minute, ehe sie ebenfalls in den Wagen kletterte und neben mir Platz nahm.
Vorn im Wagen saßen zwei Personen, das spürte ich. Ich bekam beide geistig mit, aber nur sehr vage; sie waren wohl Gestaltwandler. Zumindest fühlte sich das, was ich von ihrem Bewußtsein mitbekam, für mich an wie das Bewußtsein von Gestaltwandlern: so ein halb durchsichtiges, verworrenes, dorniges Durcheinander, wie ich es auch bei Sam und Luna wahrnehmen konnte. Sam verwandelte sich in der Regel in einen Collie; nun fragte ich mich, welche Gestalt Luna wohl bevorzugen mochte. Mit den beiden auf den vorderen Sitzen war irgend etwas anders, als ich es von Luna und Sam gewohnt war; eine Art pulsierende Schwere umgab sie. Auch wirkten die Umrisse ihrer Köpfe leicht verändert, nicht wie Umrisse von Menschenköpfen.
Ein paar Minuten lang herrschte Stille im Auto, während es die Gasse entlang holperte, um dann, als wir eine richtige Straße erreicht hatten, schneller und lautloser durch die Nacht zu fahren.
„Silent Shore, nicht?“ ließ sich dann mit einer Stimme, die fast wie ein Knurren klang, die Fahrerin des Wagens hören. Da fiel mir ein, daß wir schon bald Vollmond haben würden. Scheiße! Bei Vollmond mußten die sich doch wandeln! Vielleicht hatte Luna in der Zentrale der Bruderschaft auch deswegen so leicht mit sich reden lassen, hatte ihre Pläne so bereitwillig geändert, nachdem es dunkel geworden war. Sie war nervös geworden, nachdem sie beobachtet hatte, wie der Mond aufging.
„Ja, bitte“, beantwortete ich höflich die Frage nach dem Fahrziel.
„Fressen, das redet!“ kommentierte der Gestaltwandler auf dem Beifahrersitz, dessen Stimme einem Knurren noch ähnlicher war als die der Fahrerin.
Dieser Spruch gefiel mir nicht, aber mir wollte beim besten Willen nichts einfallen, womit ich ihm hätte kontern können. Anscheinend hatte ich über Gestaltwandler noch ebensoviel zu lernen wie über Vampire. „Hört jetzt auf“, herrschte Luna sie an. „Sie ist mein Gast.“
„Luna treibt sich mit Welpennahrung rum!“ sagte der Beifahrer, der mir von Minute zu Minute unsympathischer wurde.
„Mir riecht sie eher wie ein Burger“, bemerkte die Fahrerin. „Hat wohl den einen oder anderen Kratzer abbekommen, was?“
„Ihr beide seid ja wirklich eine prima Reklame für den Zivilisationsgrad, den wir erreicht haben!“ zischte Luna erbost. „Reißt euch zusammen. Sie hat schon eine schlimme Nacht hinter sich. Noch dazu hat sie sich einen Knochen gebrochen.“
Dabei war die Nacht noch nicht einmal zur Hälfte um! Ich schob den Eisbeutel, den ich gegen das Gesicht gedrückt hielt, zurecht. Direkt über den Nebenhöhlen kann man einfach nur ein bestimmtes Maß an Kälte ertragen.
„Warum hat Josephus auch ausgerechnet gottverdammte Werwölfe kommen lassen?“ flüsterte Luna wütend in mein Ohr. Aber die beiden vorn im Wagen konnten sie trotzdem verstehen, das wußte ich. Sam hört einfach alles, und er ist beileibe nicht so fit wie ein richtiger Werwolf. Zumindest war das meine Einschätzung. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Wie sollte ich beurteilen können, wozu ein Werwolf in der Lage war? Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt ja nicht einmal geahnt, daß es Werwölfe wirklich gab!
„Ich nehme an“, sagte ich laut und deutlich, um die Umgangsformen zu wahren, „Dr. Josephus dachte, die beiden würden uns am ehesten verteidigen können, sollten wir erneut angegriffen werden.“
Ich spürte, wie die Wesen auf den Vordersitzen die Ohren spitzten - gut möglich, daß sie das auch wirklich wortwörtlich so taten.
„Wir haben uns doch auch allein nicht schlecht geschlagen“, meinte Luna beleidigt. Sie rutschte unruhig neben mir auf ihrem Sitz hin und her, so aufgeladen, als hätte sie mindestens sechzehn Tassen Kaffee getrunken.
„Luna, wir sind gerammt worden; dein Auto hat einen Totalschaden erlitten; wir waren in der Notaufnahme eines Krankenhauses - was meinst du mit 'gut durchgeschlagen'?“
Gleich darauf fiel mir aber auch schon selbst die Antwort ein: „Luna, tut mir leid! Du hast mich da rausgeholt! Die hätten mich sonst umgebracht! Es war ja schließlich nicht deine Schuld, daß sie uns hinterher gerammt haben.“
„Ihr beiden hattet heute abend wohl schon eine kleine Keilerei?“ fragte der Beifahrer, wobei er wesentlich höflicher klang als zuvor. Wie gern er an dieser Keilerei teilgenommen hätte, wie liebend gern er sich prügeln wollte. Ich wußte nicht, ob Werwölfe von Natur aus so reizbar waren wie dieser hier oder ob es eine Sache der individuellen Persönlichkeit war.
„Ja, mit der verdammten Bruderschaft“, verkündete Luna, wobei in ihrer Stimme mehr als nur ein kleines bißchen Stolz mitschwang. „Die hatten das Mädel hier in eine Zelle gesteckt. In einen unterirdischen Kerker.“
„Im Ernst?“ fragte die Fahrerin ungläubig. Ihre Aura - ich muß es einfach Aura nennen, ein anderer Ausdruck fällt mir nicht ein - pulsierte auf dieselbe hektische Weise wie die Lunas und des Beifahrers.
„Ja!“ erwiderte ich. „Mein Chef ist übrigens auch Wandler“, fügte ich hinzu, im Bemühen, ein wenig höfliche Konversation zu machen.
„Echt? Was für einen Betrieb hat dein Chef denn?“
„Eine Kneipe. Mein Chef besitzt eine Kneipe.“
„Wo denn? Bis du hier weit weg von zu Hause?“
„Viel zu weit weg“, sagte ich.
„Die kleine Fledermaus hier hat dir heute echt das Leben gerettet?“
„Ja.“ Darüber mochte ich auf keinen Fall Witze machen. „Luna hat mir das Leben gerettet.“ War das mit der Fledermaus ein Spitzname oder ernst gemeint? Wandelte sich Luna am Ende gar wirklich in eine ... ach du meine Güte!
„Bravo, gut gemacht!“ In der tieferen der beiden Knurrstimmen lag eine winzige Spur Respekt.
Luna freute sich über das Lob, ganz zu Recht, wie ich fand, und tätschelte meine Hand. Ein paar Minuten glitten wir durch die Finsternis, ohne daß jemand etwas sagte, wobei sich das Schweigen nunmehr weitaus freundlicher anfühlte als zuvor. Dann verkündete die Fahrerin, wir seien beim Silent Shore Hotel angekommen.
Ich stieß einen tiefen, langen Seufzer der Erleichterung aus.
„Vor der Tür steht ein Vampir und scheint auf jemanden zu warten.“
Fast hätte ich mir die Augenbinde vom Gesicht gerissen, aber in letzter Sekunde wurde mir bewußt, welch würdelose, armselige Geste das gewesen wäre. „Wie sieht er aus?“ fragte ich statt dessen.
„Sehr groß und blond, mit einer ziemlichen Mähne. Freund oder Feind?“
Darüber mußte ich kurz nachdenken. „Freund“, sagte ich dann, wobei ich hoffte, überzeugend zu klingen.
„Lecker“, bemerkte die Fahrerin. „Geht der nur mit Menschen, oder macht er Ausnahmen?“
„Ich weiß nicht. Soll ich ihn fragen?“
Luna und der Beifahrer taten lautstark so, als müßten sie sich gleich übergeben. „Du kannst doch nicht mit einem Toten losziehen!“ protestierte Luna. „Nun mach mal halblang, Deb-Mädel!“
„Schon gut, regt euch ab“, antwortete die Fahrerin. „Ein paar von denen sind noch nicht mal übel. Also, mein kleiner Kalbsknochen, jetzt biege ich in die Hoteleinfahrt ein.“
„Mit Kalbsknochen meint sie dich!“ flüsterte mir Luna ins Ohr.
Wir hielten an. Luna beugte sich über mich, um meine Wagentür zu öffnen. Als ich, von ihren Händen gelenkt und geschoben, langsam aus dem Wagen kletterte, hörte ich vom Bürgersteig her einen erstaunten Ausruf, und ehe ich noch mit der Wimper hätte zucken können, hatte Luna die Wagentür bereits wieder zugeschlagen. Mit quietschenden Reifen rasten die Gestaltwandler aus der Hotelauffahrt. Lediglich ein Heulen blieb noch ein wenig in der dicken, heißen Nachtluft hängen.
„Sookie?“ fragte eine wohlbekannte Stimme.
„Eric?“ fragte ich zurück.
* * *
Ich fummelte an der Augenbinde herum und wollte sie aufknüpfen, aber Eric schnappte sich einfach den Knoten und riß ihn mit einem Ruck auseinander. Nunmehr war ich stolze Besitzerin eines wunderschönen, wenn auch leicht fleckigen Schals. Ich sah mich um. Das Hotel mit seinen riesigen Türen leuchtete hell in der finsteren Nacht; Eric war bemerkenswert blaß. Er trug einen ungeheuer konventionell wirkenden marineblauen Nadelstreifenanzug.
Ich war ganz ehrlich froh darüber, den großen Vampir zu sehen. Der wiederum griff nach meinem Arm, um zu verhindern, daß ich allzusehr schwankte, und blickte mit einem ganz merkwürdigen Gesichtsausdruck, den ich beim besten Willen nicht hätte interpretieren können, auf mich herab. Vampire beherrschen derlei perfekt. „Was ist dir widerfahren?“ wollte Eric wissen.
„Ich ... das läßt sich so schnell nicht erzählen. Wo ist Bill?“
„Zuerst ist er los zur Bruderschaft der Sonne, um dich da rauszuholen. Unterwegs hörten wir von einem der Unsrigen, der als Polizist arbeitet, daß du in einen Unfall verwickelt warst und man dich ins Krankenhaus gebracht hatte. Also eilte auch Bill ins Krankenhaus. Dort mußte er jedoch feststellen, daß du bereits wieder gegangen warst, und zwar nicht auf einem der üblichen Wege. Niemand wollte ihm etwas sagen, und er konnte die Leute ja wohl auch kaum wirklich bedrohen.“ Das schien Eric zu fuchsen; er wirkte frustriert. Die Tatsache, daß er jetzt im Rahmen der von Menschen geschaffenen Gesetze leben und agieren mußte, irritierte und verärgerte den uralten Vampir mit konstanter Regelmäßigkeit immer wieder aufs neue, auch wenn er die Vorteile, die diese Gesetze ihm boten, wirklich aus ganzem Herzen genoß und ausschöpfte. „Danach fehlte von dir jede Spur. Geistig hatte der Page nur einmal von dir gehört.“
„Der arme Barry. Geht es ihm gut?“
„Der arme Barry ist um ein paar hundert Dollar reicher und von daher sehr zufrieden“, meinte Eric trocken. „Nun fehlt nur noch Bill. Was du aber auch für Ärger machst!“ Mit diesen Worten zog er ein Handy aus der Tasche und tippte eine Nummer ein. Nach einer Weile, die mir unendlich lang vorkam, reagierte jemand am anderen Ende.
„Bill? Sie ist hier. Ein paar Gestaltwandler haben sie gebracht.“ Eric musterte mich. „Ziemlich demoliert, aber laufen kann sie.“ Dann hörte er zu. „Bill will wissen, ob du deine Keycard dabeihast.“ Ich sah in der Rocktasche nach, in der ich das Plastikviereck vor ungefähr einer Million Jahre verstaut hatte.
„Ja“, sagte ich, wobei ich kaum glauben mochte, daß an diesem schrecklichen Abend mal etwas wirklich gut gelaufen sein sollte. „Moment“, fuhr ich fort, „nicht auflegen. Haben sie Farrell befreit?“
Eric hob die Hand, um mir zu verstehen zu geben, daß er gleich alles erklären würde. „Ich bringe sie jetzt hoch und verarzte sie.“ Dann versteiften sich Erics Schultern. „Wie du meinst“, sagte er mit leicht drohendem Unterton. „ Auf Wiederhören.“ Daraufhin wandte er sich an mich, als hätte es in der Unterhaltung zwischen uns beiden keine Unterbrechung gegeben.
„Ja, Farrell ist in Sicherheit. Die Bruderschaft wurde überfallen.“
„Sind ... viele Menschen verletzt worden?“
„Die meisten waren völlig verängstigt und sind gar nicht erst nahe ans Geschehen herangegangen. Sie haben sich einfach in alle Himmelsrichtungen verteilt und den Heimweg angetreten. Farrell war zusammen mit Hugo in einer unterirdischen Zeile.“
„Ach ja! Was ist mit Hugo?“
Ich hatte wohl ziemlich neugierig geklungen, denn Eric sah mich von der Seite an, während wir gemeinsam hinüber zu den Fahrstühlen gingen, wobei sich der lange Vampir meinen Schritten anpaßte und ich unbeholfen und langsam daher humpelte.
„Darf ich dich tragen?“ fragte Eric höflich.
„Nein. Ich habe es bisher ja auch geschafft.“ Wäre das Angebot von Bill gekommen, hätte ich es angenommen, ohne mit der Wimper zu zucken. Barry saß am Tresen der Hotelpagen und winkte mir zu. Wenn ich nicht mit Eric zusammengewesen wäre, wäre er sicher herübergekommen. Ich warf ihm einen beredten Blick zu - zumindest hoffte ich, der Blick sei beredt ausgefallen -, der ihm sagen sollte, daß ich mich später mit ihm unterhalten würde, und dann ging mit einem leisen Klingeln die Fahrstuhltür auf, und Eric und ich traten in den Fahrstuhl. Eric drückte auf den Knopf für das dritte Stockwerk und lehnte sich dann gegen den großen Spiegel, der die Wand direkt mir gegenüber zierte. Ich sah ihn an und erhielt dabei auch gleich einen kleinen Eindruck von der miserablen Verfassung, in der ich mich befand.
„Oh nein!“ Der Anblick gab mir den Rest. „Nein!“ wiederholte ich. Ich sah aber auch wirklich zu schrecklich aus: Mein Haar, von der Perücke plattgedrückt und von mir flüchtig mit den Fingern wieder ausgekämmt, war das reine Desaster. Instinktiv flogen meine Finger hoch, um meine Frisur zu richten, ein äußerst schmerzhafter Vorgang und noch dazu sinnlos, und meine Lippen zitterten, so sehr mußte ich mich anstrengen, nicht einfach in Tränen auszubrechen. Dabei war die Sache mit den Haaren noch relativ harmlos! Prellungen und Quetschungen zierten ein Großteil dessen, was von meinem Körper sichtbar war; manche dieser Verletzungen waren harmlos und oberflächlich, andere gingen tiefer und würden eine Weile brauchen, um zu heilen - und das waren nur die Wunden, die man sah. Die eine Hälfte meines Gesichts war geschwollen und verfärbt. Das gebrochene Jochbein zierte direkt in der Mitte eine offene Rißwunde. An meiner Bluse fehlte die Hälfte der Knöpfe, mein Rock war zerrissen und verdreckt. Mein rechter Arm war mit blutigen roten Klümpchen bedeckt.
Nun fing ich doch an zu weinen. Ich sah so fürchterlich aus; bei diesem Anblick verabschiedete sich das, was von meinen Lebensgeistern noch übrig geblieben war.
Man muß es Eric zugute halten, daß er nicht lachte, auch wenn ihm vielleicht zum Lachen zumute war. „Sookie, ein Bad, saubere Kleider, und du bist so gut wie neu!“ versicherte er mir, als sei ich ein Kind, dem man gut zureden mußte, und um die Wahrheit zu sagen fühlte ich mich in diesem Augenblick auch nicht viel älter als ein Kind.
„Die Werwölfin am Steuer fand dich niedlich“, teilte ich Eric schniefend mit. Dann waren wir im dritten Stock und traten aus dem Fahrstuhl.
„Die Werwölfin? Du hast ja heute wirklich allerhand erlebt.“ Mit diesen Worten nahm Eric mich einfach in die Arme, als sei ich ein Bündel Kleider, und drückte mich an sich. Unter dem unablässigen Strom meiner Tränen wurde sein wunderschönes Anzugjackett im Handumdrehen pitschnaß, und auch sein strahlend weißes Oberhemd war auf einmal nicht mehr so blütenrein.
„Entschuldige!“ Besorgt lehnte ich mich zurück, um Erics Anzug zu mustern. Dann tupfte ich hilflos mit meinem neuen Schal daran herum.
„Bitte nicht wieder anfangen zu weinen“, bat Eric verzweifelt. „Wenn du nicht wieder anfängst zu weinen, dann macht es mir wirklich nichts aus, den Anzug in die Reinigung zu geben, das verspreche ich dir! Dann würde es mir noch nicht einmal etwas ausmachen, einen neuen Anzug zu kaufen.“
Eric, der gefürchtete Obervampir, hatte Angst vor heulenden Frauen! Das fand ich so witzig, daß ich kichern mußte. Das Kichern mischte sich unter die Schluchzer, die ich nicht hatte unterdrücken können, und so entstand ein ziemliches Durcheinander.
„Was ist denn so witzig?“ wollte Eric wissen.
Ich schüttelte hilflos den Kopf.
Als wir vor meiner Suite standen, zog ich meine Keycard aus der Tasche, schloß auf, und wir traten ein. „Wenn du willst, helfe ich dir, in die Badewanne zu klettern“, erbot sich Eric charmant.
„Nein danke, das wird nicht notwendig sein.“ Ich sehnte mich nach einem Bad. Baden und diese Kleider nie wieder anziehen müssen, das wäre mir jetzt das liebste gewesen. Aber ich würde gewiß nicht in die Wanne steigen, wenn Eric daneben stand.
„Ich wette, nackt bis du ein Augenschmaus“, sagte Eric, um mich aufzumuntern.
„Das weißt du. Ich bin so lecker wie ein Rieseneclair“, antwortete ich, während ich mich vorsichtig in einen Sessel sinken ließ. „Auch wenn ich mir momentan eher wie Boudain vorkomme.“ Boudain ist eine Soße, die in der Cajun-Küche verwendet wird. Sie wird aus allen möglichen Zutaten zusammengebraut, von denen man keine als raffiniert bezeichnen kann. Eric schob einen einfachen Stuhl zu mir heran und hob mein Bein darauf, um mein Knie höher zu lagern. Ich legte den Eisbeutel auf mein Knie und schloß die Augen. Eric rief beim Empfang an, wo er um eine Pinzette, eine Schüssel, antiseptische Wundsalbe und einen Rollstuhl bat. Zehn Minuten später trafen all diese Dinge bei uns ein. Die Leute in diesem Hotel waren wirklich gut.
Im Zimmer stand an der einen Wand ein kleiner Tisch, den Eric neben meinen Sessel stellte. Dann hob er meinen rechten Arm auf die Tischplatte. Er schaltete die Stehlampe neben dem Sessel ein. Nachdem er mit Hilfe eines Waschlappens den Arm gesäubert hatte, fing er an, mit der Pinzette die kleinen blutigen Klümpchen zu entfernen, bei denen es sich um winzige Glasstückchen der Windschutzscheibe von Lunas Outback handelte. „Wärst du ein gewöhnliches Mädchen, dann könnte ich dich jetzt so bezirzen, daß du nichts mitbekommst“, kommentierte Eric beiläufig. „Du aber wirst einfach die Zähne zusammenbeißen müssen.“ Es tat furchtbar weh. Die ganze Zeit über rannen mir die Tränen in Strömen über die Wangen, und es fiel mir unendlich schwer, ruhig dazusitzen.
Endlich hörte ich, wie eine weitere Keycard ins Schloß unserer Suite geschoben wurde und öffnete die Augen. Bill warf einen Blick in mein Gesicht, zuckte sichtlich zusammen und sah sich dann an, was Eric mit meinem Arm tat. Das schien seine Zustimmung zu finden, jedenfalls nickte er seinem Chef wohlwollend zu.
„Wie ist das passiert?“ wollte er wissen, wobei er ganz sanft, wirklich ganz sanft mein Gesicht berührte. Dann zog er den letzten noch verbliebenen Stuhl näher heran und setzte sich neben mich, während Eric weiter meinen Arm versorgte.
Ich fing also an, die Geschichte zu erzählen, war allerdings so müde, daß mir von Zeit zu Zeit die Stimme versagte. Als ich zu der Sache mit Gabe kam, hatte ich meinen Verstand nicht mehr so weit beisammen, daß ich die Episode ein wenig hätte herunterspielen können und mußte mit ansehen, wie Bill mit aller Kraft darum rang, die Fassung zu wahren und nicht auszurasten. Vorsichtig hob er meine Bluse, um sich meinen zerrissenen BH sowie all die Prellungen und Abschürfungen auf meiner Brust anzusehen, und das, obwohl Eric direkt daneben saß (und natürlich auch guckte).
„Was wurde aus diesem Gabe?“ fragte Bill sehr ruhig.
„Er ist tot“, sagte ich. „Godfrey hat ihn getötet.“
„Du hast Godfrey gesehen?“ Eric, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, beugte sich angespannt vor. Mein Arm war versorgt; Eric hatte ihn dick mit antiseptischer Wundsalbe bestrichen, als sei mein Arm der Po eines Babys, das sich nicht wund liegen sollte.
„Du hattest recht, Bill: Godfrey hatte Farrell entführt. Das weiß ich jetzt, auch wenn ich keine Details herausfinden konnte. Godfrey hat Gabe auch daran gehindert, mich zu vergewaltigen. Wobei ich allerdings sagen muß, daß ich selbst dem Widerling auch ein paar gute Schläge verpassen konnten.“
„Gib nicht so an“, sagte Bill mit einem schiefen Lächeln. „Der Mann ist also tot.“ Aber er schien nicht zufrieden.
„Godfrey hat Gabe sehr geschickt aufgehalten und mir dann zur Flucht verholfen. Besonders angesichts der Tatsache, daß er sich ganz auf den Sonnenaufgang konzentrieren und an nichts anderes denken wollte. Wo ist er jetzt?“
„Er ist in die Nacht hinausgerannt, als wir die Bruderschaft angriffen“, erklärte Bill. „Von uns konnte ihn niemand einholen.“
„Was ist in der Bruderschaft alles passiert?“
„Gleich. Ich werde dir alles genau schildern, aber zuerst wollen wir uns von Eric verabschieden. Dann setze ich dich in die Wanne und erzähle dir alles.“
Damit war ich einverstanden. „Gute Nacht, Eric“, sagte ich. „Danke für die Erste Hilfe.“
„Ich denke, die wesentlichen Punkte haben wir damit erfaßt“, sagte Bill zu Eric. „Wenn sich weitere Fragen ergeben, komme ich später nochmal in Ihr Zimmer.“
„Gut.“ Eric musterte mich aus halb geschlossenen Augen. Er hatte ein- oder zweimal an meinem blutverschmierten Arm geleckt, während er diesen verarztete, und der Geschmack meines Blutes schien ihn förmlich berauscht zu haben. „Ruh dich gut aus“, empfahl er mir.
Da fiel mir etwas ein. „Oh!“ rief ich und riß die Augen auf, „wir stehen jetzt bei den Gestaltwandlern in der Kreide.“
Beide starrten mich an. „Na ja, ihr vielleicht nicht“, korrigierte ich mich, „aber ich auf jeden Fall.“
„Die werden das bestimmt nicht vergessen“, meinte Eric. „Sie werden ihre Ansprüche bald geltend machen. Diese Gestaltwandler tun niemandem umsonst einen Gefallen. Gute Nacht. Ich bin froh, daß dich niemand vergewaltigt hat und daß du noch lebst.“ Er warf mir das plötzlich aufblitzende strahlende Lächeln zu, das ich bereits an ihm kannte und das stets dafür sorgte, daß er dem Mann, der er einst gewesen sein mußte, weit mehr glich als sonst.
„Nochmals danke“, sagte ich, wobei mir die Augen schon wieder zufielen. „Nacht.“
Sobald sich die Tür hinter Eric geschlossen hatte, hob Bill mich hoch und trug mich ins Badezimmer, das so groß oder vielmehr so klein war, wie Hotelbadezimmer in der Regel zu sein pflegen, aber über eine ausreichend große Wanne verfügte. Diese Wanne ließ Bill nun mit heißem Wasser vollaufen, während er mir ganz vorsichtig die Kleider abstreifte.
„Die schmeißt du einfach weg, Bill!“ bat ich ihn.
„Das wäre vielleicht keine schlechte Idee“, entgegnete mein Vampir, der sich, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepreßt, noch einmal all meine Prellungen und Quetschungen ansah.
„Ein paar davon stammen von dem Sturz die Treppe herunter und ein paar vom Autounfall“, erklärte ich.
„Wenn Gabe nicht schon tot wäre, würde ich ihn suchen und töten“, sagte Bill mehr wie zu sich selbst, „und ich würde mir Zeit dabei lassen.“ Dann hob er mich hoch, als sei ich so leicht wie ein Baby, setzte mich in die Wanne, nahm sich Waschlappen und Seife und badete mich.
„Mein Haar fühlt sich so eklig an!“
„Ja, dein Haar ist ziemlich verfilzt, aber darum werden wir uns morgen kümmern müssen. Jetzt mußt du erst einmal schlafen.“
Beim Gesicht angefangen schrubbte mich Bill sanft und zärtlich von oben bis unten ab. Langsam verfärbte sich das Wasser in der Wanne von all dem Dreck und den Blutresten. Bill untersuchte noch einmal meinen Arm, um wirklich sicher sein zu können, daß Eric alle Glassplitter entfernt hatte, ließ dann das Wasser aus der Wanne und füllte diese neu, während ich einfach sitzen blieb und vor mich hinzitterte. In der zweiten Wannenfüllung wurde ich sauber. Nachdem ich noch einmal den Zustand meines Haars bejammert hatte, gab Bill nach. Er machte es naß, massierte mir Shampoo in die Kopfhaut und spülte es sorgfältig wieder aus, was ein ziemlich langwieriger Vorgang war. Es gibt kaum etwas Schöneres, als sich so von Kopf bis Fuß sauber zu fühlen, wenn man vorher völlig verdreckt war; das und die Aussicht auf ein bequemes Bett mit sauberen Laken, ein Bett, in dem man sich ganz sicher fühlen und gut schlafen kann.
„Erzähl mir, was in der Bruderschaft geschehen ist“, sagte ich, als er mich ins Bett trug. „Leiste mir Gesellschaft.“
Bill schob mich unter die Laken, um dann von der anderen Seite auch darunter zu kriechen. Er schob mir den Arm unter den Kopf und rückte nah an mich heran. Ich lehnte meine Stirn an seine Brust und rieb mich an seiner kühlen, glatten Haut.
„Die Zentrale glich einem Ameisenhaufen, als wir hinkamen“, erzählte Bill. „Einem Ameisenhaufen, in den gerade eine Bombe eingeschlagen ist. Der Parkplatz wimmelte von Autos und Menschen, und immer kamen noch welche dazu. Die wollten wohl alle an dieser Übernachtung teilnehmen?“
„Nacht der Kirche“, murmelte ich, und drehte mich vorsichtig auf die Seite, um mich an ihn zu kuscheln.
„Als wir auftauchten, entstand natürlich ein gewisses Durcheinander. Die meisten Mitglieder der Bruderschaft verkrümelten sich ganz rasch wieder in ihre Autos und waren so schnell weg, wie es die Dichte des Verkehrsaufkommens zuließ. Ihr Führer versuchte, uns den Zutritt zur Versammlungshalle zu verwehren. Das war sicher ursprünglich mal eine Kirche, nicht? Newlin sagte, wir würden in Flammen aufgehen, wenn wir dort einen Fuß hineinsetzten, denn wir seien die Verdammten.“ Bill schnaubte. „Stan hat ihn einfach hochgehoben und beiseite gestellt, und dann sind wir in diese Kirche gegangen, mit Newlin und seiner Frau im Schlepptau. Keiner von uns ging in Flammen auf - das hat die Leute da scheinbar ziemlich erschüttert.“
„Das kann ich mir vorstellen“, murmelte ich, die Lippen dicht an Bills Brustkorb.
„Barry hatte uns berichtet, er habe, als er mit dir kommunizierte, das Gefühl bekommen, du seiest 'unten' - unter der Erdoberfläche. Er meinte auch, das Wort 'Treppe' mitbekommen zu haben. Wir waren zu sechst: Stan, Joseph Velasquez, Isabel, ich und noch zwei weitere. Wir brauchten ungefähr sechs Minuten, um alle anderen Möglichkeiten auszuschließen und die Kellertreppe zu finden.“
„Wie habt ihr mit der Tür gemacht?“ Ich erinnerte mich, daß sie solide Schlösser gehabt hatte.
„Wir haben sie aus den Angeln gerissen.“
„Oh.“ Damit verschaffte man sich auf jeden Fall im Handumdrehen Zugang.
„Natürlich dachte ich, du seiest immer noch da unten. Als ich den Raum mit dem toten Mann darin fand, dessen Hosenstall offenstand ...“ Bill schwieg eine Weile. „Ich wußte genau, daß auch du in dem Raum gewesen warst“, fuhr er dann fort. „Ich konnte dich in der Luft dort unten immer noch riechen. Der Mann war stellenweise blutverschmiert - mit deinem Blut -, und ich fand dein Blut auch noch an anderen Stellen im Zimmer. Ich war sehr besorgt.“
Ich tätschelte ihn. Ich war zu müde und zu schwach, um ihn wirklich liebevoll tätscheln zu können, aber diese Geste war der einzige Trost, den ich zu bieten hatte.
„Sookie?“ fragte er zögernd, „willst du mir vielleicht noch irgend etwas anderes erzählen?“
Ich war zu müde, ich verstand die Frage erst gar nicht richtig. „Nein“, gähnte ich. „Ich glaube, ich habe nichts Wesentliches ausgelassen.“
„Ich dachte - vielleicht - weil Eric dabei war. Gibt es etwas, was du nicht erzählen mochtest, als er dabei war?“
Da fiel bei mir endlich der Groschen. Ich küßte seine Brust, sein Herz. „Nein“, sagte ich, „Godfrey kam wirklich rechtzeitig.“
Daraufhin folgte ein langes Schweigen. Ich sah auf. Bills Gesicht war völlig reglos; er sah aus wie eine Statue. Mit erstaunlicher Klarheit hoben sich seine schwarzen Brauen von der blassen Haut ab. Seine dunklen Augen schienen bodenlos. „Erzähl mir noch, wie es ausging“, bat ich.
„Als Nächstes gingen wir in den Luftschutzkeller und fanden dort das größere Zimmer - voller Lebensmittel und Waffen. Alle Anzeichen wiesen darauf hin, daß sich dort ein Vampir aufgehalten hatte.“
Diesen Bunkerteil hatte ich gar nicht zu sehen bekommen, und ich plante auch gewiß nicht, in die Zentrale der Bruderschaft zurückzukehren, um mir anzusehen, was ich verpaßt hatte.
„Dort fanden wir in einer zweiten Zelle Farrell und Hugo Ayres.“
„Lebte Hugo noch?“
„Gerade eben noch“. Bill küßte mich auf die Stirn. „Farrel schläft lieber mit jüngeren Männern, das war Hugos Glück.“
„Vielleicht hatte Godfrey ja deshalb ausgerechnet Farrell entführt, als er beschloß, die Sonne mit einem weiteren Sünder an seiner Seite zu begrüßen und ein Exempel zu statuieren.“
Bill nickte. „So sieht Farrell das auch. Aber er hat da unten ziemlich lange ohne Sex und ohne Nahrung ausharren müssen und war in jeder Hinsicht hungrig. Ohne die silbernen Ketten, mit denen Farrell gefesselt war, hätte Hugo ... es wohl ziemlich schlecht gehabt da in der Zelle. Selbst mit den Silberketten um Handgelenke und Füße war Farrell in der Lage, von ihm zu trinken.“
„Wußtest du, daß Hugo derjenige war, der die Vampire verraten hat?“
„Farrell hat deine Unterhaltung mit Hugo mit angehört.“
„Wie - ach ja: das Gehör der Vampire, wie dumm von mir.“
„Farrell würde auch gern wissen, was du mit Gabe gemacht hast, als der so kreischen mußte.“
„Ich habe ihn auf die Ohren gehauen.“ Ich formte eine Hand zur Schale, um es ihm zu zeigen.
„Farrell war entzückt. Dieser Gabe gehörte zu den Männern, die es genießen, Macht über andere zu haben. Er hat Farrell gedemütigt, wo er konnte.“ „Farrell kann von Glück sagen, daß er keine Frau ist“, sagte ich. „Wo ist Hugo jetzt?“
„An einem sicheren Ort.“
„Sicher für wen?“
„Für Vampire. Weit weg von den Medien. Für die wäre Hugos Geschichte ein gefundenes Fressen.“
„Was werden die Vampire mit Hugo machen?“
„Das zu entscheiden ist Stan Davis' Sache.“
„Erinnerst du dich an unsere Abmachung mit Stan? Wenn sich anhand der von mir beschafften Beweise herausstellt, daß ein Mensch eines bestimmten Vergehens schuldig ist, dann wird dieser Mensch nicht einfach so umgebracht.“
Bill hatte offenbar nicht vor, diese Sache in dieser Nacht noch zu erörtern. Sein Gesicht wirkte plötzlich sehr verschlossen. „Du mußt jetzt schlafen. Wir reden darüber, wenn du wieder aufwachst.“
„Aber bis dahin könnte er tot sein.“
„Was schert dich das letztlich?“
„Wir haben eine Abmachung. Ich weiß, Hugo ist ein Arschloch, und ich hasse ihn auch, aber gleichzeitig tut er mir leid, und ich glaube nicht, daß ich weiter mit einem reinen Gewissen durchs Leben gehen kann, wenn ich weiß, daß ich an seinem Tod mitschuldig bin.“
„Sookie, der Mann wird noch leben, wenn du erwachst. Wir reden morgen darüber.“
Ich fühlte, wie der Schlaf an mir zerrte wie die Unterströmung einer Welle. Es fiel mir schwer zu glauben, daß es erst zwei Uhr morgens sein sollte.
„Danke, daß du gekommen bist, um mich zu retten.“
Bill schwieg zunächst, dann sagte er: „Erst konnte ich dich in der Zentrale der Bruderschaft nicht finden - statt dessen fand ich nur Blutspuren und einen toten Vergewaltiger. Als ich dann noch feststellen mußte, daß du auch im Krankenhaus nicht warst, daß man dich von dort irgendwie weggezaubert hatte ...“
„Mmmm?“
„Da hatte ich Angst, große Angst. Niemand hatte die geringste Ahnung, wo du sein könntest. Noch schlimmer: Als ich gerade dastand und mich mit der Schwester unterhielt, die die Anmeldeformalitäten erledigt hatte, verschwand dein Name vom Computerbildschirm.“
Ich war beeindruckt. Diese Gestaltwandler waren erstaunlich gut organisiert. „Vielleicht sollte ich Luna ein paar Blumen schicken“, sagte ich, wobei ich kaum noch in der Lage war, die Worte wirklich auszusprechen.
Bill küßte mich, ein überaus befriedigender Kuß, und das war das letzte, was ich noch mitbekam.