Kapitel 8

Einen knappen halben Meter entfernt von mir wurde Trudi von einer Gewehrsalve niedergemäht.

Die roten Strähnchen in ihrem Haar färbten sich in einem ganz neuen Rot; ihre offenen Augen würden mich nun auf ewig anstarren. Chuck, der Barkeeper, den die Konstruktion des Tresens schützte, erlitt lediglich Verletzungen.

Eric lag auf mir; das tat weh, denn mein ganzer Körper war ja wund. Ich wollte ihn schon von mir schieben, als mir einfiel, daß er wahrscheinlich überleben würde, falls ihn die Kugeln trafen, ich jedoch nicht. Also nahm ich es in der ersten schrecklichen Minute, als eine Angriffswelle über uns wegrollte und aus unzähligen Gewehren, Schrotflinten und Pistolen auf uns geschossen wurde, dankbar hin, daß er mit seinem Körper ein Bollwerk zwischen mir und den überall herumfliegenden Geschossen bildete. Von allen Seiten wurde die Vorortvilla beschossen.

Solange das Feuer andauerte, hielt ich die Augen geschlossen. Um mich herum zerschellte Glas; Vampire röhrten, Menschen schrien. Der Lärm drang auf mich ein, genau wie die Gedanken zahlloser Gehirne um mich, die auf Hochtouren arbeiteten und deren Aktivität wie eine Welle über mir zusammenschlug. Als der Aufruhr sich etwas gelegt hatte, sah ich auf und blickte in Erics Augen. Unglaublich: Der Vampir war erregt! Er lächelte sogar: „Wußte ich's doch! Früher oder später lande ich auf dir!“

„Du willst mich wütend machen, damit ich vergesse, wie sehr ich mich fürchte.“

„Nein! Ich mache das Beste aus der Situation.“

Daraufhin wollte ich natürlich von ihm loskommen. Ich drehte und wand mich. „Oh, nochmal! Das fühlt sich gut an!“ kommentierte er mein Bemühen.

„Eric, das Mädchen, mit dem ich vorhin geredet habe, liegt nur etwa neunzig Zentimeter entfernt von uns, und ihr fehlt ein Teil vom Kopf!“

„Sookie!“ erwiderte er plötzlich ernst. „Ich bin seit ein paar hundert Jahren tot. Ich bin daran gewöhnt. Aber sie ist noch nicht ganz fort.

Ein winziger Funken ist noch da. Willst du, daß ich sie herüber bringe, sie wandle?“

Ich war so schockiert, daß es mir die Sprache verschlug. Wie konnte ich eine solche Entscheidung treffen!

Während ich noch darüber nachdachte, sagte Eric: „Nun ist sie gegangen.“

Während ich zu ihm aufsah, wurde es um uns herum immer ruhiger. Die Stille verdichtete sich. Das einzige Geräusch, das im Haus noch zu hören war, kam von dem Jungen, der mit Farrell zusammengestanden hatte. Er war verwundet und preßte sich beide Hände verzweifelt an den blutroten Oberschenkel. Von draußen hörte man gedämpft, wie überall in der ruhigen Vorortstraße Autos angelassen wurden, die dann mit quietschenden Reifen davonfuhren. Der Angriff war vorüber. Mir fiel das Atmen schwer. Offenbar auch das Denken: Mir wollte nicht einfallen, was ich als nächstes tun sollte. Bestimmt gab es doch etwas, was jetzt unbedingt getan werden mußte; bestimmt sollte ich irgendwie aktiv werden!

Wie im Krieg hatte ich mich einen Moment lang gefühlt; noch nie zuvor in meinem ganzen Leben hatte ich mich gefühlt, als sei ich im Krieg.

Nun hörte man überall im Zimmer auch die Schreie der Überlebenden sowie das Wutgeheul der Vampire. Teile der Sofa - und Stuhlpolsterung schwebten wie Schneeflocken in der Luft; überall lag zerbrochenes Glas, und die Hitze der Nacht drang ungehindert durch die zerstörten Fenster. Einige Vampire hatten sich bereits wieder aufgerappelt und die Verfolgung unserer Angreifer aufgenommen, unter ihnen, wie ich feststellte, Joseph Velasquez.

„Dann will ich mal aufstehen, es gibt wohl keine Entschuldigung mehr für mich, hier noch liegenzubleiben“, verkündete Eric mit einem theatralischen Seufzer, woraufhin er sich auch wirklich erhob. Kritisch sah er an sich herunter: „Daß mir doch jedes Mal ein Hemd dabei draufgeht, wenn ich mit dir zusammen bin!“

„Scheiße, Eric.“ Unbeholfen, aber geschwind rappelte ich mich so weit auf, daß ich kniete. „Du blutest! Du hast eine Kugel abbekommen! Bill? Bill!“ Mein Haar wogte mir um die Schultern, als ich mich hektisch nach allen Seiten umsah. Bill hatte sich, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, mit einer schwarzhaarigen Vampirin mit auffallend spitz auf der Stirn zusammenlaufendem Haaransatz unterhalten, die in meinen Augen wie Schneewittchen ausgesehen hatte. Als ich mich jetzt halb aufrichtete, um den Fußboden abzusuchen und festzustellen, wer wo lag, entdeckte ich diese Vampirin in der Nähe eines Fensters. Irgend etwas ragte aus ihrer Brust. Schrotkugeln hatten dieses Fenster getroffen; einige Glasstücke waren bis ins Zimmer geflogen. Eine Scherbe mußte direkt den Brustkorb der schwarzhaarigen Vampirin getroffen und sie vernichtet haben. Bill konnte ich nicht entdecken, weder unter den Aktiven noch unter den endgültig Toten.

Eric zog sich das dreckige Hemd aus, um sich seine Schulter anzusehen. „Die Kugel steckt noch in der Wunde“, meinte er dann mit zusammengebissenen Zähnen. „Du mußt sie heraussaugen.“

„Was?“ Entsetzt starrte ich ihn mit offenem Mund an.

„Wenn du sie mir nicht heraussaugst, dann schließt sich die Wunde und verheilt, während die Kugel noch drinsteckt. Wenn du zum Saugen zu zimperlich bist, dann hol ein Messer und schneide sie raus.“

„Das kann ich nicht!“ In der Handtasche, die ich auf die Party mitgenommen hatte, war zwar auch ein Taschenmesser, aber ich konnte mich nicht erinnern, wo ich sie abgestellt hatte. Im Augenblick sah ich mich außerstande, mich soweit zusammenzureißen, daß ich sie hätte suchen können.

Eric bleckte die Zähne. „Ich habe die Kugel abgefangen, sonst hätte sie dich getroffen. Du kannst sie rausholen. Du bist kein Feigling.“

Da zwang ich mich, ganz ruhig zu werden. Ich nahm das Hemd, das Eric beiseite geworfen hatte, und benutzte es dazu, die Wunde abzutupfen. Die Blutung ließ schon nach. Ich warf einen Blick auf die zerfetzte Haut, wobei es mir gelang, die Kugel zu erkennen, die im Fleisch steckte. Hätte ich so lange Fingernägel gehabt wie Trudi, dann hätte ich das Geschoß einfach so herausholen können. Leider sind meine Finger jedoch eher klein und dick, die Nägel kurz gestutzt. Ich seufzte resigniert.

Das Sprichwort von der bitteren Pille, die man schlucken muß, bekam eine ganz neue Bedeutung, als ich mich über Erics Schulter beugte.

Eric stöhnte, als ich an ihm sog. Dann spürte ich, wie mir die Kugel in den Mund flutschte. Eric hatte recht gehabt. Da der Teppichboden unter meinen Füßen schon so dreckig war, daß es schlimmer kaum noch ging, spuckte ich mir die Kugel einfach vor die Füße, auch wenn ich mir dabei vorkam wie die letzte unzivilisierte Heidin. Mit der Kugel spie ich auch das Blut aus, das ich in den Mund bekommen hatte - zumindest den größten Teil davon. Etwas geriet mir auch in die Kehle, woraufhin ich es herunterschluckte; das ließ sich einfach nicht umgehen. Erics Schulter hatte schon zu heilen begonnen. „Mann, hier riecht es aber nach Blut!“ flüsterte der große Vampir.

Ich sah zu ihm auf. „Das war mit Abstand das Ekligste ...“, hob ich an, aber er ließ mich nicht ausreden.

„Du hast ja blutige Lippen!“ sagte er. Dann nahm er mein Gesicht zwischen beide Hände und küßte mich.

Wenn ein Meister in der Kunst des Küssens einem eines seiner Meisterwerke aufdrückt, dann fällt es schwer, nicht zu reagieren. Vielleicht hätte ich es mir auch gestattet, diesen Kuß zu genießen - wirklich aus ganzem Herzen zu genießen -, wenn ich mir nicht solche Sorgen um Bill gemacht hätte. Wissen Sie, so fühlt man sich, wenn man gerade eben ganz knapp dem Tode entronnen ist, das kann man sich auch ruhig eingestehen: Man möchte sich einfach gern bestätigen, daß man noch am Leben ist. Auch wenn Vampire eigentlich ja nicht mehr leben, scheint es ihnen in dieser Frage ähnlich zu gehen wie uns Menschen. Erschwerend für Erics Libido kam hinzu, daß das Zimmer voller Blut war, was ihn unweigerlich erregte.

Aber ich machte mir Sorgen um Bill. Noch dazu hatte mich all die Gewalt, die ich gerade hatte miterleben müssen, zutiefst mitgenommen. Ich stand noch unter Schock. Also entzog ich mich Eric - allerdings erst nach einer kleinen Weile, in der ich, wie ich gestehen muß, all die Schrecken um mich herum einfach vergaß. Nun waren auch Erics Lippen blutig. Ganz langsam leckte er sie ab. „Geh, such nach Bill“, sagte er dann mit ziemlich belegter Stimme.

Ich warf einen erneuten Blick auf seine Schulter und konnte feststellen, daß das Loch dort sich bereits wieder schloß. Die Kugel hob ich auf und wickelte sie in einen Fetzen Stoff von Erics Hemd. Mir war egal, wie eklig und blutverschmiert diese Kugel war, sie würde ein nettes Souvenir abgeben. Das zumindest dachte ich in jener Nacht. Heute weiß ich selbst nicht mehr, wie ich so etwas denken konnte. Überall im Zimmer lagen nach wie vor Tote und Verletzte, aber diejenigen, die überlebt hatten, wurden bereits versorgt, entweder von anderen Menschen oder von einem der beiden Vampire, die nicht mit auf Verfolgungsjagd gegangen waren.

Aus der Ferne hörte ich den Lärm näherkommender Sirenen.

Die wunderschöne Vordertür war geborsten und voller Kugeln. Ich öffnete sie und drückte mich erst einmal flach an die Wand neben der Tür, falls noch ein Heckenschütze auf der Lauer lag, der mich bitte nicht erwischen sollte. Nichts geschah, alles blieb ruhig. Dann beugte ich mich vor, spähte um den Türrahmen herum und rief: „Bill? Alles klar?“

Da kam er in den Garten geschlendert, die Wangen rund und rosig. Anders läßt sich das wirklich nicht beschreiben.

„Bill!“ sagte ich, wobei ich mir alt und grau und dreckig vorkam. Ein dumpfer Schrecken, der aber in Wirklichkeit nur tiefe, tiefe Enttäuschung war, nistete sich gründlich und schwer in meinem Magen ein.

Ruckartig blieb Bill stehen.

„Sie haben auf uns geschossen und einige von uns getötet“, sagte er. Seine Fänge leuchteten, und er schimmerte förmlich, so erregt war er.

„Du hast jemanden umgebracht!“

„Um uns zu verteidigen.“

„Aus Rache!“

Zwischen diesen Dingen bestand ein klarer Unterschied, zumindest in meinen Augen und in diesem Moment. Bill war verdutzt.

„Du bist noch nicht einmal geblieben, um nachzusehen, ob mir auch nichts passiert ist!“ fuhr ich fort. Einmal Vampir, immer Vampir. Ein Leopard kriegt keine neuen Flecken. Die Katze läßt das Mausen nicht. All diese uralten Sprüche schossen mir durch den Kopf. Ich hörte sie förmlich, und zwar in der warmen, gedehnten Sprache, die bei mir daheim gesprochen wird.

Ich drehte mich um und ging zurück ins Haus, wobei ich mir meinen Weg durch die Blutlachen und das Chaos und Elend bahnte, als sähe ich das alles gar nicht, als seien dies Dinge, die ich jeden Tag erlebte. Manches nahm ich gar nicht bewußt wahr. Erst in der nächsten Woche würde sich mein Verstand daran erinnern, sie gesehen zu haben, würde mir mein Gedächtnis überraschende Bilder vorlegen: ein zerschmetterter Schädel in Nahaufnahme; eine Arterie, aus der Blut sprudelte. Aber dort, in dem zerstörten Haus, war es mir in diesem Moment das Wichtigste, meine Handtasche zu finden. Es gelang mir beim zweiten Versuch. Während Bill sich besorgt um die Verletzten kümmerte, um nur ja nicht mit mir reden zu müssen, verließ ich das Haus, stieg in den Mietwagen und fuhr los. Ja, ich traute mir zu, mich ans Steuer zu setzen, auch wenn mir dabei weiß Gott reichlich mulmig zumute war. Ich fürchtete mich jedoch mehr vor einem weiteren Verbleib dort in der Villa als vor dem Großstadtverkehr. Ich bog aus der Parklücke, kurz bevor die Polizei kam.

Erst einmal fuhr ich ein paar Straßen weiter. Dann hielt ich vor einer Leihbücherei und kramte im Handschuhfach des Wagens nach dem Stadtplan. Es gelang mir, mir auf dem Plan den Weg zum Flugplatz zu suchen, auch wenn das bestimmt doppelt so lange dauerte wie normal, weil mein Kopf nach den Ereignissen dort im Vorort-Schützengraben immer noch so durcheinander war, daß er ständig drohte, ganz den Dienst zu verweigern.

Dann fuhr ich zum Flughafen. Dort folgte ich den Schildern, auf denen AUTOVERLEIH stand, parkte den Wagen auf dem für Mietwagen vorgesehenen Parkplatz, ließ den Schlüssel im Zündschloß stecken und ging. Ich erwischte einen Platz im nächsten Flugzeug nach Shreveport, das in knapp einer Stunde abfliegen sollte. Ich dankte Gott, daß ich meine eigene Kreditkarte besaß.

Weil ich noch nie zuvor ein öffentliches Telefon benutzt hatte, brauchte ich ein paar Minuten, um herauszufinden, wie das ging. Ich hatte Glück: Ich erwischte Jason sofort, und mein Bruder sagte, er würde mich vom Flughafen abholen.

In den frühen Morgenstunden lag ich daheim im Bett.

Aber erst am Tag darauf fing ich an zu weinen.