Kapitel 4

In Dallas war es heißer als im Vorhof zur Hölle; das galt besonders für den Asphaltbelag des Flughafens. Unser kurzer, schöner Herbst hatte einen Rückfall in den Sommer erlitten. Glühend heiße Windstöße schienen alle Gerüche und Geräusche des Flughafens Dallas-Fort Worth zusammentragen zu wollen, all die Abgase der Flugzeuge und Maschinen, den Gestank des Treibstoffs, den Lärm beim Laden und Entladen von Lasten, um sich dann am Fuß der Laderampe zu sammeln, an der das Flugzeug, auf das ich gewartet hatte, stand. Ich war mit einer normalen Maschine geflogen; Bill hatte man gesondert verfrachten müssen.

Als der Priester sich neben mich stellte, fächelte ich mir gerade mit der Kostümjacke Luft zu, in der Hoffnung, so für halbwegs trockene Achselhöhlen sorgen zu können.

Anfangs hatte ich nichts dagegen, von ihm angesprochen zu werden; sein klerikaler Hemdkragen flößte mir Respekt ein. Aber eigentlich wollte ich mich mit niemandem unterhalten, denn ich hatte gerade meinen ersten Flug hinter mir - eine völlig neue Erfahrung -, und vor mir lagen bestimmt noch etliche Hürden derselben Art.

„Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann?“ sagte der kleine, in das nüchterne Schwarz seiner Profession gehüllte Mann, wobei seine Stimme sozusagen bis zum Stehkragen voll Mitgefühl klang. „Ich konnte nicht umhin zu bemerken, in welcher traurigen Situation Sie sich befinden.“ Er zeigte das Selbstvertrauen eines Menschen, der es gewohnt ist, Fremde anzusprechen und von den Angesprochenen respektvoll behandelt zu werden. Aber wie ein Priester sah er eigentlich nicht aus: Sein braunes Haar war meiner Meinung nach viel zu lang, noch dazu verfilzt und ungepflegt. Zudem trug er einen dichten Schnurrbart. Aber ich hatte andere Dinge im Kopf, weswegen ich diese Einzelheiten nur am Rande wahrnahm.

„Situation?“ wiederholte ich erstaunt, schenkte dem Mann aber keine wirkliche Beachtung. Gerade hatte ich einen ersten Blick auf den blankpolierten Holzsarg erhaschen können, der hinten im Laderaum aufgetaucht war. Bill war wirklich ein Traditionalist! Für die Reise wäre ein Metallsarg viel praktischer gewesen. Nun rollten uniformierte Flugbegleiter den Sarg zum Kopf der Rampe; sie hatten ihn irgendwie auf Rollen gesetzt. Die Fluglinie hatte Bill versprochen, daß der Sarg ohne den geringsten Kratzer am Holz an seinem Bestimmungsort eintreffen würde. In meinem Rücken stand weiteres Personal, bewaffnete Männer, die dafür sorgen sollten, daß kein Fanatiker herbeieilen und den Deckel vom Sarg reißen konnte. Diese Wachen gehörten zu den Extraleistungen, die Anubis Air, die Fluglinie, mit der Bill reiste, ihren Passagieren versprach und die einen zentralen Punkt in ihrer Werbung darstellten. Gemäß der Instruktionen, die Bill mir erteilt hatte, hatte ich auch Anweisung gegeben, Bill als erstes auszuladen.

So weit, so gut!

Ich warf einen Blick auf den nachtdunklen Himmel. Vor wenigen Minuten waren die Lichter angegangen, die die Landebahnen säumten. Ihr kaltes Licht warf Schatten, wo zuvor keine gewesen waren und sorgte dafür, daß der schwarze Schakalkopf, der die Rückflosse des Anubis Air-Flugzeuges zierte, wild und bedrohlich wirkte. Ich warf einen Blick auf die Uhr - nicht den ersten, wohlbemerkt.

„Ja. Ich fühle mit Ihnen“, meldete sich erneut der Priester.

Ich warf einen Seitenblick auf meinen unerwünschten Gefährten. Ob er in Baton Rouge zugestiegen war? An sein Gesicht konnte ich mich zwar nicht mehr erinnern, aber das hatte nicht viel zu bedeuten, da ich den ganzen Flug über ziemlich ängstlich gewesen war. „Ich bitte um Entschuldigung“, sagte ich, „aber warum fühlen Sie mit mir? Sind etwa Probleme aufgetreten?“

Erstaunt sah der Mann mich an, wobei dieses Erstaunen allerdings nicht echt, sondern irgendwie sorgfältig einstudiert wirkte. „Na ja!“ sagte er sanft und wies mit dem Kinn auf Bills Sarg, der gerade auf einem Rollband die Laderampe herunterkam. „Ihr Verlust. Handelt es sich um eine Person, die Ihnen nahestand?“ Damit drängte er sich noch etwas näher an mich heran.

„Natürlich!“ erwiderte ich halb verärgert, halb verständnislos. Warum war der Mann hier? Bestimmt stellte die Luftaufsichtsbehörde nicht auch noch einen Priester für jeden Menschen, der in Begleitung eines Sarges reiste. Besonders dann nicht, wenn dieser Sarg aus einer Maschine der Anubis Air ausgeladen wurde! „Sonst würde ich hier doch nicht stehen, oder?“

Allmählich machte ich mir ein wenig Sorgen.

So schob ich langsam und vorsichtig mein geistiges Visier hoch, um den Mann neben mir einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Eine Verletzung seiner Privatsphäre, ich weiß! Aber schließlich war ich hier nicht nur für meine eigene Sicherheit verantwortlich, sondern auch noch für die Bills.

Der Priester - der im übrigen starke, klar verständliche Signale sendete - dachte ebenso intensiv an das bevorstehende Dunkelwerden wie ich, hatte dabei aber allerdings wesentlich mehr Angst. Er hoffte, seine Freunde hätten sich postiert, wie sie es geplant hatten.

Ich warf einen erneuten Blick nach oben, versuchte aber, mir meine wachsende Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Der Himmel über Texas zeigte nur noch einen winzigen Lichtstreif, ganz hinten am Horizont.

„Ihr Mann vielleicht?“ Mit diesen Worten packte der Priester mich am Oberarm.

Was war denn mit dem los? Nun sah ich mir den Mann neben mir genauer an, wobei ich feststellen mußte, daß seine Augen unverwandt auf die beiden Arbeiter oben im Flugzeug gerichtet waren, die sich um das Gepäck kümmerten und die von unserer Warte aus deutlich zu sehen waren. Sie trugen Overalls in den Farben Schwarz und Silber, auf deren linker Brusttasche das Logo der Anubis Air zu sehen war. Dann flackerte der ängstliche Blick meines Priesters hinüber zu einem weiteren Angestellten der Fluglinie, der wohl zum Bodenpersonal gehörte und sich gerade anschickte, meinen Sarg auf einen gepolsterten, flachen Gepäckwagen umzuladen. Der Priester wollte - ja, was? Er wollte einen Moment abpassen, in dem all die Männer nicht zu uns herübersahen, in dem sie zu beschäftigt waren, um zu sehen, was bei uns geschah. Er wollte nicht, daß sie mitbekamen ... daß sie was mitbekamen?

„Nein, mein Freund“, sagte ich höflich, wobei man allerdings sagen muß, daß meine Großmutter mich zu Höflichkeit erzogen hat, nicht aber dazu, dumm zu sein. Während ich also höflich mit dem Priester plauderte, tastete ich gleichzeitig so, daß der Mann nichts davon mitbekam, vorsichtig mit einer Hand nach dem Verschluß der Handtasche, die ich über der Schulter trug. Dann öffnete ich die Tasche und entnahm ihr behutsam das Pfefferspray, das Bill mir geschenkt hatte. Den kleinen Zylinder dicht an den Oberschenkel gedrückt strebte ich fort von dem falschen Priester mit seinen unklaren Absichten; der jedoch packte immer fester meinen Oberarm - und dann ging plötzlich der Sargdeckel auf.

Die beiden Männer aus dem Flugzeug hatten sich inzwischen zu Boden gleiten lassen und verbeugten sich nun tief. Der, der den Sarg auf den Gepäckwagen umgeladen hatte, murmelte leise: „Scheiße!“, verneigte sich dann aber. Er war neu im Metier, nahm ich an. Unterwürfiges Auftreten des Personals gehörte auch zu den kleinen Sonderleistungen, mit denen Anubis Air um Kunden warb - meiner Meinung nach war das nun wirklich völlig übertrieben.

„Jesus, hilf mir!“ sagte der Priester, aber anstatt nun andächtig auf die Knie zu fallen, tat er einen Satz um mich herum, packte den Arm, dessen Hand das Spray hielt und schickte sich an, mich mit sich fortzuzerren.

Zuerst dachte ich, er wolle mich vor irgendwelchen Gefahren bewahren, die seiner Meinung nach in dem offenen Sarg schlummern mochten, mich sozusagen in Sicherheit bringen. Ich nehme an, diesen Eindruck machte sein Verhalten auch auf die Menschen, die sich um die Ladung gekümmert hatten und nun weiterhin damit beschäftigt waren, ihre Rolle als devote Mitarbeiter der Anubis Airline zu spielen. Jedenfalls eilte niemand zur Unterstützung herbei, als ich den Mund auftat, mit der ganzen Kraft meiner wohlentwickelten Lungen herzhaft um Hilfe schrie und den Priester aufforderte, mich gefälligst loszulassen. Der zerrte weiterhin an meinem Arm herum und versuchte jetzt, mit mir im Schlepptau fortzulaufen. Ich stemmte meine gut vier Zentimeter hohen Absätze in den Boden und zerrte mit aller Kraft in die andere Richtung, während ich mit der freien Hand auf ihn einschlug. Ich lasse mich von niemandem irgendwo hinzerren, wohin ich nicht will. Jedenfalls nicht ohne Gegenwehr.

„Bill!“ kreischte ich als nächstes, denn inzwischen hatte ich wirklich ziemliche Angst. Zwar war der Priester weder groß noch stark, aber er war größer und schwerer als ich und anscheinend fast ebenso wild entschlossen. Ich machte es ihm so schwer wie möglich, aber dennoch schaffte er es, mich Stück für Stück näher an einen Durchgang für Angestellte heranzuziehen, durch den hindurch man ins eigentliche Terminal gelangte. Von irgendwoher war Wind aufgekommen; ein heißer, trockener Wind. Wenn ich jetzt mit Chemikalien um mich sprühte, würde dieser Wind sie mir einfach ins Gesicht blasen.

Ganz langsam setzte sich der Mann im Sarg auf, und seine großen dunklen Augen fingen an, die Geschehnisse rings umher zu registrieren. Ich erhaschte einen Blick darauf, wie er mit einer Hand durch sein weiches, braunes Haar fuhr.

Der Personaleingang flog auf, und ich sah, daß jemand direkt dahinter stand - Verstärkung für den Priester! „Bill!“

Dann war ein Sausen in der Luft, die mich umgab; der Priester ließ von mir ab und huschte durch die offene Tür, schneller als das Kaninchen beim Windhundrennen. Ich stolperte und wäre wohl auf meinem Hinterteil gelandet, hätte Bill nicht die Verfolgung des Gottesmannes eingestellt, um mich aufzufangen.

„Hallo Schatz“, sagte ich unendlich erleichtert. Ich zupfte an der Jacke meines grauen Kostüms, froh, frischen Lippenstift aufgetragen zu haben, ehe mein Flugzeug in Dallas gelandet war. Dann sah ich nachdenklich in die Richtung, in die der Priester entschwunden war. „Das war ja nun wirklich mehr als merkwürdig!“ meinte ich und steckte das Pfefferspray zurück in die Handtasche.

„Sookie!“ begrüßte mich Bill besorgt. „Ist alles in Ordnung?“ Er bückte sich, um mir einen Kuß zu geben, wobei er das ehrfürchtige Flüstern einfach nicht beachtete, mit dem die Männer, die das neben dem Flieger der Anubis Air geparkte Charterflugzeug entluden, seinen Auftritt kommentierten. Die Welt als solche hatte zwar bereits zwei Jahre zuvor erfahren, daß Vampire mitnichten nur in Legenden und Horrorfilmen vorkamen, sondern seit Jahrhunderten mitten unter uns lebten, aber dennoch gab es genügend Menschen, die noch nie einen leibhaftigen Vampir zu Gesicht bekommen hatten.

Bill ignorierte sie. Er ist ziemlich gut darin, Sachen nicht zu beachten, die er seiner Meinung nach nicht beachten muß.

„Mir ist nichts passiert“, antwortete ich immer noch ein wenig benommen. „Ich verstehe nur nicht, warum der Mann versucht hat, mich wegzuschleppen.“

„Kann es sein, daß er unsere Beziehung mißverstanden hat?“

„Das glaube ich nicht. Ich glaube, er wußte genau, daß ich hier auf dich warte und wollte mich wegschaffen, ehe du wach wurdest.“

„Darüber werden wir nachdenken müssen“, erklärte Bill, der es wie kein anderer versteht, Dinge herunterzuspielen. „Abgesehen von diesem bizarren Zwischenfall - wie ist dein Abend sonst verlaufen?“

„Der Flug war soweit in Ordnung“, sagte ich, bemüht, nicht schmollend die Unterlippe vorzuschieben.

„Was heißt 'soweit in Ordnung'? Sind irgendwelche widrigen Umstände aufgetreten?“ fragte Bill eine Spur zu trocken. Es war ihm nicht entgangen, daß ich mich ein ganz klein wenig schlecht behandelt fühlte.

„Da ich noch nie zuvor geflogen bin, könnte ich nicht sagen, was bei einer Flugreise als normal gilt“, erwiderte ich säuerlich. „Ich glaube, alles lief normal - bis dann dieser angebliche Priester auftauchte.“ Bill zog in dieser überheblichen Art, die er so exzellent beherrscht, eine Braue hoch - das sollte ich ihm genauer erklären. „Ich glaube nicht, daß der Mann ein richtiger Priester war. Warum war er hier am Flughafen? Warum ist er herübergekommen, um mit mir zu reden? Er hat die ganze Zeit nur darauf gewartet, daß keiner der Leute, die in und am Flugzeug arbeiteten, hier herübersah.“

„Darüber sollten wir uns lieber nicht hier in der Öffentlichkeit unterhalten“, sagte mein Vampir und warf einen Blick auf die vielen Männer und Frauen, die sich inzwischen um das Flugzeug versammelt hatten, um zu sehen, was eigentlich los war. „Wir reden darüber, wenn wir allein sind.“ Dann ging Bill hinüber zu den Angestellten von Anubis, um diese leise, aber heftig zu tadeln, weil sie mir, als ich schrie, nicht zur Hilfe geeilt waren. Zumindest ging ich davon aus, daß Bills Unterhaltung mit den Anubis-Leuten sich um dieses Thema drehte: Die betroffenen Männer wurden jedenfalls alle schneeweiß und fingen wohl auch an zu stottern. Dann kam Bill zurück. Er legte mir den Arm um die Taille, und wir machten uns gemächlich auf den Weg hinüber zum Terminal.

„Den Sarg schicken Sie bitte an die Adresse auf dem Deckel“, rief Bill im Gehen über die Schulter zurück. „Ins Silent Shore Hotel.“ Das Silent Shore hatte als einziges Hotel in der Innenstadt von Dallas die umfangreichen Um- und Ausbauten vornehmen lassen, die notwendig waren, wollte man neben normalen Besuchern auch Vampire beherbergen. Noch dazu gehörte das Silent Shore zu den großen alten Hotels in Dallas - das zumindest behaupteten seine Betreiber in ihrer Werbebroschüre. Nicht, daß ich vor meiner Reise mit Bill je im Zentrum von Dallas gewesen wäre oder eins der großen alten Hotels dort zu Gesicht bekommen hätte.

Am Fuß einer Treppe in einem schäbigen, schmalen Treppenaufgang, der zum eigentlichen Flughafengelände führte, blieben wir stehen, und Bill bat mich, ihm den Vorfall mit dem Priester ausführlich zu schildern. Ich kam seiner Bitte nach und beschrieb den merkwürdigen kleinen Zwischenfall an der Laderampe in allen Einzelheiten, wobei ich die ganze Zeit zu ihm aufsah. Der Ärmste war kreidebleich, und ich ahnte, wie hungrig er war. Seine Brauen wirkten fast schwarz auf der bleichen Haut, und seine Augen erstrahlten in einem noch intensiveren Dunkelbraun, als sie es ohnehin schon taten.

Dann hielt er mir eine Tür auf, und ich trat hinaus in das geschäftiges Treiben auf einem der größten Flughäfen der Welt.

„Hast du ihn nicht gehört?“ Ich wußte genau, was Bill meinte, wenn er vom 'Hören' sprach.

„Mein Visier war von der Flugreise her noch dicht geschlossen“, erklärte ich. „Ich fing gerade an, ihm zuzuhören, weil mir die ganze Sache unheimlich wurde - aber da kamst du auch schon aus dem Sarg, und er hat das Weite gesucht. Ehe er anfing zu rennen, hatte ich allerdings ein merkwürdiges Gefühl...“ Ich zögerte. Was ich empfunden hatte, schien ziemlich weit hergeholt, das war mir durchaus bewußt.

Bill wartete. Er geht nicht verschwenderisch mit Worten um; er läßt mich immer ausreden. Einen Moment lang blieben wir stehen und rückten dann näher zur Wand.

„Irgendwie fühlte es sich an, als hätte er vor, mich zu entführen“, sagte ich schließlich. „Das hört sich durchgeknallt an, ich weiß. Wer weiß hier denn überhaupt, wer ich bin? Wer hätte wissen können, an welchem Flugzeug man mich abfangen konnte? Aber ich hatte eindeutig den Eindruck, er habe vor, mich zu entführen.“

Liebevoll legte Bill seine kalten Hände um meine warmen. Ich sah in seine Augen. Nun bin ich nicht besonders klein, und Bill kann man auch nicht wirklich als übermäßig groß bezeichnen, aber ich muß trotzdem zu ihm aufsehen. Ich bin ein wenig stolz darauf, daß ich ihm direkt in die Augen zu blicken vermag, ohne daß er mich dabei bezirzen kann. Manchmal hätte ich ja nichts dagegen, wenn Bill mir die eine oder andere umgedichtete Erinnerung bescherte - so hätte ich zum Beispiel die Sache mit der Mänade nur zu gerne wieder vergessen -, aber das kann er nicht.

Bill dachte über das, was ich ihm erzählt hatte, nach und verstaute es dann in seinem Gedächtnis, um später darauf zurückzukommen. „Der Flug an sich war wohl eher langweilig?“ wollte er dann wissen.

„Eigentlich fand ich den Flug ziemlich aufregend!“ mußte ich gestehen. „Erst habe ich zugesehen, wie die Anubis-Leute dich in ihr Flugzeug geladen haben, dann habe ich mein Flugzeug bestiegen, und als erstes hat uns eine Frau erklärt, was wir zu tun haben, wenn die Maschine abstürzt. Ich saß neben dem Notausgang. Wir wurden aufgefordert, mit anderen Fluggästen die Plätze zu tauschen, wenn wir meinten, damit nicht umgehen zu können. Aber ich glaube, ich könnte das - mit einer Notsituation umgehen, meine ich. Meinst du nicht auch, daß ich das könnte? Dann hat die Flugbegleiterin mir eine Zeitschrift gebracht und etwas zu trinken.“ Ich werde selten bedient, denn ich bin ja Kellnerin, also die, die andere bedient. Insofern genoß ich es immer sehr, wenn ich mich zurücklehnen konnte und nichts zu tun brauchte.

„Du kommst mit so gut wie allem klar, Sookie, da bin ich sicher. Hattest du beim Start Angst?“

„Nein. Ich war nur ein wenig besorgt wegen heute abend. Abgesehen davon war alles toll.“

„Es tut mir sehr leid, daß wir nicht zusammen reisen konnten“, murmelte Bill sanft, und seine kühle, fast flüssige Stimme umhüllte mich liebevoll. Dann drückte er mich an sich.

„Ach, das war schon ganz in Ordnung so“, erwiderte ich an seine Hemdbrust gerichtet, und mir war es im großen und ganzen auch ernst mit meinen Worten. „Der erste Flug im Leben - das ist einfach nervenaufreibend, dagegen kann man nichts tun. Es ist ja alles gut gelaufen - bis zur Landung.“

Auch wenn mir immer noch nach Schmollen war und ich mich gern ein wenig beklagt hätte, war ich doch ungeheuer froh darüber, daß Bill rechtzeitig aufgewacht war, um mich durch das Flughafengebäude zu lotsen. Mehr und mehr fühlte ich mich nämlich wie die arme Verwandte vom Lande beim ersten Großstadtbesuch.

Wir erwähnten den Priester erst einmal nicht mehr, aber ich wußte, daß Bill den Mann nicht vergessen hatte. Bill brachte mich dahin, wo wir unser Gepäck in Empfang nehmen konnten, und dann machten wir uns gemeinsam auf die Suche nach einem Taxi. Mein Vampir hätte mich auch gut irgendwo abstellen und alles allein regeln können, aber das tat er nicht, und zwar aus einem einleuchtenden Grund, wie er nicht müde wurde mir zu erklären. Irgendwann, meinte er, würde ich auf jeden Fall lernen müssen, mich selbst um diese Dinge zu kümmern, denn es konnte uns bei unseren gemeinsamen geschäftlichen Aktivitäten ja durchaus auch passieren, daß wir am hellichten Tag irgendwo ankamen.

Der Flughafen kam mir heillos überlaufen vor - zu viele Menschen, alle mit viel zu viel Gepäck beladen und zudem anscheinend noch unglücklich. Trotzdem schaffte ich es, nachdem ich mein geistiges Visier wieder geschlossen hatte, den Hinweisschildern zu folgen, so daß Bill mir nur von Zeit zu Zeit einen kleinen Wink zu geben brauchte. Auch ohne den spezifischen Klagen einzelner Reisender lauschen zu müssen, war es anstrengend genug für mich, all die Erschöpfung, all das Elend um mich herum so hautnah miterleben zu müssen, daß ich mich förmlich fühlte, als bade ich darin. Endlich konnte ich den Gepäckträger mit unseren Koffern (die Bill sich auch mühelos unter einen Arm hätte klemmen können) zum Taxistand dirigieren, und knappe vierzig Minuten nach Bills Auftauchen aus dem Sarg befanden wir uns auf dem Weg in unser Hotel. Die Anubis-Leute hatten geschworen, daß auch der Sarg innerhalb der nächsten drei Stunden dort eintreffen würde.

Nun, das würden wir ja sehen. Schafften sie es nicht, stand uns ein Freiflug zu.

Mein Ausflug nach Dallas damals, mit der Abschlußklasse der Oberschule, lag bereits sieben Jahre zurück; so hatte ich vergessen, wie groß, wie ausgedehnt diese Stadt ist. All die Lichter, all die Geschäftigkeit: Das war schon ziemlich überwältigend. Fasziniert starrte ich aus dem Autofenster auf die Gebäude und Sehenswürdigkeiten, an denen wir vorbeifuhren. Bill dagegen sah mich an: liebevoll und leicht belustigt von der Seite. Das war irritierend.

„Du siehst sehr hübsch aus, Sookie. Deine Aufmachung ist sehr passend! Genau richtig!“

„Danke“, sagte ich erfreut. Als Bill mich bei den Vorbereitungen auf die Reise um 'professionelle' Kleidung gebeten hatte, hatte ich wissen wollen, welche Profession ich seiner Meinung nach repräsentieren sollte. Mit dieser Frage hatte ich mir einen tadelnden Blick und einen tiefen Seufzer eingehandelt - eine Antwort erhielt ich nicht. Letztlich hatte ich mich dann für ein graues Kostüm, eine weiße Bluse, Perlenohrringe, eine schwarze Handtasche und hochhackige Pumps entschieden. Ich war sogar soweit gegangen, mein Haar mit Hilfe eines Hairagami, das ich im Teleshop gekauft hatte, am Hinterkopf zu einem Knoten zusammenzudrehen, wobei mir meine Freundin Arlene hatte helfen müssen. Danach hatte ich meiner Meinung nach 'professionell' genug ausgesehen: wie die professionelle Angestellte eines Bestattungsunternehmens. Aber scheinbar war Bill mit meiner Kleiderwahl einverstanden, und das stimmte mich froh. Ich hatte das Kostüm mit allem drum und dran bei Taras Togs auf Bills Rechnung setzen lassen: Immerhin handelte es sich um ganz legitime Betriebskosten. Ich konnte mich also nicht über den Preis beklagen.

Allerdings hätte ich mich in meiner Kellnerinnentracht wohler gefühlt. Ich gehe jederzeit lieber in Shorts und T-Shirts als in Kleid und Strumpfhose. Zur Kellnerinnentracht hätte ich auch meine Adidas tragen können statt dieser verdammten hochhackigen Pumps. Ich seufzte.

Unser Taxi fuhr vor dem Hotel vor, und der Fahrer stieg aus, um unser Gepäck auszuladen. Wir hatten Kleidung für drei Tage dabei. Wenn die Vampire in Dallas meinen Anweisungen gefolgt waren, würden wir mit etwas Glück bereits am nächsten Abend die ganze Sache abschließen und heimfahren können, um dort still und von allen Vampirangelegenheiten unbehelligt vor uns hinzuleben - bis Bill den nächsten Anruf erhielt. Aber darauf konnte man sich nicht verlassen - also hatten wir für drei Tage gepackt.

Bill war ausgestiegen und bezahlte das Taxi. Ich rutschte auf dem Sitz hinüber zur Wagentür auf der Gehsteigseite und kletterte ebenfalls aus dem Auto. Ein uniformierter Page, Angestellter des Silent Shore Hotel, lud gerade unser Gepäck auf einen Rollwagen. Als das erledigt war, wandte er Bill sein blasses, schmales Gesicht zu und sagte: „Willkommen im Silent Shore Hotel. Ich heiße Barry und werde ...“ In diesem Moment trat Bill einen Schritt vor, so daß das Licht, das aus der Tür zur Hotelhalle fiel, sein Gesicht beleuchtete. „Ihnen das Gepäck tragen“, beendete Barry ziemlich kläglich seinen Satz.

„Danke“, sagte ich rasch, um dem Jungen, der nicht älter als achtzehn sein konnte, Zeit zu lassen, sich zu fangen. Seine Hände zitterten. Ich hätte gern gewußt, warum ihm so unbehaglich zu Mute war, also warf ich mein geistiges Netz aus, um zu sehen, was sich herausfinden ließe.

Barry war Telepath; das stellte ich bereits nach kurzem Stöbern in seinen Gedanken fest, und diese Tatsache überraschte und erstaunte mich. Der Junge war allerdings ziemlich durcheinander; er hatte seine Gabe ungefähr so gut entwickelt und im Griff, wie ich die meine im Alter von zwölf Jahren gehabt hatte, und das hieß, der arme Barry war völlig durch den Wind. Er hatte so gut wie keine Kontrolle über das, was in seinem Kopf ein- und ausging; sein geistiges Visier war praktisch ein einziger Trümmerhaufen. Zudem dachte er, alles würde gut werden, wenn er leugnete, was mit ihm los war. Auf dieses Leugnen verschwendete er viel zuviel Energie. Ich wußte nicht, ob ich ihn nun in die Arme nehmen und einmal ganz lieb drücken oder aber ihm eine kräftige Ohrfeige verpassen sollte. Dann erinnerte ich mich daran, daß es nicht meine Sache sein konnte, Barrys Geheimnis zu verraten. Also tat ich, als langweile ich mich; ich starrte auf die Straße hinaus und klopfte ungeduldig mit dem Fuß auf den Gehsteig.

„Wenn Sie vorgehen wollen? Ich folge Ihnen dann mit dem Gepäck“, stotterte der verwirrte Page, woraufhin Bill ihn charmant anstrahlte. Es gelang dem Jungen, das Lächeln vorsichtig zu erwidern; dann konzentrierte er sich darauf, den Gepäckwagen ins Hotel zu schaffen. Wahrscheinlich hatte Bills Erscheinung Barry derart aus der Fassung gebracht, denn Bills Gedanken konnte er unmöglich lesen - das war ja der Grund, weswegen die Untoten für Leute wie mich so unendlich faszinierend waren. Da Barry sich zur Arbeit in einem auf die Unterbringung von Vampiren spezialisierten Hotel bereiterklärt hatte, würde er lernen müssen, sich in Gegenwart dieser Wesen zu entspannen.

Manche Leute finden alle Untoten furchterregend; für mich hängt das ganz vom jeweiligen Vampir ab. Ich erinnere mich noch gut an meine erste Begegnung mit Bill und daran, wie ich dachte, er sei so völlig anders als jede andere Person, die mir in meinem ganzen bisherigen Leben begegnet war. Gefürchtet habe ich mich nie vor Bill.

Die Vampirin dagegen, die in der Hotelhalle des Silent Shore Hotels auf uns wartete, wirkte wirklich furchterregend. Ich hätte wetten können, daß der arme alte Barry sich bei ihrem Anblick am liebsten in die Hose gemacht hätte. Die Frau trat auf uns zu, nachdem wir uns eingetragen hatten. Bill hatte gerade seine Kreditkarte wieder im Portemonnaie verstaut (versuchen Sie mal, eine Kreditkarte zu beantragen, wenn Sie hundertsechzig Jahre alt sind - das Verfahren war die reine Tortur gewesen!) und schickte sich an, Barry Trinkgeld zu geben.

Ich schob mich unauffällig ein wenig näher an meinen Vampir heran, in der Hoffnung, die Fremde würde mich dann übersehen.

„Bill Compton?“ begrüßte sie uns. „Der Ermittler aus Louisiana?“ Eine Stimme, so kühl und ruhig wie die Bills, allerdings mit wesentlich weniger Modulation; die Frau war schon seit sehr langer Zeit tot. Sie war weiß wie Papier, dünn wie ein Brett, und das bis zu den Knöcheln reichende, blaugoldene Kleid aus hauchdünnem Stoff unterstrich diese Blässe und Magerkeit noch, statt sie irgendwie zu kaschieren. Dazu trug sie ihr hellbraunes Haar zu unglaublich langen, bis auf ihren Po reichenden Zöpfen geflochten, und glitzernde grüne Augen rundeten das Bild des totalen Andersseins ab.

„Ja.“ Bill erwiderte den Gruß der Frau mit einem kurzen, höflichen Nicken, wobei die beiden einander einen Augenblick lang in die Augen sahen. Vampire geben einander nicht die Hand.

„Das ist die Frau?“ Wahrscheinlich hatte sie mit einer jener kaum merklichen, unglaublich raschen Gesten auf mich gedeutet, denn ich hatte aus den Augenwinkeln einen huschenden Schatten wahrnehmen können.

„Meine Lebensgefährtin und Mitarbeiterin Sookie“, erklärte Bill.

Die Vampirin zögerte, dann gab sie mit einem kaum merklichen Nicken zu erkennen, daß sie den Wink verstanden hatte. „Isabel Beaumont“, stellte sie sich vor. „Sie sollen mitkommen, wenn Sie Ihr Gepäck auf das Zimmer geschafft und dort alles Notwendige erledigt haben.“

„Ich muß trinken“, sagte Bill.

Isabel warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Zweifellos fragte sie sich, woran es wohl liegen mochte, daß ich meinen Begleiter nicht versorgte. Aber das ging sie nichts an. .„Rufen Sie den Zimmerservice an, wenn Sie auf Ihrem Zimmer sind“, erwiderte sie lediglich. „Die werden für alles sorgen.“

Ich war nur eine schäbige kleine Sterbliche; ich würde mir irgend etwas von der Speisekarte aussuchen müssen, um meinen Hunger zu stillen. Das hatte ich eigentlich auch vorgehabt; dann aber überdachte ich noch einmal unsere Zeitplanung und entschied, ich würde mich besser fühlen, wenn ich erst nach Erledigung der Geschäfte des Abends aß.

Nachdem wir das Gepäck ins Schlafzimmer unserer Suite (groß genug für ein Doppelbett und einen Sarg) verfrachtet hatten, wurde das Schweigen, das im kleinen Wohnzimmer herrschte, schier unerträglich. Ein Miniaturkühlschrank voller PureBlood stand hier in einer Ecke, aber Bill würde an diesem wichtigen Abend wohl lieber richtiges Blut zu sich nehmen wollen.

„Ich rufe den Zimmerservice an“, sagte mein Vampir schließlich. „Ich muß das tun.“ Wir hatten vor der Abreise ausführlich darüber gesprochen.

„Klar.“ Ich zog mich ins Schlafzimmer zurück und schloß die Tür hinter mir, ohne Bill noch einmal anzusehen. Natürlich mußte er von jemand anderem trinken, denn ich brauchte all meine Kraft für das, was uns an diesem Abend bevorstand - aber das hieß noch lange nicht, daß die Sache mir auch gefallen mußte. Oder daß ich am Ende noch zusah! Nach einer Weile hörte ich, wie jemand an der Tür der Suite klopfte und Bill diesen Jemand - sein Essen auf Rädern! - einließ. Dann folgte leises Gemurmel, gefolgt von einem unterdrückten Stöhnen.

Leider besaß ich genug gesunden Menschenverstand, um nicht meine Haarbürste oder einen meiner blöden hochhackigen Schuhe einmal quer durchs Zimmer zu schleudern. Leider, weil ich durch einen solch törichten Akt unter Umständen ein wenig der ungeheuren Spannung hätte abbauen können, unter der ich stand. Aber vielleicht hatte mein Verhalten auch weniger mit gesundem Menschenverstand zu tun als vielmehr mit dem Bedürfnis, ein Mindestmaß an Würde zu wahren und mit einem guten Gespür für das Ausmaß an Launenhaftigkeit, das Bill bereit wäre, in Kauf zu nehmen. Statt sinnlos zu toben packte ich also meinen Koffer aus und legte mir im Bad mein Make-up zurecht. Ich ging auch gleich noch aufs Klo, auch wenn das eigentlich noch nicht zwingend notwendig gewesen wäre. Toiletten, so hatte ich gelernt, galten in der Welt der Vampire nicht unbedingt als erforderlich, und selbst wenn man in einem von Vampiren bewohnten Haus auf eine funktionierende Einrichtung stieß, hieß das noch lange nicht, daß auch an Toilettenpapier gedacht worden war.

Bald hörte ich, wie die Tür der Suite auf- und wieder zuging; dann klopfte Bill leise an und trat ein, rosig und mit deutlich volleren Wangen als zuvor.

„Bist du soweit?“ wollte er wissen, und mit einem Mal wurde mir klar, daß ich kurz davor stand, zu meinem ersten wirklichen Job in der Vampirwelt aufzubrechen. Da wurde mir noch einmal ganz von vorn mulmig zu Mute. Blieb ich erfolglos in meinen Bemühungen, dann würde mein Leben fürderhin voller Gefahren stecken, und Bill wäre unter Umständen noch toter, als er ohnehin schon war. Ich nickte, aber mein Mund war trocken vor Angst.

„Nimm die Handtasche lieber nicht mit.“

„Wieso nicht?“ Erstaunt starrte ich einen Moment lang meine Handtasche an. Wer sollte dagegen etwas einzuwenden haben?

„Handtaschen sind potentielle Verstecke“, erklärte Bill. Ich nehme an, er dachte an Pfähle und ähnliches. „Steck deine Keycard ... hat der Rock eine Tasche?“

„Nein.“

„Dann bewahr die Keycard in deiner Unterwäsche auf.“

Da hob ich meinen Rocksaum, um Bill Gelegenheit zu geben, die Unterwäsche genau zu betrachten, in der ich seiner Meinung nach etwas verstecken sollte. Den Ausdruck, der sich beim Anblick meiner Dessous im Gesicht meines Liebsten breit machte, genoß ich mehr, als ich hätte sagen können.

„Das ist also ein ... Tanga?“ Plötzlich schien Bill nicht recht bei der Sache.

„Kann man so sagen. Ich sah keine Notwendigkeit für Professionalität bis auf die Haut.“

„Und was für eine Haut!“ murmelte Bill selbstvergessen. „So braun. So weich ...“

„Ja, nicht? Eine Strumpfhose zu tragen fand ich nämlich auch nicht unbedingt notwendig.“ Mit diesen Worten schob ich mir das viereckige Stück Plastik, das meinen Zimmerschlüssel darstellte, unter das seitliche Gummi meines Tangas.

„Das wird nicht halten“, sagte Bill mit großen, verzückt schimmernden Augen. „Vielleicht werden wir getrennt - du mußt die Keycard also auf jeden Fail mitnehmen. Versuch es bitte an einer anderen Stelle.“

Ich versteckte die Keycard an einer anderen Stelle.

„Sookie! Da kommst du nie dran, wenn du es eilig hast. Wir müssen ... wir müssen los!“ Mühsam schien Bill sich aus einer Art Trance zu lösen.

„Na schön, wie du meinst!“ erwiderte ich und glättete den Kostümrock, der meine 'Unterwäsche' verhüllte.

Bill warf mir einen finsteren, unergründlichen Blick zu. Dann klopfte er seine Jackentaschen ab, wie Männer das nun einmal tun, um sicherzustellen, daß sie auch wirklich alles Notwendige dabeihaben. Eine merkwürdig menschliche Geste, die mich sehr berührte; warum genau, hätte ich selbst nicht sagen können. Dann nickten wir einander kurz zu und machten uns auf den Weg zu den Fahrstühlen. Bestimmt wartete Isabel Beaumont schon. Ich hatte das Gefühl, daß sie Warten nicht gewöhnt war.

Die uralte Vampirin, die keinen Tag älter wirkte als fünfunddreißig Jahre, stand genau dort, wo wir sie verlassen hatten. Isabel konnte sich hier im Silent Shore Hotel frei und ungehindert geben, wie sie war; dazu gehörte bei ihr die Fähigkeit, völlig unbeweglich zu verharren, wenn sie eine Auszeit nahm. Menschen zappeln herum; sie fühlen sich genötigt, so zu tun, als seien sie in irgendwelche Aktivitäten vertieft, als hätten sie immer und unter allen Umständen etwas vor. Vampire sind anders. Sie schaffen es, Raum in Anspruch zu nehmen, ohne dies gleich rechtfertigen zu wollen. Isabel wirkte wie eine Statue, als wir aus dem Fahrstuhl in die Hotelhalle traten. Man hätte auf die Idee kommen können, sie als Hutablage zu benützen - das hätte einem hinterher dann aber ziemlich leid getan.

Bill und ich waren noch ungefähr zwei Meter von der Vampirin entfernt, als bei der wohl irgendein Frühwarnsystem anschlug. Isabels Augen flackerten und richteten sich auf uns, dann bewegte sich ihre rechte Hand ein wenig, was insgesamt den Eindruck erweckte, als hätte jemand bei ihr den Einschaltknopf betätigt. „Folgen Sie mir“, wies sie uns an, wobei sie mit einer fließenden Bewegung aus der Vordertür glitt, die der arme Barry gerade noch rechtzeitig hatte öffnen können. Er schlug die Augen nieder, als Isabel an ihm vorüberglitt; das hatte er also schon gelernt. Sie müssen nämlich wissen, daß alles, was man sich so über die Dinge, die einem unweigerlich widerfahren, wenn man einem Vampir direkt in die Augen schaut, erzählt, wirklich wahr sind.

Isabel fuhr einen schwarzen Lexus mit allen Schikanen - wie zu erwarten gewesen war. In einem Corsa fährt kein Vampir durch die Gegend. Isabel wartete, bis ich den Sicherheitsgurt angelegt hatte (weder sie noch Bill machten sich die Mühe, es mir gleichzutun). Erst dann fädelte sie sich in den Straßenverkehr ein, ein Verhalten, das ich erstaunlich rücksichtsvoll fand. Bald waren wir auf einer der Hauptverkehrsadern von Dallas gelandet und fuhren so dahin. Isabel schien zu den Personen zu gehören, die lieber schweigen statt plaudern, aber nach einer Weile war ihr wohl eingefallen, daß sie ja Anweisungen erhalten hatte und diese lieber befolgen sollte.

Wir fuhren gerade in eine Linkskurve hinein. Links konnte ich einen grasbewachsenen Bereich erkennen, darauf einen vagen Schatten, der ein historisches Wahrzeichen sein mochte oder aber auch nicht. Isabel wies mit einem langen, knochigen Finger nach rechts: „Texas School Book Depository“, erklärte sie kurz; man hatte sie wohl angewiesen, mir ein wenig die Gegend zu zeigen, was sehr interessant war. Eifrig schaute ich in die Richtung, in die der Finger deutete und versuchte, so viel von dem alten Ziegelsteingebäude mitzubekommen, wie im Vorbeifahren irgend möglich war, mußte jedoch verwundert feststellen, daß das Haus nicht wirklich bedeutungsvoll wirkte.

„Dann ist das da drüben der berühmte Grashügel!“ hauchte ich ehrfurchtsvoll und beeindruckt. Mir war zumute, als hätte ich gerade eben mal so im Vorüberfahren die Hindenburg oder etwas ähnlich Berühmtes gezeigt bekommen.

Isabel nickte, eine kaum merkliche Bewegung, die ich nur mitbekam, weil ihr Zopf zuckte. „Im alten Lagerhaus ist jetzt ein Museum“, sagte sie.

Das war etwas, was ich mir gern bei Tageslicht angesehen hätte. Wenn wir lange genug hierblieben, würde ich vielleicht einen Spaziergang dorthin unternehmen, während Bill in seinem Sarg schlummerte oder herausfinden, wie man sich in Dallas ein Taxi besorgt.

Bill, der immer genau mitbekommt, in welcher Stimmung ich bin, was mir in achtzig Prozent aller Fälle auch recht ist, lächelte mich über die Schulter hinweg an.

Ungefähr zwanzig Minuten fuhren wir durchs Geschäftsviertel von Dallas, um dann in die Wohngebiete überzuwechseln. Die Häuser, die nun die Straßen säumten, waren bescheiden und glichen kleinen Schuhschachteln; dann wurden sie nach und nach immer größer, als hätten sie Wachstumshormone geschluckt, wobei die Grundstücke, auf denen sie standen, allerdings nicht mitgewachsen waren. Unser Ziel war letztlich eine Riesenvilla, die man auf ein winziges Baugrundstück gequetscht hatte. Selbst im Dunkeln wirkte dieses kleine Rüschenröckchen Land um den Riesenklumpen Haus herum albern.

Ich hätte nichts dagegen gehabt, noch ein wenig herumzufahren und meine Begegnung mit den Vampiren von Dallas noch etwas hinauszuzögern!

Wir parkten auf der Straße vor der Villa - ein anderer Begriff fiel mir für das Haus nicht ein und Bill öffnete mir die Wagentür. Kurz verharrte ich in der geöffneten Tür und zögerte, das - Projekt - zu beginnen. In der Villa warteten Vampire, das wußte ich; viele Vampire. Das festzustellen fiel mir leicht; ebenso wenig, wie es mir schwergefallen wäre, die Anwesenheit vieler Menschen mitzubekommen, ohne das Haus selbst betreten zu müssen. Hätten sich Menschen im Haus aufgehalten, dann hätte ich eindeutig Gedankenströme auffangen können. Bei Vampiren war das anderes. Bei ihnen empfing ich geistige Bilder von ... wie soll ich das sagen? Es gab Löcher in der Luft, die das Haus vor mir füllte, und jedes dieser Löcher stand für einen Vampir. Erst als ich die wenigen Schritte einen gepflasterten Gehweg hinauf zur Eingangstür gegangen war, stiegen mir auch die geistigen Ausdünstungen von Menschen sozusagen in die Nase.

Über der Tür brannte Licht; so konnte ich sehen, daß die Villa aus sandfarbenen Ziegeln gebaut war. Fenster und Holzverkleidungen waren weiß lackiert. Das Licht hatte man aus Rücksicht auf mich brennen lassen, denn jeder Vampir sieht um Längen besser als selbst Menschen mit ausgezeichnetem Sehvermögen. Isabel ging mir voran auf den Hauseingang zu, der von einem Rundbogen aus abgestuften Ziegelsteinen umgeben war. Die Tür selbst zierte ein geschmackvoller Kranz aus Weinranken und Trockenblumen, der den darunterliegenden Spion fast gänzlich verdeckte. Die hier wohnenden Vampire legten großen Wert darauf, sich dem bürgerlichen Leben anzupassen und hatten ihrem Haus geschickt den Anstrich von Normalität gegeben. Auf den ersten Blick unterschied sich das Haus nicht von all den anderen übergroßen Villen, an denen wir vorübergekommen waren. Von außen wies nichts darauf hin, daß Vampire hier hausten.

Aber sie waren da, und zwar in großer Zahl! Ich zählte vier in der Eingangshalle, als ich nun Isabel ins Haus hinein folgte; zwei weitere standen im Flur und mindestens sechs in der riesigen Küche, die aussah, als sei sie entworfen, um dort Mahlzeiten für jeweils mindestens zwanzig Personen zuzubereiten. Da wußte ich sofort, daß das Haus von einem Vampir gekauft und nicht erbaut worden war. Vampire planen ihre Häuser mit winzigen Küchen oder bauen überhaupt keine ein. Sie brauchen ja auch nur einen Kühlschrank für das synthetische Blut und eine Mikrowelle, in der sie sich das Blut bei Bedarf warm machen konnten. Was sollten sie auch kochen?

An der Spüle stand ein langer, schlaksiger Mann und wusch Teller ab; vielleicht lebten hier ja außer den Vampiren auch ein paar Menschen. Als ich an dem Mann vorbeiging, drehte er sich zu mir um und nickte mir zu. Er trug eine Brille und hatte die Hemdsärmel aufgerollt. Ich erhielt jedoch nicht die Gelegenheit, mich mit ihm zu unterhalten, denn Isabel geleitete uns ohne weitere Umschweife in ein Zimmer, das aussah, als sei es das Eßzimmer des Hauses.

Bill war angespannt und auf der Hut. Ich mag ja seine Gedanken nicht lesen können, aber ich kann die Art interpretieren, wie er die Schultern hochzieht. Keinem Vampir ist wohl in seiner Haut, wenn er das Revier eines anderen betritt. Vampire haben für ihr Zusammenleben ebenso viele Regeln und Vorschriften aufgestellt wie jede andere Gesellschaft auch; sie versuchen lediglich, diese Regeln und Vorschriften nicht publik werden zu lassen. Aber langsam begriff ich, wie die Dinge liefen.

Schon bald wußte ich, wer der Anführer der Vampire hier im Haus war. Er gehörte zu denen, die an dem langen Tisch im Eßzimmer saßen und sah aus wie ein Stubenhocker, ein Streber, der nur seinen Computer im Sinn hat. Das zumindest war mein erster Eindruck. Dann jedoch erkannte ich, daß hier das Image eines Strebers sorgfältig eingeübt worden war, um zu verbergen, wen man da wirklich vor sich hatte: eine Person nämlich, die entschieden ... anders war. Der Vampir trug sein sandfarbenes Haar mit Hilfe von reichlich Gel streng zurückgekämmt; sein Gesicht wirkte schmal und irgendwie nichtssagend. Die Brille mit dem dicken schwarzen Rand war aus Fensterglas und reine Tarnung, das Nadelstreifenhemd aus Leinen steckte in einer Hose aus einem Baumwoll-Polyester-Gemisch. Er war blaß - na, das war ja zu erwarten gewesen - und hatte Sommersprossen; seine Wimpern waren so gut wie unsichtbar und seine Brauen praktisch nicht vorhanden.

„Bill Compton“, begrüßte uns dieser Stubenhocker.

„Stan Davis“, entgegnete Bill.

„Willkommen in Dallas“. Im Englisch des Stubenhockers schwang kaum hörbar ein ausländischer Akzent mit. Er war früher einmal Stanislaus Davidowitz, dachte ich, nur um gleich darauf erschrocken meinen Kopf blitzblank zu putzen wie eine Schiefertafel: Es ging nicht an, daß auch nur ein einziger Vampir mitbekam, daß ich von Zeit zu Zeit einen Gedanken aufschnappte, der sich aus der Stille um ihre Köpfe schlich. Wenn das nämlich ruchbar wurde, dann wäre ich mein Blut im Handumdrehen los, und zwar bis auf den letzten Tropfen!

Selbst Bill ahnte nichts davon.

Rasch verfrachtete ich meine Angst in den hintersten Winkel meines Bewußtseins, denn nun richteten sich blasse Augen auf mich und schienen jede auch noch so kleine Einzelheit meiner Erscheinung in sich aufnehmen zu wollen.

„Sie kommt in einer angenehmen Verpackung daher“, sagte Stan zu Bill. Das war wohl für meinen Vampir als Kompliment gemeint; eine Art wohlwollendes Schulterklopfen sozusagen.

Bill nahm es mit einem kurzen Nicken zur Kenntnis.

Menschen in so einer Situation hätten viel unnützes Zeug gesagt; Vampire verschwenden ihre Zeit nicht mit solchen Dingen. Ein menschlicher Konzernchef hätte sich bestimmt bei Bill nach Erics, Bills unmittelbarem Vorgesetzten, Befinden erkundigt. Er hätte leise Drohungen einfließen lassen für den Fall, daß ich nicht funktionieren und die gewünschte Leistung nicht erbringen würde; er hätte Bill und mir zumindest die wichtigeren Anwesenden im Zimmer vorgestellt. Das Oberhaupt der Vampire von Dallas tat nichts dergleichen. Er hob nur die Hand, woraufhin ein junger Vampir lateinamerikanischer Abstammung mit widerborstigem schwarzen Haar das Zimmer verließ und fast umgehend mit einer jungen Frau, einer Sterblichen, im Schlepptau zurückkehrte. Als die junge Frau mich sah, stieß sie einen Schrei aus und versuchte, sich loszureißen. Der schwarzhaarige Vampir jedoch hielt sie mühelos am Oberarm fest.

„Hilfe!“ kreischte das Mädchen, und dieser Hilferuf galt mir. „Du mußt mir helfen!“

Vom ersten Moment an wußte ich, daß diese Frau dumm war. Was hätte ich ihrer Meinung nach gegen ein ganzes Zimmer voller Vampire ausrichten sollen? Ihr Appell war lächerlich. Lächerlich! Das wiederholte ich ein paarmal rasch hintereinander, denn sonst hätte ich das, was ich nun tun mußte, gar nicht tun können.

Ich fing den Blick der jungen Frau auf und hielt einen Finger hoch, um ihr zu verstehen zu geben, sie solle ruhig sein. Als sie mir dann in die Augen gesehen und mich richtig wahrgenommen hatte, gehorchte sie. Über den hypnotisierenden Blick eines Vampirs verfüge ich zwar nicht, dafür sehe ich aber auch kein Stück bedrohlich aus. Ich sehe aus wie ein Großteil der Mädchen, die in den Kleinstädten der Südstaaten schlechtbezahlter Arbeit nachgehen: blond, mit großem Busen, braungebrannt und jung. Vielleicht wirke ich auf den ersten Blick nicht sehr intelligent. Obwohl ich das eigentlich nicht glaube. Ich glaube vielmehr, daß die Leute (und die Vampire!) einfach davon ausgehen, daß blonde hübsche Mädchen, die schlechtbezahlter Arbeit nachgehen, notwendigerweise auch dumm sein müssen. Für die meisten gehört das einfach zusammen.

Nun wandte ich mich an Davis, wobei ich froh war, Bill hinter mir zu wissen. „Sie werden verstehen, Mr. Davis“, sagte ich, „daß ich unmöglich vor all dem Publikum hier das Mädchen befragen kann und daß ich wissen muß, was Sie brauchen.“

Die junge Frau begann zu weinen. Ihr Schluchzen war langsam, herzzerreißend und unter den gegebenen Umständen extrem irritierend.

Davis heftete die farblosen Augen auf mich, wobei er weder versuchte, mich zu bezirzen, noch mich seinem Willen zu unterwerfen: Er beobachtete mich lediglich prüfend und genau. „Dein Begleiter hat von den Einzelheiten meines Abkommens mit seinem Chef Kenntnis“, sagte er. „So habe ich es zumindest verstanden.“ Schon gut! Auch ich hatte verstanden: Ich war es noch nicht einmal wert, daß man mich verachtete. Ich war ja nur ein Mensch. Wandte ich mich an Stan, so war das ungefähr, als würde sich ein Huhn an den Einkäufer von Kentucky Fried Chicken wenden. Trotzdem mußte ich erfahren, worauf meine Arbeit hinauslaufen sollte. „Sie haben alle Vorbedingungen des fünften Bezirks erfüllt“, sagte ich, wobei ich mich bemühte, ruhig und unbeeindruckt zu klingen. „Ich bin mir dessen durchaus bewußt und werde mein Bestes tun. Aber ich kann niemanden befragen, wenn ich nicht weiß, worauf die Befragung hinauslaufen soll.“

„Wir wollen wissen, wo unser Bruder ist“, sagte Stan nach kurzem Zögern.

Ich versuchte, nicht ganz so erstaunt auszusehen, wie ich war.

Einige Vampire, das hatte ich bereits erwähnt, leben allein; Bill zum Beispiel. Anderen ist wohler, wenn sie sich mit einem Klüngel zusammentun - solche Vampirgruppen heißen Nester. Vampire, die eine Weile gemeinsam dasselbe Nest bewohnen, nennen einander Brüder und Schwestern. Einige dieser Nester existierten seit Jahrzehnten. (In New Orleans gab es sogar eines, das bereits mehr als zweihundert Jahre alt war.) Die Vampire in Dallas hausten in einem besonders großen Nest; das hatte ich den Informationen entnehmen können, die Bill mir hatte zukommen lassen, ehe wir abgereist waren.

Bei mir mag es ja vielleicht nicht zur Gehirnchirurgin gereicht haben, aber daß es für einen Vampir von der Größe und Bedeutung eines Stan Davis nicht nur ungewöhnlich, sondern auch höchst beschämend war, einen Bruder zu verlieren, das wußte ich.

Beschämen lassen Vampire sich ungefähr ebenso gern wie Menschen.

„Wenn Sie mir bitte noch die näheren Umstände erläutern könnten“, sagte ich, weiter um einen neutralen Tonfall bemüht.

„Seit fünf Nächten ist mein Bruder Farrell nicht in sein Nest zurückgekehrt“, sagte Stan.

Mir war klar, daß sie sich in den von Farrell bevorzugten Jagdgründen bereits selbst umgesehen hatten. Auch wußte ich, daß wahrscheinlich jeder zweite Vampir in Dallas gebeten worden war, nach dem verschwundenen Bruder Ausschau zu halten. Nichtsdestoweniger öffnete ich den Mund, um nach all diesen Dingen zu fragen, wie Menschen es nun einmal tun, auch wenn sie es besser wissen sollten. Da berührte mich Bill leicht an der Schulter, und ich drehte mich zu ihm um. Mein Vampir schüttelte kaum merklich den Kopf. In diesen Kreisen würden meine Fragen als schwerwiegende Beleidigung aufgefaßt werden.

„Was hat es mit diesem Mädchen auf sich?“ fragte ich statt dessen. Die junge Frau war immer noch still, aber sie zitterte am ganzen Leib. Nur der Vampir mit dem lateinamerikanischen Aussehen schien sie aufrecht zu erhalten.

„Sie arbeitet in dem Nachtclub, in dem er zuletzt gesehen wurde. Der Club gehört uns; er heißt Bat's Wing.“ Vampire betrieben gern Gaststätten und Bars; das war nur natürlich, denn solche Etablissements werden nachts am stärksten frequentiert. Eine chemische Reinigung, die rund um die Uhr geöffnet ist und deren Management Fangzähne trägt, birgt nun einmal nicht dieselben Reize wie eine mit Vampiren bestückte Bar.

Vampirbars waren groß in Mode; seit mehreren Jahren waren sie das Heißeste, was das innerstädtische Nachtleben überhaupt zu bieten hatte. Da gab es die erbarmungswürdigen Gestalten, denen Vampire zur Obsession geworden waren, die Fangbanger; sie trieben sich oft kostümiert in den einschlägigen Bars herum, wobei sie hofften, die Aufmerksamkeit eines wirklichen, echten Vampirs auf sich lenken zu können. Die Touristen, die solche Bars aufsuchten, waren an Untoten und Fangbangern gleichermaßen interessiert. Wer in so einer Bar arbeitete, ging stets ein gewisses Risiko ein.

Ich fing den Blick des dunkelhaarigen Vampirs auf und deutet mit den Augen auf einen Stuhl, der an meiner Seite des langen Eßtischs stand. Der Vampir ließ das Mädchen vorsichtig auf diesen Stuhl gleiten. Nachdenklich blickte ich hinunter auf die junge Frau und machte mich bereit, in ihre Gedanken zu schlüpfen, die ungeschützt waren. Ich schloß die Augen.

Die junge Frau hieß Bethany. Sie war einundzwanzig und hatte sich immer für ein wildes Mädchen gehalten, eine wirklich tolle, aufsässige Hummel. Daß diese Haltung sie in Schwierigkeiten bringen könnte - und in was für welche -, das hatte sie bisher nicht geahnt. Die prägnanteste rebellische Geste ihres Lebens war gewesen, Arbeit im Bat's Wing zu finden. Nun stellte sich heraus, daß eben diese eine Rebellion sich unter Umständen als fatal erweisen könnte.

Ich öffnete die Augen und richtete meinen Blick noch einmal auf Stan. „Sie denken daran“, erinnerte ich ihn, wobei ich ein ziemliches Risiko einging, „daß die Frau sofort freikommt und ihr nichts geschieht, sobald sie die Informationen preisgegeben hat, um die es Ihnen geht.“ Zwar hatte Stan gesagt, er habe die Bedingungen verstanden, unter denen ich zu arbeiten bereit war, aber ich wollte noch einmal sicher gehen.

Hinter mir stieß Bill, offenbar unzufrieden mit meinem Verhalten, einen tiefen Seufzer aus. Stans Augen schienen einen Moment lang Funken zu sprühen, so wütend war der Vampir. „Ja!“ Seine Fangzähne waren vollständig ausgefahren, und er spie jedes Wort einzeln aus. „Ich habe mich mit den Bedingungen einverstanden erklärt.“ Einen Moment lang kreuzten sich unsere Blicke. Noch vor zwei Jahren, das wußten Stan und ich beide ganz genau, hätten die Vampire von Dallas Bethany einfach entführt und so lange gefoltert, bis sie jeden einzelnen Brocken Information ihr eigen nennen konnten, den die Frau in ihrem Hirn aufbewahrte. Dazu noch ein paar, die sie dazuerfunden hätte.

Das bürgerliche Leben, die Tatsache, daß sie nun öffentlich zu ihrer Existenz stehen konnten, brachte durchaus Vorteile für die Vampire - aber es hatte auch seinen Preis. In diesem Fall war der Preis, daß sie gezwungen waren, meine Dienste in Anspruch zu nehmen.

„Wie sieht Farrell aus?“

„Wie ein Cowboy“, sagte Stan, und das war seiner Stimme nach zu urteilen in keiner Weise humoristisch gemeint. „Er trägt einen dünnen Lederschlips, Jeans und ein Hemd mit Druckknöpfen aus unechten Perlen.“

Haute Couture schien die Vampire von Dallas nicht zu interessieren. Vielleicht hätte ich doch meine Kellnerinnentracht tragen können. „Haarfarbe? Augenfarbe?“

„Braunes Haar, schon ziemlich grau. Braune Augen, markantes Kinn. Ungefähr ... einen Meter achtzig.“ Das hatte Stan anscheinend erst ausrechnen müssen; er war wohl mit anderen Maßeinheiten aufgewachsen. „Man würde ihn für etwa achtunddreißig halten“, fuhr er fort. „Er ist glatt rasiert und dünn.“

„Wäre es Ihnen lieber, ich ginge mit Bethany in ein anderes Zimmer? Hätten Sie eines, das nicht so voll ist?“ Ich versuchte, ein freundliches Gesicht zu machen, denn das schien mir das beste zu sein.

Stan machte eine rasche Geste, die so schnell war, daß ich sie fast nicht mitbekam. Eine Sekunde später - und zwar ganz wortwörtlich eine Sekunde - hatten alle Vampire bis auf Bill und Stan selbst Eßzimmer und Küche geräumt. Ohne genau hinzusehen wußte ich, daß Bill gegen die Wand gelehnt stand, auf alle Eventualitäten eingerichtet. Ich holte tief Luft. Es war Zeit, die Sache anzugehen.

„Wie geht es dir, Bethany?“ fragte ich mit samtweicher Stimme.

„Woher kennst du meinen Namen?“ fragte die junge Frau und sackte in ihrem Stuhl zusammen. Es handelte sich um einen Drehstuhl auf Rädern, der in die Frühstücksecke der Küche gehörte. Ich zog ihn dichter zu mir heran und drehte ihn so, daß er direkt vor einem weiteren Stuhl zu stehen kam, auf dem ich mich dann niederließ. Stan saß immer noch am Kopfende des Eßtisches, was bedeutete, daß er nun ein wenig schräg links hinter mir saß.

„Ich weiß einiges über dich“, erwiderte ich, wobei ich versuchte, mitfühlend und allwissend dreinzuschauen. Dann pflückte ich ein paar von Bethanys Gedanken aus der Luft, wie Äpfel von einem üppig tragenden Baum. „Du hattest als Kind einen Hund. Er hieß Wuff. Deine Mutter backt den besten Kokosnußkuchen der Welt. Einmal hat dein Vater beim Kartenspiel so viel Geld verloren, daß du dein Videogerät versetzen mußtest, damit er seine Spielschulden bezahlen konnte, ohne daß deine Mutter etwas davon mitbekam.“

Ihr Mund stand offen. Soweit das unter diesen Umständen möglich war, hatte die junge Frau vergessen, daß sie sich in schrecklicher Gefahr befand. „Da ist ja irre! Du bist glatt so gut wie das Medium in der Werbung!“

„Nun, Bethany, ein Medium bin ich nicht“, stellte ich klar, vielleicht eine kleine Spur zu scharf. „Ich bin Telepathin. Ich kann deine Gedanken lesen, vielleicht sogar ein paar, von denen du noch nicht einmal etwas ahntest. Jetzt werde ich erst einmal dafür sorgen, daß du dich völlig entspannen kannst, und dann gehen wir beide deine Erinnerungen an einen bestimmten Abend in dem Club durch. Nicht die Erinnerung an den heutigen Abend - wir befassen uns mit dem Abend, der nun fünf Tage zurückliegt.“ Über die Schulter warf ich Stan einen Blick zu. Er nickte.

„Aber an den Kokosnußkuchen meiner Mutter hatte ich gar nicht gedacht.“ Diesen Punkt konnte Bethany scheinbar nicht so einfach übergehen.

Es gelang mir gerade noch, einen Seufzer zu unterdrücken. „Vielleicht hast du nicht bewußt daran gedacht, aber daran gedacht hast du trotzdem. Der Gedanke schoß dir beim Anblick des blassesten Vampirs hier im Zimmer durch den Kopf - Isabel - ihr Gesicht fandest du so weiß wie die Glasur auf dem Kuchen deiner Mutter. Als du daran dachtest, wie sehr du deinen Eltern fehlen wirst, schoß dir durch den Kopf, wie sehr dir wiederum dein Hund fehlt.“

Kaum hatte ich die letzten Worte gesprochen, da wußte ich auch schon, daß ich einen Fehler begangen hatte: Bethany fing auf der Stelle wieder an zu weinen. Ich hatte sie daran erinnert, in welch prekärer Lage sie sich befand.

„Warum bist du hier?“ wollte sie dann von mir wissen.

„Ich bin hier, weil ich dir helfen kann, dich zu erinnern“, antwortete ich.

„Aber du hast gesagt, du bist gar kein Medium.“

„Das bin ich auch nicht.“ Das stimmte doch, oder? Ein Medium war ich nicht - nur überkam mich manchmal der Verdacht, ich könne zusätzlich zu meiner 'Gabe' (wie die Vampire es sahen) der Telepathie auch noch eine mediale Ader besitzen. Ich hatte sie ja immer eher als einen Fluch gesehen - bis ich Bill traf. „Ein Medium arbeitet anders“, erklärte ich. „Ein Medium berührt Gegenstände und erhält so Informationen über Menschen, die diese Gegenstände bei sich tragen oder getragen haben. Manch ein Medium hat Visionen von Dingen, die sich in der Vergangenheit ereigneten oder die sich in der Zukunft ereignen werden. Manche Medien können mit Verstorbenen kommunizieren. Ich dagegen bin Telepathin, und das heißt, ich kann bei manchen Menschen die Gedanken lesen. Wahrscheinlich könnte ich auch Gedanken senden, aber das habe ich noch nie versucht.“ Nun, da ich einen weiteren Telepathen kennengelernt hatte, war die Versuchung groß, es auszuprobieren; aber diese Idee schob ich fürs erste beiseite. Ich wollte sie mir aufsparen, in aller Ruhe darüber nachdenken. Zuerst einmal mußte ich mich auf die Aufgaben konzentrieren, die unmittelbar vor mir lagen.

Ich saß da, Bethany so dicht gegenüber, daß unsere Knie einander berührten, und traf eine Reihe von Entscheidungen. Es war immer noch vergleichsweise ungewohnt für mich, mein Talent gezielt einzusetzen, um absichtlich irgendwem 'zuzuhören'. Ich hatte den größten Teil meines Lebens im Bemühen verbracht, eben nichts zu 'hören'. Nun war das Zuhören für mich zum Job geworden; höchstwahrscheinlich hing Bethanys Leben davon ab, wie gut ich diesen erledigte. Auch, daß mein Leben von der Qualität meiner Arbeit abhing, konnte ich mit einiger Gewißheit annehmen.

„Paß auf, wir machen jetzt folgendes: Du erinnerst dich an den betreffenden Abend, und wir gehen ihn gemeinsam durch. Im Kopf.“

„Tut das weh?“

„Nein, nicht ein bißchen.“

„Was geschieht dann mit mir?“

„Du kannst gehen.“ „Heim?“

„Klar doch.“ Sie würde gehen können, den Kopf voller Erinnerungen, die dank des freundlichen Zutuns eines Vampirs weder mich noch die Ereignisse des heutigen Abend beinhalteten.

„Die töten mich nicht?“

„Auf keinen Fall.“

„Das versprichst du?“

„Ja.“ Es gelang mir, aufmunternd zu lächeln.

„Einverstanden“, sagte sie, aber es klang immer noch ein wenig zögerlich. Ich rückte ihren Stuhl so zurecht, daß sie den hinter mir sitzenden Stan nicht sehen konnte. Auch ich konnte ihn so nicht mehr sehen und wußte nicht, was er tat. Aber Bethany in dieses absolut farblose Gesicht blicken zu lassen, während ich versuchte, sie zu entspannen, war ja nun wirklich nicht notwendig.

„Du bist hübsch!“ verkündete die junge Frau mit einem Mal.

„Danke gleichfalls!“ Unter anderen Umständen hätte Bethany bestimmt hübsch ausgesehen. Ihr Mund war ein wenig zu klein für das Gesicht, aber einige Männer fanden gerade das attraktiv, denn so sah es aus, als zöge die junge Frau ständig eine niedliche kleine Schnute. Sie hatte dichtes, volles Haar, eine Menge davon, dazu einen winzigen Körper mit großen Brüsten. Sie war bekümmert, weil eine andere Frau sie ansah und wünschte sich, ihre Kleider wären nicht so zerknittert und ihr Make-up frisch.

„Du siehst prima aus“, versicherte ich der jungen Frau, wobei ich ihre Hand nahm. „Wir sitzen jetzt hier einfach ein wenig und halten Händchen - ich schwöre auch, daß ich dir nicht an die Wäsche will!“ Da mußte sie kichern. Ihre Finger entspannten sich ein wenig - es konnte losgehen.

Wie ungewohnt das Ganze für mich noch war! Statt alles daranzusetzen, meine Telepathie zu unterdrücken und zu verhindern, daß sie zum Einsatz kam, hatte ich in letzter Zeit begonnen, sie zu perfektionieren. Bill hatte mich dabei unterstützt, wobei die Menschen, die im Fangtasia arbeiteten, als Versuchskaninchen dienten. Dabei hatte ich mehr oder weniger per Zufall entdeckt, daß ich die meisten Menschen sozusagen im Handumdrehen hypnotisieren konnte. Was nicht hieß, daß sie dadurch in meinen Bann gerieten, aber ich gelangte so mit fast schon erschreckender Leichtigkeit in ihre Köpfe. Hat man jemanden beim Denken belauscht und festgestellt, wie dieser Mensch sich am besten entspannt, dann ist es vergleichsweise einfach, diesen Menschen so zu lockern, daß sein Zustand einer leichten Trance gleichkommt.

„Was magst du am liebsten, Bethany?“ fragte ich. „Läßt du dich ab und zu massieren? Gehst du dir manchmal die Nägel machen lassen?“

Vorsichtig und sanft spähte ich in Bethanys Kopf. Dann wählte ich den Kanal, der mir am erfolgversprechendsten schien.

„Du sitzt beim Friseur“, verkündete ich mit sanfter, gleichmäßiger Stimme. „Du bist bei Jerry, deinem Lieblingsfriseur. Er hat ganz lange und ausführlich dein Haar ausgekämmt. Jetzt ist keine einzige Strähne mehr verfilzt. Er hat die Strähnen auch schon abgeteilt, was nicht einfach war, weil du so volles, dichtes Haar hast. Das Schneiden dauert immer lange, aber Jerry freut sich darauf, denn dein Haar ist so gesund und glänzend. Jetzt nimmt er sich die erste Strähne vor und schneidet sie zurecht ... die Schere klappert. Ein paar Haare fallen auf den Plastikumhang, den du um die Schultern trägst, und gleiten zu Boden. Dann spürst du erneut seine Finger in deinem Haar. Sie bewegen sich, sie heben eine Strähne nach der anderen, sie schneiden, sie heben, sie schneiden. Manchmal kämmt er eine Strähne aus, um zu sehen, ob er sie gerade geschnitten hat. Wie schön das ist: Du sitzt einfach da, und jemand anderes beschäftigt sich mit deinem Haar. Außer dir ist niemand ...“ Nein, Moment - da hatte ich eine leise Verunsicherung gespürt, „nur wenige Menschen sind im Salon, aber sie sind alle ebenso beschäftigt wie Jerry. Irgendwo läuft ein Fön. Die Stimmen in der Nische neben dir kannst du hören, aber du verstehst nicht, was sie sagen. Jerrys Finger gleiten durch dein Haar; sie schneiden, sie kämmen, sie schneiden, sie kämmen ...“

Was ein ausgebildeter Hypnotiseur zu meiner Technik sagen würde, wußte ich nicht, aber ich war erfolgreich damit. Zumindest bei der Person, die gerade vor mir saß. Bethanys Bewußtsein befand sich nun in einem friedvollen, vergleichsweise brachliegenden Zustand und wartete nur darauf, daß ich ihm etwas zu tun gab. „Jerry ist also mit deinem Haar befaßt. Wir beide werden jetzt gemeinsam diesen Abend im Club durchgehen. Jerry schneidet derweil weiter, keine Sorge, er schneidet und kämmt. Wir fangen damit an, daß du dich fertig machst, um zur Arbeit zu gehen. Achte nicht auf mich. Ich bin ein Lufthauch hier hinter deiner Schulter. Du kannst mich hören, aber ich sitze in einer anderen Nische des Friseursalons. Du verstehst nicht, was ich sage, es sei denn, ich rufe dich beim Namen.“ Das alles erklärte ich nicht nur, um Bethany zu beruhigen, sondern auch, um den hinter mir sitzenden Stan über mein Vorgehen zu informieren. Dann erst drang ich tiefer in die Erinnerungen des Mädchens ein.

Bethany sah sich in ihrer Wohnung um. Diese war klein, recht ordentlich, und Bethany teilte sie mit einer anderen Frau, die ebenfalls im Bat's Wing angestellt war. Diese Frau nannte sich Desiree Dumas und sah, zumindest durch Bethanys Augen betrachtet, genauso aus wie der Name, den sie sich zweifelsohne selbst zugelegt hatte. Sie war eine selbsternannte Sirene, ein wenig zu rundlich, ein wenig zu blond und felsenfest überzeugt von der eigenen erotischen Ausstrahlung.

Die Kellnerin durch ihre Erinnerungen an die Geschehnisse jener Nacht zu führen war ein wenig so, als sähe ich mir einen zugegebenermaßen ziemlich langweiligen Film an. Bethany konnte sich fast schon zu gut an alles erinnern. Rasch überging ich die absolut langweiligen Teile - etwa einen Streit zwischen den beiden Frauen über die Vor- und Nachteile verschiedener getönter Tagescremes -, um mich ganz auf den roten Faden zu konzentrieren. Bethany erinnerte sich daran, sich für die Arbeit zurechtgemacht zu haben, wie sie das immer tat. Dann waren Desiree und sie gemeinsam hingefahren. Desiree arbeitete in der Geschenkboutique des Bat's Wing, wo sie, bekleidet mit einem roten Bustier und schwarzen Stiefeln, Vampir-Souvenirs zu Höchstpreisen verkaufte. Manchmal legte sie auch künstliche Fangzähne an und war dann gegen ein fürstliches Trinkgeld bereit, Arm in Arm mit Touristen für ein Erinnerungsfoto zu posieren. Die eher knochige und schüchterne Bethany dagegen arbeitete als einfache Kellnerin, wartete aber seit mehr als einem Jahr darauf, daß auch für sie eine Stelle in der Geschenkboutique frei würde. Die Arbeit dort hätte ihr mehr gelegen als das Kellnern; zwar brachte sie nicht dieselben Trinkgelder ein, dafür war der Grundlohn höher, und man konnte sich hinsetzen, wenn nichts zu tun war. Aber noch hatte Bethany ihr Ziel nicht erreicht, und das nahm sie Desiree ziemlich übel. Diese Information war unerheblich; dennoch hörte ich, wie ich sie an Stan weitergab, als sei sie wichtig.

Nie zuvor war ich so tief in das Bewußtsein eines anderen Menschen eingedrungen. Ich war bemüht, gleich von Anfang an Wichtiges von Unwichtigem zu trennen, aber das gelang mir nicht, weswegen ich schließlich alles einfach so kommen ließ, wie es kommen wollte, derweil Bethany völlig entspannt beim Friseur hockte und sich die Haare schneiden ließ. Präzise und anschaulich, einfach exzellent, waren die Bilder aus der Bar, die in ihrem Gedächtnis auftauchten; sie hatte sich ebenso in die Geschehnisse jenes Abends vertieft wie ich.

Bethany erinnerte sich an vier Vampire, denen sie an jenem Tag synthetisches Blut serviert hatte: eine rothaarige Frau, eine kleine, untersetzte Frau lateinamerikanischer Herkunft mit kohlrabenschwarzen Augen, einen blonden Teenager mit Tätowierungen, deren Muster aus uralten Zeiten zu stammen schien und an einen braunhaarigen Mann mit ausladendem Kinn und Cowboykrawatte. Da! Farrell kam also in Bethanys Erinnerungen vor. Jetzt hieß es, mir nicht anmerken zu lassen, daß ich diesen Mann kannte und es eigentlich die ganze Zeit um ihn gegangen war. Außerdem mußte ich ab jetzt Bethanys Erinnerungen stärker kontrollieren und steuern.

„Es geht um diesen Mann“, flüsterte ich. „Woran erinnerst du dich, wenn du an ihn denkst?“

„Ach der!“ sagte Bethany so laut, daß ich vor Schreck fast vom Stuhl gefallen wäre. Dann drehte sie sich - in ihren Erinnerungen - noch einmal zu Farrell um und konzentrierte sich ganz bewußt auf ihn. Er hatte zwei Flaschen synthetisches Blut getrunken, wobei er jedes Mal die Geschmacksrichtung Null positiv bestellt hatte, und hatte ihr ein Trinkgeld hinterlassen.

Zwischen Bethanys Brauen tauchte eine kleine Falte auf, so sehr konzentrierte sich die junge Frau auf das, worum ich sie gebeten hatte. Mittlerweile strengte sie sich wirklich an, ihr Gedächtnis nach allen Einzelheiten zu durchforsten. Die einzelnen Eindrücke des Abends fügten sich mehr und mehr zu Bildern, weswegen sie nun darangehen konnte, sich ganze Episoden noch einmal anzusehen, die Erinnerungen an den braunhaarigen Vampir beinhalteten. „Er ging mit dem Blonden zusammen aufs Klo“, verkündete sie dann, wobei in ihrem Gedächtnis das Bild des blonden Vampirs mit den uralten Tätowierungen auftauchte, der so ungeheuer jung aussah. Das Bild war so genau, daß ich, wäre ich Malerin gewesen, mühelos eine Zeichnung hätte anfertigen können.

„Ein junger Vampir, vielleicht sechzehn. Blond, Tätowierungen“, raunte ich Stan Davis zu, den diese Auskunft zu verwundern schien. Allerdings nahm ich sein Erstaunen nur ganz nebenbei aus den Augenwinkeln wahr, denn es gab zu viele andere Dinge, auf die ich mich konzentrieren mußte. Ein wenig kam mir meine Arbeit vor wie ein Jonglageakt. Aber der Ausdruck, den ich über Stans Gesicht huschen sah, war eindeutig Erstaunen. Das verwirrte mich etwas.

„Bist du sicher, daß der Junge ein Vampir war?“ fragte ich bei Bethany nach.

„Er hat synthetisches Blut getrunken“, erklärte sie. „Er hatte blasse Haut. Bei seinem Anblick sind mir Schauer den Rücken hinunter gelaufen. Ja, er war Vampir.“

Und er war zusammen mit Farrell auf der Toilette verschwunden. Das brachte mich wirklich ziemlich durcheinander. Es gibt für einen Vampir nur einen einzigen Grund, eine Toilette aufzusuchen: wenn er dort mit einem Menschen verabredet ist, mit dem er schlafen oder von dem er trinken oder (das Höchste für jeden Vampir) mit dem er beides gleichzeitig tun will. Erneut versank ich in Bethanys Erinnerungen. Ich sah, wie sie weitere Gäste bediente, wobei mir keiner dieser Gäste bekannt vorkam, auch wenn ich von ihnen allen ein ganz genaues Bild erhielt. In der Regel schien es sich bei den Barbesuchern um harmlose Touristen gehandelt zu haben. Dann kam mir einer dieser Touristen, ein braungebrannter Mann mit buschigem Schnurrbart, doch irgendwie bekannt vor, weswegen ich mitzubekommen versuchte, mit wem er zusammensaß. Offensichtlich war er in Begleitung eines großen, dünnen Mannes mit schulterlangem blondem Haar und einer vierschrötigen Frau mit der unmöglichsten Frisur, die ich je zu Gesicht bekommen hatte.

Nun hätte ich ein paar Fragen an Stan gehabt, wollte aber zuerst die Arbeit mit Bethany zu Ende bringen. „Hat der Vampir, der wie ein Cowboy aussah, die Toilette auch wieder verlassen, Bethany?“ fragte ich.

„Nein“, erklärte die junge Frau nach einer Pause. „Ich habe ihn nicht wiedergesehen.“ Ich überprüfte diese Aussage sorgsam, indem ich besonders nach leeren Stellen in Bethanys Bewußtsein Ausschau hielt. War etwas gelöscht worden, so konnte ich es zwar nicht rekonstruieren, aber ich war in der Lage festzustellen, ob jemand Bethanys Erinnerungen umgeschrieben hatte. Ich fand keine Spuren einer solchen Manipulation, bekam aber erneut mit, wie sehr Bethany versuchte, sich ganz genau an alles zu erinnern. Ich spürte, wie sie sich abmühte, sich weitere Szenen ins Gedächtnis zu rufen, in denen Farrell auftauchte. Ich merkte, daß sie sich inzwischen so anstrengte, daß ich das Gefühl bekam, die Kontrolle über sie zu verlieren.

„Was ist mit dem blonden Jungen mit den Tätowierungen?“ fragte ich.

Auch darüber dachte Bethany nach, inzwischen nur noch halb in Trance. „Ihn habe ich auch nicht mehr gesehen.“ Dann glitt ein Name durch ihren Kopf.

„Was ist das?“ hakte ich nach, bedacht, meine Stimme ruhig und gelassen klingen zu lassen.

„Nichts! Nichts!“ Bethany hatte die Augen aufgerissen. Ich hatte sie verloren. Ich war eben noch lange nicht perfekt, konnte nicht unbegrenzt die Kontrolle über einen anderen Menschen aufrechterhalten.

Sie wollte jemanden schützen; sie wollte nicht, daß dieser Jemand durchmachen mußte, was sie gerade erlebte. Aber sie konnte sich nicht daran hindern, den Namen der betreffenden Person zu denken. Ebensowenig konnte sie mich daran hindern, diesen Namen aufzuschnappen. Ich bekam nicht mit, warum sie der Meinung war, dieser Mann wisse mehr als sie, aber genau das dachte sie. Wenn ich ihr zu verstehen gab, daß ich ihr Geheimnis kannte, würde ich damit gar nichts bezwecken; also lächelte ich die junge Frau nur beruhigend an und richtete meine nächsten Worte an Stan, ohne mich jedoch dabei zu ihm umzudrehen. „Sie kann gehen. Ich habe alles.“

Dann drehte ich mich um, aber der Ausdruck kompletter Erleichterung, der über Bethanys Gesicht huschte, entging mir nicht. Ich war sicher, daß Stan mitbekommen hatte, daß ich etwas in der Hinterhand behalten hatte, und ich wollte nicht, daß er sich einmischte und irgendeinen Kommentar abgab. Wer kann schon sagen, was ein Vampir denkt, wenn er eine verschlossene Miene zur Schau stellt? Trotzdem hatte ich das Gefühl, Stan verstehe mich.

Nun trat, ohne daß ich Stan einen Befehl hätte geben hören, ein weiterer Vampir ins Zimmer, eine junge Frau, die ungefähr in Bethanys Alter gewesen war, als sie hinüberging. Stan hatte eine gute Wahl getroffen. Das Mädchen beugte sich über Bethany, nahm ihre Hand, lächelte sie liebevoll und ohne Fangzähne zu zeigen an und sagte: „Wir bringen dich jetzt heim, Schatz.“

„Toll!“ Bethanys Erleichterung leuchtete in riesigen Neonbuchstaben. „Toll!“ wiederholte sie dann, diesmal jedoch nicht mehr ganz so sicher und überzeugt. „Ihr bringt mich wirklich heim? In meine Wohnung? Sie ...“

Aber da hatte die Vampirin Bethany schon tief in die Augen geschaut. „Du kannst dich an nichts erinnern“, sagte sie. „Du weißt nichts mehr über diesen Abend, du erinnerst dich nur noch an die Party.“

„Die Party?“ Bethanys Worte klangen vernuschelt, nur noch milde verwundert, sondern eher ein wenig neugierig.

„Du bist auf eine Party gegangen“, sagte die Vampirin, während sie Bethany aus dem Zimmer führte. „Du warst auf einer wunderbaren Party und hast diesen unglaublich süßen Jungen kennengelernt. Mit ihm bist du dann zusammengewesen.“ Die beiden verließen das Zimmer, wobei die Vampirin immer noch eindringlich im Flüsterton auf Bethany einredete. Ich hoffte, sie würde der jungen Frau ein paar schöne Erinnerungen bescheren.

„Was war?“ wollte Stan nun wissen, nachdem sich die Tür hinter den beiden Frauen geschlossen hatte.

„Bethany schoß der Gedanke durch den Kopf, der Türsteher des Clubs könne mehr wissen. Sie hat gesehen, wie auch er in die Herrentoilette ging, und zwar unmittelbar nach Ihrem Freund Farrel und dem Vampir, den Sie nicht kannten.“ Was ich nicht wußte und wonach ich Stan auch kaum fragen konnte war, ob Vampire auch Sex miteinander hatten. Im Unleben der Vampire waren Sex und Nahrung so eng miteinander verknüpft, daß ich mir nicht vorstellen konnte, daß ein Vampir mit einer Person schlief, die nicht menschlich war, von der er nicht auch trinken konnte. Kam es vor, daß Vampire das Blut anderer Vampire zu sich nahmen - außer in absoluten Notsituationen? Ich wußte, daß Vampire Blut spenden konnten, wenn das Leben eines anderen Vampirs auf dem Spiel stand, daß sie einen der Ihren so quasi wiederbeleben konnten. Aber von anderen Situationen, in denen Vampirblut getauscht wurde, hatte ich noch nie gehört. Nein, danach mochte ich Stan wirklich nicht fragen! Vielleicht konnte ich das Thema Bill gegenüber ansprechen, aber erst dann, wenn wir dieses Haus wieder verlasen hatten.

„Wir können also zusammenfassen, was du im Gedächtnis unserer Kellnerin lesen konntest: Farrel hat die Bar besucht; er ging mit einem anderen Vampir zusammen auf die Toilette, mit einem jungen Vampir mit langem blonden Haar, der voller Tätowierungen war. Während sich die beiden dort aufhielten, ging der Türsteher der Bar ebenfalls auf die Toilette.“

„Ja. Das waren die Informationen, die ich hören konnte.“

Es folgte eine ziemlich lange Pause, während Stan überlegte, was weiter zu tun sei. Ich wartete, entzückt darüber, daß ich nicht ein einziges Wort der Debatte hören konnte, die dabei in seinem Inneren stattfand. Keine plötzlich aufflammenden Bilder, kein Einblick in sein Denken!

Ohnehin waren die kurzen Einblicke in die Köpfe irgendwelcher Vampire extrem rar, was ich als angenehm empfand. Von Bills Gedanken hatte ich nie etwas mitbekommen; daß auch Vampire mir Gedankenfetzen senden konnten, war mir überhaupt erst untergekommen, nachdem ich schon eine Weile in der Vampirwelt verkehrt hatte. Das Zusammensein mit Bill blieb weiterhin die reine, ungetrübte Freude für mich, denn zum ersten Mal in meinem Leben war mir eine normale Beziehung mit einem männlichen Wesen möglich. Natürlich handelte es sich bei Bill nicht um ein lebendes männliches Wesen, aber man kann nicht alles haben.

In diesem Moment spürte ich Bills Hand auf meiner Schulter, ganz so, als hätte er genau mitbekommen, daß ich gerade an ihn gedacht hatte. Ich legte meine Hand auf die seine und verspürte den heftigen Wunsch, kurz aufzustehen und ihn kräftig an mich zu drücken. Das ging aber nicht, denn Stan sah uns zu. Nicht, daß er noch Hunger bekam!

„Wir kennen den Vampir nicht, der mit Farrell auf die Toilette ging“, verkündete Stan, eine recht kurze Bemerkung dafür, daß er so lange nachgedacht hatte, wollte mir scheinen. Vielleicht hatte er mir eine ausführlichere Erklärung zukommen lassen wollen, dann aber befunden, ich sei nicht klug genug, diese auch zu verstehen. Ich habe nichts dagegen, unterschätzt zu werden; das ist mir lieber, als überschätzt zu werden. Unter dem Strich konnte es mir egal sein, was Stan von mir hielt. Aber in meinem Kopf war eine Frage offengeblieben, und ich packte sie zu den anderen, die ich später dann mit Bill würde klären wollen.

„Wer arbeitet denn als Türsteher im Bat's Wing?“ fragte ich.

„Ein Mann namens Re-Bar“, antwortete Stan reserviert. „Ein Fangbanger.“

Dann hatte Re-Bar ja seinen Traumjob gefunden. Er arbeitete mit Vampiren, er arbeitete für Vampire, er war Nacht für Nacht mit Vampiren zusammen. Für jemanden, den die Faszination für die Untoten gepackt hatte, das Paradies. „Was macht der denn, wenn ein Vampir beschließt, sich daneben zu benehmen und eine Schlägerei anfängt?“ fragte ich aus reiner Neugier.

„Er ist nur für die betrunkenen Menschen zuständig. Wir haben leider feststellen müssen, daß Vampire sich als Türsteher wenig eignen. Sie neigen dazu, ihre Kräfte zu unterschätzen und rabiat zu werden.“

Das wollte ich mir lieber nicht genauer ausmalen. „Ist Re-Bar heute nacht hier im Haus?“ fragte ich statt dessen.

„Noch nicht, aber er wird bald hier sein“, erwiderte Stan, ohne sich vorher mit irgend jemandem aus seinem Stab beraten zu haben. Wahrscheinlich hielt er den Kontakt zu seinen Untergebenen rein geistig aufrecht. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt, und ich war sicher, daß Eric nicht auf diese Weise an Bill herantreten konnte. Diese geistige Kommunikation war offenbar eine Gabe, die ganz speziell Stan zu eigen war.

Während wir warteten, setzte sich Bill auf den Stuhl neben mir. Er streckte die Hand nach meiner aus, eine Geste, die ich tröstlich und beruhigend fand und für die ich ihn sehr liebte. Ich versuchte, mich so gut es ging zu entspannen, meine Kräfte für die nächste Befragung aufzusparen, die mir bevorstand. Aber ich konnte nicht verhindern, daß sich in meinem Kopf eine gewisse Besorgnis, eine ziemlich starke Besorgnis sogar, über die Lage der Vampire in Dallas einnistete. Zudem gingen mir immer noch die Bilder aus der Bar durch den Kopf, die ich in Bethanys Bewußtsein hatte sehen können; hier bereitete mir besonders der Mann Kopfzerbrechen, der mir irgendwie bekannt vorgekommen war.

„Nein!“ rief ich dann plötzlich laut aus, denn mir war wieder eingefallen, wo ich diesen Mann zuvor schon einmal gesehen hatte.

Die Vampire waren sofort in Alarmbereitschaft. „Was ist, Sookie?“ wollte Bill wissen.

Stan wirkte wie aus Eis gemeißelt, selbst seine Augen funkelten eisig grün. Das bildete ich mir nicht nur ein!

So eilig hatte ich es, den beiden meine Überlegungen mitzuteilen, daß ich um ein Haar ins Stottern geraten wäre. „Der Priester!“ teilte ich Bill aufgeregt mit. „Der Mann, der auf dem Flughafen fortrannte, der versucht hat, mich festzuhalten und wegzuschleppen. Er war in der Bar!“ Solange ich mich noch in den Tiefen von Bethanys Bewußtsein aufgehalten hatte, hatten mich die andere Kleidung des Mannes und die ganz andere Umgebung verwirrt, aber nun wußte ich genau, wen ich dort gesehen hatte.

„Ich verstehe“, sagte Bill. Bill scheint sich immer, wenn er will, an alles Erlebte genau erinnern zu können. Ich konnte mich darauf verlassen, daß ihm das Bild dieses Mannes im Gedächtnis eingebrannt war.

„Schon auf dem Flugplatz fand ich nicht, daß er wirklich wie ein katholischer Priester ausgesehen hat, und nun wissen wir, daß er in der Bar saß, als Farrell verschwand“, erklärte ich aufgeregt. „In gewöhnlicher Straßenkleidung. Nicht - nun, kein schwarzes Hemd mit weißem Kragen.“

Es folgte bedeutungsschwangeres Schweigen.

Dann sagte Stan nachdenklich: „Aber selbst mit Hilfe seiner beiden menschlichen Begleiter hätte dieser falsche Priester Farrell nicht gegen dessen Willen entführen können.“

Ich starrte auf meine Hände und sagte nichts. Ich wollte gewiß nicht diejenige sein, die es laut aussprach. Bill schwieg ebenfalls, was ich sehr weise von ihm fand. Endlich sprach Stan Davis, der Obervampir von Dallas, aus, was wir alle dachten: „Bethany hat sich erinnert, daß jemand mit Farrell auf die Toilette ging. Ein Vampir, den ich nicht kannte.“

Ich nickte, vermied es aber, Stan dabei anzusehen.

„Dann muß dieser Vampir geholfen haben, Farrell zu entführen.“

„Ist Farrell schwul?“ fragte ich, wobei ich mich bemühte, das so klingen zu lassen, als hätte nicht ich diese Frage gestellt, sondern als sei sie von ganz allein von irgendwoher durch die Wand gekommen.

„Er bevorzugt Männer. Denkst du ...“

„Ich denke gar nichts!“ erklärte ich entschieden, wobei ich den Kopf schüttelte, um Stan zu verstehen zu geben, daß ich zu diesem Thema wirklich nichts, aber auch gar nichts beitragen konnte. Bill drückte mir die Finger zusammen. Autsch.

Das Schweigen im Raum war angespannt, bis die Vampirin, die wie ein Teenager aussah, zurückkam, im Schlepptau einen untersetzten Mann, den ich bereits aus Bethanys Erinnerungen kannte. In natura sah er allerdings anders aus als in Bethanys Bewußtsein, durch ihre Augen betrachtet. Dort hatte er robust gewirkt, nicht fett; er war ihr glamouröser vorgekommen, als er in Wirklichkeit aussah, weniger ungepflegt. Aber ich erkannte den Mann durchaus als Re-Bar wieder.

Mir war auch sofort klar, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmen konnte. Völlig friedlich und bereitwillig folgte er dem Vampirmädchen ins Zimmer, wobei er jedem Anwesenden ein strahlendes Lächeln schenkte. Das war meiner Meinung nach völlig unangemessen. Jeder Mensch, der wittert, daß ihm Probleme mit Vampiren bevorstehen, macht sich doch Sorgen und fürchtet sich, oder? Ganz gleich, wie rein sein Gewissen sein mag. Ich stand auf und trat zu dem Mann, der mein Näherkommen mit freudiger Erwartung zur Kenntnis nahm.

„Guten Abend, mein Freund“, begrüßte ich ihn leise und schüttelte ihm die Hand. Die ließ ich aber so rasch wieder fallen, wie es die Höflichkeit zuließ. Eilig trat ich ein paar Schritte zurück. Nun wollte ich nur noch zwei Dinge: eine Beruhigungstablette und ins Bett.

„Eins läßt sich ganz klar feststellen“, sagte ich zu Stan. „Er hat ein riesiges Loch im Kopf.“

Stan ließ einen skeptischen Blick über Re-Bars Schädel gleiten. „Erklär mir das“, sagte er.

„Wie geht's, Mr. Stan?“ fragte Re-Bar. Ich hätte wetten können, daß noch nie jemand so mit Stan geredet hatte, zumindest in den letzten fünfhundert Jahren nicht.

„Gut, Re-Bar, und wie geht es dir?“ Ich rechnete es Stan hoch an, daß er so ruhig und gelassen blieb.

„Mir geht es einfach wunderbar!“ erklärte Re-Bar, wobei er baß erstaunt den Kopf schüttelte. „Ich bin der glücklichste Hurensohn der Welt - entschuldigen Sie, meine Dame.“

„Aber sicher.“ Ich mußte mich zwingen, die Worte auszusprechen.

„Was hat man mit ihm gemacht?“ wollte Bill wissen.

„Man hat ihm ein Loch in den Schädel gebrannt“, erläuterte ich. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst beschreiben soll. Wie das gemacht wurde, kann ich nicht sagen, denn ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen. Aber als ich anfing, mir seine Erinnerungen anzusehen, stieß ich auf ein großes, ausgefranstes Loch. Als habe Re-Bar einen winzigen Tumor im Leibe gehabt und die Ärzte hätten nicht nur diesen Tumor entfernt, sondern auch gleich noch die Milz und vielleicht auch noch den Blinddarm, nur, um auf Nummer sicher zu gehen. So sieht es in Re-Bars Kopf aus. Ihr wißt doch, wie es ist, wenn ihr die Erinnerungen eines Menschen nehmt und durch ein paar andere ersetzt?“ Ich begleitete meine Worte mit einer entsprechenden Geste, um klarzustellen, daß mit 'ihr' alle Vampire gemeint waren. „Nun, jemand hat ein Stück aus Re-Bars Bewußtsein genommen und nicht ersetzt. Wie bei einer Lobotomie.“ Nun war ich in Fahrt. Ich lese viel, müssen Sie wissen. Die Schule war mir aufgrund meines kleinen Problems schwer gefallen, aber Bücherlesen ganz für mich allein hatte mir kleine Fluchten ermöglicht. Ich glaube, ich kann mich durchaus als Autodidaktin bezeichnen.

„Was immer Re-Bar also über Farrells Verschwinden gewußt haben mag, ist nun fort“, faßte Stan zusammen.

„]a - und dazu noch ein paar andere Komponenten, die Re-Bars Persönlichkeit ausmachten und viele andere Erinnerungen.“

„Ist er noch funktionsfähig?“

„Nun ja, ich schätze schon.“ So etwas war mir noch nie untergekommen; ich hatte nicht im entferntesten geahnt, daß man Menschen so etwas antun kann. „Aber ich weiß nicht, ob er in Zukunft noch in der Lage sein wird, einen effizienten Türsteher abzugeben“, fügte ich hinzu, denn ich wollte versuchen, so offen und ehrlich wie möglich zu sein.

„Der Mann wurde in unseren Diensten verwundet. Wir werden uns um ihn kümmern. Vielleicht kann er nach der Sperrstunde die Bar putzen“, sagte Stan. Ich hörte an seinem Tonfall, wie sehr er wollte, daß ich mitbekam, daß auch Vampire in der Lage sind, Mitgefühl zu zeigen oder sich zumindest fair zu verhalten.

„Das wäre prima!“ strahlte Re-Bar seinen Chef an. „Danke, Mr. Stan.“

„Bring ihn wieder nach Hause“, wies Stan seinen dienstbaren Geist an, woraufhin sich die Vampirin mit dem hirnamputierten Türsteher im Schlepptau auch gleich auf den Weg machte.

„Wer da wohl derart grobe Arbeit geleistet hat?“ murmelte Stan nachdenklich vor sich hin. Bill antwortete nicht. Er war nicht nach Dallas gekommen, um sich zu profilieren. Er sollte in erster Linie auf mich aufpassen und nur dann selbst detektivisch tätig werden, wenn es sich als notwendig erwies. Nun trat eine hochgewachsene rothaarige Vampirin ins Zimmer, die ich aus Bethanys Erinnerungen kannte. Sie war in der Nacht, in der Farrell entführt worden war, auch im Bat's Wing gewesen.

„Was ist Ihnen an dem Abend, an dem Farrell entschwand, aufgefallen?“ fragte ich sie ohne Umschweife und ohne großartig auf Protokoll zu achten. Daraufhin zischte sie mich an; ihre blendend weißen Zähne leuchteten vor dem Hintergrund der dunklen Zunge und der leuchtend rot bemalten Lippen.

„Kooperieren!“ befahl Stan, woraufhin das Gesicht der Vampirin sich glättete und jeglicher Ausdruck daraus verschwand, wie bei einer Tagesdecke, die man glattgestrichen hat, weswegen sie nun keine einzige Falte mehr zeigt.

„Ich erinnere mich an nichts“, sagte sie. Also war Bills Fähigkeit, sich auch an das allerkleinste Detail eines Ereignisses zu erinnern, ein ganz persönliches Talent. „Meines Wissens nach habe ich Farrell nicht länger als ein oder zwei Minuten gesehen.“

„Kannst du mit Rachel dasselbe machen wie mit der Kellnerin?“ wollte Stan wissen.

„Nein“, erwiderte ich wie aus der Pistole geschossen, wobei meine Stimme vielleicht etwas zu nachdrücklich klang. „Die Gedanken von Vampiren kann ich nicht lesen. Sind mir Bücher mit sieben Siegeln.“

Nun mischte Bill sich ein: „Kannst du dich an einen blonden - an einen von uns - erinnern? An einen, der aussieht wie sechzehn und der auf den Armen und dem Torso eine Tätowierung in einem uralten, blauen Muster trägt?“

„Klar“, erwiderte Rachel wie aus der Pistole geschossen. „Die Tätowierung stammt aus der Römerzeit, glaube ich. Etwas krude, aber durchaus interessant. Ich hatte mich schon gefragt, was es mit diesem Vampir auf sich haben mag, denn ich konnte mich nicht erinnern, daß er hier ins Haus gekommen wäre, um Stan um Jagderlaubnis zu bitten.“

Man erwartete also von Vampiren, die durch ein von anderen Vampiren bewohntes Revier reisten, daß sie sich im Besucherzentrum vorstellten und eintrugen. Das wollte ich mir merken; vielleicht würde ich später darauf zurückkommen können.

„Er war in Begleitung eines Menschen oder hat zumindest mit einem Menschen geredet.“ Die Frau trug Jeans und einen Pulli, der aussah, als müßte ihr eigentlich viel zu warm darin sein. Aber um die real herrschenden Temperaturen braucht sich ein Vampir keine Gedanken zu machen. Nun warf Rachel einen fragenden Blick zuerst zu Stan, dann zu Bill. Bill forderte sie mit einer Handbewegung auf, uns alles zu erzählen, was ihr noch im Gedächtnis geblieben war. „Der Mensch war dunkelhaarig und trug einen Schnurrbart, wenn ich mich recht erinnere“, erklärte die Frau mit einer Handbewegung, die besagte, daß für sie ein Mensch aussah wie jeder andere - wer kann die schon unterscheiden?

Nachdem Rachel weg war, erkundigte sich Bill, ob im Haus ein Computer vorhanden sei. Stan versicherte, das sei der Fall und wirkte interessiert, als Bill fragte, ob er diesen kurz benutzen dürfe und sich entschuldigte, weil er seinen Laptop nicht dabei hatte. Stan nickte, und Bill war schon fast aus dem Zimmer, als er an der Tür kurz zögerte und einen fragenden Blick auf mich warf. „Kannst du einen Moment lang allein bleiben, Sookie?“ fragte er besorgt.

„Klar!“ Ich bemühte mich, überzeugend zu klingen.

„Ihr wird nichts geschehen“, versicherte Stan. „Da sind noch mehr Leute, die sie sich anschauen soll.“

Ich nickte, und Bill ging. Ich lächelte Stan an, denn ich lächle nun einmal, wenn ich gestreßt bin. Es ist kein glückliches Lächeln, aber es ist besser als hysterisches Kreischen.

„Wie lange seid ihr jetzt zusammen?“ wollte Stan wissen.

„Ein paar Monate.“ Je weniger der Obervampir über uns wußte, desto glücklicher durfte ich mich schätzen.

„Du bist zufrieden mit ihm?“ „Ja.“

„Du liebst ihn?“ Stan klang belustigt.

„Das geht Sie nichts an“, stellte ich fest. „Hatten Sie nicht gesagt, es gäbe noch mehr Leute, die ich überprüfen soll?“

Ich führte die nächsten Befragungen ebenso durch wie die Bethanys. So hielt ich eine ganze Reihe Hände und durchforstete einen langweiligen Haufen Köpfe. Bethany hatte eindeutig am besten abgeschnitten, was Beobachtungsgabe betraf. Die anderen - noch eine Kellnerin, der Barkeeper (ein Mensch) und ein Stammgast (Fangbanger), der sich wahrhaftig freiwillig zum Verhör gemeldet hatte, boten nichts als lauter langweilige, nichtssagende Gedanken, und ihr Erinnerungsvermögen war arg begrenzt. Ich fand allerdings heraus, daß der Barkeeper nebenbei gestohlene Haushaltsgeräte verkaufte, und als der Mann gegangen war, riet ich Stan, sich jemand anderen hinter den Tresen zu stellen, weil er sonst unweigerlich in polizeiliche Ermittlungen hineingezogen würde. Das beeindruckte Stan mehr, als mir lieb war. Ich wollte gewiß nicht, daß er allzu großen Gefallen an meinen Dienstleistungen fand.

Bill kam zurück, als ich gerade ein paar abschließende Worte mit dem letzten zu Vernehmenden wechselte. Er wirkte ein ganz klein wenig erfreut, woraus ich schloß, daß seine Nachforschungen erfolgreich gewesen waren. Bill hatte in letzter Zeit einen Großteil seiner wachen Stunden am Computer verbracht, was bei mir nicht gerade auf begeisterte Zustimmung gestoßen war.

„Der tätowierte Vampir“, sagte Bill, als nur noch Stan und ich im Raum waren, „heißt Godric, auch wenn er im letzten Jahrhundert wohl eher unter dem Namen Godfrey geführt worden ist. Er ist einer von denen, die abgeschworen haben.“ Ich wußte ja nicht, wie es Stan ging: Ich zumindest war ziemlich beeindruckt. Ein paar Minuten am Computer, und Bill hatte ein sauberes Stück Detektivarbeit geleistet.

Stan verzog angewidert das Gesicht, und ich, glaube ich, schaute ziemlich verwirrt drein.

„Er hat sich mit ein paar ziemlich radikalen Menschen zusammengetan und will Selbstmord begehen“, erklärte Bill mit leiser Stimme, da Stan völlig in Gedanken versunken schweigend vor sich hinstarrte. „Godfrey hat vor, sich der Sonne zu stellen. Seine Existenz bereitet ihm keine Freude mehr.“

„Will er noch jemanden mit in den endgültigen Tod reißen?“ Hatte Godfrey vor, sich zusammen mit Farrell der Sonne auszusetzen?

„Er hat uns an die Bruderschaft verraten!“ sagte Stan.

Verrat ist ein Wort, das leicht melodramatisch klingt, aber ich dachte nicht im Traum daran, das Gesicht zu verziehen, als Stan sich nun seiner bediente. Von der Bruderschaft hatte ich gehört - auch wenn ich noch niemanden kennengelernt hatte, der von sich behauptete, ihr anzugehören. Was der Klan für Afroamerikaner war, war die Bruderschaft der Sonne für Vampire. Von allen Sekten in Amerika war die Bruderschaft diejenige mit der höchsten Wachstumsrate.

Wieder plagte mich das Gefühl, in Gewässer geraten zu sein, für die meine Schwimmkünste nicht ausreichten.