Kapitel 10

Bill rief mich in dieser Nacht nicht mehr an, und am nächsten Tag brach ich vor Sonnenuntergang zur Arbeit auf. Als ich nach Hause kam, um mich für die 'Party' umzuziehen, fand ich eine Mitteilung auf meinem Anrufbeantworter vor.

„Die Nachricht, die du hinterlassen hast, war sehr diskret, Sookie. Ich habe wirklich nicht genau verstanden, was bei dir los ist.“ Bills Stimme klang nicht so klar und ruhig wie sonst, sondern eher etwas unglücklich. Oder ungehalten? „Wenn du zu dieser Party gehst, dann bitte nicht allein. Ganz gleich, was du tust: Geh da nicht allein hin. Das ist es nicht wert. Nimm deinen Bruder mit, oder Sam.“

Ich hatte sogar einen Begleiter aufgetan, der noch stärker war als die zwei, die Bill vorgeschlagen hatte, war also der Bitte meines Liebsten schon nachgekommen, weswegen ich mir nun eigentlich folgsam und tugendhaft hätte vorkommen dürfen. Irgendwie glaubte ich aber nicht, daß es Bill beruhigen würde, Eric in dieser Nacht an meiner Seite zu wissen.

„Stan und Joseph lassen grüßen, Barry der Page auch.“

Ich lächelte. Nur mit meinem alten Baumwollbademantel bekleidet hockte ich im Schneidersitz auf meinem Bett, bürstete mein Haar und hörte die Nachrichten auf meiner Maschine ab.

„Ich habe Freitag nacht noch nicht vergessen“, sagte Bill nun mit einer Stimme, die mir Wonneschauer über den Rücken jagte. „Ich werde sie nie vergessen.“

„Was war denn Freitag nacht los?“ fragte Eric.

Zu Tode erschrocken stieß ich einen markerschütternden Schrei aus. Als ich sicher sein konnte, daß mein Herz sich wieder beruhigen und in der Brusthöhle verbleiben würde, wo es hingehörte, kletterte ich vom Bett, um mit geballten Fäusten vor Eric hinzutreten.

„Du bist wahrhaftig alt genug, um zu wissen, daß man nicht einfach unangemeldet in ein Haus kommt ohne zu klopfen und ohne eine Antwort abzuwarten! Wann habe ich dir überhaupt die Erlaubnis erteilt, hier hereinzukommen?“ Ohne ausdrückliche Einladung hätte Eric die Schwelle meines Hauses nicht überwinden können.

„Die Erlaubnis gabst du mir, als ich letzten Monat hier vorbeikam, um etwas mit Bill zu besprechen“, erklärte Eric, der sein Bestes tat, ein betretenes Gesicht zu machen. „Im übrigen habe ich durchaus auch geklopft. Du hast nicht geantwortet, aber ich hörte Stimmen. Also kam ich herein. Ich habe sogar deinen Namen gerufen.“

„Vielleicht hast Du meinen Namen ja geflüstert!“ entgegnete ich wütend. „Aber trotzdem hast du dich ganz schlecht benommen, und das weißt du genau!“

„Weißt du schon, was du anziehen willst?“ fragte Eric, um das Thema zu wechseln. „Was trägt ein nettes Mädel wie du bei einer Orgie?“

„Das weiß ich ja eben nicht“, sagte ich und vergaß ganz, wütend zu sein, als Eric mich nun wieder an mein Kleiderproblem erinnerte. „Ich bin ziemlich sicher, die erwarten, daß ich mich angemessen kleide, wie ein Mädel eben, das zu einer Orgie will - ich war nur noch nie auf einer. Ich habe keine Ahnung, wie man da aufläuft - auch wenn ich mir vorstellen kann, wie ich zum Schluß aussehen soll, wenn es nach denen geht.“

„Ich war schon auf Orgien“, erbot mir Eric seinen Rat.

„Warum wundert mich das nun gar nicht? Was hast du denn an?“

„Zu meiner letzten Orgie trug ich ein Tierfell, aber heute habe ich mich hiermit begnügt.“ Mit diesen Worten ließ Eric mit dramatischer Geste den Mantel fallen, den er getragen hatte. Sprachlos und offenen Mundes starrte ich ihn an. Eric ist ja eher der Typ für Jeans und T-Shirt, aber an diesem Abend trug er ein hautenges rosa Oberteil und Leggins aus Lycra. Wo er die wohl her hatte? Ich hatte gar nicht gewußt, daß Leggins aus Lycra in Männergröße XXL, extra lang, überhaupt hergestellt wurden. Die Leggins waren rosa und aquamarinblau, wie die Wellen, mit denen Jasons Pick-up bemalt war.

„Mann!“ sagte ich, denn etwas anderes fiel mir nicht ein. „Mann! Das sieht ja scharf aus.“ Wenn man einen großen in Lycra gehüllten Mann direkt vor sich stehen hat, bleibt nicht mehr viel der Fantasie überlassen. Mühsam widerstand ich der Versuchung, Eric zu bitten, sich kurz einmal umzudrehen.

„Ich dachte, als Tunte würde ich nie durchgehen“, erklärte Eric, „aber in dieser Aufmachung hier sende ich so viele verschiedene Signale, daß eigentlich alles drin ist.“ Dazu klimperte er kokett mit den Wimpern. Ganz offensichtlich genoß er die Sache sehr.

„Daran kann kein Zweifel bestehen“, versicherte ich, krampfhaft bemüht, irgendwo anders hinzusehen.

„Ich könnte deine Schubladen durchgehen und dir etwas Passendes heraussuchen“, schlug Eric vor. Er hatte meine oberste Kommodenschublade bereits aufgezogen, ehe ich ihn daran hindern konnte. „Nein danke!“ rief ich rasch. „Ich finde schon etwas.“ Aber außer Shorts und einem T-Shirt konnte ich dann letztlich nichts auftun, was einerseits nach Freizeitvergnügen, andererseits aber auch ausreichend sexy ausgesehen hätte. Da die Shorts jedoch noch aus meiner Mittelschulzeit stammten, umhüllten sie mich, wie Eric mir höchst poetisch verkündete, 'wie eine Raupe den Schmetterling'.

„Von wegen Schmetterling - ich sehe aus wie Daisy Duke“, grummelte ich, wobei ich mich fragte, ob ich nun wohl den Rest meines Lebens mit dem Spitzenmuster meines Bikinihöschens auf dem Po eingebrannt würde herumlaufen müssen. Ich trug einen stahlblauen BH, passend zum Slip, und ein weißes Oberteil mit geradem Ausschnitt. Der Ausschnitt war so tief, daß er einen großzügigen Blick auf die Spitze des BH erlaubte. Es war einer von denen, die ich mir als Ersatz für die zerrissenen angeschafft hatte. Bill hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen, also hoffte ich sehr, daß dem guten Stück nichts passieren würde. Ich war immer noch zufriedenstellend braungebrannt; mein Haar trug ich offen.

Eric und ich standen Seite an Seite vor dem Spiegel und betrachteten uns. „Hey, wir haben ja dieselbe Haarfarbe!“ rief ich erstaunt.

„Womit du recht hast, Lieblingsfreundin!“ Eric grinste. „Aber bist du denn auch am ganzen Körper blond?“

„Das würdest du wohl gern wissen, was?“

„Ja“, stellte er schlicht und einfach fest.

„Du wirst es aber nie erfahren.“

„Ich bin es“, sagte er. „Ich bin überall blond.“

„Das weiß ich - das sieht man an deinem Brusthaar.“

Daraufhin hob Eric meinen rechten Arm, um einen Blick auf meine Achselhöhle zu werfen. „Ihr dummen Frauen! Warum nur rasiert ihr euch nur!“ Enttäuscht ließ er den Arm wieder fallen.

Eigentlich wollte ich darauf etwas erwidern und hatte den Mund auch schon geöffnet. Dann wurde mir klar, daß das unweigerlich zu einem Desaster führen würde. So bemerkte ich statt dessen lediglich: „Wir müssen los.“ „Nimmst du kein Parfüm?“ Eric roch an den Flaschen, die meine Frisierkommode zierten. „Nimm doch bitte das hier!“ Er warf mir ein Fläschchen zu, und ohne nachzudenken fing ich es auf. Erics Brauen zuckten. „Miß Sookie, Sie haben aber mehr Vampirblut in sich, als ich dachte!“

„Obsession!“ sagte ich nach einem Blick auf die Flasche. „Warum eigentlich nicht?“ Sorgfältig darauf bedacht, nicht auf Erics letzte Bemerkung einzugehen, tupfte ich mir ein wenig Obsession zwischen die Brüste und in die Kniekehlen. So war für alle Körperteile gesorgt, dachte ich mir.

„Sag an, Sookie: was steht für heute auf dem Plan?“ fragte Eric, der mein Tun aufmerksam verfolgt hatte.

„Wir machen das folgendermaßen: Wir gehen jetzt auf diese dämliche kleine sogenannte Sexparty und beteiligen uns an dem, worum es dort eigentlich geht, herzlich wenig, während ich die Köpfe aller Anwesenden nach Informationen absuche.“

„Informationen worüber?“

„Über den Mord an Lafayette Reynold, den Koch im Merlottes.“

„Warum tun wir das?“

„Weil ich Lafayette gern hatte und um Andy Bellefleur von dem Verdacht zu befreien, er hätte Lafayette umgebracht.“

„Weiß Bill, daß du versuchst, einen Bellefleur zu retten?“

„Warum willst Du das wissen?“

„Du weißt doch, daß Bill die Bellefleurs haßt“, sagte Eric, als sei dieser Umstand in ganz Louisiana bestens bekannt.

„Das wußte ich nicht“, sagte ich. „Nein, das wußte ich ganz und gar nicht.“ Ich sank in den Sessel neben meinem Bett, die Augen unverwandt auf Erics Gesicht gerichtet. „Warum haßt er sie?“

„Das mußt du Bill schon selbst fragen. Ist das dein einziger Grund, auf diese Party zu gehen? Du nimmst das nicht etwa ganz schlau als Ausrede, um ein wenig mit mir herummachen zu dürfen?“

„So schlau bin ich gar nicht.“

„Weißt du, ich glaube, da machst du dir ganz schön etwas vor“, widersprach Eric mit strahlendem Lächeln.

Ich erinnerte mich daran, daß dieser Vampir, wollte man Bills Worten glauben schenken, nun meine Stimmungen wahrnehmen konnte. Wieviel er wohl von mir wußte - vielleicht sogar Dinge, die ich noch nicht einmal selbst ahnte?

„Hör zu, Eric ...“, setzte ich an, während wir aus dem Haus und über die Veranda gingen. Dann mußte ich erst einmal stehenbleiben, um in meinem Kopf nach den passenden Worten zu kramen.

Eric wartete. Der Himmel war am Abend bewölkt gewesen; die Bäume schienen mein Haus dichter zu umstehen als sonst. Ich wußte, der Abend kam mir nur deswegen so drückend vor, weil ich dabei war, zu einer Veranstaltung aufzubrechen, die mir persönlich zutiefst zuwider war. Ich würde Dinge über andere Menschen erfahren, die ich bisher nicht gewußt hatte, die ich eigentlich auch gar nicht wissen wollte. Auch schien es töricht, mich nun gezielt auf die Suche nach genau den Informationen zu begeben, die auszublenden ich mein Leben lang geübt hatte. Aus irgendeinem Grund jedoch verspürte ich Andy Bellefleur gegenüber so etwas wie Bürgerpflicht. Mir war, als sei es meine Verantwortung, die Wahrheit herauszufinden. Portia gegenüber empfand ich mittlerweile so etwas wie Respekt; immerhin war sie bereit gewesen, sich einer widerwärtigen Sache zu unterziehen, um ihrem Bruder zu helfen. Mir war zwar nach wie vor unklar, wie Portia Bill gegenüber echten Widerwillen empfinden konnte, aber wenn Bill sagte, die Frau fürchte sich vor ihm, dann war das bestimmt auch der Fall. Der bevorstehende Abend, der Gedanke daran, Einblicke in das wahre, so sorgsam getarnte Wesen von Menschen zu erhalten, die ich mein Leben lang gekannt hatte. Das war für mich ebenso furchterregend, wie Bill es für Andys Schwester war.

„Du sorgst dafür, daß mir nichts widerfährt, ja?“ bat ich Eric ganz direkt. „Ich habe nicht vor, mit einem dieser Leute da intim zu werden. Ich glaube, ich habe Angst, daß etwas passieren könnte, daß jemand zu weit geht. Ich bin nicht bereit, mit einem dieser Leute zu schlafen - selbst dann nicht, wenn das der Preis dafür wäre, daß Lafayettes Tod gerächt werden kann.“ Das war nämlich, auch wenn ich es bis zu diesem Augenblick nicht einmal mir selbst gegenüber hatte eingestehen mögen, in Wahrheit meine Befürchtung: daß irgendein Knoten sich unversehens lösen, mein Sicherheitsnetz versagen, ich selbst Opfer werden könnte. Mir war in meiner Kindheit etwas widerfahren; etwas, das ich weder hatte kontrollieren noch verhindern können; etwas unglaublich Übles. Fast wäre ich lieber gestorben, als noch einmal einem derartigen Mißbrauch ausgeliefert zu sein. Das war auch der Grund, warum ich mich so heftig gegen Gabe gewehrt hatte und so erleichtert gewesen war, als Godfrey ihn umbrachte.

„Du vertraust mir also?“ Eric klang erstaunt.

„Ja.“

„Das ... das ist meschugge, Sookie!“

„Nein.“ Woher ich diese Sicherheit nahm, wußte ich selbst nicht zu sagen, aber sie war da. Ich zog mir den hüftlangen Pulli über, den ich mit nach draußen gebracht hatte.

Nachdenklich schüttelte Eric das blonde Haupt, zog den Trenchcoat fester um sich und öffnete mir die Beifahrertür seiner roten Corvette. Zumindest würde ich todschick bei der Orgie vorfahren.

Ich erklärte Eric, wie er zum Lake Mimosa fahren sollte. Dann informierte ich ihn, soweit ich das konnte, über die Hintergründe der Ereignisse, die zu meiner Mission an diesem Abend geführt hatten, während wir die schmale zweispurige Landstraße entlang fuhren besser gesagt: flogen. Eric steuerte sein Auto mit Schwung, Elan und der Furchtlosigkeit eines Wesens, das weiß, daß es nicht so leicht totzukriegen ist.

„Bitte denk daran, daß ich sterblich bin“, bat ich, nachdem wir eine Kurve mit einer solchen Geschwindigkeit genommen hatten, daß ich wünschte, meine Fingernägel wären lang genug, um darauf herumkauen zu können.

„Daran denke ich oft“, sagte Eric, den Blick unverwandt auf die vor ihm liegende Straße gerichtet.

Ich wußte nicht, was ich von dieser Bemerkung halten sollte, deshalb ließ ich meine Gedanken lieber zu anderen Dingen schweifen, angenehmen, entspannenden Dingen. Bills Whirlpool. Der hübsche Scheck, den ich von Eric bekommen würde, sobald die Zahlung der Vampire von Dallas auf seinem Konto einging. Die Tatsache, daß Jason nun schon mehrere Monate hintereinander mit derselben Frau ging, was heißen mochte, daß es ihm ernst war mit ihr - was ebenso gut aber auch heißen mochte, daß er alle anderen verfügbaren Frauen in Renard Parish schon durch hatte und noch dazu ein paar, die eigentlich so verfügbar gar nicht hätten sein dürfen. Ich dachte daran, daß dies eine wunderbar kühle Nacht war und daß ich in einem wundervollen Auto saß.

„Du bist glücklich“, sagte Eric.

„Ja“, erwiderte ich, „das stimmt.“

„Dir wird nichts passieren.“

„Danke. Ich weiß.“

Ich wies auf ein kleines Schild mit der Aufschrift FOWLER, das eine Zufahrt markierte, die man hinter einer Hecke aus Berglorbeer und Hartriegel leicht hätte übersehen können. Wir bogen in eine kurze Auffahrt, in deren Kies sich eine ausgefahrene Spurrille eingegraben hatte. Rechts und links der Auffahrt standen Bäume. Der Weg führte steil bergab; Eric runzelte ein paarmal die Stirn, als die Corvette langsam über die tiefen Schlaglöcher rumpelte. Unten auf der ebenen Fläche, auf der auch die Hütte stand, konnten wir sehen, daß der Abhang, den wir heruntergekommen waren, so steil war, daß sich das Dach der Hütte ungefähr auf derselben Höhe befand wie die Straße, die um den See herumführte. Auf dem Stück festgestampfter Erde direkt vor der Hütte standen vier Wagen. Die Fenster des Hauses waren offen, um die angenehme Abendkühle einzulassen, aber die Jalousien hatte man geschlossen. Ich hörte Stimmen, die bis zu uns herausdrangen, konnte jedoch keine einzelnen Worte verstehen. Plötzlich empfand ich ganz tief in mir den starken Wunsch, Jan Fowlers Strandhaus nicht betreten zu müssen.

„Könnte ich nicht auch bisexuell sein?“ fragte Eric. Die Vorstellung schien ihm nichts auszumachen; wenn überhaupt, wirkte er eher belustigt. Einander gegenüber standen wir nun neben Erics Wagen, wobei ich die Hände in den Taschen meines Pullis vergraben hatte.

„Warum nicht?“ Ich zuckte die Achseln. Es war egal - die Sache war ohnehin nur Show. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr. Jemand beobachtete uns durch die Lamellen einer Jalousie, die nicht vollständig heruntergelassen war. „Wir werden beobachtet.“

„Dann werde ich jetzt mal ein wenig nett zu dir sein.“

Eric beugte sich zu mir und drückte mir, ohne mich dabei allerdings in die Arme zu schließen, einen Kuß auf die Lippen. Da er mich nicht festhielt, fühlte ich mich dabei relativ entspannt. Daß ich an diesem Abend andere Personen als Bill zumindest würde küssen müssen, hatte ich ja gewußt. Also gab ich mir einen Schubs und küßte so, daß es nach außen hin einen überzeugenden Eindruck machte.

Unter Umständen bin ich ja ein Naturtalent - und habe noch dazu durch einen großartigen Lehrer hervorragende Förderung erfahren. Bill jedenfalls fand mich eine wunderbare Küsserin, und als Eric nun die Lippen auf meinen Mund legte, wollte ich auf einmal, daß Bill stolz auf mich sein konnte.

Damit hatte ich dann vollen Erfolg - wenn man nach dem gehen konnte, was sich in Erics Lycra-Leggins abzeichnete.

„Bist Du bereit? Können wir?“ Ich tat mein Bestes, die Augen auf einen Punkt zu halten, der oberhalb von Erics Brust lag.

„Eigentlich nicht“, seufzte Eric. „Aber ich nehme an, wir müssen wohl. Zumindest sehe ich jetzt so aus, als sei ich in Stimmung.“

Ich spürte, wie sich meine Mundwinkel zu einem fröhlichen Lächeln verzogen, als Eric und ich Seite an Seite das holprige Gelände überquerten, das uns vom Haus trennte. Eigentlich war es durchaus beunruhigend, daß ich Eric nun bereits zum zweiten Mal geküßt und dabei mehr Vergnügen empfunden hatte, als ich eigentlich hätte empfinden dürfen! Aber nun erklommen wir erst einmal die Stufen zu einer großen hölzernen Veranda, auf der verstreut die üblichen Klappstühle aus Aluminium und ein riesiger Gasgrill standen. Die Fliegentür quietschte, als Eric sie aufzog. Leise klopfte ich an die eigentliche Tür. „Wer ist denn da?“ wollte Jan wissen.

„Sookie. Mit einem Freund“, antwortete ich.

„Prima! Kommt doch rein“, rief Jan.

Ich öffnete die Tür und mußte feststellen, daß sämtliche Gesichter im Zimmer auf uns gerichtet waren. Alle Anwesenden lächelten, um uns willkommen zu heißen, aber das kollektive Lächeln wandelte sich rasch in erstaunte Blicke, als Eric nun hinter mir sichtbar wurde.

Der große Vampir trat an meine Seite, den Mantel gefaltet über dem Arm, und fast hätte ich laut losprusten müssen, so unterschiedlich reagierten die Partygäste auf seinen Anblick. Nach etwa einer Minute, nachdem alle den Schock überwunden hatten, in meinem Begleiter einen Vampir erkennen zu müssen, flatterten die Blicke aufmerksam an der langen Gestalt hoch und runter und nahmen das gesamte sich bietende Panaroma begierig zur Kenntnis.

„Hey Sookie, stell uns deinen Freund doch vor!“ Jan, mehrfach geschieden und in den Dreißigern, trug etwas, das aussah wie ein Spitzenhöschen. Sie hatte ihre Haare mit Strähnchen aufhellen und von einem Profi zerzausen lassen; ihr Make-up wäre für einen Bühnenauftritt vielleicht passend gewesen - in einer Hütte am Mimosa Lake war der Eindruck, den sie machte, ein wenig übertrieben. Aber Jan war die Gastgeberin und wohl der Meinung, bei ihrer eigenen Orgie dürfe sie sich bemalen, wie es ihr paßte. Ich schälte mich aus dem Pulli und überstand tapfer die peinlichen ersten Momente, in denen ich ebenso gründlich gemustert wurde wie vor mir Eric.

„Darf ich euch Eric vorstellen?“ sagte ich munter. „Ich hoffe, ihr habt nichts dagegen, daß ich einen Freund mitgebracht habe?“

„Im Gegenteil. Je mehr, desto besser“, erklärte Jan, womit es ihr in diesem Fall sicher ernst war. Ihr Blick schaffte es einfach nicht bis hinauf zu Erics Augen. „Was darf ich dir zu trinken bringen, Eric?“ wollte sie wissen.

„Blut?“ fragte Eric hoffnungsvoll.

„Jawohl, ich glaube, wir haben noch ein paar Fläschchen O hier!“ Jan konnte nach wie vor nichts anderes ansehen als Lycra. „Manchmal ... tun wir nämlich so als ob.“ Dabei zog sie bedeutungsvoll die Brauen in die Höhe und warf Eric einen irgendwie lüsternen Seitenblick zu.

„So zu tun als ob braucht ihr ja jetzt nicht mehr“, erwiderte Eric, wobei er Jan nicht einen einzigen anzüglichen Blick schuldig blieb. Er begleitete unsere Gastgeberin zum Kühlschrank. Auf dem Weg dorthin schaffte er es, Eggs Schulter zu tätscheln, und das Gesicht meines alten Freundes erhellte sich freudig.

Oh! Nun, es war mir ja bewußt gewesen, daß ich das eine oder andere erfahren würde, was mir bisher verborgen geblieben war. Tara, die neben Eggs saß, schmollte, die Brauen über den dunklen Augen finster zusammengezogen. Tara trug eine schreiend rote Kombination aus Höschen und BH, die sie gut kleidete. Sie hatte sich Fuß- und Fingernägel in derselben Farbe lackiert; auch ihr Lippenstift paßte farblich zum ganzen Ensemble. Sie war vorbereitet hierher gekommen. Unsere Blicke kreuzten sich kurz; dann sah Tara rasch weg. Man brauchte keine Gedankenleserin zu sein, um mitzubekommen, daß sie sich schämte.

Mike Spencer und Cleo Hardaway hielten die ziemlich schäbige Couch belegt, die an der linken Seitenwand der Hütte lehnte. Die ganze Hütte - eigentlich ein einziger großer Raum mit einem Spülbecken und einem Herd an der rechten Wand und einem ummauerten Badezimmer in der hintersten Ecke - war mit ausrangierten Möbeln ausgestattet, denn hier in den Sommerhäusern endeten nun einmal all die Möbel von Bon Temps, die niemand mehr haben wollte. Wahrscheinlich verfügte aber keine andere Hütte am See über einen derart dicken Teppich und so viele wie zufällig hingeworfene, überall herumliegende weiche Kissen, über derart solide, in heruntergelassenem Zustand undurchdringliche Jalousien vor allen Fenstern. Auch lagen wohl nur hier im Haus alle möglichen ekligen Spielzeuge für Erwachsene auf dem Teppich verstreut. Bei den meisten dieser Spielsachen war mir völlig schleierhaft, wozu sie wohl dienen mochten.

Egal - ich hatte mir ein fröhliches Lächeln auf die Lippen geheftet und umarmte nun Cleo, die ich auch sonst immer umarmte, wenn ich ihr über den Weg lief. Zugegebenermaßen war sie als Leiterin der Cafeteria unserer High School in der Regel züchtiger bekleidet, aber immerhin trug sie ein Höschen, was mehr war, als man von Mike Spencer behaupten konnte. Der hatte nämlich gar nichts an.

Mir war schon klargewesen, daß dieser Abend schrecklich werden würde, aber auf manche Dinge kann man sich wohl einfach nicht im voraus seelisch einstellen. Auf Cleos riesigen milchschokoladefarbenen Brüsten schimmerte irgendein Öl; Mikes Geschlechtsteile schimmerten ebenfalls. Wie das zusammenhing, darüber wollte ich gar nicht erst nachdenken.

Mike versuchte, nach meiner Hand zu greifen - wahrscheinlich sollte ich ihm mit dem Öl behilflich sein -, aber es gelang mir, rasch davonzugleiten und mich zu Tara und Eggs zu gesellen.

„Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, daß du kommen würdest!“ sagte Tara. Sie lächelte genauso wie ich, aber ein glückliches Lächeln war es nicht. Genaugenommen wirkte sie, wenn man richtig hinsah, verdammt unglücklich. Vielleicht hatte das etwas damit zu tun, daß Tom Hardaway vor ihr kniete und die Innenseiten ihrer Schenkel abknutschte, vielleicht aber auch mit Eggs' offensichtlichem Interesse an Eric. Ich versuchte, Taras Blick aufzufangen, wobei mir leicht übel war.

Gerade einmal fünf Minuten war ich nun in dieser Hütte, aber ich hätte wetten können, daß dies die längsten fünf Minuten meines Lebens gewesen waren.

„Macht ihr das hier öfter?“ wollte ich von Tara wissen, was eigentlich eine absurde Frage war. Eggs machte sich am Hosenknopf meiner Shorts zu schaffen, ließ dabei aber Eric, der am Kühlschrank lehnte und mit Jan plauderte, keine Sekunde lang aus den Augen. Ich roch, daß Eggs wieder einmal zu viel getrunken hatte. Seine Augen wirkten glasig, sein Kinn schlaff. „Dein Freund ist ja riesig!“ bemerkte er, was so klang, als laufe ihm das Wasser im Munde zusammen. Was ja auch durchaus der Fall sein mochte.

,Viel größer als Lafayette!“ flüsterte ich, woraufhin Eggs zusammenfuhr und mich anschaute. „Ich habe mir gedacht“, fuhr ich fort, „er ist hier sicher höchst willkommen.“

„Aber ja doch!“ sagte Eggs, der sich entschieden hatte, auf meine Bemerkung über Lafayette gar nicht einzugehen. „Ja ... Eric ist groß ... sehr groß. Wie schön, ein wenig Vielfalt um sich zu wissen.“

„So bunt wie hier geht es in Bon Temps ja nirgendwo zu“, sagte ich, wobei ich mir große Mühe gab, diese Worte nicht überheblich klingen zu lassen. Tapfer ertrug ich Eggs' unermüdlichen Kampf mit meinem Knopf. Die ganze Sache war ein Riesenfehler gewesen! Eggs hatte nur Erics Arsch im Kopf. Mit Ausnahme von ein paar anderen Dingen, die aber allesamt auch Eric betrafen.

Wenn man vom Teufel spricht! Eric hatte sich vom Kühlschrank gelöst, war hinter mich getreten und legte mir den Arm um die Schulter, um mich aus der Reichweite von Eggs' ungeschickten Fingern zu befördern. Ich schmiegte mich in seine Arme, wirklich aus ganzem Herzen froh, ihn bei mir zu wissen. Von Eric, so hatte ich gerade erkannt, erwartete ich ohnehin, daß er sich danebenbenahm. Etwas anderes ist es, Leuten, die man sein ganzes Leben lang gekannt hat, dabei zuzusehen, wie sie sich danebenbenehmen. Das ist - anders kann man es einfach nicht sagen - höchst ekelhaft. Ich war nicht mehr sicher, ob ich wirklich dauerhaft würde verhindern können, daß man mir meine Gefühle auch ansah. Also kuschelte ich mich noch ein wenig enger an Eric, und als der einen glücklichen Laut von sich gab, drehte ich mich in seinen Armen so, daß ich ihn ansehen konnte. Dabei schlang ich ihm die Arme um den Hals und blickte zu ihm auf. Eric ging sofort auf mein Spiel ein, mehr als zufrieden mit dem Vorschlag, den meine Geste beinhaltete. Nun, da niemand anders mir mehr ins Gesicht sehen konnte, ließ ich meinen Geist frei schweifen. Erics Zunge hatte sich gerade zwischen meine Lippen geschoben, als ich mich geistig öffnete, was dazu führte, daß mein Kopf wirklich ganz offen und ungeschützt alles aufnehmen konnte, was die anderen dachten. Unter den Anwesenden befanden sich ein paar hervorragende 'Sender'. Bald fühlte ich mich nicht mehr wie ich selbst, sondern wie eine Pipeline für die schier überwältigenden Bedürfnisse anderer Menschen.

Den Geschmack von Eggs' Gedanken vermeinte ich förmlich auf der Zunge zu spüren. Eggs erinnerte sich an Lafayette, an einen dünnen braunen Leib, geschickte Finger, aufreizend geschminkte Augen.

Er erinnerte sich an eine flüsternde Stimme, die unglaubliche Dinge vorschlug. Dann jedoch wurden diese für Eggs sehr glücklichen Erinnerungen überlagert und erstickt von anderen, unangenehmeren, von Bildern, auf denen Lafayette wild und schrill protestierte ...

„Sookie“, murmelte Eric in mein Ohr, so leise, daß außer mir wohl kein anderer im Zimmer in der Lage war, ihn zu verstehen. „Ganz ruhig. Ich gebe dir ja Deckung.“

Ich zwang mich, Erics Hals zu streicheln. Dabei mußte ich feststellen, daß irgend jemand hinter Eric getreten war, sich sozusagen von hinten an ihn heranschmiß.

Dann streckte Jan die Hände um den Vampir herum, um kräftig meine Pobacken zu kneten. Da sie mich berührte, kamen ihre Gedanken absolut klar und deutlich bei mir an; Jan war eine außergewöhnlich starke 'Senderin', in ihrem Kopf konnte ich blättern wie in einem Buch, aber es stand dort nichts, was mich auch nur im geringsten interessiert hätte. Sie dachte ausschließlich an Erics Körper in all seinen einzelnen Bestandteilen und machte sich zudem ein wenig Sorgen darüber, daß sie Cleos Brüste so anziehend fand. Für mich war nichts dabei, was ich hätte verwerten können.

Ich tastete in eine andere Richtung, bohrte mich in den Kopf Mike Spencers. Dort fand ich das widerwärtige Durcheinander, mit dem ich schon gerechnet hatte: Er dachte, während er Cleos Brüste wie zwei Kugeln in den Händen rollte, an anderes Fleisch, das ebenfalls braun gewesen war, braun und schlaff und leblos. Bei diesem Gedanken richtete sich Mikes eigenes Fleisch steil auf. In seiner Erinnerung sah ich Jan, die auf der mockigen Couch eingeschlafen war, hörte Lafayette protestieren, wenn sie nicht sofort aufhörten, ihm wehzutun, würde er alles erzählen, würde er weitersagen, was er getan hatte und mit wem. Dann sah ich Mikes Faust herabsausen, sah Tom Hardaway auf einer schmalen dunklen Brust knien ...

Ich mußte unbedingt raus aus dieser Hütte! Ich ertrug es nicht, hier zu sein, hätte auch dann nicht bleiben können, wenn es mir nicht gerade eben gelungen wäre, alles zu erfahren, was ich hatte erfahren wollen. Auch Portia, da war ich sicher, hätte diese Orgie unmöglich bis zum bitteren Ende durchstehen können. Ich sah wirklich nicht, wie, und Portia hätte länger bleiben müssen als ich, um überhaupt irgend etwas herauszubekommen, denn sie verfügte ja nicht über die 'Gabe', die mir zu eigen war.

Ich spürte Jans Hand auf meinem Hintern. Diese Orgie war die freudloseste Angelegenheit, die ich je erlebt hatte. Der Sex war hier entfremdet, ohne eine Verbindung zu Kopf und Herz, ohne Liebe, ohne Zuneigung - ja sogar, ohne daß man die jeweiligen Partner überhaupt leiden mochte.

Laut meiner Freundin Arlene mit ihren vier verflossenen Gatten hatten Männer mit solchem Sex keinerlei Probleme. Ein paar Frauen anscheinend ebensowenig.

„Ich muß hier raus!“ flüsterte ich in Erics Mund, leise, aber wohl wissend, daß er mich würde hören können.

„Achte auf mich, spiel mit“, gab er zurück, so leise, daß ich das Gefühl bekam, seine Stimme erklänge direkt in meinem Kopf.

Dann hob er mich einfach hoch und warf mich über seine Schulter. Mein Haar hing so tief herab, daß es fast bis zur Mitte seiner Schenkel reichte.

„Wir gehen mal ein bißchen raus!“ verkündete Eric an Jan gewandt. Dann hörte ich ein schmatzendes Geräusch; er hatte sich wohl mit einem Kuß von der Frau verabschiedet.

„Darf ich mitkommen?“ hauchte unsere Gastgeberin mit einer rauhen Stimme, die wohl an Marlene Dietrich erinnern sollte. Ich konnte von Glück sagen, daß mein Gesicht für niemanden zu sehen war!

„Vielleicht läßt du uns lieber erst ein wenig allein. Sookie ist noch ein bißchen schüchtern“, erwiderte Eric, dessen Stimme süß und so vielversprechend klang wie ein Rieseneisbecher mit einer funkelnagelneuen Eissorte.

„Heiz sie gut an, laß sie richtig warmlaufen!“ erklang Mike Spencers gedämpfte Stimme. „Wir alle wollen unsere Sookie so richtig in Wallung sehen.“

„Ich mach sie euch ordentlich heiß“, versprach Eric.

„Heiße Sache“, sagte Tom Hardaway noch immer zwischen Taras Schenkeln.

Dann waren wir - gepriesen sei Eric! - draußen vor der Tür, und er legte mich auf die Kühlerhaube des Corvette. Er selbst lag auf mir, wobei jedoch ein Großteil seines Gewichts auf seinen Händen ruhte, mit denen er sich zu beiden Seiten meiner Schultern ebenfalls auf der Kühlerhaube des Wagens abstützte.

Er sah auf mich herab, die Miene so solide verrammelt und festgezurrt wie das Oberdeck eines Schiffes in Erwartung eines Sturms. Erics Fänge waren ausgefahren, die Augen hatte er weit aufgerissen. Ich konnte das Weiß dieser Augen auch in der Finsternis genau erkennen, denn es war wirklich sehr weiß. Das Blau jedoch hätte ich nicht sehen können, selbst wenn mir danach zumute gewesen wäre.

Aber mir war nicht danach zumute. „Das war ...“, hob ich an, kam aber vorerst nicht dazu, weiterzureden, weil ich nach Luft schnappen mußte. „Du kannst mich ruhig prüde nennen“, versuchte ich es dann aufs neue, „daraus könnte ich Dir noch nicht einmal einen Vorwurf machen, denn immerhin war die Sache allein meine Idee. Verstehst du überhaupt, warum ich da rauswollte? Das ist doch einfach schrecklich! Gefällt Männern so etwas wirklich? Oder Frauen, wenn wir schon dabei sind? Macht es Spaß, mit jemandem Sex zu haben, den man noch nicht einmal leiden mag?“

„Magst du mich denn leiden, Sookie?“ fragte Eric. Er ruhte jetzt schwerer auf mir und bewegte sich dazu noch ein wenig.

Nein! „Eric - vergiß nicht, warum wir hier sind.“

„Die beobachten uns.“

„Selbst wenn, erinnerst du dich, warum wir hier sind?“

„Ja, ich erinnere mich.“

„Das heißt, daß wir jetzt gehen müssen.“

„Hast du denn irgendwelche Beweise? Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?“

„Ich habe nicht mehr Beweise als zu Beginn des Abends, jedenfalls keine, die sich vor Gericht verwenden ließen“. Ich zwang mich, die Arme um Erics Brustkorb zu schlingen. „Aber ich weiß, wer es getan hat: Mike, Tom und vielleicht auch noch Cleo.“

„Interessant!“ Eric klang nicht die Spur ernsthaft. Dafür schoß seine Zunge in mein Ohr. Das habe ich zufällig besonders gern - ich spürte, wie mein Atem schneller ging. Vielleicht war ich gegen Sex ohne Liebe doch nicht so immun, wie ich gedacht hatte. Aber ich hatte Eric ja auch gern - wenn ich mich nicht gerade vor ihm fürchtete.

„Mir ist das einfach nur zuwider!“ sagte ich, nachdem ich gedanklich zu einem endgültigen Schluß gekommen war. „Ich will nichts damit zu tun haben.“ Ich wollte Eric von mir schubsen, hatte aber natürlich keinen Erfolg. „Eric, hör mir jetzt mal gut zu! Ich habe für Lafayette und Andy getan, was in meiner Macht stand, auch wenn das wenig genug war. Andy wird bei dem ansetzen müssen, was ich herausgefunden habe, selbst wenn es nur Bruchstücke sind, die ich aufschnappen konnte. Andy ist Polizist. Er wird Beweise finden können, die sich vor Gericht verwenden lassen. Noch einen Schritt weiter zu gehen, dafür bin ich nicht selbstlos genug.“

„Sookie!“ Ich glaube, Eric hatte kein einziges Wort gehört, das ich gesagt hatte. „Gib doch ganz einfach nach.“

Na ja, zumindest war er direkt.

„Nein!“ erklärte ich so entschieden, wie es mir überhaupt möglich war. „Nein!“

„Ich schütze dich schon vor Bill.“

„Du wirst derjenige sein, der Schutz braucht!“ Kaum war mir wirklich klargeworden, was ich da von mir gegeben hatte, als ich mich auch schon dafür schämte.

„Meinst du denn, Bill ist stärker als ich?“

„Ich weigere mich, diese Unterhaltung auch nur im Ansatz zu führen!“ Aber dann führte ich sie doch. „Eric, ich weiß wirklich zu schätzen, daß du mir deine Hilfe angeboten hast, und ich weiß es zu schätzen, daß du willens warst, mit mir an einen solch abscheulichen Ort zu kommen.“

„Glaub mir, Sookie, diese miese kleine Anhäufung von Abschaum ist wahrlich nichts im Vergleich zu ein paar anderen Orten, an denen ich bereits gewesen bin.“

Das nahm ich ihm voll und ganz ab. „Das mag für dich gelten; für mich ist es hier grauenhaft. Ich hätte mir ja denken können, daß unser gemeinsames Unternehmen dazu beitragen könnte, deine Erwartungen ... zu steigern, aber du weißt ganz genau, daß ich heute abend wirklich nicht hierher gekommen bin, um mit jemandem zu schlafen! Ich bin mit Bill zusammen, er ist mein Freund!“ Genau das war er auch, zumindest in meiner Welt hatte mein Vampir diese Funktion für mich - auch wenn das Wort 'Freund', im selben Atemzug mit dem Namen Bill genannt, unter Umständen ein wenig nichtsagend und lächerlich klang.

„Wie ich mich freue, das zu hören“, erklang eine kühle, vertraute Stimme. „Bei dem Anblick hier hätte ich auch auf ganz andere Gedanken kommen können.“

Na Klasse!

Eric erhob sich. Ich kletterte von der Kühlerhaube und stolperte in die Richtung, aus der Bills Stimme gekommen war.

„Sookie!“ begrüßte er mich aus der Entfernung. „Es kommt noch so weit, daß ich dich allein nirgendwo mehr hingehen lassen kann.“

Sehr froh über meinen Anblick schien Bill nicht zu sein, soweit ich das in dem schlechten Licht vor der Hütte beurteilen konnte. Ich konnte ihm wahrlich keinen Vorwurf daraus machen. „Ach Bill, ich habe einen riesigen Fehler begangen, das ist mir schon klar!“ verkündete ich aus tiefstem Herzen und schloß ihn in die Arme.

„Du riechst nach Eric“, murmelte Bill, den Mund auf meinem Haar. Ständig fand er, daß ich nach anderen Männern roch! Trübsal und Beschämung senkten sich auf mein Gemüt, und ich spürte deutlich, daß gleich etwas geschehen würde.

Aber das, was dann geschah, war nicht das, was ich erwartet hatte.

Aus dem Gebüsch trat Andy Bellefleur und trug eine Pistole in der Hand. Seine Kleidung wirkte schmutzig und zerrissen, die Pistole riesig.

„Sookie, weg von dem Vampir“, befahl er.

„Nein!“ Statt Andy zu gehorchen, schlang ich meinen ganzen Körper um Bill - wer von uns wen beschützen sollte, hätte ich dabei nicht sagen können. Aber wenn Andy wollte, daß wir uns trennten, dann wollte ich ganz bestimmt, daß wir zusammenblieben.

Von der Veranda der Hütte her erklangen plötzlich Stimmen. Anscheinend hatte wirklich jemand aus dem Fenster geschaut - und dabei hatte ich Eric im Geist unterstellt, sich das nur ausgedacht zu haben. Hier auf der Lichtung hatte keiner von uns die Stimme erhoben, und doch hatte unser kleiner Showdown eindeutig die Aufmerksamkeit der liederlichen Nachtschwärmer im Haus erregt. Drinnen war die Orgie weitergegangen, auch nachdem Eric und ich uns entfernt hatten. Tom war mittlerweile splitterfasernackt - Jan ebenfalls. Eggs Tallie wirkte noch betrunkener als zuvor.

„Du riechst nach Eric!“ wiederholte Bill zischend.

Da ließ ich ihn stehen und trat zurück. Andy und seine Pistole hatte ich völlig vergessen, denn mir riß gerade der Geduldsfaden.

Das passierte mir zwar nicht allzuoft, aber auch nicht mehr so selten, wie es mir früher passiert war. Ich muß gestehen, es war irgendwie berauschend. „Ja, und nach wem riechst du? Ich kann das doch nicht feststellen! Vielleicht hast du ja mit sechs Frauen geschlafen - ich kriege so was ja nicht einmal mit! Das ist doch unfair, oder nicht?“

Verdattert starrte Bill mich mit offenem Mund an. Eric, der hinter mir stand, begann zu lachen. Die Menge auf der Veranda schien fasziniert, verhielt sich aber ruhig. Andy fand es nicht richtig, daß wir den Mann mit der Knarre einfach so ignorierten.

„Alle zusammen! Eine Gruppe bilden“, bellte er. Andy hatte wirklich viel getrunken.

Eric zuckte die Achseln. „Hatten Sie je mit Vampiren zu tun, Bellefleur?“ fragte er.

„Nein“, sagte Andy. „Aber ich kann Sie erschießen. Ich habe Silberkugeln.“

„Das ist ...“, setzte ich an, aber Bill legte mir die Hand auf den Mund. Letztlich sind Silberkugeln nämlich nur für Werwölfe tödlich, aber auch Vampire reagierten heftig auf das Edelmetall, und ein Vampir, den eine solche Kugel an einer empfindlichen Stelle traf, hatte auf jeden Fall ziemlich zu leiden.

Eric zog eine Braue hoch und gesellte sich ganz gemächlich zu den Orgiasten auf der Veranda. Bill nahm meine Hand; gemeinsam taten wir es Eric nach. Diesmal hätte ich zu gern gewußt, was Bill gerade durch den Kopf ging. „Wer von euch war es, oder wart ihr es alle zusammen?“ kläffte Andy.

Keiner von uns sagte einen Ton. Ich stand neben Tara, die in ihrer roten Unterwäsche heftig zitterte. Tara hatte Angst, was mich nicht weiter wunderte. Ob es wohl irgend etwas nützen würde, wenn ich Andys Gedanken kannte? Ich konzentrierte mich ausschließlich auf seinen Kopf; leider jedoch sind die Gedanken Betrunkener nie sehr gut zu lesen, wovon ich ein Lied singen kann. In der Regel denken solche Leute nur über wirklich bescheuerte Sachen nach, und die Vorstellungen und Ideen, die ihnen dabei durch den Kopf gehen, sind in der Regel reichlich abstrus. Auch ihr Erinnerungsvermögen kann man nicht gerade als verläßlich bezeichnen. Andy bewegten im Moment ohnehin nicht viele Gedanken. Er hatte alle hier auf der Lichtung Anwesenden gründlich satt, einschließlich seiner eigenen Person, und war wild entschlossen, aus irgend jemandem hier die Wahrheit herauszubekommen, ganz gleich, wie.

„Komm her, Sookie!“ befahl er mir nun.

„Kommt nicht in Frage“, entgegnete Bill entschieden.

„Noch dreißig Sekunden, dann steht Sookie hier neben mir, oder ich erschieße sie!“ Andy richtete die Pistole direkt auf mich.

„Dann lebst du aber auch nicht mehr länger als dreißig Sekunden“, sagte Bill, was ich ihm voll und ganz abnahm. Offenbar ging es Andy ähnlich.

„Mir egal!“ sagte Andy. „Kein großer Verlust für die Menschheit, wenn Sookie tot ist.“

Der Spruch brachte mich total auf die Palme. Dabei hatte ich mich gerade erst wieder beruhigt - aber nein, schon ging ich erneut in die Luft.

Ich entriß Bill meine Hand und stürmte im Sauseschritt die wenigen Treppenstufen der Veranda hinab. So wütend, daß ich die Pistole vergessen hätte, war ich allerdings nicht, auch wenn mir primär danach war, Andy bei den Eiern zu packen und einmal kräftig zuzudrücken. Erschießen würde er mich dann zwar immer noch, aber wenigstens unter Schmerzen. Eigentlich jedoch war das, was ich da vorhatte, ebenso von vornherein zum Scheitern verurteilt wie alles, was man in trunkenem Zustand tut. Wäre der kurze Moment das wert?

„Sookie, du liest jetzt die Gedanken von den Leuten da und sagst mir, wer Lafayette umgebracht hat.“ Andy packte mich mit seinen großen Händen im Nacken, als sei ich ein schlecht erzogenes Hündchen, und drehte mich so, daß ich der Schar auf der Veranda gegenüberstand.

„Was meinst du denn? Was tue ich hier wohl, du Volltrottel? Meinst du ernsthaft, ich verbringe meine Freizeit gern mit Arschlöchern wie denen da?“

Andy schüttelte mich, aber ich war sehr stark, und die Chancen, daß ich es schaffen würde, mich loszureißen und ihm die Pistole zu entwinden, standen nicht schlecht, waren aber auch nicht hundertprozentig; nicht so eindeutig, daß ich mich für eine solche Tat wirklich mutig genug gefühlt hätte. Ich beschloß also, noch eine Minute zu warten. Bill war bemüht, mir mit den Augen eine Botschaft zu übermitteln, aber ich war mir nicht sicher, was er mir sagen wollte. Eric versuchte verstohlen, ein wenig an Tara herumzufummeln - oder an Eggs; so genau konnte ich das nicht sehen.

Vom Waldrand her hörte man einen Hund winseln. Ich verdrehte die Augen in diese Richtung, da es mir unmöglich war, den Kopf zu wenden. Na toll! Ganz prima!

„Der Collie gehört mir“, sagte ich zu Andy. „Du erinnerst dich doch an Dean?“ Wie gut hätte ich Hilfe in Menschengestalt brauchen können, doch da Sam nun als Collie am Ort der Handlung erschienen war, mußte er wohl auch Hund bleiben, wollte er nicht riskieren, als Gestaltwandler entlarvt zu werden.

„Was hat denn dein Hund hier zu suchen?“

„Das ist mir schleierhaft. Aber erschieß ihn bitte nicht, ja?“

„Ich würde doch keinen Hund erschießen!“ Andy klang richtig schockiert.

„Aber mich zu erschießen, das fändest du okay!“ entfuhr es mir bitter.

Der Collie kam zu uns herübergetrottet, und ich fragte mich, was wohl gerade in Sams Kopf vorgehen mochte. Wie viel menschliches Denkvermögen blieb meinem Chef, wenn er in seine Lieblingsgestalt schlüpfte? Ich deutete mit den Augen auf Andys Pistole, und die Augen Sams/Deans folgten meinem Blick, aber ob - und wieviel - Verstehen in diesen Augen lag, das konnte ich einfach nicht einschätzen.

Der Collie knurrte, bleckte die Zähne und funkelte die Pistole wütend an.

„Zurück!“ befahl Andy verärgert.

Wenn ich dafür sorgen konnte, daß Andy einen Moment lang wirklich stillhielt, dann würden die Vampire ihn sich schnappen können. Ich versuchte, mir alle diesbezüglich notwendigen Schritte im Kopf zurechtzulegen: Ich würde mit beiden Händen die Pistole ergreifen und nach oben reißen - aber solange mich Andy mit ausgestreckten Armen so weit von seinem Körper entfernt am Nacken gepackt hielt, würde das nicht einfach sein.

„Nein, Liebling!“ sagte Bill.

Meine Augen huschten zu ihm hinüber; was ich dort sah, erstaunte mich sehr: Bills Blick glitt von meinem Gesicht und richtete sich auf irgend etwas, was hinter Andy aufgetaucht sein mußte. Der Wink war nicht mißzuverstehen.

„Oh, wer wird denn da geschüttelt wie ein Hündchen?“ erklang dann auch dicht hinter Andy eine Stimme.

Einsame Spitze, wirklich einsame Spitze!

„Meine Botin!“ Die Mänade schlenderte in weitem Bogen um Andy herum und stand nun rechts vor ihm, ein paar Meter von ihm entfernt, aber so, daß sie sich nicht direkt zwischen dem Polizisten und der Gruppe auf der Veranda befand. Sie war zur Abwechslung sauber und nackt. Vielleicht hatten Sam und sie ja irgendwo in der Nähe im Wald rumgemacht und mitbekommen, daß bei der Hütte irgend etwas los war. Das schwarze Haar fiel der Mänade in einer verfilzten Woge bis zu den Hüften. Zu frieren schien sie nicht; wir anderen dagegen (mit Ausnahme der Vampire) spürten empfindlich die Kälte der Nachtluft. Wir waren für eine Orgie angezogen - nicht für eine Freiluftveranstaltung.

„Grüß dich, Botin“, sagte die Mänade. „Letztes Mal habe ich vergessen, mich vorzustellen. Mein Hundefreund hat das bemängelt. Ich heiße Kallisto.“

„Miß Kallisto!“ gab ich höflich zurück, denn ich wußte nicht, welche Anrede ich sonst hätte wählen sollen. Hätte Andy nicht meinen Hals umklammert gehalten, dann hätte ich ihr auch zugenickt. Andys Griff fing an, mir ziemlich wehzutun.

„Wer ist der tapfere Held, der dich da umklammert hält?“ Kallisto trat etwas näher.

Ich wußte nicht, wie Andy im Moment aussah, aber die Leute auf der Veranda wirkten mit Ausnahme Bills und Erics alle zu Tode erschrocken und völlig fasziniert zugleich. Die beiden Vampire schufen langsam, aber sicher Abstand zwischen sich und den Menschen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.

„Das ist Andy Bellefleur“, krächzte ich auf die Frage der Mänade. „Andy hat ein Problem.“

Mit einem Schlag überzog eine Gänsehaut meinen Körper; da wußte ich, daß die Mänade unauffällig ein wenig näher getreten war.

„So etwas wie mich hast du noch nie gesehen, oder?“ wollte sie von Andy wissen.

„Nein“, mußte Andy verwirrt zugeben.

„Bin ich schön?“

„Ja“, sagte er ohne zu zögern.

„Verdiene ich, daß man mir Tribut zollt?“

„Ja“, sagte Andy.

„Ich liebe Trunkenheit, und du bist sehr betrunken!“ verkündete Kallisto selig. „Ich liebe die Freuden des Fleisches, und diese Menschen hier sind voller Lust. Hier bin ich genau richtig.“

„Wie schön“, bemerkte Andy etwas verunsichert. „Aber einer dieser Menschen ist ein Mörder, und ich muß erfahren, wer es ist.“ „Nicht nur einer“, murmelte ich, was Andy daran erinnerte, daß ich ja immer noch unten an seinen Arm baumelte. Er schüttelte mich etwas. Allmählich hing mir das wirklich zum Hals heraus.

Die Mänade war mittlerweile so nahe an mich herangetreten, daß sie mich berühren konnte. Sanft streichelte sie mein Gesicht; ihre Finger rochen nach Erde und Wein.

„Du bist nicht trunken“, bemerkte sie.

„Nein, Ma'am.“

„Du hast auch die Freuden des Fleisches heute abend noch nicht genossen.“

„Ach, was nicht ist, kann ja noch werden“, gab ich zurück.

Sie lachte. Ein hohes, helles Lachen. Sie lachte und lachte und lachte und schien gar nicht mehr aufhören zu wollen.

Andy lockerte seinen Griff, da ihn die Nähe der Mänade immer stärker verunsicherte. Ich weiß nicht, wofür die Menschen auf der Veranda sie hielten. Andy jedenfalls wußte, daß er eine Kreatur der Nacht vor sich hatte. Ziemlich abrupt ließ er mich los.

„He, neues Mädchen“, rief Mike Spencer der Mänade zu. „Komm rauf hier, laß dich anschauen!“

Ich kauerte als Häufchen Elend neben Dean, der mir begeistert das Gesicht leckte. Von dieser Warte aus sah ich, wie die Mänade Andy den Arm um die Taille legte. Andy nahm die Pistole in die linke Hand, um das Kompliment erwidern zu können.

„Was begehrtest du denn zu wissen?“ fragte die Mänade, wobei ihre Stimme ruhig und vernünftig klang. Müßig wedelte sie mit ihrem unheimlichen Stab, an dessen Ende das lange Büschel hing. Ein Thyros war das; ich hatte Mänade im Lexikon nachgeschlagen. Nun konnte ich wenigstens gebildet sterben.

„Einer dieser Leute hat einen Mann namens Lafayette umgebracht, und ich möchte wissen, wer es gewesen ist!“ sagte Andy streitsüchtig, wie nur Betrunkene reden können.

„Natürlich möchtest du das wissen, mein Liebling“, gurrte die Mänade. „Soll ich es für dich herausfinden?“

„Bitte!“ bettelte er.

„Also gut.“ Die Mänade ließ einen prüfenden Blick über die Menschen auf der Veranda gleiten, woraufhin sie mit gekrümmtem Zeigefinger Eggs herbeiwinkte. Tara versuchte, sich an den Arm ihres Verlobten zu klammern, denn sie wollte ihn nicht fortlassen, aber er riß sich los und stolperte, die ganze Zeit über beide Backen grinsend, hinüber zur Mänade.

„Bis du ein Mädchen?“ fragte Eggs.

„Keineswegs“, sagte Kallisto. „Du hast aber viel Wein getrunken!“ Daraufhin berührte sie Eggs mit ihrem Thyros.

„Aber ja doch!“ stimmte er ihr zu. Dann lächelte er nicht mehr. Er sah Kallisto tief in die Augen und zitterte wie Espenlaub. Seine Augen glänzten. Ich sah zu Bill hinüber und stellte fest, daß er den Blick auf den Boden gerichtet hielt. Eric betrachtete angelegentlich die Kühlerhaube seines Wagens. Da niemand sich um mich zu scheren schien, kroch ich langsam zu Bill hinüber.

Oh weh! Ein schöner Schlamassel!

Dean trottete neben mir und stupste mich immer wieder besorgt mit der Schnauze an. Ich spürte, er hätte es lieber gesehen, wenn ich mich rascher bewegt hätte. Nun war ich bei Bills Beinen angekommen, die ich mit den Händen packte. Ich spürte die Hand meines Liebsten auf meinem Haar. Aufzustehen und mich neben ihn zu stellen hätte sehr viel Bewegung bedeutet; davor scheute ich noch zurück.

Kallisto schlang die Arme um Eggs und flüsterte ihm etwas zu. Er nickte und flüsterte ebenfalls. Dann küßte sie ihn, woraufhin er erstarrte. Als sie ihn verließ, um hinüber zur Veranda zu gleiten, stand Eggs stocksteif und reglos da und starrte in den Wald.

Dann trat die Mänade zu Eric, der näher bei der Veranda stand als wir. Sie betrachtete ihn von Kopf bis Fuß und lächelte erneut dieses furchterregende Lächeln. Eric fixierte ihre Brust und achtete darauf, Kallisto nicht in die Augen zu sehen. „Hübsch“, sagte sie, „sehr hübsch. Aber nichts für mich, du blendend schönes totes Stück Fleisch.“

Endlich stand die Erscheinung mitten unter den Menschen auf der Veranda, holte tief Luft und sog die Ausdünstungen von Sex und Alkohol ein. Sie schnüffelte ein wenig, als würde sie eine Spur aufnehmen; dann wandte sie sich abrupt um und starrte Mike Spencer direkt ins Gesicht. Dessen wirklich nicht mehr jugendlichem Körper erging es in der kühlen Nachtluft schlecht, aber Kallisto schien hoch erfreut bei seinem Anblick.

„Oh“, sagte sie glücklich, als hätte sie gerade ein Geschenk erhalten, „wie stolz du bist! Bist du ein König? Ein großer Krieger? Ein tapferer Kämpfer?“

„Nein“, erwiderte Mike Spencer. „Ich leite ein Bestattungsunternehmen.“ Aber ganz sicher schien er sich seiner Sache nicht zu sein. „Was sind denn Sie, meine Dame?“

„Hast du so etwas wie mich je zuvor gesehen?“

„Nein“, sagte Mike, und auch alle anderen schüttelten den Kopf.

„Du erinnerst dich nicht an meinen ersten Besuch?“

„Nein, Madam.“

„Aber du hast mir damals ein Opfer gebracht!“

„Habe ich das? Ein Opfer?“

„Aber ja, als du den kleinen schwarzen Mann umbrachtest. Den hübschen. Er war eines meiner minderen Kinder und von daher ein angemessener Tribut für mich. Ich danke dir auch dafür, daß du ihn dort abgeladen hast, wohin die Menschen zum Trinken kommen. Bars sind mir eine besondere Freude. Hast du mich denn in den Wäldern nicht finden können?“

„Lady, wir haben Ihnen kein Opfer dargebracht!“ warf Tom Hardaway ein. Sein dunkler Körper war von einer Gänsehaut überzogen; sein Penis hing ganz schlaff herunter.

„Ich habe euch doch aber gesehen“, sagte die Mänade.

Da war es plötzlich ganz still. Der Wald um den See herum, der immer voller kleiner Geräusche und Bewegungen ist, verstummte. Ich richtete mich vorsichtig auf und stand nun neben Bill.

„Ich liebe ausschweifenden Sex, ich liebe den Geruch von Wein!“ verkündete die Mänade verträumt. „Aus großer Entfernung kann ich herbeikommen, um am Ende dabeizusein.“

Aus allen menschlichen Köpfen dort auf der Veranda troff die Angst, sammelte sich in meinem Kopf, drohte ihn zu sprengen. Ich verbarg mein Gesicht in den Händen. Ich ließ das stärkste Visier herab, das ich erschaffen konnte, aber ich vermochte es kaum, all die Angst, all die Panik abzuwehren. Mein Rücken bog sich. Ich biß mir auf die Zunge, um zu verhindern, daß ich ein Geräusch von mir gab. Ich spürte, wie Bill sich zu mir umwandte, und dann stand Eric an Bills Seite, und die beiden nahmen mich ganz fest zwischen sich. Steht man unter solchen Umständen eingequetscht zwischen zwei Vampiren, dann ist daran nichts Erotisches. Daß die beiden ganz stark wünschten, ich möge mich still verhalten, mehrte meine Ängste nur noch. Was gab es denn, wovor Vampire sich fürchteten? Der Hund drängte sich an unsere Beine, als wolle er seinen Schutz anbieten.

„Du hast ihn beim Sex geschlagen“, sagte die Mänade zu Tom. „Du hast ihn geschlagen, denn du bist stolz, und seine Unterwürfigkeit hat dich angeekelt und erregt.“ Kallisto streckte die knochige Hand aus, um Tom Hardaways dunkles Gesicht zu streicheln. Ich sah das Weiße in Toms Augen. „Du“, Kallistos andere Hand tätschelte Mike, „hast ihn auch geschlagen, denn dich hatte der Wahnsinn gepackt. Dann hat er gedroht, alles zu erzählen.“ Kallistos Hand wanderte zu Cleos Brust. Die hatte sich eine Strickweste übergeworfen, ehe sie das Haus verlassen hatte, aber diese war nicht zugeknöpft.

Tara fing an, sich vorsichtig zurückzuziehen, da sie bisher jeder Aufmerksamkeit entgangen war. Sie war die einzige, die nicht vor Angst wie gelähmt schien. Ich spürte den winzigen Funken Hoffnung in ihr, die Sehnsucht zu überleben. Tara kroch unter den schmiedeeisernen Tisch auf der Terrasse, rollte sich zu einem kleinen Ball zusammen und schloß panisch die Augen. Sie machte Gott viele Versprechungen bezüglich ihres zukünftigen Verhaltens, wenn er sie hier herausholte. Auch diese Gedanken flossen in meinen Kopf. Die Angst der anderen erreichte einen Höhepunkt, und ich spürte, wie mein Körper in Zuckungen verfiel. Alle hier sendeten panisch, vehement, drangen mit ihren Botschaften durch all meine Barrieren. Von mir selbst war nichts mehr übrig. Ich bestand nur noch aus Angst. Bill und Eric verschränkten die Arme, um zu verhindern, daß ich umfiel. Unbeweglich und aufrecht stand ich zwischen den beiden.

Der nackten Jan schenkte die Mänade keine Beachtung. Ich kann nur annehmen, daß Jan einfach nichts an sich hatte, was diese Kreatur anzog; Jan war nicht stolz, im Gegenteil, sie war eine Jammergestalt; noch dazu hatte sie nicht getrunken. Sie ergab sich dem Sex nicht, um sich darin zu verlieren; bei ihr diente er dazu, andere Bedürfnisse zu befriedigen - Bedürfnisse, die nichts mit der Sehnsucht zu tun hatten, Körper und Geist einen Moment lang verlassen, sich einem wunderbaren Wahnsinn anheim geben zu dürfen. Wie immer versuchte Jan, sich zum Mittelpunkt der Gruppe zu machen, und griff mit einem Lächeln, das sie wohl als Flirt verstanden haben wollte, nach der Hand der Mänade, woraufhin sie sofort wild zu zucken begann. Die Geräusche, die ihr dabei ganz hinten aus der Kehle drangen, waren grauenhaft. Sie hatte Schaum vor dem Mund; ihre Augen verdrehten sich, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Stöhnend brach sie auf der Veranda zusammen, und ich hörte, wie sie mit den Hacken auf den Holzboden eintrommelte.

Danach herrschte erneut Stille. Aber irgend etwas braute sich nur wenige Meter von uns entfernt zusammen, in der kleinen Gruppe dort auf der Veranda. Etwas Schreckliches und gleichzeitig Nobles, etwas Reines und gleichzeitig Grauenhaftes. Die Furcht in den Köpfen legte sich; mein Körper wurde ruhig. Der Druck in meinem eigenen Kopf ließ nach. Aber noch während er abklang, baute sich eine neue Kraft auf, und diese Kraft war unglaublich schön und durch und durch böse.

Es war reiner Wahnsinn, Wahnsinn, der ohne Denken auskam. Die Mänade verströmte den Wahnsinn von Berserkern, die reine Lust am Plündern, Hybris, Stolz. Ich ging darin unter, als der Wahnsinn die Menschen auf der Veranda überwältigte. Zuckend schlug ich um mich, als die Wellen des Wahnsinns von Kallisto ausgehend über die anderen hinwegschwemmten, in ihre Hirne drangen. Nur Erics Hand auf meinem Mund verhinderte, daß ich schrie, wie Mike und die anderen schrien. Ich biß Eric in die Hand, schmeckte sein Blut, hörte, wie er vor Schmerz aufstöhnte.

Das Schreien wollte und wollte kein Ende nehmen, und plötzlich hörte ich noch dazu ganz schreckliche, irgendwie nasse Geräusche. Der Hund, der sich gegen unsere Beine drückte, winselte.

Dann plötzlich war alles vorbei.

Ich fühlte mich wie eine Marionette, die man hat tanzen lassen, um ihr dann urplötzlich die Fäden zu durchschneiden. Schlaff sackte ich in mich zusammen; Eric legte mich erneut auf der Kühlerhaube seines Wagens ab. Als ich die Augen öffnete, sah die Mänade auf mich herab, nun wieder lächelnd und von oben bis unten blutverschmiert. Es sah aus, als hätte ihr jemand einen Eimer rote Farbe über den Kopf gekippt; ihr Haar war völlig blutgetränkt, jeder einzelne Millimeter ihres nackten Leibes ebenfalls. Sie verströmte einen Kupfergeruch, der mir die Haare zu Berge stehen ließ.

„Du warst nah dran“, sagte sie zu mir, und ihre Stimme klang so süß und so hoch wie eine Flöte. Sie bewegte sich vorsichtig, so, als hätte sie gerade eine riesige Mahlzeit verzehrt und sich dabei ein wenig übernommen. „Ganz nah dran. So nah, wie du vielleicht nie wieder kommen wirst. Vielleicht aber doch - ich habe noch nie erleben dürfen, wie jemand durch den Wahnsinn anderer ebenfalls wahnsinnig wurde. Unterhaltsam - ein neues Konzept!“

„Für Sie mag das unterhaltsam sein“, keuchte ich empört, woraufhin der Hund mich in die Wade zwickte, um mich zur Besinnung zu bringen. Kallisto sah auf ihn herab.

„Mein lieber Sam“, murmelte sie. „Liebling, ich muß dich nun verlassen.“

Der Hund richtete die intelligenten Augen auf ihr Gesicht.

„Wir hatten ein paar gute Nächte miteinander, wir beide, hier in den Wäldern“, sagte sie und streichelte seinen Kopf. „Wie schön wir zusammen gejagt haben. Kleine Kaninchen, kleine Waschbären ...“

Der Hund wedelte mit dem Schwanz.

„... und andere Sachen haben wir auch gemacht.“

Der Hund grinste und hechelte.

„Aber nun ist es Zeit für mich zu gehen. Die Welt ist voller Wälder und voller Menschen, die ihre Lektion lernen müssen. Man schuldet mir Tribut, der Tribut muß gezollt werden! Sie dürfen mich nicht vergessen. Man schuldet ihn mir“, sagte sie in ihrem gesättigten Tonfall. „Man schuldet mir Raserei und Tod!“ Mit diesen Worten glitt sie auf den Waldrand zu.

Über die Schulter gewandt rief sie uns noch einen letzten Abschiedsgruß zu: „Es kann nicht immer Jagdsaison sein!“

Dann war sie verschwunden.