Kapitel 12

Debbie. Das war Debbie gewesen, dachte ich. Nachdem ich meine anfängliche Panikattacke überwunden hatte, die länger dauerte, als ich zugeben mochte, versuchte ich, die letzten Sekunden vor meinem Sturz noch einmal genau zu rekonstruieren. Ich hatte Ansätze von Hirnströmen aufgeschnappt, genug, um mich wissen zu lassen, daß es sich bei meinem Angreifer um einen Wandler gehandelt hatte. Daraus schloß ich, daß Alcides Verflossene - seine nicht mehr ganz so verflossene, wenn sie sich in seiner Tiefgarage herumtrieb! - mich eingesperrt hatte.

Ob sie hier auf meine Rückkehr gewartet hatte? Um zu sehen, ob ich zu Alcide zurückkehren würde? Oder war sie irgendwo im Wahnrausch der Vollmondnacht mit ihrem Ex-Geliebten zusammengetroffen? Debbie war äußerst wütend darüber gewesen, Alcide in meiner Begleitung anzutreffen - viel wütender, als ich für möglich gehalten hätte. Entweder liebte sie den Werwolf, oder sie war extrem besitzergreifend veranlagt.

Nicht, daß Debbies Motive in diesem Augenblick wirklich eine Rolle gespielt hätten! Meine Sorge galt dem Sauerstoff. Zum ersten Mal in meiner Bekanntschaft mit Bill hatte ich das deutliche Gefühl, mich glücklich preisen zu dürfen, weil mein Liebster nicht atmete.

Ich achtete streng darauf, selbst ganz flach und gleichmäßig Luft zu holen und untersagte mir, panisch nach Luft zu schnappen und wild um mich zu schlagen. Statt dessen zwang ich mich dazu, mir meine Situation in allen Einzelheiten auszumalen und alle Eventualitäten durchzuspielen. Gut, ich war um ungefähr dreizehn Uhr im Kofferraum gelandet war. Bill würde gegen siebzehn Uhr erwachen, wenn es dunkel wurde. Er war sehr erschöpft, also konnte es sein, daß er länger schlief, aber spätestens um achtzehn Uhr dreißig würde er wach sein. Das stand fest. Sobald er wach war, würde er uns aus dem Kofferraum befreien können. Oder? Konnte es sein, daß er zu schwach dazu war? Immerhin war er schwerverletzt, und seine Wunden würden eine Weile brauchen, um zu heilen, auch wenn er Vampir war. Ehe er sich wieder ganz auf der Höhe würde fühlen können, brauchte er viel Blut und Ruhe, Bill hatte eine Woche lang keinen Tropfen Blut zu sich genommen. Kaum war ich in meinen Überlegungen so weit gekommen, da wurde mir auch schon kalt bis ins Mark.

Sehr kalt.

Bill würde hungrig sein. Wirklich, wirklich hungrig. Zum Verrücktwerden hungrig.

Direkt neben ihm lag ich - ein Schnellimbiß sozusagen.

Ob er merken würde, wer ich war? Würde er das wissen? Würde er es rechtzeitig mitbekommen, so daß er sich noch bremsen konnte?

Mehr als diese generellen Überlegungen schmerzte die Vorstellung, es könne ihm am Ende gleichgültig sein; ihm sei womöglich gar nicht mehr genug an mir gelegen, so daß es ihn zum Aufhören bewegen würde, wenn er mich erkannte. Vielleicht saugte, lutschte und schluckte er ja einfach nur, bis ich ganz ausgeblutet war, ohne sich um mich zu scheren. Er hatte eine Affäre mit Lorena gehabt und zugesehen, wie ich die Frau vor seinen Augen umgebracht hatte. Zugegeben, sie hatte ihn verraten und gefoltert, das hätte seine Leidenschaft theoretisch auf der Stelle auslöschen müssen. Aber sind nicht eigentlich alle Beziehungen irgendwie verrückt?

„Ach Scheiße!" Selbst meiner Großmutter wäre an dieser Stelle kein anderer Spruch eingefallen.

Ruhe bewahren! Ich mußte darauf achten, so flach und langsam zu atmen wie möglich, so wenig Luft zu verbrauchen wie irgend denkbar. Erst einmal mußte ich Bills Körper und meinen eigenen umarrangieren, um es zumindest ein wenig bequemer zu haben. Was war ich froh, im größten Kofferraum zu liegen, den ich je gesehen hatte; nur so war ein Manövrieren mit zwei Körpern überhaupt realisierbar. Bill lag schlaff da - kein Wunder, er war ja schließlich tot. So konnte ich ihn herumschubsen, wie ich wollte, ohne irgendwelche Konsequenzen fürchten zu müssen. Da es in unserem Gefängnis sehr kalt war, versuchte ich außerdem, Bill teilweise aus der Decke zu wickeln, um mir diese dann mit ihm teilen zu können.

Nicht nur kalt war es hinten im Lincoln, es war noch dazu sehr dunkel. Ich würde den Entwicklern dieses Fahrzeugs einen Brief schreiben und ihnen mitteilen können, daß ich jederzeit bereit war, die Lichtundurchlässigkeit des Kofferraums ihres Produktes zu bezeugen - wenn Lichtundurchlässigkeit denn überhaupt das richtige Wort dafür war. Vorausgesetzt, ich käme hier heil und lebend wieder raus. Ich ertastete die beiden Flaschen Blut, die Eric uns bereitgelegt hatte - ob Bill sich damit zufriedengeben würde?

So gingen mir viele Gedanken durch den Kopf, und plötzlich erinnerte ich mich auch an einen Artikel, den ich einmal im Wartezimmer meines Zahnarztes in einem Nachrichtenmagazin entdeckt hatte. In dem Artikel war von einer Frau berichtet worden, die man entführt und in den Kofferraum ihres Autos gesperrt hatte. Seitdem war diese Frau überall im Land unterwegs und führte eine Kampagne, durch die die Autoindustrie überzeugt werden sollte, in allen Fahrzeugen innerhalb der Kofferräume Hebel zu installieren, damit Gefangene sich notfalls selbst befreien konnten. Ich fragte mich, ob es der Frau wohl gelungen war, die Hersteller des Lincoln von ihrem Anliegen zu überzeugen und tastete jeden Winkel des Kofferraums ab, an den ich aus meiner Position heraus herankam. Bald trafen meine Finger auf etwas, was durchaus einmal ein solcher Hebel hätte gewesen sein können. Ich hatte eine Stelle entdeckt, an der mehrere Drähte in den Kofferraum hineinragten. Falls sich jedoch an diesen Drähten irgendwann einmal auch ein Hebel befunden haben sollte, so hatte man diesen sorgsam abgeknipst.

Ich versuchte, an den Drähten zu ziehen; ich versuchte, sie nach rechts und nach links zu verdrehen - leider vergeblich. Verdammt, das war doch einfach nur ungerecht! Inzwischen wurde ich im Kofferraum fast verrückt - die Mittel zur Flucht waren vorhanden, direkt neben mir, und ich konnte mich ihrer nicht bedienen. Wieder und wieder fuhr ich mit den Fingerspitzen über die Drähte, aber es wollte sich einfach kein Erfolg einstellen.

Irgend jemand hatte den Mechanismus erfolgreich außer Kraft gesetzt.

Ich zerbrach mir den Kopf darüber, wer das wohl getan haben könnte und warum. Ich schäme mich zuzugeben, daß ich mich unter anderem fragte, ob Eric gewußt hatte, daß ich letztlich in diesen Kofferraum eingesperrt werden würde und ob dies seine Art war, mir zu sagen: „Das hast du nun davon! Warum ziehst du Bill auch vor?" Aber so ganz mochte ich diese Theorie nicht glauben; Eric war in Punkto Moral zweifellos unterbelichtet, aber dennoch mochte ich nicht glauben, daß er mir so etwas antun würde. Immerhin hatte er sein erklärtes Ziel, mich zu besitzen - netter konnte ich es mir selbst gegenüber nicht ausdrücken - auch jetzt nicht erreicht.

Da ich ja nichts weiter zu tun hatte als nachzudenken - eine Tätigkeit, die noch dazu, soweit ich das wußte, keinerlei zusätzlichen Sauerstoff verbrauchte -, machte ich mir so meine Gedanken über den eigentlichen Besitzer des Lincoln. Offenbar, so kam es mir in den Sinn, hatte Erics Freund ihm ein Auto gezeigt, der sich leicht stehlen ließ. Ein Auto, dessen Besitzer noch spät in der Nacht unterwegs gewesen war, dessen Eigentümer sich ein schickes Fahrzeug leisten konnte, ein Wagen, in dessen Kofferraum ich weißes Pulver, Plastiktütchen und Zigarettenpapier gefunden hatte.

Um diesen Lincoln hatte Eric einen Dealer erleichtert, da wäre ich jede Wette eingegangen. Warum dieser Drogenhändler es für nötig befunden hatte, den Hebel an der Innenseite des Kofferraums außer Kraft zu setzen, darüber mochte ich lieber nicht allzu genau nachdenken.

Mach doch mal halblang, dachte ich an das Schicksal als solches gewandt. Gib mir doch mal eine Chance!(Wie leicht es mir fiel zu vergessen, wie viele Chancen ich im Laufe dieses einen Tages bereits bekommen hatte!) Ohne die letzte, die endgültige, die rettende Chance, die mir aus dem Kofferraum heraushelfen würde, ehe Bill erwachte, würde alles, was ich an diesem Tag an Positivem erlebt hatte, nicht wirklich zählen.

Da es Sonntag war und so kurz vor Weihnachten, war es sehr still in der Garage. Möglicherweise waren ein paar Hausbewohner schon über die Feiertage heimgefahren, und die Mitglieder der gesetzgebenden Versammlung waren bereits in ihre Wahlkreise zurückgekehrt, während alle anderen Bewohner schlicht und einfach ... weihnachtliche, sonntägliche Dinge trieben. Einen einzigen Wagen hörte ich fortfahren, als ich dort unten lag; dann hörte ich Stimmen: zwei Menschen, die aus dem alten Fahrstuhl traten. Daraufhin schrie ich wie am Spieß und trommelte verzweifelt gegen die Unterseite der Kofferraumhaube, aber all mein Lärmen ging unter, als ein schwerer Motor lautstark gestartet wurde. Auf der Stelle lag ich wieder mucksmäuschenstill, denn ich hatte große Angst, mehr Luft zu verbrauchen, als ich mir eigentlich leisten konnte.

Eins kann ich Ihnen versichern: In einem ganz engen Raum in fast völliger Dunkelheit darauf zu warten, daß etwas Schlimmes geschieht, ist eine schrecklich unangenehme Art, Zeit zu verbringen. Ich trug keine Uhr, und ohnehin hätte mir nur eine Uhr mit Leuchtziffern etwas genützt. Schlafen konnte ich nicht, wenn ich auch immer wieder in einen merkwürdigen Zustand absackte, in dem ich nicht wirklich bei mir war. Ich nehme an, daß das zu einem großen Teil an der Kälte lag, die im Auto herrschte. Trotz Wolldecke und Steppjacke fror ich sehr. Ich lag reglos, kalt, unfähig, mich zu rühren, schweigend. Immer wieder machten meine Gedanken sich selbstständig, schweiften ab.

Dann kroch schreckliche Angst in mir hoch.

Bill hatte sich bewegt. Dann rührte er sich wieder, gab einen Schmerzenslaut von sich. Als sein Körper sich anspannte, wußte ich, daß er mich gerochen hatte.

„Bill", krächzte ich mit so steifen Lippen, daß ich sie kaum bewegen konnte „Bill? Ich bin's. Sookie. Bill? Wie geht es dir? Wir haben zwei Flaschen Blut. Trink einen Schluck. Jetzt sofort!"

Er schlug seine Fänge in mich.

In seinem Hunger machte er nicht den geringsten Versuch, mir irgend etwas zu ersparen. Es tat einfach grauenhaft weh.

„Bill, ich bin es!" sagte ich und fing an zu weinen. „Bill, ich bin das! Tu mir das nicht an. Bill? Ich bin's, Sookie. Wir haben TrueBlood hier."

Aber er hörte einfach nicht auf. Ich redete und redete, und er schluckte und schluckte, und mir wurde immer kälter, und ich wurde immer schwächer. Mit beiden Armen drückte er mich an sich, und es hatte keinen Sinn, mich zu wehren, denn das hätte ihn nur noch mehr erregt. Er hatte ein Bein über mich geworfen und hielt mich fest umklammert.

„Bill", flüsterte ich, wobei mir in den Sinn kam, daß es unter Umständen schon viel zu spät sein mochte. Ich hatte kaum noch Kraft, aber mit der, die mir verblieben war, kniff ich Bill ins Ohr. „Hör mir doch bitte zu, Bill!"

„Au!" sagte mein Vampir da mit rauher Stimme. Es klang, als sei sein Hals wund. Er hatte aufgehört, sich Blut zu holen, denn nun hatte sich bei ihm eine andere Begierde geregt, die eng mit dem Trinken verknüpft ist. Seine Hände zerrten an meiner Trainingshose, zog sie mir vom Leibe, und dann gab es eine Menge Herumfummeln und Neuordnen von Gliedern, seinen und meinen, und dann krümmte er sich leicht zusammen und drang ohne jegliches Vorspiel in mich ein. Ich schrie, und er preßte mir die Hand vor den Mund. Ich weinte und schluchzte; meine Nase war voller Rotz, ich wollte - ich mußte durch den Mund atmen! Nun schlug ich alles in den Wind, was mich bisher noch gebremst hatte und kämpfte wie eine Wildkatze um mein Leben. Ich biß und kratzte und trat um mich, wobei es mir völlig egal war, wieviel Sauerstoff ich dabei verbrauchte und es mich nicht die Bohne scherte, ob ich Bill vielleicht noch wütender machte, als er ohnehin schon war. Ich mußte ganz einfach wieder Luft kriegen, ich mußte atmen können.

Nach wenigen Sekunden ließ Bill die Hand sinken, mit der er mir den Mund zugehalten hatte, und hörte auch auf, sich zu bewegen. Keuchend und zitternd holte ich ein ums andere Mal tief Luft; dann weinte ich lauthals, ein Schluchzer reihte sich nahtlos an den anderen.

„Sookie?" fragte Bill unsicher. „Sookie?"

Ich war nicht in der Lage zu antworten.

„Du bist es wirklich", sagte er dann mit einer ganz heiseren, fragenden Stimme. „Du bist es. Du warst also wirklich da, in diesem Zimmer?"

Ich versuchte ja, mich zusammenzureißen, aber mir war ganz schwarz vor Augen, und ich hatte Angst, bald in Ohnmacht zu fallen. Irgendwann dann gelang es mir, ganz leise seinen Namen zu flüstern: „Bill."

„Du bist es. Ist alles in Ordnung mit dir?"

„Nein", sagte ich, und es klang fast entschuldigend. Immerhin war es ja Bill gewesen, nicht ich, den man gefangengehalten, den man gefoltert hatte.

„Habe ich ..." Er hielt inne und schien sich auf das Schlimmste einzurichten. „Habe ich mehr Blut getrunken, als ich hätte trinken dürfen?"

Darauf konnte ich nicht antworten, es schien mir einfach zu viel Mühe zu kosten. Still legte ich ihm die Hand auf den Arm.

„Irgendwie scheine ich in einer Art Schrank mit dir geschlafen zu haben", fuhr Bill fort. „Hattest du - warst du freiwillig daran beteiligt?"

Verneinend schüttelte ich den Kopf. Dann ließ ich ihn wieder auf Bills Arm sinken.

„Oh nein", flüsterte er. „Nein!" Er zog sich aus mir zurück, und es folgte zum zweiten Mal einiges Gefummel, wobei er wohl meine und, nehme ich an, auch seine Kleider wieder sittsam zurechtzog. Dann tastete er mit den Händen seine Umgebung ab. „Kofferraum eines Autos", murmelte er.

„Ich brauche Luft", sagte ich mit einer Stimme, die so schwach war, daß man sie fast nicht hören konnte.

„Warum hast du das nicht gleich gesagt?" Sofort schlug Bill ein Loch in den Deckel des Kofferraums. Er war stärker. Wie schön für ihn.

Kalte Luft strömte zu uns herein, die ich in tiefen Zügen in meine Lungen sog. Wunderschöner, wunderbarer Sauerstoff!

„Wo sind wir?" fragte Bill nach einer Weile.

„In einer Tiefgarage", keuchte ich. „Wohnhaus, Jackson." Ich war so schwach, ich wollte nur noch loslassen und irgendwie schweben.

„Warum?"

Ich versuchte, genug Energie für eine Antwort aufzubringen. „Alcide wohnt hier", gelang mir dann endlich ein heiseres Flüstern.

„Was für ein Alcide? Was sollen wir jetzt machen?"

„Eric ... kommt bald. Trink das Flaschenblut."

„Sookie? Ist alles in Ordnung?"

Ich konnte nicht antworten. Wenn ich gekonnt hätte, dann hätte ich womöglich gefragt: „Was kümmert es dich denn? Du hattest doch sowieso vor, mich zu verlassen!" Oder vielleicht hätte ich auch gesagt: „Ich verzeihe dir alles!", obwohl mir das denn doch recht unwahrscheinlich erscheint. Vielleicht hätte ich ihm einfach nur gestanden, wie sehr er mir gefehlt hatte und daß sein Geheimnis bei mir immer noch sicher aufgehoben war - Sookie Stackhouse: getreu bis in den Tod.

Ich hörte, wie Bill eine Flasche öffnete.

Ich jedoch lag in einem Boot und trieb auf der Strömung den Fluß hinab, schneller und immer schneller, und dann wurde mir auf einmal klar, daß Bill meinen Namen die ganze Zeit nicht preisgegeben hatte. Ich wußte, daß seine Folterer versucht hatten, meinen Namen aus ihm herauszuprügeln. Sie hatten mich entführen wollen, um mich dann vor Bills Augen zu foltern und so perfekt Druck auf ihn ausüben zu können, und er hatte ihnen meinen Namen nicht genannt.

Dann knirschte und barst Metall, und der Kofferraumdeckel über unseren Köpfen flog hoch.

Das grelle Licht der Neonröhren, die sich bei Einbruch der Dunkelheit eingeschaltet hatten, rahmte eine Gestalt ein: Über uns gebeugt stand Eric. „Was macht ihr beiden denn da drin?" wollte der große blonde Vampir wissen.

Aber ehe ich ihm antworten konnte, hatte mich die Strömung fortgetragen.

* * *

„Sie kommt zu sich", beobachtete Eric. „Vielleicht war es jetzt genug Blut..." Einen Moment lang summte es heftig in meinem Kopf, darauf war erneut alles ganz still.

„Wirklich", sagte er dann. Ich schlug die Augen auf und sah in drei besorgte männliche Gesichter, die über mir schwebten: Eric, Alcide, Bill. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hätte ich bei diesem Anblick um ein Haar losgeprustet. Daheim hatten so viele Männer Angst vor mir oder wollten am liebsten gar nicht über meine Existenz nachdenken - und hier, dicht um mein Bett gedrängt, standen die drei männlichsten Wesen auf dieser Welt, die nur zu gern mit mir schlafen wollten oder die zumindest ernsthaft darüber nachgedacht hatten, wie es wohl sein mochte, mit mir zu schlafen. Ich kicherte - wirklich, zum ersten Mal seit vielleicht zehn Jahren kicherte ich wie ein Teenager. „Die drei Musketiere!" krächzte ich.

„Ob sie wohl halluziniert?" fragte Eric besorgt.

„Ich glaube eher, sie macht sich lustig über uns", erklärte Alcide. Allzuviel schien das ihm nicht auszumachen. Er stellte die Flasche TrueBlood, die er in der Hand hielt, hinter sich auf die Frisierkommode, auf der sich bereits ein großer Krug und ein Glas befanden.

Bill schlang die eisigen Finger um meine Hand. „Sookie!" sagte er mit dieser kühlen Stimme, die mir jedesmal Schauder über den Rücken jagte. Er saß rechts von mir auf dem Bett, und ich versuchte nun, mich ganz auf sein Gesicht zu konzentrieren.

Bill sah schon wesentlich besser aus. Die tiefsten Einschnitte in seinem Gesicht waren bereits nur noch als Narben zu sehen, und auch die blauen Flecken wurden zusehends blasser.

„Sie haben mich gefragt, ob ich zurückkommen würde, um mir die Kreuzigung anzusehen", teilte ich ihm mit.

„Wer hat dich das gefragt?" Er beugte sich noch tiefer über mich, seine Miene ganz aufmerksam, die dunklen Augen fragend geweitet.

„Wachen am Tor."

„Die Wachen am Tor zum Palais haben dich gefragt, ob du heute Nacht noch einmal zurückkommst, um bei der Kreuzigung dabeizusein? Heute Nacht?"

„Ja."

„Wer soll gekreuzigt werden?"

„Weiß nicht."

„Ich hatte ja als erste Worte nach einer Ohnmacht etwas anderes erwartet!" kommentierte Eric. „So etwas wie: 'Wo bin ich?', oder 'Was ist geschehen?'. Ich hatte wirklich nicht damit gerechnet, daß du als erstes fragen würdest, wessen Kreuzigung eigentlich stattfinden soll - oder gerade stattfindet." Letzteres fügte er hinzu, nachdem er einen Blick auf den Wecker geworfen hatte, der auf dem Nachttisch stand.

„Vielleicht sollte es ja meine Kreuzigung werden?" Die Vorstellung schien Bill zu erschüttern. „Vielleicht hatten sie vor, mich heute abend umzubringen?"

„Vielleicht haben sie auch den Fanatiker erwischt, der versucht hat, Betty Jo zu pfählen", sagte Eric. „Der wäre ein Spitzenkandidat für eine Kreuzigung."

Ich dachte angestrengt über diese Möglichkeiten nach - das heißt, soweit ich dazu in der Lage war, denn ich fühlte mich immer noch so schwach, daß ich jederzeit wieder hätte in die Finsternis zurücksacken können. „Nein, hatte ein anderes Bild", flüsterte ich heiser, denn mein Hals war sehr, sehr wund.

„Du hast Gedanken der Were auffangen können?" hakte Eric nach.

Ich nickte. „Ich glaube, sie meinten Bubba", flüsterte ich, und alle im Zimmer erstarrten.

„Dieser Kretin!" stöhnte Eric verzweifelt - er hatte eine Weile gebraucht, um die Information zu verdauen. „Sie haben ihn also erwischt?"

„Ich glaube schon." Das war zumindest der Eindruck, den ich bekommen hatte.

„Wir werden ihn uns wiederholen müssen", sagte Bill. „Wenn er denn noch existiert."

Wie ungeheuer tapfer von Bill, diese Bereitschaft, sich freiwillig noch einmal auf dieses Anwesen zu begeben! Ich hätte an seiner Stelle so einen Vorschlag nicht machen können, das wußte ich genau.

Über uns vier senkte sich eindeutig betretenes Schweigen.

„Eric?" Bills dunkle Brauen waren in die Höhe geschossen und bildeten formvollendete Bögen über den Augen. Er wartete auf einen Kommentar.

Eric wirkte ungeheuer wütend. „Ich schätze, du hast recht. Wir haben die Verantwortung für ihn. Ich fasse es nicht, daß ausgerechnet sein Heimatstaat bereit ist, ihn hinzurichten! Wo bleibt denn da die Loyalität?"

„Wie sehen Sie die Sache?" Bills Stimme klang bedeutend kälter, als er sich nun an Alcide wandte.

Die Wärme, die Alcide ausstrahlte, erfüllte das gesamte Zimmer - ebenso seine Gedanken, die ein einziges, verworrenes Durcheinander bildeten. Er hatte die letzte Nacht mit Debbie verbracht, daran konnte nun kein Zweifel mehr bestehen.

„Ich weiß wirklich nicht, wie ich da mitmachen könnte", erklärte Alcide unglücklich. „Ich sehe mich nicht in der Lage dazu. Mein Betrieb - der meines Vaters - ist darauf angewiesen, daß ich jederzeit hierher kommen kann, wenn es nötig wird. Wenn ich mich mit Russel Edgington und dessen Leuten überwerfe, wird das kaum noch möglich sein. Es wird schon schwierig genug für mich werden, wenn sie feststellen, daß es eigentlich nur Sookie gewesen sein kann, die ihnen den Gefangenen geraubt hat."

„Ich habe auch Lorena vernichtet", ergänzte ich.

Eine weitere Pause folgte, in der man die Spannung im Raum förmlich knistern hörte.

Dann grinste Eric breit. „Du hast Lorena plattgemacht?" Dafür, daß er ein so alter Vampir war, beherrschte er den rüden Umgangston der Straße aber perfekt!

Bills Miene zu entziffern war schlichtweg unmöglich. „Sookie hat Lorena gepfählt", sagte er. „Es war eine faire Vernichtung."

„Sie hat Lorena in einem Zweikampf vernichtet?" Erics Grinsen wurde noch breiter. Er wirkte so stolz, als hätte er gerade eben seinen Erstgeborenen Shakespeare zitieren hören.

„In einem sehr kurzen Zweikampf", stellte ich klar, denn ich wollte kein Lob, das ich nicht wirklich verdient hatte. Wenn man Erics Freude denn überhaupt als Lob betrachten wollte.

„Sookie hat eine Vampirin vernichtet!" sagte Alcide, was sich anhörte, als sei ich durch diese Tat enorm in seiner Achtung gestiegen. Die beiden Vampire knurrten.

Alcide schenkte aus dem Krug ein großes Glas Wasser ein, das er mir dann reichte. Ich trank es langsam und in kleinen Schlucken, denn jeder Schluck bereitete mir große Schmerzen. Schon nach wenigen Minuten fühlte ich mich erheblich besser.

„Laßt uns zum eigentlichen Thema zurückkommen", sagte Eric, nicht ohne mir dabei einen bedeutungsvollen Blick zuzuwerfen, der besagte, daß es zum Thema Mord an Lorena und meiner Beteiligung daran noch einiges zu sagen gebe. „Gesetzt den Fall, im Palais hegt man noch keinen Verdacht, Sookie könne Bills Fluchthelferin gewesen sein - dann wäre Sookie doch genau die richtige Person, die uns erneut Zutritt zum Anwesen verschaffen könnte, ohne gleich Alarm auszulösen. Es ist gut möglich, daß sie sie heute abend nicht wirklich erwarten, aber sie werden ihr auch kaum die Tür vor der Nase zuschlagen. Da bin ich sicher. Besonders, wenn sie sagt, sie brächte eine Nachricht der Königin von Louisiana oder habe etwas, was sie Russel zurückgeben will..." Damit zuckte er die Achseln, als stünde es seiner Meinung nach außer Zweifel, daß uns schon eine passende Ausrede einfallen würde.

Ich wollte aber wirklich nicht noch einmal dorthin zurückgehen müssen. Ich versuchte, an den armen Bubba zu denken, bemühte mich wirklich, mir über das Schicksal den Kopf zu zerbrechen, das ihm bevorstand - das ihn unter Umständen ja auch bereits ereilt hatte -, aber ich war so schwach, daß mir dies nicht richtig gelingen wollte.

„Friedensgespräche? Weiße Fahne?" schlug ich krächzend vor. Dann räusperte ich mich. „Habt Ihr Vampire so was?"

Eric schien nachzudenken. „Dann würde ich erläutern müssen, wer ich bin."

Wie einfach Alcide zu lesen war, wenn er glücklich war! Gerade fragte er sich, wann er wohl endlich Debbie würde anrufen können.

Ich tat den Mund auf, überlegte es mir dann aber wieder anders und schloß ihn - nur um ihn dann gleich darauf wieder aufzutun. Warum denn eigentlich nicht, Teufel noch eins? „Wissen Sie eigentlich, Alcide, wer mich in den Kofferraum geschubst und hinter mir die Haube zugeschlagen hat?" fragte ich meinen Gastgeber. Dessen grüne Augen richteten sich erschrocken auf mich. Sein Gesicht wurde starr, verschlossen, als fürchte er sich, Gefühle zu zeigen, die er nicht an die Oberfläche dringen lassen wollte. Wortlos drehte er sich um und verließ das Zimmer, wobei er die Tür hinter sich zuzog. Erst jetzt wurde mir bewußt, wo ich mich befand: wieder in eben dem Gästezimmer von Alcides Wohnung, das ich zuvor bereits bewohnt hatte.

„Na sag schon, Sookie: Wer hat die böse Tat begangen?" wollte Eric wissen.

„Seine Ex-Freundin. Nach letzter Nacht wohl nicht mehr ganz so ex."

„Warum sollte sie das getan haben?" erkundigte sich Bill.

Wieder ergab sich ein bedeutungsvolles Schweigen. „Sookie hat sich als Alcides neue Freundin ausgeben müssen, um sich Zutritt zum Club zu verschaffen", erklärte Eric dann äußerst taktvoll.

„Oh!" meinte Bill. „Aber warum mußtest du denn überhaupt in den Club?"

„Dir haben sie wohl ein paar Schläge zuviel auf den Hinterkopf verpaßt", erwiderte Eric kalt. „Sie wollte 'hören', wohin man dich gebracht hat!"

Da kamen wir nun aber viel zu nah an all die Dinge heran, über die Bill und ich erst einmal allein miteinander würden reden müssen.

„Da wieder hinzugehen ist unklug", sagte ich also hastig. „Was haltet ihr statt dessen von einem Telefonanruf?"

Die beiden starrten mich an, als würde ich mich gerade vor ihren Augen in einen Frosch verwandeln.

„Was für eine ausgezeichnete Idee!" sagte Eric.

* * *

Die Telefonnummer des Palais ließ sich, wie sich schnell herausstellte, sehr einfach finden: Russel Edgingtons Anwesen stand unter seinem eigenen Namen im Telefonbuch, nicht etwa unter einem blumigen Titel wie 'Haus des Schreckens' oder 'Vampire unter sich.' Ich stürzte, während ich gedanklich daran arbeitete, die Geschichte, die ich gleich vortragen sollte, möglichst wasserdicht zu gestalten, den Inhalt eines großen, undurchsichtigen Plastikbehälters hinunter. Der Geschmack synthetischen Bluts war mir zutiefst zuwider, aber Bill bestand darauf, daß ich es trank und hatte es mir mit Apfelsaft vermischt. Ich versuchte, nicht hinzusehen, was ich mir da mit riesigen Schlucken einverleibte.

Nachdem die beiden Vampire mich in Alcides Wohnung geschafft hatten, hatten sie mich gezwungen, das Blut unverdünnt zu trinken - ich hatte lieber nicht danach gefragt, wie das bewerkstelligt worden war.

Zumindest verstand ich aber nun, warum sich die Kleidungsstücke, die Bernhard mir geborgt hatte, in einem so fürchterlichen Zustand befanden. Ich selbst sah aus, als hätte man mir die Kehle durchgeschnitten - dabei hatte Bill sie mit seinem äußerst schmerzhaften Biß ja lediglich aufgerissen. Mein Hals war immer noch sehr wund, aber insgesamt fühlte ich mich bereits wesentlich besser.

Natürlich war die Wahl auf mich gefallen, als es darum ging zu bestimmen, wer denn nun bei Russel anrufen sollte. Bisher habe ich noch keinen Mann über sechzehn kennengelernt, der gern und freiwillig telefoniert.

„Verbinden Sie mich bitte mit Betty Jo Pickard", teilte ich der Männerstimme mit, die sich im Palais am Telefon meldete.

„Die ist beschäftigt", bekam ich prompt zu hören.

„Ich muß aber umgehend mit ihr sprechen."

„Sie ist anderweitig beschäftigt. Kann ich Ihre Nummer notieren?"

„Ich bin die Frau, die ihr letzte Nacht das Unleben gerettet hat". Warum um den heißen Brei herumreden? „Ich muß mit ihr reden, und zwar sofort. Tout de suite, wenn Sie verstehen, was ich meine."

„Gut, ich werde sehen, was sich machen läßt."

In der unendlich langen Pause, die nun folgte, konnte ich hören, wie von Zeit zu Zeit jemand am Telefon vorbeiging; von weiter weg drang lautes Beifallsgeschrei an mein Ohr, über das ich aber lieber nicht weiter nachdenken wollte. Eric, Bill und auch Alcide, der wieder ins Zimmer gestapft gekommen war, als Bill ihn gefragt hatte, ob wir sein Telefon benutzen dürften, standen um mich herum und verzogen die Gesichter zu fragenden Grimassen, auf die ich lediglich immer wieder nur mit einem Achselzucken reagieren konnte.

Endlich hörte ich hohe Absätze über einen gefliesten Fußboden klappern.

„Hören Sie, ich bin Ihnen ja wirklich dankbar, aber ewig können Sie nicht darauf herumreiten!" teilte mir Betty Jo Pickard als erstes unumwunden mit. „Wir haben dafür gesorgt, daß Sie geheilt wurden, Sie hatten einen Ort, an dem Sie sich erholen konnten, und wir haben Ihre Erinnerungen nicht gelöscht", fügte sie hinzu, als handele es sich dabei um ein winziges Detail, das sie bisher übersehen hatte. „Warum also rufen Sie jetzt an? Worum wollen Sie mich bitten?"

„Ist ein bestimmter Vampir dort bei Ihnen? Ein Elvis-Imitator?"

„Was wäre, wenn?" Plötzlich schien Russells Stellvertreterin wachsam zu werden. „Allerdings! Wir haben letzte Nacht innerhalb unserer Mauern einen Eindringling zu fassen bekommen."

„Ich bin heute morgen, nachdem ich Ihr Haus verlassen hatte, angehalten worden", sagte ich nun. Wir hatten uns überlegt, daß diese Geschichte sich überzeugend anhören würde, weil ich ja noch so schwach und heiser klang.

Es folgte eine Pause, in der Betty Jo darüber nachdachte, welche Implikationen dies haben mochte. „Sie machen es sich, scheint's, zur Angewohnheit, immer zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein", sagte sie dann. Als ob ihr das nun leid täte!

„Die, die mich haben, zwingen mich, Sie anzurufen", sagte ich vorsichtig. „Ich soll Ihnen sagen, daß der Vampir, den Sie geschnappt haben, der echte ist."

Betty Jo lachte. „Ja, aber ....", setzte sie an, unterbrach sich dann aber selbst. „Sie wollen mich verarschen, was?" Das nun, darauf hätte ich schwören können, wäre Mamie Eisenhower nie über die Lippen gekommen!

„Ich will Sie keineswegs verarschen", krächzte ich. „In jener Nacht damals arbeitete ein Vampir in der Leichenschauhalle." Betty Jo gab einen Laut von sich, der zwischen erschrecktem Keuchen und erstauntem Luftschnappen lag. „Reden Sie ihn nicht mit seinem richtigen Namen an", fuhr ich fort. „Sagen Sie Bubba zu ihm, und tun Sie ihm um Gottes Willen nichts an."

„Aber wir sind doch schon ... Moment mal."

Sie rannte ziemlich schnell; ich konnte es den entschwindenden Geräuschen ihrer hohen Hacken anhören, wie eilig sie es hatte.

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und wartete. Irgendwann machten mich all die Typen, die um mich herumstanden und auf mich hinabstarrten, völlig wahnsinnig. Bestimmt war ich doch wieder stark genug, mich aufzusetzen?

Bill hielt mich sanft in seinen Armen, während Eric mir Kissen in den Rücken stopfte. Ich war froh zu sehen, daß einer der beiden genügend Grips besessen hatte, die gelbe Wolldecke über Alcides Gästebett zu breiten, denn sonst hätte ich die schöne Tagesdecke darauf völlig ruiniert. Die ganze Zeit über hielt ich den Telefonhörer an mein Ohr gedrückt - als er dann tatsächlich wieder zu quäken begann, zuckte ich merklich zusammen.

„Wir konnten ihn gerade noch rechtzeitig wieder runterholen", verkündete Betty Jo begeistert.

„Der Anruf kam noch früh genug", gab ich an Eric weiter, der daraufhin die Augen schloß und im Geist ein Dankgebet zu sprechen schien. Zu wem er wohl betete? Ohne etwas zu sagen wartete ich auf weitere Anweisungen.

„Sag ihnen", ließ Eric sich hören, „sie sollen ihn laufen lassen, er findet schon allein nach Hause. Sag ihnen, wir entschuldigen uns dafür, daß wir ihn haben herumstreunen lassen."

Brav gab ich die Worte meiner 'Entführer' weiter.

Betty Jo verschwendete keine Zeit mit Höflichkeitsfloskeln, sondern machte gleich Gegenvorschläge, wobei sie das, was Eric ihr hatte ausrichten lassen, komplett ignorierte. „Könnten Sie sich vielleicht erkundigen, ob er noch etwas hierbleiben und für uns singen darf? Er ist in guter Verfassung", sagte sie.

Ich gab ihre Bitte weiter. Eric verdrehte die Augen. „Fragen kann sie ihn, aber wenn er nein sagt, dann muß sie das auch akzeptieren und darf ihn nicht noch ein zweites Mal fragen", erklärte er. „Das regt ihn auf, wenn er nicht in der richtigen Stimmung ist. Manchmal überkommt ihn auch die Erinnerung, wenn er singt. Dann wird er - ein wenig ungebärdig."

Ich gab diese Warnungen in aller Ausführlichkeit an Betty Jo weiter. „Na gut", sagte die daraufhin, „wir tun unser Bestes. Wenn er nicht singen will, lassen wir ihn sofort gehen." Dann wandte sie sich an jemanden, der direkt neben ihr stand: „Er darf singen, wenn er selbst sich dazu bereit erklärt." Derjenige, der neben ihr stand, stieß daraufhin ein freudiges „Wahnsinn!" aus. Na, da würde es im Palast des Königs von Mississippi wohl die zweite rauschende Ballnacht geben, direkt nach der vom Abend zuvor.

Nun richtete Betty Jo ihre Worte wieder direkt an mich ins Telefon: „Ich hoffe sehr, Sie schaffen es, sich aus dem Schlamassel zu befreien, in dem Sie da stecken. Ich wüßte gern, wie Ihr Kidnapper in den Genuß gekommen ist, den größten Star aller Zeiten bei sich zu beherbergen. Meinen Sie, er wäre zu Verhandlungen bereit?"

Die Gute ahnte ja noch nichts von den Problemen, die mit der Betreuung 'Bubbas' einhergingen! Der Vampir aus Memphis hatte eine beklagenswerte Vorliebe für Katzenblut, war wahrlich nicht der Hellste und konnte nur die allereinfachsten Anweisungen befolgen selbst wenn er von Zeit zu Zeit durchaus einen Anfall von Bauernschläue zur Schau stellte. Aber in der Regel befolgte er Anweisungen buchstabengetreu: Er nahm sie wortwörtlich, und genauso führte er sie auch aus.

„Sie bittet um Erlaubnis, ihn behalten zu dürfen", gab ich an Eric weiter. Wie satt ich es hatte, die Mittlerin zu spielen - aber Betty konnte sich unmöglich mit Eric treffen, weil sie sonst sofort mitbekommen hätte, daß er der angebliche Freund von Alcide war, der, der mir in der Nacht zuvor geholfen hatte, in Russel Edgingtons Palais zu gelangen.

Das wurde mir alles viel zu kompliziert.

„Ja?" Eric hatte nun selbst den Hörer übernommen und sich einen astreinen englischen Akzent zugelegt - ein Meister der Verstellung! Schon bald hagelte es Sätze in der Art von „Er ist uns ein heiliges Vermächtnis!" und „Sie wissen ja nicht, was Sie sich da aufhalsen". Eric unterhielt sich eine ganze Weile mit Betty Joe und legte dann auf, wobei er sehr zufrieden dreinschaute.

Ich hatte gerade darüber nachgedacht, wie sonderbar es war, daß Betty Jo in keiner Weise angedeutet hatte, daß auf ihrem Anwesen außer Bubba auch noch andere Dinge nicht so waren, wie sie hätten sein sollen. Weder hatte sie Bubba beschuldigt, ihr einen Gefangenen entführt zu haben, noch hatte sie auch nur mit einer einzigen Silbe erwähnt, daß Lorenas Leiche gefunden worden war. Gut - vielleicht pflegte Betty Jo solche Angelegenheiten nicht in beiläufigen Telefongesprächen mit eigentlich unbekannten Sterblichen zu erörtern, und von Lorena war bei Sonnenuntergang wohl auch nicht mehr viel vorhanden gewesen, was man hätte finden können; Vampire zerfallen sehr rasch. Aber zumindest die Ketten mußten doch eigentlich noch im Schwimmbecken liegen und wohl auch genügend Rückstände, um auf eine Vampirleiche schließen zu können. Aber warum sollte sich um diese Jahreszeit überhaupt jemand bemüßigt fühlen, unter die Abdeckplane des Beckens zu schauen? Das Fehlen des Stargefangenen andererseits war doch aber bestimmt jemandem aufgefallen, oder?

Möglicherweise gingen sie ja alle davon aus, daß Bubba in der Zeit, die er frei auf dem Grundstück hatte herumstreunen können, Bill befreit hatte. Wir hatten Bubba streng befohlen, nichts zu sagen, und diese Anweisung würde er bestimmt getreulich bis zum letzten Buchstaben ausführen.

Vielleicht war ich ja aus dem Schneider! Vielleicht war von Lorena nicht mehr die geringste Spur vorhanden, wenn im Frühjahr die Zeit kam, den Pool sauberzumachen.

Da ich sowieso gerade an Leichen dachte, fiel mir auch gleich noch die ein, die wir in Alcides Wandschrank gestopft vorgefunden hatten. Das hieß doch, daß jemand durchaus wußte, wo wir uns aufhielten, und zwar jemand, der uns ganz augenscheinlich überhaupt nicht leiden mochte. Wer die Leiche dort abgeladen hatte, wo sie abgeladen worden war, wollte doch, daß man nach Möglichkeit uns die Schuld an einem Mord gab. Nun war Mord durchaus ein Verbrechen, dessen ich mich schuldig gemacht hatte - nur hatte ich eben nicht dieses spezielle Opfer aus dem Wandschrank auf dem Gewissen. Ich fragte mich, ob die Leiche Jerry Falcons vielleicht schon gefunden worden war und wollte Alcide gerade fragen, ob er irgend etwas in den Nachrichten gehört hatte, ließ es dann aber doch wieder sein. Mir fehlte einfach die Energie dazu, diese Frage zu formulieren.

Mein Leben drehte sich schneller und immer schneller und geriet mehr und mehr außer Kontrolle. Im Verlauf von gerade mal zwei Tagen hatte ich eine Leiche im Wald versteckt und eine weitere produziert, und all das nur, weil ich mich in einen Vampir verliebt hatte! Ich warf diesem Vampir einen ganz und gar unverliebten Blick zu und war so vertieft in meine wirren Gedanken, daß ich nur am Rande mitbekam, wie das Telefon klingelte. Wahrscheinlich hatte Alcide, der vor einiger Zeit hinaus in die Küche gegangen war, den Hörer beim ersten Klingeln gleich abgehoben.

Nun tauchte unser Gastgeber mit besorgter Miene in der Schlafzimmertür auf. „Raus hier!" befahl er. „Ihr müßt sofort alle verschwinden, rüber in die leere Wohnung nebenan! Schnell!"

Bill hob mich auf, samt Wolldecke und allem Drum und Dran. Dann waren wir aus der Tür, und Eric hatte die Tür zur Wohnung nebenan aufgebrochen, noch ehe jemand hätte Jack Daniels sagen können. Schon hatten wir auch den Flur wieder geräumt, und als Bill die Tür der fremden Wohnung leise hinter uns schloß, hörte ich bereits das langsame, quietschende Rumpeln, mit dem der alte Fahrstuhl im vierten Stock hielt.

Stocksteif und mucksmäuschenstill standen wir in dem kalten, kargen Wohnzimmer der völlig leeren Wohnung, während die Vampire angestrengt auf alles horchten, was in der Nachbarwohnung vor sich ging. Ich lag immer noch in Bills Armen und fing erbärmlich an zu zittern.

Eigentlich war es, um die Wahrheit zu sagen, ganz wunderbar, so von ihm gehalten zu werden. Egal wie wütend ich auf ihn gewesen war, ganz gleich, wie viele Unklarheiten wir miteinander zu besprechen hatten. Um die Wahrheit zu sagen: In Bills Armen verspürte ich zu meiner großen Bestürzung das wunderbare Gefühl, endlich nach Hause gekommen zu sein. Um die Wahrheit zu sagen - ganz gleich, wie zerschlagen mein Körper auch sein mochte - zerschlagen von Bills eigenen Händen noch dazu, besser gesagt von seinen Fangzähnen -, dieser Körper konnte es kaum erwarten, sich mit Bills Körper zusammenzutun und zwar splitterfasernackt und trotz des schrecklichen Zwischenfalls im Kofferraum des Lincoln. Ich seufzte, ganz enttäuscht von mir selbst. Da würde ich mich wohl irgendwie für meine Psyche stark machen müssen, denn mein Körper war nur zu gern bereit, mich nach Strich und Faden zu hintergehen. Bills rücksichtslose Übergriffe, die doch noch gar nicht solange zurücklagen, schien er einfach ausblenden zu können.

Bill legte mich im kleineren der beiden Schlafzimmer der Wohnung auf dem Fußboden ab, und zwar so sanft und vorsichtig, als hätte ich ihn mindestens eine Million Dollar gekostet und er wolle mich um Gottes Willen nur nicht beschädigen. Dann wickelte er mich sorgsam in die Wolldecke. Zusammen mit Eric trat er dann an die Wand der Wohnung, hinter der Alcides Schlafzimmer lag, und beide Vampire lauschten hingebungsvoll.

„Was für eine miese Schlampe!" murmelte Eric. Aha - Debbie war also zurückgekommen.

Ich schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als Eric einen leisen, überraschten Laut ausstieß. Ich sah, daß er mich anschaute; in seinen Augen lag wieder einmal diese höchst beunruhigende Spur Belustigung.

„Debbie ist letzte Nacht wohl noch bei Alcides Schwester vorbeigegangen und wollte sie über dich aushorchen. Die Schwester mag dich sehr gern", teilte Eric mir flüsternd mit. „Das macht Debbie fuchsteufelswild. Gerade macht sie in Alcides Gegenwart abfällige Bemerkungen über dessen Schwester."

Bills Miene entnahm ich, daß er die Konversation in der Nebenwohnung nicht ganz so begeistert aufnahm wie Eric.

Unvermittelt schien ein Stromstoß durch Bills Körper zu fahren: Jede einzelne Faser seines Körpers spannte sich an. Gleichzeitig klappte Eric die Kinnlade herunter, und er sah mich mit einem Blick an, den ich beim besten Willen nicht deuten konnte.

Aus der Nebenwohnung war nun das unverkennbare Geräusch einer Ohrfeige zu vernehmen - sogar ich konnte es deutlich hören.

„Laß uns bitte einen Moment allein", sagte Bill in einem Ton, der mir gar nicht gefiel, zu Eric.

Ich schloß die Augen. Irgendwie glaubte ich nicht, daß ich dem, was nun unweigerlich kommen mußte, gewachsen war. Ich wollte mich nicht mit Bill streiten und ihm seine Untreue vorhalten. Ich wollte mir auch seine Erklärungen und Entschuldigungen nicht anhören.

Ich hörte das leise Flüstern von Stoff, als Bill sich neben mich auf den Teppichboden kniete. Dann streckte er sich neben mir aus, drehte sich auf die Seite und legte den Arm um mich.

„Er hat dieser Frau gerade erzählt, wie gut du ihm Bett bist", murmelte er leise.

Da setzte ich mich so abrupt auf, daß die Wunde an meinem Hals, die sich schon hatte schließen wollen, wieder aufriß und ich unter der frisch verheilten Wunde in meiner Seite einen stechenden Schmerz spürte.

Ich legte die Hand an meinen Hals und biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzustöhnen. Als ich wieder sprechen konnte, war ich unfähig, mehr von mir zu geben als: „Was hat er gesagt? Was hat er getan?" Ich war so wütend, daß ich kaum in der Lage war, einen zusammenhängenden Satz zu formulieren. Bill warf mir einen durchdringenden Blick zu und legte mir den Finger auf die Lippen, um mich daran zu erinnern, daß ich nach wie vor mucksmäuschenstill sein mußte.

„Ich habe nie mit ihm geschlafen", flüsterte ich also leise, doch erbost. „Aber selbst wenn - weißt du was? Das würde dir nur recht geschehen, du betrügerischer Hurensohn!" Ich fing seinen Blick auf und starrte ihm unverwandt in die Augen. Wenn es denn so sein mußte, dann würden wir die Dinge hier und jetzt auf der Stelle hinter uns bringen.

„Du hast recht", murmelte Bill. „Leg dich wieder hin. Du hast doch Schmerzen."

„Natürlich", flüsterte ich, und dann brach ich in Tränen aus. „Ich habe mir anhören müssen, wie andere mir erzählten, daß du vorhattest, mich in Rente zu schicken und dich mit ihr zusammenzutun - und du hast noch nicht einmal den Schneid besessen, mir all das selbst mitzuteilen! Bill, wie konntest du nur so etwas tun? Was für eine Vollidiotin war ich nur! Zu denken, daß du mich wirklich liebst!" Dann schlug ich mit einer Wildheit, die mich selbst in Erstaunen versetzte, als sie nun plötzlich aus mir herausbrach, die Decke beiseite und warf mich wie eine Wildkatze auf ihn, indes meine Finger ihr Bestes taten, ihn bei der Gurgel zu erwischen.

Zur Hölle mit den Schmerzen - die waren mir scheißegal.

Meine Hände waren zu klein, um Bills Hals zu umklammern, aber ich vergrub die Finger in seiner Kehle und drückte zu, so hart ich konnte, wobei ich fühlte, wie ein knallroter Wutanfall mich hochhob und einfach forttrug. Ich wollte ihn umbringen.

Wenn Bill sich gewehrt hätte, dann hätte ich wohl einfach so weitergemacht, aber so, ohne jegliche Gegenwehr, ebbte die feurige Wut ab, je fester ich zudrückte. Schließlich blieb ich ganz kalt und leer zurück. Ich hockte rittlings auf Bills Brustkorb; mein Vampir lag unter mir auf dem Rücken, völlig unbeweglich, völlig passiv, die Arme an den Seiten ausgestreckt. Da ließen meine Hände von seiner Kehle ab, und ich schlug sie mir statt dessen vors Gesicht.

„Ich hoffe, das hat verdammt wehgetan", sagte ich, die Stimme halb erstickt, aber durchaus verständlich.

„Ja", bestätigte Bill. „Das hat verdammt wehgetan."

Dann zog er mich neben sich auf den Fußboden und deckte die Wolldecke über unser beider Körper. Sanft drückte er meinen Kopf so, daß er in der Kuhle zwischen seinem Hals und seiner Schulter zu liegen kam.

Mir schien sie unendlich lange, die Zeit, in der wir so ganz still und unbeweglich dalagen, auch wenn es in Wirklichkeit vielleicht nur Minuten gewesen sein mögen. Aus reiner Gewohnheit schmiegte sich mein Leib an den Bills - aus Gewohnheit und aus einem ganz tiefen Bedürfnis heraus, auch wenn ich nicht mehr hätte sagen können, ob dieses Bedürfnis nun auf Bill ganz speziell gerichtet war oder einer Intimität galt, die ich bislang nur mit ihm allein hatte teilen können. Ich haßte diesen Mann. Ich liebte ihn.

„Sookie", flüsterte er in mein Haar, „ich bin -"

„Sei still", sagte ich. „Sei still." Ich kuschelte mich enger an ihn und entspannte mich. Es war, als hätte man mir einen elastischen Verband abgenommen, der viel zu stramm gewickelt gewesen war.

„Du trägst die Kleider von jemand anderem", flüsterte Bill, nachdem wir ein oder zwei Minuten lang schweigend beieinander gelegen hatten.

„Ja. Ein Vampir namens Bernhard hat sie mir geliehen. Er brachte sie mir, weil mein Kleid an dem Abend in der Bar ruiniert worden war."

„Im Josephine's?" „Ja."

„Wie ist dein Kleid denn zu Schaden gekommen?"

„Ich wurde gepfählt."

Alles an ihm wurde ganz still. „Wo? Hat es wehgetan?" Er schob die Decke weg. „Zeig mir die Stelle."

„Natürlich hat es wehgetan", erwiderte ich, absichtlich ganz klipp und klar, ohne um den heißen Brei herumzureden. „Es hat sogar verdammt wehgetan." Vorsichtig hob ich den Saum meines Sweatshirts.

Bill strich über die glänzende Haut. Ich würde nie so schnell heilen können wie er. Er würde schon nach einer, spätestens aber zwei Nächten wieder so glatt und makellos sein, wie er immer gewesen war - trotz einer Woche Folter. Ich dagegen würde, Vampirblut hin oder her, mein Leben lang eine Narbe haben. Nun war die Narbe wahrscheinlich nicht so lang und so tief, wie sie eigentlich hätte sein müssen, und das neue Gewebe bildete sich mit phänomenaler Geschwindigkeit, aber die Narbe selbst war unleugbar rot und hässlich, das Fleisch darunter immer noch zart und empfindlich, der gesamte Bereich wund und gerötet.

„Wer hat dir das angetan?"

„Ein Mann. Ein Fanatiker. Das ist eine lange Geschichte."

„Ist er tot?"

„Ja. Betty Jo hat ihn mit zwei mächtigen Faustschlägen umgelegt - irgendwie mußte ich dabei an eine Geschichte denken, die wir in der Grundschule gelesen haben. Über Paul Bunyan."

„Die Geschichte kenne ich nicht." Bills dunkle Augen suchten meinen Blick und fanden ihn auch.

Ich zuckte die Achseln.

„Hauptsache, er ist jetzt tot." Bill hatte schon verstanden, was ich mit dem Achselzucken gemeint hatte.

„Eine Menge Leute sind mittlerweile tot, und das alles nur wegen deines Programms."

Daraufhin folgte lange Zeit Schweigen.

Dann warf mein Vampir einen Blick auf die Tür, die Eric taktvoller Weise hinter sich geschlossen hatte. Wahrscheinlich stand er jetzt aber direkt dahinter, das Ohr an der Tür. Wie alle Vampire hörte auch Eric ausgezeichnet. „Ist es in Sicherheit?" „Ja."

Bills Mund war nun direkt an meinem Ohr. Es kitzelte, als er flüsterte: „Haben die mein Haus durchsucht?"

„Das weiß ich nicht. Vielleicht waren die Vampire aus Mississippi dort. Nachdem Eric, Pam und Chow mich besucht hatten, um mir mitzuteilen, daß du entführt worden warst, hatte ich keine Gelegenheit mehr, nachzusehen."

„Haben die drei dir auch gesagt..."

„Daß du vorhattest, mich zu verlassen? Ja, das habe ich von ihnen erfahren."

„Für die Verrücktheit habe ich bereits büßen müssen", sagte Bill.

„Vielleicht hast du ja für deine Begriffe genug dafür büßen müssen", erwiderte ich hitzig. „Aber ich weiß nicht, ob das auch für meine Bedürfnisse langt."

Daraufhin herrschte erst einmal wieder Schweigen in dem kalten, leeren Zimmer. Auch im Wohnzimmer war es ganz still. Ich hoffte sehr, daß Eric inzwischen darüber nachgedacht hatte, was wir als nächstes tun wollten, und ich hoffte weiterhin, zu diesen nächsten Schritten würde auch die Heimfahrt gehören. Ganz gleich, wie es zwischen Bill und mir weiterging - ich mußte wieder nach Bon Temps. Ich mußte zurück zu meiner Arbeit und zu meinen Freunden, mußte einfach auch meinen Bruder wiedersehen. Gut, vielleicht machte er nicht allzuviel her, mein Bruder, aber er war das Einzige, was ich noch besaß.

Ich fragte mich, was wohl gerade in der Wohnung nebenan passieren mochte.

„Als die Königin zu mir kam um mir zu sagen, sie habe gehört, ich arbeite an einem Programm, an dem sich außer mir noch niemand versucht habe, hat mir das ungeheuer geschmeichelt", erklärte Bill nun. „Sie bot mir eine ausgezeichnete Bezahlung für die Fertigstellung dieses Programms. Dabei hätte sie mir gar keine Bezahlung zu bieten brauchen und wäre doch im Recht gewesen, denn schließlich bin ich ihr Untertan."

Ich spürte, wie es um meine Lippen zuckte, als mir nun wieder einmal so deutlich vor Augen geführt wurde, wie sehr sich meine Welt von Bills unterschied. „Wer kann der Königin von deiner Arbeit erzählt haben? Was meinst du?" wollte ich wissen.

„Das weiß ich nicht, und ich will es auch gar nicht wissen". Die Worte klangen ruhig und beiläufig, aber ich kannte meinen Bill, ich wußte es besser.

„Du weißt doch, daß ich schon eine ganze Weile an dem Programm saß", fuhr Bill fort, als klar war, daß ich erst einmal nichts mehr sagen würde.

„Warum hast du überhaupt damit begonnen?"

„Warum?" Die Frage schien ihn zu verunsichern. „Nun, erst einmal, weil ich die Idee gut fand. Eine vollständige Liste aller Vampire, die in Amerika existieren und eine zumindest in Ansätzen vollständige Liste derer in anderen Teilen der Welt - das kam mir sehr sinnvoll vor. Ein Programm, das sicher nützlich sein würde, und außerdem hat es Spaß gemacht, die Informationen alle zusammenzutragen. Nachdem ich erst einmal angefangen hatte, war es nicht weit bis zur Überlegung, auch Bilder und Pseudonyme mit einzubeziehen - und Geschichten. Das Programm wuchs und wuchs."

„Also hast du so etwas wie ein Adreßbuch zusammengestellt? Für Vampire?"

„Genau!" Bills strahlendes Gesicht leuchtete womöglich noch heller. „Ich habe einfach irgendwann eines Nachts damit angefangen, als mir durch den Kopf ging, wie viele andere Vampire mir im Lauf meiner Reisen im letzten Jahrhundert über den Weg gelaufen sind. Ich begann, eine Liste all dieser Vampire zu erstellen und dieser Liste gesellten sich bald Zeichnungen hinzu, die ich angefertigt, Photos, die ich geschossen hatte."

„Dann lassen sich Vampire also doch photographieren? Ich meine: Sie sind auf Photos auch zu sehen?"

„Aber sicher doch. Wir haben es einfach nicht gern, wenn jemand Photos von uns macht, besonders nicht, nachdem die Photographie in Amerika so populär geworden war. Eine Photographie beweist eindeutig, daß wir zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gewesen sind. Wenn wir dann zwanzig Jahre später wieder dort auftauchen und immer noch haargenau gleich aussehen, dann ist allen klar, was wir sind. Seit wir jedoch ohnehin öffentlich eingestanden haben, daß es uns gibt, besteht kein Grund mehr dafür, an alten Vorbehalten festzuhalten."

„Ich würde aber wetten, daß ein paar Vampire durchaus noch daran festhalten."

„Natürlich. Es gibt immer noch welche, die sich gern in den Schatten verbergen und jeden Tag in einer Gruft schlafen gehen!"

(Das von einem Mann, der selbst von Zeit zu Zeit splitterfasernackt in bloßer Friedhofserde schläft!)

„Haben andere Vampire dir bei dieser Sache geholfen?"

„Ja", sagte Bill, wobei es so klang, als würde meine Frage ihn überraschen. „Ein paar haben mir geholfen. Manche nahmen die Zusammenarbeit mit mir als Gedächtnistraining, andere als Vorwand, nach alten Freunden zu fahnden, frühere Wirkungsstätten heimzusuchen. Ich bin sicher, daß ich keinesfalls alle Vampire Amerikas beisammen habe - besonders bei den Immigranten aus jüngerer Zeit gibt es Lücken -, aber ich denke schon, daß ich ganz sicherlich so an die achtzig Prozent erfaßt habe."

„Gut - und warum liegt der Königin so viel daran, dieses Programm zu haben? Warum wollten es die anderen Vampire so dringend in die Hände bekommen, nachdem sie wußten, daß es existiert? Sie hätten diese Informationen doch auch alle selbst zusammentragen können, oder?"

„Ja", erwiderte Bill. „Aber natürlich ist es viel leichter, sich die Sachen einfach von mir zu holen - und zur Frage, warum es gut und wünschenswert ist, ein solches Programm zu besitzen: Hättest du nicht auch gern ein Verzeichnis sämtlicher Telepathen der USA?"

„Aber natürlich!" sagte ich. „Mit so einem Buch in der Hand könnte ich mir von den anderen alle möglichen Tips holen. Ich könnte mir Anregungen besorgen, wie man mein Problem besser in den Griff bekommt oder wie ich es besser nutzen kann."

„Genauso sinnvoll wäre es doch sicher auch, ein Buch zusammenzustellen, in denen alle in den USA existierenden Vampire zusammengefaßt sind, einschließlich der Informationen darüber, was diese Vampire besonders gut können, wo ihre Talente liegen."

„Aber es wird doch sicher Vampire geben, die nicht in einem solchen Buch genannt werden wollen", gab ich zu bedenken. „Du hast mir selbst erzählt, daß ein paar Vampire sich nicht zu erkennen geben wollen. Sie wollen weiterhin unerkannt bleiben und im Verborgenen auf Jagd gehen können."

„Genau."

„Aber du hast auch diese Vampire in dein Verzeichnis aufgenommen?"

Bill nickte.

„Hattest du es denn bewußt darauf angelegt, gepfählt zu werden?"

„Mir war nie wirklich klar, welche Versuchung mein Projekt für andere darstellen könnte. Ich hatte einfach nicht bedacht, welche Macht es seinem Besitzer verleiht. Das wurde mir erst bewußt, als andere versuchten, das Programm zu entwenden."

Bill wirkte betrübt.

Nun war aus der Nachbarwohnung heftiges Geschrei zu vernehmen, das unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.

Alcide und Debbie lieferten sich schon wieder eine lautstarke Auseinandersetzung - die beiden waren schlicht und einfach nicht gut füreinander. Aber irgendein makaberer Magnetismus sorgte dafür, daß sie sich stets aufs neue zueinander hingezogen fühlten, nur um sich dann wieder in die Haare zu kriegen. Vielleicht war Debbie an sich ja eine ganz nette Person, deren negative Seiten sich nur zeigten, wenn sie mit Alcide zusammen war?

Ach was - das konnte ich mir wirklich nicht vorstellen! Aber unter Umständen war die Frau normalerweise zumindest halbwegs erträglich - wenn es nicht gerade darum ging, wem Alcide seine Zuneigung schenkte.

Natürlich mußten die beiden sich trennen, es ging gar nicht anders! Man sollte ihnen noch nicht einmal gestatten, im selben Zimmer zu sein!

Ich sollte mir das Schauspiel, das sie boten, zu Herzen nehmen.

Man brauchte mich doch nur anzuschauen; ich war das reine Wrack, durch den Fleischwolf gedreht, ausgeblutet, gepfählt, verprügelt. Ich lag auf dem nackten Fußboden einer eiskalten Wohnung in einer wildfremden Stadt, und neben mir lag ein Vampir, der mich betrogen hatte.

Direkt vor meinen Augen stand eine wichtige, logische Entscheidung und wartetet geduldig darauf, daß ich sie endlich erkannte und entsprechend handelte.

Da schob ich Bill zur Seite und erhob mich leicht schwankend. Ich zog die Jacke über, die ich im Palais geklaut hatte. Als ich die Tür zum Wohnzimmer öffnete, hing Bills Schweigen schwer und bedeutungsvoll hinter mir im Raum. Eric lauschte nach wie vor mit amüsierter Miene dem lauten Streitgespräche, das in der Nachbarwohnung geführt wurde.

„Bitte fahr mich nach Hause", sagte ich.

„Aber natürlich", erwiderte er. „Jetzt? Auf der Stelle?"

„Ja. Alcide kann mir meine Sachen vorbeibringen, wenn er zurück nach Baton Rouge fährt."

„Ist der Lincoln fahrbereit?"

„Oh ja." Mit diesen Worten zog ich die Autoschlüssel aus der Tasche und reichte sie ihm.

Schweigend verließen wir die leere Wohnung und fuhren im Fahrstuhl hinunter zur Parkgarage.

Bill kam uns nicht nach.