Kapitel 3

Als die Sonne aufging, hatte ich gerade einmal eine halbe Stunde lang wirklich geschlafen. Spontan wollte ich aufstehen und Kaffee kochen, aber dann erschien mir das mit einem Mal völlig sinnlos, weswegen ich einfach im Bett liegenblieb. Einmal im Laufe des Vormittags läutete das Telefon, aber ich ließ es klingeln. Es schellte auch an der Tür, aber ich mochte nicht öffnen.

Irgendwann dann - auch der Nachmittag war schon zur Hälfte verstrichen - fiel mir ein, daß es eine Sache gab, die ich unbedingt sofort erledigen mußte: Bill hatte mir doch etwas aufgetragen für den Fall, daß sich seine Rückkehr verzögern sollte! Dieser Auftrag war Bill sehr wichtig gewesen, er hatte darauf gedrungen, daß ich ihm versprach, ihn auf jeden Fall zu erledigen. Nun war genau die Situation eingetreten, die er mir geschildert hatte.

Ich schlafe seit dem Tode meiner Oma im großen Schlafzimmer, das vorher ihr gehört hatte. Ich stand also auf und schleppte mich über den Flur in mein früheres Zimmer. Ein paar Monate zuvor hatte Bill dort den Boden aus meinem alten Wandschrank entfernt und zur Falltür umgebaut. Unter dem Schrank, im Kriechkeller meines Hauses, hatte er sich ein lichtdichtes Schlupfloch gebaut, das durch diese Falltür zu erreichen war. Bill hatte phantastische Arbeit geleistet: Das Versteck war sicher und von außen nicht einsehbar.

Ehe ich die Schranktür öffnete, überzeugte ich mich, daß mich niemand durch das Fenster beobachten konnte. Bis auf ein exakt angepaßtes Stück des Teppichbodens, der auch den Fußboden im übrigen Zimmer bedeckte, war der Boden im Schrank leer. Ich rollte den Teppich beiseite, fuhr mit dem Taschenmesser unten an den Rändern der Schrankwände entlang und öffnete schließlich die Falltür. Ein Blick in das schwarze Loch genügte: Es war voll gestellt. Bills Computer befand sich dort unten, samt Drucker und Monitor und einem Karton voller Disketten.

Also hatte Bill die nun eingetretene Situation ziemlich genau vorausgesehen und die Arbeit, mit der er gerade befaßt war, sorgsam versteckt, ehe er abgereist war. Dabei hatte er nach wie vor auf meine Treue und Zuverlässigkeit gebaut, wo er selbst sich doch mir gegenüber treulos und abtrünnig verhalten hatte. In alle möglichen Gedanken vertieft schüttelte ich den Kopf, schloß die Falltür und rollte den Teppich wieder an Ort und Stelle, wobei ich genau darauf achtete, daß er an den Ecken richtig anlag. Auf den Schrankboden kamen alle möglichen Dinge, für die ich in der kalten Jahreszeit keine Verwendung hatte: Kartons mit Sommerschuhen, eine Strandtasche voller großer Badelaken, eine meiner zahlreichen Tuben Sonnenschutzcreme, der Liegestuhl, auf dem ich mich sonne. In die hinterste Ecke klemmte ich meinen riesigen Sonnenschirm. Zumindest meiner Meinung nach glich der Schrank so einem ganz normal benutzten Wandschrank. Auf der Kleiderstange hingen zudem noch meine Sommerkleider sowie ein paar leichte Bademäntel und Nachthemden. Damit hatte ich Bill den letzten erbetenen Gefallen getan. Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag, und die Energie, die ich gerade noch empfunden hatte, verpuffte auf Nimmerwiedersehen - ich hatte keinerlei Möglichkeit, Bill wissen zu lassen, wie getreu und gewissenhaft ich all seine Wünsche befolgt hatte.

Ich fühlte mich zwiegespalten: Ein Teil von mir (der Teil, der am liebsten nur noch gejammert hätte) wollte Bill unbedingt mitteilen, daß ich Wort gehalten hatte. Der andere Teil wäre am liebsten in den Schuppen gelaufen und hätte dort ein paar nette Pfähle angespitzt.

Ich fühlte mich derart hin- und hergerissen, daß mir nichts einfiel, was ich hätte tun mögen. Also schlich ich zurück in mein Zimmer und kletterte ins Bett. Mein ganzes Leben lang hatte ich das Beste aus allem gemacht; stets war ich tapfer, fröhlich und praktisch veranlagt gewesen. Damit war es nun vorbei! Erneut ergab ich mich ganz meinem Kummer, suhlte mich förmlich im Gefühl, elendiglich betrogen worden zu sein.

Irgendwann mußte ich eingeschlafen sein. Als ich wieder erwachte, zum zweitenmal an diesem Tag, war es bereits dunkel, und Bill war bei mir im Bett. Mein Gott, welche Dankbarkeit, welche Erleichterung mich da überkam! Alles würde gut werden! Glücklich spürte ich den kühlen Körper in meinem Rücken und rollte mich noch halb im Schlaf herum, um meinen Vampir in die Arme zu schließen. Der schob mein langes Nylonnachthemd hoch und streichelte mir liebevoll die Beine. Ich legte ihm die Hand auf die stille Brust und schmiegte mich an ihn. Er wiederum schloß die Arme fester um mich und drückte sich an mich. Ich seufzte vor Glück und schob die Hand zwischen uns, um seine Hose aufzuknöpfen. Alles war wieder so, wie es sein sollte.

Nur, daß er anders roch.

Panisch riß ich die Augen auf und schob energisch eine stahlharte Schulter von mir. Dann stieß ich einen leisen Schreckensschrei aus.

„Ich bin's doch nur!" erklang eine vertraute Stimme.

„Eric! Was machst du denn hier?"

„Ich mache es mir ein bißchen gemütlich."

„Du Schwein! Ich dachte, du wärst Bill! Ich dachte, er sei zurück."

„Sookie, du mußt dich dringend mal waschen."

„Was?"

„Deine Haare sind dreckig, und mit deinem Atem könntest du glatt ein Pferd umhauen."

„Mir ist es völlig schnuppe, ob dich das stört", murmelte ich tonlos.

„Mach schon, geh dich waschen."

„Warum das denn?"

„Weil wir miteinander reden müssen und ich mir ziemlich sicher bin, daß du hier im Bett keine längere Unterredung mit mir führen möchtest. Ich persönlich hätte ja nichts dagegen ...", mit diesen Worten schmiegte Eric sich an mich, um mir zu zeigen, wie wenig er dagegen hatte, „... aber in diesem Fall wäre mir die blitzsaubere Sookie lieber, an die ich mich inzwischen gewöhnt habe."

Die letzte Bemerkung war klug gewählt und traf ins Schwarze: In Windeseile war ich aus dem Bett geschossen. Mein völlig ausgekühlter Körper fand die heiße Dusche wunderbar, und ich war derart erzürnt, daß sich auch mein Innenleben langsam aufheizte. Schließlich überraschte mich Eric nicht zum ersten Mal in meinem eigenen Heim - ich mußte die Einladung an ihn dringend widerrufen. Was mich bislang von diesem drastischen Schritt abgehalten hatte - und auch diesmal wieder davon abhielt -, war die Vorstellung, ich könne irgendwann einmal auf Erics Hilfe angewiesen sein. Wäre er dann nicht in der Lage, unaufgefordert mein Haus zu betreten, dann könnte es sein, daß ich tot war, ehe ich ihn hereinbitten konnte.

Ich hatte mir Jeans, Unterwäsche und einen rotgrünen Weihnachtspullover mit Rentiermuster mit ins Badezimmer genommen, einfach nur, weil dieser Pullover zuoberst in der entsprechenden Schublade gelegen hatte. Man hat schließlich nur einen Monat, in dem man diese verdammten Dinger tragen kann - und den nutze ich in der Regel weidlich aus. Ich fönte mir die Haare, wobei ich wünschte, Bill sei bei mir, um sie mir auszukämmen. Das tat er nämlich gern - und ich hatte es gern, ihn gewähren zu lassen. Beim Gedanken an Bill hätte ich gleich wieder zusammenbrechen können. Rasch lehnte ich daher den Kopf gegen die Badezimmerwand und verharrte so stumm, bis ich mich wieder im Griff hatte. Dann holte ich einmal tief Luft, wandte mich entschlossen dem Badezimmerspiegel zu und klatschte mir Make-up ins Gesicht. Nun, da die kalte Jahreszeit bereits so weit vorangeschritten war, konnte man meine Sonnenbräune weiß Gott nicht mehr als phantastisch bezeichnen, aber dank der Sonnenbank im Videoverleih von Bon Temps schimmerten meine Wangen immer noch recht nett.

Ich bin ein Sommermensch. Ich liebe Sonne und kurze Kleider, das Gefühl der langen Tage voller Sonnenlicht, in denen man alles mögliche tun kann. Selbst Bill liebte die Düfte des Sommers: Er liebte es, auf meiner Haut Sonnenschutzcreme und (er hatte mir feierlich versichert, das sei möglich) sogar die Sonne selbst zu riechen.

Aber das Schöne am Winter waren die langen Nächte - so hatte ich zumindest gedacht, als Bill noch bei mir gewesen war, um diese Nächte mit mir zu teilen. Verzweifelt schleuderte ich meine Bürste einmal quer durchs Bad. Mit recht lautem Klappern, das mich ziemlich befriedigte, landete sie in der Badewanne. Dazu schrie ich, so laut ich konnte: „Du gottverdammter Schweinehund!" Meine eigene Stimme ein so schlimmes Wort brüllen zu hören beruhigte mich dann mehr, als irgend etwas anderes mich in dieser Situation hätte beruhigen können.

Als ich aus dem Badezimmer trat, traf ich im Zimmer einen vollständig bekleideten Eric an. Er trug das Reklame-T-Shirt einer der Brauereien, die das Fangtasia belieferten ('Dies Blut für dich!' stand darauf), dazu Jeans und er war sogar so aufmerksam gewesen, mein Bett zu machen.

„Dürfen Pam und Chow auch ins Haus?" fragte er.

Ich ging durch das Wohnzimmer zur Vordertür, um den beiden zu öffnen. Die beiden hockten auf der Hollywoodschaukel, die auf meiner vorderen Veranda steht. Sowohl Pam als auch Chow befanden sich in dem Zustand, den ich als Auszeit bezeichne: Wenn Vampire nichts Bestimmtes vorhaben, sind sie in der Lage, sich sozusagen völlig auszuschalten, sich in sich selbst zurückzuziehen. Dann können sie ganz und gar reglos herumstehen oder herumsitzen, die Augen weit offen, aber ohne etwas zu sehen. Nach einer solchen Auszeit fühlen sie sich erfrischt - so hat es zumindest den Anschein.

„Bitte, tretet ein", forderte ich die beiden auf.

Bedächtig traten Pam und Chow in mein Haus, wobei sie sich immerfort interessiert umsahen, als befänden sie sich auf einer Bildungsreise. Ah: Bauernhaus, Louisiana, frühes einundzwanzigsten Jahrhundert! Das Haus hatte immer schon unserer Familie gehört, seit es damals, vor hundertsechzig Jahren, erbaut worden war. Als mein Bruder Jason beschloß, auf eigenen Beinen zu stehen, war er in das Haus gezogen, das sich meine Eltern nach ihrer Hochzeit gebaut hatten. Ich war hier geblieben, bei Oma, in diesem so oft umgebauten, so oft renovierten Haus, das sie mir dann in ihrem Testament hinterlassen hatte.

Das, was jetzt mein Wohnzimmer darstellte, war ursprünglich einmal das ganze Haus gewesen; diverse Anbauten, zu denen auch die moderne Küche und die Badezimmer gehörten, waren später hinzugefügt worden und noch vergleichsweise neu. Das Obergeschoß - wesentlich kleiner als das Erdgeschoß - hatte man Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts aufgestockt, als es eine Generation Kinder unterzubringen galt, die allesamt das Säuglingsalter überlebt hatten. Ich ging dieser Tage selten dort hinauf. Im Sommer war es unter dem Dach drückend heiß, trotz der Klimaanlagen, die wir in die einzelnen Fenster hatten setzen lassen.

Meine Möbel waren ausnahmslos alt, ohne bestimmten Stil und auf absolut konventionelle Art sehr gemütlich. Im Wohnzimmer standen Sofas, Stühle und ein Fernseher samt Videogerät. Vom Wohnzimmer aus gelangte man in einen Flur, von dem zur einen Seite mein großes Schlafzimmer, das über ein eigenes Bad verfügte, sowie ein weiteres Badezimmer und mein früheres Schlafzimmer abgingen. Auf der anderen Flurseite standen die Schränke für Weißwäsche und Mäntel. Wenn man den Flur durchquert hatte, gelangte man in den Koch- und Eßbereich, der kurz nach der Hochzeit meiner Großeltern angebaut worden war. An die Küche schloß sich eine riesige überdachte Veranda an, deren Seiten ich gerade mit Fliegendraht geschlossen hatte. Diese Veranda beherbergte neben einer wirklich sehr nützlichen, uralten Sitzbank noch meine Waschmaschine, den Trockner, sowie ein paar Regale.

In jedem Zimmer hingen ein Deckenventilator und an einem diskret angebrachten kleinen Haken eine Fliegenklatsche. Die Klimaanlage pflegte meine Großmutter nur dann einzuschalten, wenn es wirklich nicht mehr anders ging.

In den ersten Stock gelangten Pam und Chow nicht - dafür entging ihnen aber im Erdgeschoß auch nicht das kleinste Detail.

Als die beiden sich endlich an dem alten Tisch aus Kiefernholz niedergelassen hatten, an dem bereits ganze Generationen der Familie Stackhouse ihre Mahlzeiten einzunehmen pflegten, hatte ich das dumpfe Gefühl, in einem Museum zu wohnen, dessen Bestand gerade neu katalogisiert worden war. Ich holte drei Flaschen TrueBlood aus dem Kühlschrank, wärmte sie in der Mikrowelle, schüttelte jede einzelne Flasche sorgsam durch und knallte sie vor meinen Gästen auf den Tisch.

Chow, der erst seit ein paar Monaten im Fangtasia arbeitete, war im Grunde ein Fremder für mich. Ich nahm an, er habe sich in die Bar eingekauft, wie der andere Barmann vor ihm es ebenfalls getan hatte. Chow war stark tätowiert in einem akkuraten, asiatisch anmutenden Muster in Dunkelblau, so liebevoll ausgeführt und fein ziseliert, daß die Tätowierungen fast wie vornehmer Kleiderstoff wirkten. Dieser Körperschmuck unterschied sich in einem solchen Maße von der Dekoration Marke Eigenbau aus dem Gefängnis, die den Mann, der mich überfallen hatte, geschmückt hatte, daß man kaum glauben mochte, daß beide Tätowierungen für dieselbe Kunstrichtung standen. Ich hatte mir sagen lassen, Chows Tätowierungen wiesen ihn als Mitglied der Yakuza aus, aber bisher hatte ich nie genug Mut aufgebracht, ihn direkt danach zu fragen, zumal es mich ja auch eigentlich nichts anging. Sollte es sich bei den Tätowierungen aber wirklich um das Muster dieses Clans handeln, dann war Chow für einen Vampir noch nicht sehr alt. Ich hatte mir nämlich Informationen über die Yakuza besorgt und festgestellt, daß Tätowierungen in der langen Geschichte dieser kriminellen Organisation eine (relativ) neue Entwicklung markierten. Chows Haar war lang und schwarz (was nun wirklich nicht weiter verwunderte), und mir war von vielen Seiten her zugetragen worden, eine Menge Kunden kämen nur seinetwegen ins Fangtasia. Er arbeitete in der Regel mit freiem Oberkörper, hatte jedoch an diesem Abend ein Zugeständnis an die knackige Kälte im Land gemacht und sich eine rote Weste mit Reißverschluss übergezogen.

Ich konnte nicht anders: Bei Chows Anblick schoß mir der Gedanke durch den Kopf, ob der Mann sich wohl je wirklich nackt fühlte, wo doch sein Körper so durchgehend verziert war. Ich wollte, ich hätte ihn danach fragen können, aber so etwas kam natürlich nicht in Betracht. Chow war die einzige Person asiatischer Abstammung, die ich je kennengelernt hatte, und auch wenn wir alle rein theoretisch ja genau wissen, daß Individuen nie als repräsentativ für die gesamte Rasse gelten können, erwartet man doch irgendwie, daß sich zumindest ein paar Verallgemeinerungen als stimmig erweisen. Chow wirkte äußerst zurückhaltend, ohne jedoch schweigsam und bitter zu sein. Gerade schwatzte er vergnügt mit Pam, allerdings leider in einer Sprache, die ich nicht verstand. Dabei lächelte der Vampir mich in einer Art und Weise an, die mich sehr verunsicherte. Vielleicht war er gar nicht so rätselhaft, wie ich gedacht hatte. Wahrscheinlich zog er mich bloß auf irgendeine beleidigende Art und Weise nach Strich und Faden durch den Kakao, und ich war zu blöd, das mitzukriegen.

Pam trug, wie eigentlich immer, die nichtssagende, anonyme Kleidung der Mittelschicht: an diesem Abend eine weiße lange Hose aus irgendeinem Strickmaterial, dazu einen blauen Pullover. Ihr blondes Haar floß schimmernd, glatt und offen über ihren Rücken. Sie sah aus wie Alice im Wunderland mit Fangzähnen.

„Habt ihr noch mehr darüber rauskriegen können, was mit Bill ist?" fragte ich, nachdem alle drei Vampire einen Schluck Blut getrunken hatten.

„Ein wenig schon", sagte Eric vorsichtig.

Ich verschränkte die Hände im Schoß und wartete.

„Ich weiß nun sicher, daß Bill entführt wurde", fuhr Eric fort, woraufhin sich das Zimmer vor meinen Augen eine ganze Sekunde lang im Kreis zu drehen schien. Hastig holte ich tief Luft, um das Schwindelgefühl wieder loszuwerden.

„Wer?" Korrekte Grammatik war im Moment wahrlich nicht meine Hauptsorge.

„Das können wir nicht mit Gewißheit sagen", erklärte Chow. „Die Zeugenaussagen stimmen nicht überein." Chow sprach ein sehr klares Englisch, wenngleich mit deutlichem Akzent.

„Überlaßt die Zeugen doch mir", sagte ich daraufhin. „Wenn es sich um Menschen handelt, bekomme ich die Wahrheit schon heraus."

„Das wäre die logische Vorgehensweise, wenn die Betreffenden in unserer Befehlsgewalt stünden", sagte Eric. „Leider ist das jedoch nicht der Fall."

Befehlsgewalt - daß ich nicht lache! „Das mußt du mir erklären!" Ich fand, unter den gegebenen Umständen brachte ich erstaunlich viel Geduld auf.

„Die Menschen, um die es hier geht, haben dem König von Mississippi die Treue geschworen."

Ich spürte deutlich, wie mir der Unterkiefer herunterfiel, konnte das aber nicht verhindern. „Nichts für ungut", sagte ich dann, nach einer ziemlich langen Pause, „aber mir war so, als sei gerade von einem König die Rede gewesen. Von einem König von Mississippi?"

Eric nickte ohne die geringste Spur eines Lächelns.

Daraufhin starrte ich meine Hände an, wobei ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, was aber selbst unter diesen tragischen Umständen einfach unmöglich schien. Schon bebten mir die Lippen. „Echt?" fragte ich ein wenig hilflos. Ich hätte selbst nicht sagen können, warum mir nun ausgerechnet die Tatsache, daß Mississippi einen König haben sollte, so komisch vorkam - immerhin hatte doch auch Louisiana eine Königin. Aber König von Mississippi - und von der Königin durfte ich ja offiziell nichts wissen! Reiß dich zusammen, Sookie! befahl ich mir streng.

Die Vampire blickten einander vorsichtig an. Dann nickten sie alle im Takt.

„Was ist mit dir? Bist du König von Louisiana?" fragte ich Eric, und mir wurde ganz schwindelig von dem Bemühen, die verschiedenen Geschichten auseinanderzuhalten. Mittlerweile kicherte ich so unkontrolliert, daß es mir schwerfiel, aufrecht im Stuhl sitzen zu bleiben. Gut möglich, daß in diesem Lachen eine ganze Portion Hysterie mitschwang.

„Nein, nein", wehrte Eric ab. „Ich bin der Sheriff des fünften Bezirks."

Das gab mir den Rest. Tränen rannen mir über beide Wangen - selbst Chow wirkte bei dem Anblick leicht verunsichert. Rasch stand ich auf und bereitete mir in der Mikrowelle eine Tasse Schweizer Trinkschokolade zu. Dann rührte ich umständlich mit dem Löffel in der Tasse, um das Getränk abzukühlen. Diese simplen Handreichungen beruhigten meine Nerven ein wenig, und als ich nun an den Tisch zurückkehrte, war ich schon fast wieder ernst und beherrscht.

„Davon habt ihr mir ja noch nie etwas erzählt", sagte ich, um mich ein wenig für meine übersteigerte Reaktion zu entschuldigen. „Sehe ich das richtig - ihr habt Amerika in Königreiche aufgeteilt?"

Pam und Chow warfen Eric erstaunte Blicke zu, der jedoch schenkte den beiden keinerlei Beachtung. „Ja", antwortete er schlicht. „Das ist schon so, seit Vampire nach Amerika kamen. Natürlich hat sich das System im Laufe der Zeit geändert, wie sich auch die Vampirbevölkerung geändert hat. In den ersten zweihundert Jahren gab es weit weniger Vampire in den USA als jetzt, weil die Reise so gefährlich war. Es war sehr schwierig, die lange Fahrt mit dem eingeschränkten Blutvorrat zu bewerkstelligen, der zur Verfügung stand." Der eingeschränkte Blutvorrat - diese Bemerkung bezog sich natürlich auf die Besatzung des jeweiligen Schiffs. „Der Ankauf von Louisiana hat ziemlich viel verändert."

Wie auch nicht? Ich mußte einen erneuten Lachanfall unterdrücken. „Diese Königreiche wiederum sind aufgeteilt in ...?"

„Bezirke. Früher haben wir Lehen gesagt, aber dann wurde uns klar, daß wir mit diesem Begriff zu weit hinter der Zeit herhinken. Jeder Bezirk wird von einem Sheriff kontrolliert. Wie du weißt, leben wir im fünften Bezirk des Königreichs Louisiana. Stan, den du in Dallas besucht hast, ist Sheriff des sechsten Bezirks des Königreichs von ... in Texas."

Ich stellte mir Eric als Sheriff von Nottingham vor und, nachdem dieses Bild seinen Unterhaltungswert eingebüßt hatte, als Wyatt Earp. Ganz eindeutig war mein Kopf viel zu leicht geworden; überhaupt fühlte ich mich körperlich ziemlich mies. Streng wies ich mich an, meine Reaktion auf das Gehörte hintanzustellen und mich erst einmal auf das Problem zu konzentrieren, mit dem ich unmittelbar konfrontiert war. „Habe ich das richtig verstanden: Bill wurde bei Tageslicht entführt?"

Um mich herum nickte alles.

„Und Menschen, die im Königreich Mississippi leben, wurden Zeuge dieser Entführung?" Königreich Mississippi: Wie Butter zergingen mir die Worte auf der Zunge! „Wobei diese Menschen unter der Befehlsgewalt eines Vampirkönigs stehen?"

„Russel Edgington heißt er. Ja, die Zeugen leben in seinem Reich, aber ein paar von ihnen würden auch mir Informationen zukommen lassen. Das hätte jedoch seinen Preis."

„Dieser König läßt also nicht einfach zu, daß du die Leute verhörst?"

„Wir haben ihn noch gar nicht danach gefragt. Es könnte nämlich sein, daß Bill auf seinen Befehl hin entführt worden ist."

Das warf eine Handvoll neuer Fragen auf. Ich befahl mir jedoch streng, erst einmal bei einer Sache zu bleiben. „Wie komme ich an diese Zeugen heran? Gesetzt den Fall, ich beschließe, an sie herankommen zu wollen?"

„Wir haben uns etwas einfallen lassen. Eigentlich sollte es dir so möglich sein, in dem Gebiet Nachforschungen anzustellen, in dem Bill entführt worden ist und den Menschen dort Auskünfte zu entlocken", erklärte Eric. „Wenn unser Vorhaben klappt, kannst du nicht nur die Leute befragen, die von mir bestochen worden sind, sondern generell jeden, der mit Russel zu tun hat. Es wäre allerdings riskant. Das Ganze kann nur funktionieren, wenn ich dir alles mitteile, was mir selbst bis jetzt bekannt ist. Vielleicht bist du ja aber gar nicht bereit dazu, diese Befragungen vorzunehmen. Immerhin gab es bereits einen Versuch, auch dich zu entführen. Wer immer Bill in seiner Gewalt hat, scheint über deine Person noch nicht viel zu wissen. Aber es kann nicht lange dauern, bis Bill redet. Solltest du in der Nähe sein, wenn sie ihn im Verhör brechen, dann haben sie dich sofort."

„Dann bräuchten sie mich doch aber gar nicht mehr", stellte ich klar. „Wenn sie ihn bereits gebrochen haben!"

„Das ist nicht gesagt", warf Pam ein, woraufhin die drei Vampire einander wieder einmal rätselhafte Blicke zuwarfen.

„Erzählt mir die ganze Sache von Anfang an", bat ich. Da Chow sein Blut ausgetrunken hatte, stand ich auf, um ihm eine neue Flache zu holen.

„So wie Russel Edgingtons Leute es darstellen, sollte Betty Jo Pickard, Edgingtons Stellvertreterin, gestern nach St. Louis fliegen. Angeblich haben die Leute, die beauftragt waren, ihren Sarg zum Flughafen zu bringen, statt dessen irrtümlich Bills identisch aussehenden Sarg mitgenommen. Am Flughafen, in dem von Anubis Airlines geleasten Hangar, ließen sie diesen Sarg dann ungefähr zehn Minuten lang unbeaufsichtigt stehen, um irgendwelchen Papierkram zu erledigen. Während dieser zehn Minuten, behaupten die Leute, hat jemand den Sarg, der auf einer Art Rollbahre stand, zum Hinterausgang des Hangars hinaus gerollt, auf einen Laster verladen und ist damit von dannen gefahren."

„Das war dann also jemand, der ins Sicherheitssystem von Anubis eindringen konnte!" bemerkte ich, wobei man mir durchaus anhören konnte, wie unwahrscheinlich ich so etwas fand. Anubis Airlines war nur gegründet worden, um Vampire sowohl nachts als auch tagsüber sicher von einem Ort zum anderen zu transportieren. Die Fluglinie garantierte jedem Vampir, der sich schlafend in seinem Sarg auf Reisen schicken lassen wollte, hundertprozentige Sicherheit - das war ihr größter Vorteil anderen Fluglinien gegenüber. Natürlich müssen Vampire nicht in Särgen schlafen, aber auf diese Art und Weise ist es wirklich am einfachsten, sie von einem Ort zum nächsten zu schaffen. Als Vampire versuchten, mit Delta Airlines zu fliegen, war es zu unglücklichen 'Zwischenfällen' gekommen: Ein Fanatiker hatte es fertiggebracht, sich Zugang zum Frachtraum des Flugzeuges zu verschaffen, wo er dann mit Hilfe einer Axt ein paar Sargdeckel zertrümmerte. Die North-West Airlines hatten unter einem ähnlichen Problem zu leiden gehabt. Danach war es keinem Untoten mehr wirklich sinnvoll erschienen, die günstigen Angebote von Delta in Anspruch zu nehmen: Inzwischen flogen sie fast alle ausschließlich mit Anubis.

„Ich kann mir vorstellen, daß es möglich war, jemand bei Edgingtons Leuten einzuschleusen. Die Angestellten von Anubis mußten dann davon ausgehen, daß diese Person zu Edgingtons Leuten gehört, während Edgingtons Leute dachten, der Betreffende sei ein Angestellter von Anubis. Er hätte Bill zum Hintereingang hinausrollen können, als Edgingtons Leute gerade nicht hinsahen, und die Wachen von Anubis hätten sich nichts dabei gedacht."

„Heißt das, die Anubis-Leute haben die Papiere nicht überprüft? Bei einem Sarg, der ihren Hangar verläßt?"

„Anubis sagt, sie hätten Papiere gesehen. Die Betty Jo Pickards. Pickard war auf dem Weg nach Missouri, um mit den Vampiren von St. Louis über ein Handelsabkommen zu verhandeln." Einen Moment lang war ich abgelenkt: Welche Handelsgüter mochten die Vampire von Mississippi denn wohl um Himmels willen mit denen von Missouri auszutauschen haben? Dann aber befand ich, daß ich das gar nicht wirklich wissen wollte.

„Es herrschte zum fraglichen Zeitpunkt dort wohl einige Verwirrung", erklärte Pam. „Anscheinend war unter dem Heck eines anderen Anubis-Flugzeuges Feuer ausgebrochen, und so waren die Wachen abgelenkt."

„Aha - ein Unfall, der wohl kein Zufall war."

„Der Meinung bin ich auch", pflichtete Chow bei.

„Warum sollte jemand Bill entführen?" fragte ich, mußte allerdings befürchten, die Antwort bereits zu kennen. Trotzdem hoffte ich, einer meiner Besucher würde mir eine andere Erklärung präsentieren als die, die ich erwartete. Nur gut, daß mich Bill auf diesen Moment vorbereitet hatte.

„Bill war mit einem kleinen Sonderprojekt befaßt", sagte Eric, die Augen unverwandt und aufmerksam auf mein Gesicht gerichtet. „Kann es sein, daß du darüber etwas weißt?"

Mehr, als ich wissen wollte. Weniger, als ich eigentlich hätte wissen sollen!

„Was für ein Projekt denn?" fragte ich unschuldig zurück. Schließlich habe ich mein ganzes Leben damit zugebracht, meine Gefühle und Gedanken zu verbergen. Dies kam mir nun zugute: Ich konnte all die Fähigkeiten und Kenntnisse in Anspruch nehmen, die ich mir in diesem Zusammenhang erworben hatte, denn von genau diesen Fähigkeiten und Kenntnissen hing nun mein Leben ab.

Erics Blick huschte erst hinüber zu Pam, dann zu Chow. Beide schienen ihm wohl ein klitzekleines Zeichen gegeben zu haben, weswegen er sich wieder ganz auf mich konzentrierte: „Hör mal, Sookie, es fällt mir wirklich schwer zu glauben, daß Bill dir nichts erzählt hat."

„Warum?" fragte ich wütend - Angriff ist schließlich die beste Verteidigung. „Wann passiert es denn schon, daß einer von euch einem Menschen sein Herz ausschüttet? Bill ist ja wohl eindeutig einer von euch, oder?" Ich legte so viel ehrliche Entrüstung in diese Worte, wie ich aufbringen konnte.

Wieder verständigten die drei sich untereinander mit mysteriösem Augengeklimper.

„Du meinst wirklich, wir nehmen dir ab, Bill habe dir nicht gesagt, woran er gerade gearbeitet hat?"

„Ja, genau das meine ich! Weil er es mir nämlich ehrlich nicht gesagt hat." Ich war ja mehr oder weniger von ganz allein darauf gekommen.

„Also", sagte Eric schließlich, wobei er mich über den Tisch hinweg ansah, die blauen Augen so hart wie Murmeln aus Glas und ungefähr ebenso warm. Offenbar hatte er es aufgegeben, den netten Vampir zu spielen. „Ich werde jetzt folgendes tun. Ich kann nicht feststellen, ob du lügst oder nicht, und das allein ist an und für sich eine ziemlich erstaunliche Sache. Zu deinem eigenen Wohl hoffe ich, daß du die Wahrheit sagst. Ich könnte dich auch foltern, bis du mit der Wahrheit herausrückst oder bis ich sicher sein kann, daß du von Anfang an die Wahrheit gesagt hast."

Mein Gott! Ich holte tief Luft, atmete langsam wieder aus und dachte die ganze Zeit krampfhaft darüber nach, welches Gebet wohl zu dieser Lebenslage paßte. Herr, laß mich nicht zu laut schreien? Das klang irgendwie lahm und sehr negativ. Außerdem würde mich außer den Vampiren ohnehin niemand hören. Wenn es soweit kam, konnte ich mich getrost gehenlassen.

„Wenn ich dich aber foltere", fuhr Eric nachdenklich fort, „dann bist du am Ende hinterher zu beschädigt für den zweiten Teil meines Plans. Dann taugst du dafür nicht mehr. Eigentlich spielt es auch wirklich keine Rolle, ob du gewußt hast, was Bill hinter unserem Rücken treibt oder nicht."

Hinter ihrem Rücken? Ach du Scheiße! Nun wußte ich auch, wen ich für meine total mißliche Lage verantwortlich machen konnte: die große Liebe meines Lebens! Bill Compton persönlich!

„Da war eben eine Reaktion zu sehen", kam es nun von Pam.

„Aber nicht die, mit der ich gerechnet hatte", gab Eric trocken zurück.

„Ich kann nicht sagen, daß mich der Gedanke an die Option Folter fröhlich stimmt!" Inzwischen steckte ich so tief in der Scheiße, ich hätte gar nicht mehr sagen können, wie tief wirklich. Zudem war ich derart gestreßt, daß ich das Gefühl hatte, mein Kopf schwebe irgendwo weit oberhalb meines restlichen Körpers. „Mir fehlt Bill." Das war die Wahrheit, er fehlte mir wirklich - auch wenn ich ihn in diesem Moment liebend gern ausführlich in den Hintern getreten hätte. Wenn ich doch nur zehn Minuten lang irgendwo mit ihm allein hätte reden können! Dann hätte ich wenigstens ein bißchen besser über die Dinge Bescheid gewußt, die mir in den nächsten Tagen bevorstanden. Mittlerweile rannen mir Tränen über die Wangen. Aber ob ich es nun wollte oder nicht: Es gab noch einiges, was die drei mir erklären, einiges, was ich mir anhören mußte. „Mir fehlt Bill", wiederholte ich, „und ich will, daß er mir erklärt, warum er mich belogen hat, was diese Reise betrifft. Wißt ihr etwas darüber? Pam sagte etwas von schlechten Neuigkeiten?"

Eric warf Pam einen Blick zu, der Bände sprach und ganz und gar nicht liebenswürdig war.

„Sie tropft schon wieder", verteidigte sich Pam peinlich berührt. „Ich finde, sie sollte die Wahrheit erfahren, ehe sie nach Mississippi fährt. Außerdem: Wenn sie für Bill Geheimnisse wahrt, dann wird sie das ..."

... dazu bringen, sie alle auszuplaudern? Bill die Treue aufzukündigen? Zu der Einsicht bewegen, daß sie uns helfen muß?

Es war ganz deutlich zu sehen, daß Chow und Eric mich lieber weiterhin im Dunkeln hätten tappen lassen. Die beiden waren höchst unzufrieden darüber, daß Pam mir gegenüber Andeutungen gemacht, mir bestätigt hatte, was ich ja eigentlich bereits selbst wußte: daß die Dinge zwischen mir und Bill nicht zum besten standen. Die beiden Vampire betrachteten ihre Artgenossin eine ganze Weile schweigend und kommentarlos; dann nickte Eric kurz und entschieden.

„Warte mit Chow draußen", befahl er Pam. Die warf ihm daraufhin einen unfreundlichen Blick zu, ging dann aber zusammen mit dem Tätowierten hinaus. Beide ließen ihre leeren Flaschen einfach stehen. Nicht einmal bedankt hatten sie sich für das Blut, geschweige denn, daß sie die Flaschen ausgespült hätten! Mein Kopf wurde immer leichter, während ich darüber nachdachte, wie schlecht in der Regel die Manieren von Vampiren waren. Irgendwann spürte ich, daß meine Wimpern zitterten; mir schoß durch den Kopf, daß ich womöglich gleich in Ohnmacht fallen würde. Nun bin ich beileibe keines dieser zerbrechlichen Püppchen, die bei jeder Kleinigkeit umkippen, aber eine zünftige Ohnmacht, hatte ich das Gefühl, stünde mir unter den gegebenen Umständen mittlerweile durchaus zu. Zumal ich, wie ich mich schwach erinnerte, seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte.

„Laß das!" befahl Eric und klang dabei so, als sei es ihm ernst mit diesem Befehl. Ich versuchte, mich ganz auf seine Stimme zu konzentrieren und hob den Kopf.

Dann nickte ich, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich mein Bestes tat, seinem Wunsch nachzukommen.

Eric kam herüber auf meine Seite des Eßtischs, nahm den Stuhl, auf dem zuvor Pam gesessen hatte, drehte ihn, bis er direkt und ziemlich nah vor meinem Stuhl stand, setzte sich und beugte sich vor, wobei er seine große, weiße Rechte auf die Hände legte, die ich immer noch brav im Schoß gefaltet hielt. Wenn er seine Hand nun schloß, würde mir das mühelos sämtliche Finger brechen. Als Kellnerin könnte ich dann nicht mehr arbeiten.

„Ich sehe nicht gern, wie sehr du dich vor mir fürchtest", sagte der große Vampir, das Gesicht zu nah an meinem. Ich konnte sogar sein Rasierwasser riechen - 'Ulysses', wenn mich nicht alles täuschte. „Ich habe dich schon immer sehr gern gehabt", fuhr er fort.

Er hatte schon immer mit mir schlafen wollen!

„Außerdem will ich dich ficken." Er grinste, aber in diesem Augenblick übte das keinerlei Wirkung auf mich aus. „Wenn wir uns küssen ... ist das sehr, sehr erregend." Geküßt hatte ich Eric allenfalls in Ausübung unserer gemeinsamen Pflichten, wenn man das so sagen konnte, keineswegs aber als Freizeitvergnügen! Aber erregend waren die Küsse gewesen. Wie hätte es auch anders sein können: Eric sah umwerfend aus und hatte mehrere hundert Jahre lang Zeit gehabt, seine Knutschtechnik zu perfektionieren.

Der Vampir kam näher und näher. Wollte er mich nun küssen oder beißen - ich hätte es nicht mehr sagen können. Seine Fänge jedenfalls waren ausgefahren. Das bedeutete, daß er hungrig, wütend oder geil war - oder aber alles drei auf einmal. Junge Vampire tendieren zum Lispeln, bis sie sich an die Fangzähne gewöhnt haben; bei Eric wäre man nicht auf die Idee gekommen, daß sie ihn stören könnten. Auch den Umgang mit Fangzähnen hatte er jahrhundertelang üben können.

„Die Absicht, mich erst mal zu foltern, hat nicht gerade dazu beigetragen, daß ich mich sexy fühle", erklärte ich.

„Chow dagegen fand die Perspektive höchst anregend", flüsterte Eric in mein Ohr.

Ich zitterte nicht, obwohl ich doch eigentlich bei diesen Worten hätte zittern müssen. „Kannst du das ganze nicht abkürzen?" wollte ich wissen. „Willst du mich nun foltern oder nicht? Bist du Freund oder Feind? Wirst du Bill finden oder ihn irgendwo vermodern lassen?"

Eric lachte. Ein kurzes, irgendwie nicht wirklich fröhliches Lachen, das mir aber im Moment lieber war, als ihn ständig näher an mich heranrücken zu sehen. „Ach Sookie, du bist wirklich eine Nummer!" verkündete er, aber das klang nicht so, als fände er diese Nummer reizend. „Ich werde dich nicht foltern. Zum einen möchte ich wirklich nur ungern diese wunderbare Haut zerstören, die ich eines Tages gewiß einmal insgesamt zu sehen bekomme."

Na, wollen wir hoffen, daß sich meine Haut noch an meinem Körper befindet, wenn das geschieht.

„Du wirst nicht immer so große Angst vor mir haben", versicherte Eric, als wisse er genau, was die Zukunft bringen würde. „Du wirst auch Bill nicht immer so treu ergeben sein, wie du es im Moment bist. Da ist nämlich eine Sache, die ich dir sagen muß."

Nun war es also soweit, nun sollte wohl der Hammer kommen. Eric schlang kalte Finger um meine Hände, und ohne es zu wollen klammerte ich mich an ihn. Kein einziges Wort fiel mir ein, das ich jetzt hätte sagen können, zumindest keins, das sicher, das unverfänglich gewesen wäre. Also richtete ich die Augen stumm und unverwandt auf Erics Gesicht.

„Bill", teilte der alte Vampir mir ernst mit, „war von einem anderen Vampir nach Mississippi berufen worden, von einer Vampirin, die er einst, vor vielen Jahren, sehr gut gekannt hat. Ich weiß nicht, ob dir schon aufgefallen ist, daß sich Vampire nur höchst selten mit anderen Vampiren als Paar zusammentun, es sei denn, für die eine oder andere Liebesnacht, und auch solche Liebesnächte sind recht spärlich. Wir vermeiden solche Beziehungen aus dem Grunde, weil uns das miteinander Schlafen, der Austausch von Blut, ewige Macht über einander verleiht. Dieser Vampirin ..."

„Ich will ihren Namen wissen", sagte ich.

„Lorena", erwiderte Eric widerstrebend. Möglicherweise jedoch hatte er mir den Namen auf jeden Fall nennen wollen und tat nun nur so, als widerstrebe es ihm, das zu tun. Wer zum Teufel konnte das wissen, bei einem Vampir?

Eric wartete ab, ob ich noch mehr sagen würde, aber ich sagte nichts mehr.

„Sie war in Mississippi. Ich weiß nicht, ob sie dort immer residiert oder ob sie nur hingegangen ist, um Bill dorthin zu locken. Sie hat lange in Seattle gewohnt, was ich weiß, da Bill und sie dort viele Jahre zusammen gewohnt haben."

Ich hatte mich schon gefragt, wie Bill ausgerechnet auf Seattle gekommen war, als er mir ein Reiseziel hatte nennen müssen. Er hatte sich also durchaus nicht irgendeine Stadt einfach so aus der Luft gegriffen.

„Was immer ihre Gründe gewesen sein mochten, ihn um einen Besuch dort zu bitten ... welche Ausrede sie auch gefunden haben mag, warum nicht statt dessen sie hierher kommen konnte ... vielleicht wollte er auch einfach nur Rücksicht auf dich nehmen ..."

In diesem Moment wäre ich am liebsten gestorben. Ich holte tief Luft und starrte wortlos auf unsere Hände, die friedlich vereint in meinem Schoß lagen. Eric direkt in die Augen zu sehen schaffte ich nicht; dazu war ich viel zu beschämt.

„Er war - er wurde - von neuem völlig verzaubert von ihr. Nach ein paar Nächten rief er Pam an, um ihr zu sagen, er käme früher als geplant und ohne dir Bescheid zu sagen nach Hause, denn er wollte sich erst um deine weitere Versorgung kümmern, ehe er sich mit dir traf."

„Weitere Versorgung?" Ich klang heiser wie eine Krähe.

„Bill wollte finanzielle Vorkehrungen für dich treffen."

Das schockierte mich so, daß ich kreidebleich wurde. „In Rente wollte er mich schicken!" sagte ich wie betäubt. Ganz gleich, wie gut er es gemeint haben mochte; Schlimmer hätte Bill mich nicht beleidigen können. Solange er zu meinem Leben gehört hatte, war es ihm nie in den Sinn gekommen, sich nach meinen finanziellen Verhältnissen zu erkundigen. Bei seinen neu entdeckten Nachkommen, den Bellefleurs dagegen hatte er es kaum erwarten können, ihnen kräftig unter die Arme zu greifen.

Aber nun, wo er nicht länger an meinem Leben teilhaben mochte, wo er sich schuldig fühlte, weil er vorhatte, das jämmerliche, bemitleidenswerte Ding, das ich war, im Stich zu lassen, da machte er sich auf einmal Gedanken darum, wie es wohl um meine Finanzen bestellt war.

„Er wollte ...", setzte Eric an, hielt dann aber inne und sah mir aufmerksam ins Gesicht. „Na, lassen wir das erst einmal. Ich hätte dir das alles gar nicht erzählt, wenn Pam sich nicht eingemischt hätte. Ich hätte dich einfach losgeschickt. Nichtsahnend. Dann wärst du nämlich nicht durch meine Worte so verletzt worden, wie du jetzt verletzt wurdest, und ich müßte dich nicht so inständig anflehen, mir zu helfen, wie ich es jetzt tun muß."

Ich zwang mich zum Zuhören. Ich packte Erics Hand, als sei sie mein Rettungsanker.

„Was ich jetzt unternehmen werde - und, Sookie: Du mußt wissen, daß es dabei auch um meine Haut geht..."

Ich hatte Erics Gesicht nicht aus den Augen gelassen, und so entging es ihm nicht, wie verwundert ich bei diesen Worten dreinschaute.

„Ganz richtig: Mein Job und unter Umständen sogar mein Unleben stehen auf dem Spiel. Nicht nur deins und Bills. Ich schicke dir morgen eine Kontaktperson. Der Mann lebt in Shreveport, hat aber in Jackson eine Zweitwohnung. Dort hat er Freunde in der übernatürlichen Gemeinde, bei den Vampiren, den Wandlern und den Werwölfen. Durch ihn kannst du ein paar dieser Leute und auch ihre menschlichen Angestellten kennenlernen."

Ganz richtig anwesend in meinem Kopf war ich nicht, als Eric mir all das erzählte. So konnte ich nur hoffen, daß alles irgendwie Sinn ergeben würde, wenn ich es später erneut im Gedächtnis abspulte. Erst einmal nickte ich nur. Eric streichelte mir wieder und wieder die Hand.

„Der Mann, den ich dir schicke, ist ein Werwolf", fuhr er ein wenig zu lässig fort. „Abschaum, wenn du so willst. Aber er ist verläßlicher als manch anderer seiner Art und schuldet mir einen großen Gefallen."

Auch diese Auskunft schluckte ich erst einmal schweigend und nickte erneut brav vor mich hin. Mittlerweile fühlten sich Erics lange Finger fast schon warm an.

„Er wird dich in der Vampirgemeinde Jacksons herumzeigen, damit du dich in den Köpfen der dortigen menschlichen Angestellten umtun kannst. Ich weiß, sicher können wir nicht sein, so etwas herauszufinden. Vielleicht ist die ganze Idee auch ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Aber wenn es etwas herauszufinden gibt, wenn Russel Edgington Bill wirklich entführt hat, dann schnappst du dort in Jackson unter Umständen irgendeinen Hinweis auf. Nach den Rechnungen zu urteilen, die wir in seinem Wagen gefunden haben, stammte der Mann, der dich entführen wollte, ebenfalls aus Jackson, und er war Werwolf - darauf weist der Wolfskopf auf seiner Kutte hin. Warum sie es auf dich abgesehen haben, weiß ich nicht. Aber ich nehme an, es bedeutet, daß Bill noch existiert und sie etwas in der Hand haben wollen, mit dem sie ihn unter Druck setzen können."

„Da wäre es doch besser gewesen, Lorena zu entführen", sagte ich daraufhin.

Erics Augen weiteten sich besorgt.

„Es kann sein, daß sie Lorena bereits haben", sagte er dann. „Genausogut kann es auch sein, daß Lorena selbst Bill verraten hat und er dies weiß. Hätte sie nicht das Geheimnis ausgeplaudert, das er ihr anvertraut hat, dann hätten die Bill nicht erwischen können."

Darüber mußte ich ein wenig nachdenken, aber dann nickte ich erneut.

„Eine andere Unklarheit ergibt sich aus der Frage, warum Lorena überhaupt dort war", fuhr Eric fort. „Wenn sie ein reguläres Mitglied der Gruppe in Mississippi geworden wäre, hätte ich das mitbekommen. Aber über die Frage werde ich nachdenken, wenn ich mal Zeit habe." So, wie er mich bei diesen Worten angrinste, hatte Eric schon reichlich viel Zeit damit verbracht, über diese Frage nachzudenken. „Wenn unser Plan nicht innerhalb der nächsten drei Tage Früchte trägt, dann werden wir unter Umständen unsererseits einen der Vampire aus Mississippi entführen müssen. Das hieße dann ziemlich unweigerlich, daß es Krieg gibt. Krieg - selbst einer mit Mississippi - bedeutet große Verluste an Geld und Leuten, und letztlich würden sie Bill dann doch vernichten."

Okay - dann ruhte also die Last der ganzen Welt auf meinen Schultern. Vielen Dank, Eric! Genau, was mir gefehlt hatte: noch mehr Druck, noch mehr Verantwortung!

„Aber eins sollte dir ganz klar sein", sagte Eric nun nachdrücklich, „sollten sie Bill haben und sollte er noch am Leben sein, dann holen wir ihn uns zurück, und wenn es wirklich das ist, was du willst, dann werdet ihr beiden hinterher wieder so zusammen sein, wie ihr es vorher wart."

Ein ziemliches großes 'Wenn, dieses wenn ...'

„Noch eins, um deine Frage von vorhin zu beantworten: Ich bin dein Freund und werde es so lange bleiben, wie ich dein Freund sein kann, ohne mein eigenes Leben zu gefährden. Oder die Zukunft meines Bezirks aufs Spiel zu setzen."

Zumindest das war damit nun eindeutig geklärt. Ich wußte Erics Offenheit durchaus zu schätzen. „Du bist also mein Freund, solange es dir in den Kram paßt", stellte ich gelassen fest, und diese Bemerkung war sowohl unfair als auch unangemessen. Trotzdem wunderte es mich ein wenig, daß es dem Vampir wirklich etwas auszumachen schien, wie ich seine Haltung mir gegenüber charakterisierte. „Ich würde dir gern eine Frage stellen, Eric", sagte ich dann.

Eric hob die Brauen, um mir zu verstehen zu geben, daß er meine Frage erwartete. Dabei glitten seine Hände meine Arme hoch und wieder herunter, wie ungewollt, als sei ihm gar nicht bewußt, was er da tat. Wie ein Mann, der seine Hände am Feuer wärmt, dachte ich flüchtig.

„Wenn ich dich recht verstanden habe, arbeitete Bill an einem Projekt für die ..." Ein neuer Lachkrampf drohte sich aus meinem Zwerchfell zu lösen, aber ich zwang ihn nieder. „... für die Königin von Louisiana", beendete ich tapfer den Satz. „ Aber du wußtest nichts von diesem Projekt, oder? Habe ich das richtig verstanden?"

Eine Weile starrte mich Eric schweigend an, während er überlegte, was er mir sagen durfte und was nicht. „Die Königin hatte mir nur mitgeteilt, daß sie einen Auftrag für Bill hat", sagte er dann. „Worum es dabei ging, sagte sie nicht. Auch nicht, wann die Arbeit abgeschlossen sein würde."

Dergestalt einen Untergebenen abspenstig gemacht zu bekommen hätte wohl jede Führernatur verärgert. Besonders, wenn man als Führer selbst nicht genau wußte, was Sache war. „Warum sucht denn dann diese Königin nicht nach Bill?" wollte ich wissen, wobei ich mich bemühte, meinen Tonfall möglichst neutral zu halten.

„Weil sie nicht weiß, daß er verschwunden ist."

„Warum das denn nicht?"

„Wir haben es ihr nicht mitgeteilt."

Früher oder später würde er aufhören, meine Fragen zu beantworten. „Warum nicht?"

„Weil sie uns bestrafen würde."

„Warum denn?" Allmählich hörte ich mich an wie eine Zweijährige!

„Weil wir es zugelassen haben, daß Bill etwas zustieß, während er mit einem Spezialauftrag für sie befaßt war."

„Woraus würde die Strafe denn bestehen?"

„Schwer zu sagen." Er lachte ein wenig gequält. „Irgend etwas Unschönes würde uns bestimmt drohen."

Inzwischen war Eric womöglich noch dichter an mich herangekommen, und sein Gesicht berührte fast schon mein Haar. Zart schnupperte er an mir. Vampire verlassen sich viel mehr auf ihren Geruchssinn und ihr Gehör als auf das, was sie sehen, auch wenn ihr Sehvermögen enorm ist. Eric hatte von meinem Blut getrunken, bekam also meine Gefühle sehr viel klarer mit als jeder andere Vampir, der nicht an mir genippt hatte. Alle Blutsauger beschäftigen sich eingehend mit dem Gefühlsleben von Menschen, denn wenn man als Raubtier erfolgreich sein will, muß man sich mit den Gewohnheiten der bevorzugten Beutetiere bestens auskennen.

Nun rieb Eric doch tatsächlich seine Wange an meiner! Die Art, wie er Körperkontakt suchte und liebte, glich wahrlich der einer Katze!

„Eric!" Er hatte mir mehr mitgeteilt, als ihm überhaupt bewußt war.

„Mm?"

„Mal ernsthaft - was macht die Königin mit dir, wenn du Bill nicht wiederbeschaffen kannst? Wenn er nicht da ist an dem Tag, an dem der Auftrag der Königin erledigt sein soll?"

Meine Frage zeigte Wirkung. Eric löste sich von mir und sah auf mich herunter, die Augen wesentlich blauer und härter als meine, kälter als die Eisfelder der Arktis.

„Sookie, das möchtest du nicht wirklich wissen", versicherte er mir. „Es würde schon reichen, wenn wir Bills Arbeit vorweisen könnten. Den Mann selbst herbeizuschaffen wäre ein zusätzlicher Bonus."

Ich erwiderte seinen Blick, wobei meine Augen fast ebenso kalt dreinschauten wie die seinen. „Was bekomme ich, wenn ich diesen Job für dich erledige?" verlangte ich zu wissen.

Es gelang Eric, sowohl überrascht als auch erfreut auszusehen. „Ohne Pams Andeutungen über die Beziehung zwischen dir und Bill und eventuelle Probleme wäre dir die Aussicht, ihn heil wieder zu Hause zu haben, doch Lohn genug gewesen. Du wärest sofort bereit gewesen, uns zu helfen!" rief er mir ins Gedächtnis.

„Aber nun weiß ich Bescheid über die Sache mit Lorena", erwiderte ich ungerührt.

„Doch du erklärst dich bereit, uns zu helfen, obwohl du Bescheid weißt?"

„Ja, allerdings unter einer Bedingung."

„Welche?" erkundigte sich Eric mißtrauisch.

„Ich will, daß du sie vernichtest, sollte mir irgendetwas zustoßen", erklärte ich.

Eine Sekunde lang starrte mich Eric sprachlos an, dann brach er in schallendes Gelächter aus. „So etwas würde mich teuer zu stehen kommen!" sagte er, nachdem es ihm gelungen war, das Prusten einzustellen. „Es würde mich ein Heidengeld kosten, und erst einmal müßte ich es überhaupt bewerkstelligen. Das ist leichter gesagt als getan. Lorena ist gute dreihundert Jahre alt."

„Gerade hast du mir erzählt, dir würde ziemlich Schreckliches widerfahren, sollte die Sache hier auffliegen", erinnerte ich ihn.

„Das stimmt allerdings."

„Weiterhin hast du es so dargestellt, als seiest du ziemlich darauf angewiesen, daß ich erledige, worum du mich gebeten hast."

„Auch das ist wahr."

„Die Sache mit Lorena verlange ich als Gegenleistung für meine Hilfe."

„Du würdest einen anständigen Vampir abgeben, Sookie", stellte Eric abschließend fest. „Abgemacht. Sollte dir irgendetwas zustoßen: Lorena jedenfalls wird nie wieder mit Bill vögeln."

„Ach, ums Vögeln allein geht es mir gar nicht."

„Nein?" Eric wirkte skeptisch, wozu er auch allen Grund hatte.

„Es geht darum, daß sie ihn betrogen hat."

Erics harte blaue Augen bohrten sich forschend in meine. „Sag mir noch eins, Sookie: Würdest du mich auch darum bitten, wenn sie ein Mensch wäre?" Sein großer Mund mit den schmalen Lippen, der sich so oft belustigt verzog, war nun eine einzige, ernste, gerade Linie.

„Wenn sie ein Mensch wäre, würde ich mich selbst darum kümmern", sagte ich und stand auf, um Eric an die Tür zu begleiten.

Als der Vampir davongefahren war, ließ ich mich gegen die Tür sinken und lehnte die Wange an das Holz des Rahmens. Konnte es angehen, daß es mir ernst war mir dem, was ich als letztes zu ihm gesagt hatte? In letzter Zeit hatte ich mich häufiger fragen müssen, ob ich mich wirklich als zivilisierten Menschen bezeichnen konnte. Dabei gab ich mir große Mühe! Aber als ich sagte, ich würde mich selbst um Lorena kümmern, wenn sie ein Mensch wäre, war es mir ernst damit gewesen - zumindest in jenem Moment. Tief in mir brodelte ein wilder, ungezügelter Kern, den ich bislang immer unter Verschluß gehalten hatte. Meine Großmutter hatte mich schließlich nicht zur Mörderin erzogen.

Nachdenklich trabte ich zurück in mein Schlafzimmer. In letzter Zeit, mußte ich mir eingestehen, wurden meine Wutanfälle immer häufiger, riß mir immer wieder der Geduldsfaden. Das ging so, seitdem ich die Vampire kannte.

Warum das der Fall war, konnte ich mir nicht erklären. Vampire sind in hohem Maß zur Selbstbeherrschung fähig. Warum also sollte meine Beherrschtheit in ihrer Gegenwart nachlassen?

Aber für eine Nacht hatte ich genug Nabelschau gehalten!

Nun galt es, an den morgigen Tag zu denken.