Kapitel 4

Da es nun so aussah, als würde ich bald die Stadt verlassen, galt es, Wäsche zu waschen und den Kühlschrankinhalt zu inspizieren beziehungsweise gegebenenfalls fortzuwerfen. Müde war ich nicht - immerhin hatte ich gerade einen Tag und eine Nacht im Bett verbracht. Ich stellte also schon einmal meinen Koffer bereit und warf ein paar Kleidungsstücke in die Waschmaschine, die auf der Veranda stand. Ich war es leid, mir über meinen Charakter den Kopf zu zerbrechen. Es gab genug anderes, über das ich nachdenken mußte.

Eigentlich hatte mich Eric ja praktisch mit vorgehaltener Pistole überredet, mich seinem Willen zu unterwerfen. Er hatte alle Register gezogen, mich mit allem möglichen bombardiert, mir wahrlich genügend Gründe geliefert, warum ich nicht umhin kam, zu tun, was er wollte: Er hatte mich eingeschüchtert, mir gedroht, mit mir geflirtet, an mein Verantwortungsgefühl Bills Rückkehr und sein, Erics, Leben beziehungsweise Wohlergehen betreffend (sowie das Pams und Chows) appelliert, von meiner Verantwortung für meine eigene Gesundheit ganz zu schweigen. Die vielen Worte, die er gemacht hatte, ließen sich wie folgt zusammenfassen: 'Vielleicht muß ich dich foltern; ich möchte unbedingt mit dir schlafen; ich brauche Bill, aber ich bin sauer auf ihn, weil er mich hintergangen hat; ich muß mit Russel Edgington Frieden halten und dem Mann gleichzeitig Bill wieder abknöpfen; Bill ist mein Leibeigener, arbeitet jedoch heimlich für meine Chefin.'

Diese verflixten Vampire! Sicher kann jeder nachvollziehen, wie froh ich bin, nicht auf die Künste anzusprechen, mit denen sie andere Menschen bezirzen und in ihren Bann bringen. Das liegt an meiner Fähigkeit, Gedanken zu lesen - einer der wenigen guten Seiten, die ich meiner Behinderung abgewinnen kann. Leider sind Sterbliche mit parapsychologischer Macke für Untote ungeheuer attraktiv.

Von all dem hatte ich nichts vorhersehen können, als ich mich in Bill verliebte, ganz sicher nicht. Aber mittlerweile war Bill so notwendig für mich wie das tägliche Brot, was nicht ausschließlich an den tiefen Gefühlen lag, die ich für ihn hegte oder an dem Entzücken, das ich rein körperlich beim Liebesspiel mit ihm empfand: Bill war inzwischen meine einzige Versicherung dagegen, nicht einfach so, gegen meinen Willen, von einem anderen Vampir annektiert zu werden.

Nachdem ich ein paar Ladungen Wäsche durch Maschine und Trockner hatte laufen lassen, um sie danach auch noch sorgfältig zusammenzufalten, fühlte ich mich schon wesentlich entspannter. Nun hatte ich fast alles beisammen, was ich mit auf die Reise nehmen wollte. Ich hatte mir auch ein paar Liebesromane und einen Krimi eingesteckt, für den Fall, daß mir Zeit zum Lesen bliebe. Ich bin Autodidaktin; ich bilde mich weiter, indem ich Bücher aus allen möglichen Sparten lese.

Ich streckte mich und mußte prompt gähnen. Irgendwie scheint es die Nerven zu beruhigen, wenn man einen Plan hat und weiß, was man tun muß. Zwar hatte ich den vergangenen Tag und auch die Nacht über viel im Bett gelegen, aber ich hatte nur unruhig geschlafen und war nun mitnichten so ausgeruht, wie ich angenommen hatte. Vielleicht gelang es mir ja jetzt, auf der Stelle und fest einzuschlafen.

Während ich die Zähne putzte und ins Bett kletterte, grübelte ich darüber nach, ob ich wohl unter Umständen in der Lage wäre, Bill auch ohne die Hilfe der Vampire zu finden. Aber wer konnte sagen, wie der Kerker beschaffen war, in dem mein Freund gefangen saß? Vielleicht gelang es mir, ihn zu finden - ihn dann zu befreien und mit ihm zu fliehen war eine ganz andere Sache, und sobald er frei war, würde ich entscheiden müssen, was ich zukünftig mit unserer Beziehung anfangen wollte.

Gegen vier Uhr morgens wachte ich plötzlich auf, mit der ganz merkwürdigen Gewißheit, daß mir eine ganz bestimmte Idee im Kopf herumspukte, die nur darauf wartete, bewußt zur Kenntnis genommen zu werden. Irgendwann in dieser Nacht hatte sich wohl ein hartnäckiger Gedanke in meinem Kopf eingenistet, einer von der Art, wissen Sie, den man nicht ignorieren kann, weil er einfach immer vor sich hinbrodelt, ganz wild darauf, endlich überlaufen zu können.

Genau dies geschah dann auch: Nachdem ich etwa eine Minute lang wachgelegen hatte, tauchte der Gedanke auch schon aus den Tiefen meines Bewußtseins auf: was, wenn Bill gar nicht entführt worden war, sondern von sich aus einen Treuebruch begangen hatte? Was, wenn er so bezaubert oder abhängig von Lorena war, daß er beschlossen hatte, die Vampire Louisianas zu verlassen und sich der Gruppe in Mississippi anzuschließen? Kaum hatte ich die Überlegung angestellt, da beschlichen mich auch schon Zweifel. Um eine solche Fahnenflucht bewerkstelligen und gleichzeitig als Entführung tarnen zu können, hätte Bill komplizierte und weitreichende Vorkehrungen treffen müssen, zu denen auch gehört hätte, sicherzustellen, daß die Nachricht von seiner Entführung und Lorenas Auftauchen in Jackson ganz bestimmt bis zu Eric durchsickerte. Es hätte für ihn doch gewiß weitaus undramatischere, einfachere Vorgehensweisen gegeben, sein Verschwinden zu organisieren.

Ob Pam, Chow und Eric wohl gerade Bills Haus durchsuchten? Es lag nicht weit von dem meinen entfernt: Man brauchte lediglich den alten Friedhof zu überqueren, schon war man da. Aber das, was sie suchten, würden sie in Bills Haus nicht finden. Ob sie dann vielleicht noch einmal zurückkehrten? Wenn sie die Computerdateien fanden, die ihre Königin so dringend benötigte, dann bestand keine Notwendigkeit mehr, Bill zurückzuholen. Vor lauter Erschöpfung schlief ich wieder ein, ohne alle diese Erwägungen zu Ende gedacht zu haben und noch im Einschlafen war mir, als hätte ich Chow draußen lachen hören.

Obwohl ich nun wußte, daß Bill mich betrogen hatte, hielt mich das nicht davon ab, in meinen Träumen nach ihm zu suchen. Mindestens dreimal in dieser Nacht wälzte ich mich auf die andere Seite des Bettes, um nachzusehen, ob er sich nicht still und heimlich zu mir gelegt hatte, wie er es früher so oft getan hatte. Aber jedesmal fand ich die andere Betthälfte kalt und leer.

Was aber auf jeden Fall besser war, als Eric dort vorzufinden.

Bei Tagesanbruch war ich bereits auf, duschte und hatte auch schon eine Kanne Kaffee gekocht, als es an der Vordertür klopfte.

„Wer ist da?" Ich war auf der Hut und stand nicht direkt hinter der Tür, sondern ein wenig rechts davon, als ich diese Frage stellte.

„Eric schickt mich", antwortete eine tiefe, schroffe Stimme.

Ich öffnete die Tür und sah auf - weiter und immer weiter.

Der Mann vor mir war riesig. Er hatte grüne Augen. Sein zerzaustes dunkles Haar war lockig, dicht und so schwarz wie die Nacht. In seinem Hirn summte und brummte die reine Energie, ein irgendwie roter Effekt: Werwolf.

„Kommen Sie doch herein. Möchten Sie eine Tasse Kaffee?"

Anscheinend stimmte das, was der Mann vor sich sah, nicht mit dem überein, was er erwartet hatte. „Worauf Sie wetten können, chère!", erwiderte er fröhlich. „Hätten Sie vielleicht auch ein paar Eier und Würstchen?"

„Natürlich." Ich ging dem Mann voran in die Küche, wobei ich ihm über die Schulter zurief: „Ich bin Sookie Stackhouse." Dann bückte ich mich, um die Eier aus dem Kühlschrank zu nehmen. „Wer sind Sie?"

„Alcide", erwiderte er, was er wie Alsie aussprach, mit kaum hörbarem D. „Alcide Herveaux."

Der Werwolf sah mir unverwandt zu, während ich die Bratpfanne aus dem Schrank nahm, die alte, rußgeschwärzte Bratpfanne meiner Oma. Sie hatte sie zur Hochzeit bekommen und über dem offenen Feuer eingeweiht, wie es sich gehört für eine Hausfrau, die diese Bezeichnung überhaupt verdient. Nun war die Pfanne sozusagen perfekt ausgereift. Zuerst einmal zündete ich den Backofen meines Gasherds an. Dann briet ich die Wurst (um das Fett auszulassen), ließ sie auf ein Stück Küchenrolle gleiten, das ich auf einen Teller gelegt hatte und schob sie in den Ofen, um sie warmzuhalten. Nachdem ich mich bei Alcide erkundigt hatte, wie er seine Eier haben wollte, rührte ich diese mit etwas Milch glatt und bereitete schnell ein Rührei, das ich dann zu den Würstchen auf den warmen Teller rutschen ließ. Mein Besucher begab sich auf die Suche nach Besteck, öffnete gleich beim ersten Versuch die richtige Schublade und goß sich, nachdem ich ihm gezeigt hatte, in welchem Küchenschrank ich meine Tassen und Gläser aufbewahrte, sogar selbst Kaffee und Orangensaft ein. Dabei füllte er auch gleich noch meine Tasse auf.

Er aß sauber, und er aß alles auf.

Ich tauchte die Hände in heißes Seifenwasser, wusch das bißchen Geschirr ab, das sich angesammelt hatte, spülte dann die Pfanne aus und rieb sie mit ein wenig Bratenfett ein. Dabei warf ich meinem Gast von Zeit zu Zeit verstohlene Seitenblicke zu. Die Küche roch gemütlich nach Frühstück und Seifenlauge - ein merkwürdig friedlicher Augenblick.

Alcide war alles andere als das, was ich erwartet hatte, als Eric mir mitteilte, er würde mir jemanden schicken, der ihm einen großen persönlichen Gefallen schuldete und der meine Eintrittskarte in die gesellschaftlichen Zirkel der Vampire von Mississippi sein sollte. Nachdenklich starrte ich auf die winterliche Landschaft vor meinem Küchenfenster und mußte mir eingestehen, daß alles haargenau so war, wie ich es mir die wenigen Male, in denen ich mir überhaupt zugestanden hatte, vom Zusammenleben mit einem Mann zu träumen, erträumt hatte.

Genau so sollte das Leben doch sein, oder? Für normale Menschen zumindest: ein früher Morgen, Zeit aufzubrechen; eine Frau, die ihrem Mann das Frühstück bereitet, ehe er hinaus mußte ins feindliche Leben, zur Arbeit. Der große, etwas rauhbeinig wirkende Mann hier an meinem Küchentisch hatte gerade wirkliches Essen verzehrt. Höchstwahrscheinlich gehörte ihm ein Pick-up, und der stand jetzt vor meiner Vordertür geparkt.

Natürlich handelte es sich bei diesem Mann um einen Werwolf. Aber Werwölfe waren in der Lage, ihr Leben so zu gestalten, daß es dem eines Menschen viel stärker glich als das von Vampiren.

Andererseits jedoch hätte man ein ganzes Buch füllen können mit all den Dingen, die ich über Werwölfe nicht wußte.

Mein Besucher beendete seine Mahlzeit, versenkte seinen Teller im Spülwasser, wusch ihn selbst ab und trocknete ihn ab, während ich den Tisch abwischte. Das alles ging so glatt und wortlos vor sich, als hätten wir die Abläufe geprobt. Danach verschwand er im Bad, während ich im Geist noch einmal alles durchging, was zu erledigen war, ehe ich das Haus verlassen konnte. Zuerst einmal mußte ich mit Sam reden, das war das Wichtigste überhaupt. Meinen Bruder hatte ich bereits am Abend zuvor angerufen und ihm mitgeteilt, daß ich ein paar Tage verreisen würde. Liz war gerade bei ihm gewesen, weswegen er nicht groß nachgefragt, sondern sich gleich bereiterklärt hatte, sich um Post und Zeitung zu kümmern.

Alcide kam zurück und setzte sich mir gegenüber an den Tisch. Ich überlegte, wie ich am geschicktesten auf die bevorstehende Aufgabe zu sprechen kommen könnte, ohne gleich in alle nur denkbaren Fettnäpfchen zu treten. Gut möglich, daß dem Werwolf dieselbe Frage durch den Kopf ging. Gedanken von Gestaltwandlern oder Werwölfen kann ich nicht durchgängig lesen, sie sind schließlich übernatürliche Wesen. Bei ihnen gelingt es mir lediglich, ihre Stimmungen ziemlich verläßlich zu interpretieren - von Zeit zu Zeit schnappe ich auch einen klaren Gedanken auf. Im großen und ganzen sind diese Menschen mit einem kleinen Unterschied für mich wesentlich weniger undurchschaubar als Vampire. Soweit ich es bislang verstanden hatte, gab es eine Gruppe von Werwölfen und Gestaltwandlern, die den Status Quo ihrer Geheimexistenz gern ändern würden; die Tatsache, daß es diese Wesen überhaupt gibt, ist aber nach wie vor ein gut gehütetes Geheimnis. Sie wollen abwarten, wie sich die Sache mit den Vampiren entwickelt, welche Auswirkung deren Gang an die Öffentlichkeit auf Dauer mit sich bringt. Bis das klar ist, sind die übernatürlichen Kreaturen, die zwei Gestalten ihr Eigen nennen, äußerst entschieden auf ihre Privatsphäre bedacht. In der Welt der Gestaltwandler bilden Werwölfe die Gruppe der harten Jungs. Per Definition sind sie Gestaltwandler wie alle anderen auch, aber sie verfügen als einzige Untergruppe über eigene gesellschaftliche Strukturen und werden nie zulassen, daß jemand anderes in ihrer Gegenwart einen Werwolf als „Wer" bezeichnet. Alcide machte ganz den Eindruck, als sei er ein ziemlich harter Brocken. Er war groß wie ein Baum, mit Oberarmen, die ich mühelos als Reckstangen hätte benutzen können. Sein Bartwuchs war so stark, daß er sich, wenn er an diesem Abend noch ausgehen wollte, sicher ein zweites Mal würde rasieren müssen. Ein Mann von der Art, wie man sie auf allen Baustellen und Schiffswerften des Landes antrifft: Dort wäre er völlig recht am Ort gewesen.

Ein ganzer Mann eben.

„Wie haben die Sie dazu gebracht, bei dieser Sache mitzumachen?" wollte ich wissen.

„Sie halten einen Wechsel, den mein Dad ausgestellt hat", antwortete Alcide. Dabei legte er seine riesigen Pratzen auf die Tischplatte und stützte sich leicht ab. „In Shreveport gibt es ein Casino. Wußten Sie das?"

„Klar." Für die Menschen in meiner Gegend ist ein Ausflug nach Shreveport oder Tunica (Tunica Mississippi, unmittelbar südlich von Memphis) ein populäres Wochenendvergnügen. Man mietet sich dort für ein oder zwei Nächte ein Zimmer, hängt ein paar Stunden vor irgendwelchen Daddelautomaten herum, zieht sich die eine oder andere Varietéshow rein und schlägt sich am Büffet den Magen voll.

„Mein Dad ist da zu tief reingeraten. Er ist Landvermesser mit eigenem Betrieb; ich arbeite für ihn. Leider liebt er das Glücksspiel." Alcides grüne Augen wurden dunkel vor Zorn. „In dem Kasino in Louisiana ist er zu tief in die Kreide geraten, weswegen die Vampire jetzt seinen Wechsel halten, seinen Schuldschein. Wenn sie diese Schulden einklagen, geht unser Betrieb baden." Offenbar empfanden Werwölfe Vampiren gegenüber ähnlich viel Respekt wie umgekehrt. „Wenn ich den Wechsel zurückhaben will, muß ich Ihnen helfen, sich bei den Vampiren von Jackson Eintritt zu verschaffen und sich ein wenig in deren Kreisen herumzutreiben." Der Mann lehnte sich im Stuhl zurück und sah mir direkt in die Augen. „Eine hübsche Frau mit nach Jackson zu nehmen und mit ihr eine Runde durch alle Nachtclubs zu drehen ist ja nun wahrlich keine schwierige Aufgabe. Jetzt, wo ich Sie kennengelernt habe, freue ich mich richtig darauf - wenn ich meinem Vater damit die Schulden vom Halse schaffen kann. Aber warum haben Sie sich auf die Sache eingelassen? Sie sehen aus wie eine richtige Frau, nicht wie eins dieser kranken Hühner, die sich ihre Kicks holen, indem sie mit Vamps rumhängen."

Nach der anstrengenden Konferenz mit den Vampiren empfand ich die Unterhaltung mit Alcide als erfrischend direkt und offen. „Ich hänge nur mit einem einzigen Vampir rum - das heißt, wenn es nach mir ginge", erklärte ich ein wenig bitter. „Bill, mein - na ja, momentan kann ich noch nicht einmal sagen, ob er noch mein Freund ist ... jedenfalls hat es den Anschein, als hätten die Vampire von Jackson ihn entführt. Letzte Nacht hat auch jemand versucht, mich zu entführen." Das mußte ich ihm sagen, das war nur fair. „Anscheinend kannte der Mann meinen Namen nicht, sondern wußte lediglich, wo ich arbeite. Das heißt, in Jackson werde ich ziemlich sicher sein, solange niemand mitbekommt, daß ich die Frau bin, mit der Bill zusammen ist. Ich muß Ihnen auch noch mitteilen, daß der Mann, der mich zu entführen versuchte, Werwolf war. Er fuhr ein Auto mit einem Kennzeichen aus Hinds County." Jackson lag in Hinds County.

„Trug er eine Kutte?" fragte Alcide. Ich nickte, woraufhin der Mann nachdenklich dreinschaute, was ich als gutes Zeichen ansah. Ich nahm die ganze Sache nicht auf die leichte Schulter, und es erleichterte mich festzustellen, daß er das anscheinend auch nicht tat. „In Jackson gibt es eine kleine Rockergruppe, die nur aus Werwölfen besteht. Ein paar der mächtigeren Gestaltwandler hängen am Rande dieser Gruppe herum - der Panther, der Bär. Die ganze Gruppe stellt den Vampiren regelmäßig gegen Entgelt ihre Dienste zur Verfügung."

„Die Gruppe hat jetzt ein Mitglied weniger."

Diese Information mußte mein neuer Gefährte erst einmal verdauen. Dann warf er mir einen langen, herausfordernden Blick zu: „Was soll denn ein kleines Menschenmädchen wie Sie gegen die Vampire von Jackson ausrichten? Beherrschen Sie einen Kampfsport? Sind Sie Meisterschützin? Waren Sie in der Armee?"

Da mußte ich lächeln. „Nein! Haben Sie denn noch nie von mir gehört?"

„Heißt das, Sie sind berühmt?"

„So berühmt anscheinend ja doch nicht." Es freute mich sehr, daß der Mann keine vorgefaßte Meinung hatte, was mich betraf. „Ich glaube, ich lasse Sie selbst herausfinden, was es mit mir auf sich hat!"

„Solange Sie sich nicht in eine Schlange verwandeln!" Alcide Herveaux erhob sich. „Sie sind doch nicht etwa ein Kerl?" Der Gedanke war ihm offenbar eben erst gekommen. Erschrocken riß er die Augen auf.

„Nein, Alcide, ich bin eine Frau." Das versuchte ich so selbstverständlich und nebenbei wie irgend möglich zu sagen, was mir allerdings nicht leicht fiel.

„Worauf ich auch jede Wette eingegangen wäre." Er grinste. „Wenn Sie also nicht Supergirl sind - was haben Sie vor? Was wollen Sie tun, sobald Sie wissen, wo Ihr Liebster steckt?"

„Dann benachrichtige ich Eric, den ..." Schlagartig fiel mir wieder ein, daß es keine gute Idee ist, Vampirgeheimnisse zu verraten. „Eric ist Bills Chef. Er wird entscheiden, wie wir dann weiter vorgehen."

Daraufhin wirkte Alcide skeptisch. „Ich traue Eric nicht. Ich traue keinem von denen. Höchstwahrscheinlich treibt Eric irgendein doppeltes Spiel mit Ihnen."

„Wie das denn?"

„Er kann Ihren Liebsten als Druckmittel einsetzen. Er kann Wiedergutmachung verlangen, weil die in Jackson einen seiner Leute gefangen halten. Er kann die Entführung Ihres Mannes als Vorwand benutzen, einen Krieg anzuzetteln, und in dem Fall wird Ihr Mann auf der Stelle exekutiert."

Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht. „Bill weiß Dinge", sagte ich. „Wichtige Dinge."

„Sehr gut! Das kann unter Umständen dafür sorgen, daß er am Leben bleibt." Alcide sah mich an und verzog bekümmert das Gesicht. „Tut mir leid! Manchmal denke ich nicht nach, ehe ich etwas sage. Wir kriegen ihn schon zurück, nur die Ruhe - auch wenn mir ganz schlecht wird bei dem Gedanken, daß eine Frau wie Sie sich mit einem von diesen Blutsaugern eingelassen hat."

Diese Bemerkung tat mir natürlich weh; sie war gleichzeitig aber auch merkwürdig erfrischend.

„Ich glaube, ich sollte mich bei Ihnen bedanken", sagte ich, wobei ich versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. „Was ist mit Ihnen? Haben Sie einen Plan? Wie wollen Sie mich den Vampiren vorstellen?"

„Ich habe einen Plan. Es gibt in Jackson in der Nähe des Parlamentsgebäudes einen Nachtclub nur für Übernatürliche und deren Begleiter. Nichts für Touristen. Von Vampiren allein kann so ein Club nicht leben. Die Blutsauger finden ihn als Treffpunkt genial, und so gestatten sie es auch niederen Wesen wie uns, sich dort zu vergnügen." Er grinste: Seine Zähne waren perfekt; weiß und scharf. „Wenn ich dort mit Ihnen auftauche, wird sich niemand etwas dabei denken. Ich gehe immer dahin, wenn ich in Jackson bin. Sie sind dann mein Mädel für die Nacht." Als er fortfuhr, wirkte er ein wenig peinlich berührt: „Ich sage Ihnen das lieber gleich, denn Sie scheinen mir eher der Jeanstyp zu sein. Da geht es Ihnen wie mir - aber in diesem Club sieht man es gern, wenn die Gäste sich ausstaffieren wie zu einem Ball." Eindeutig hegte mein neuer Bekannter die Befürchtung, ich könne keine passenden Kleider im Schrank hängen haben, und wollte vermeiden, daß ich mich unwohl und gedemütigt fühlte, weil ich falsch gekleidet in diesen Nachtclub kam. Was für ein Mann!

„Ihrer Freundin wird das alles aber gar nicht recht sein", sagte ich aus reiner Neugier, denn ich wollte ein paar Informationen in dieser Richtung aus ihm herauskitzeln.

„Meine Freundin lebt in Jackson. Aber wir haben uns vor ein paar Monaten getrennt", erwiderte Alcide Herveaux. „Sie ist jetzt mit einem anderen Gestaltwandler zusammen. Der Typ verwandelt sich in eine verdammte Eule!"

War diese Frau meschugge? Aber natürlich war das nie und nimmer die ganze Geschichte. Jede weitere Frage fiel deutlich in das Ressort 'geht Sie nichts an', das hatte ich schon verstanden.

Also begab ich mich ohne jeglichen weiteren Kommentar in mein Zimmer, wo ich meine beiden Partykleider sowie die entsprechenden Accessoires in einem Kleidersack verstaute, den ich im Auto würde aufhängen können. Ich hatte die beiden Kleider bei Taras Togs erworben, in dem Bekleidungsgeschäft, das von meiner Freundin Tara Thornton geleitet wurde und ihr mittlerweile auch gehörte. Tara rief mich netterweise jedesmal an, wenn sie bestimmte Artikel herabsetzte. Bill war Besitzer des Gebäudes, in dem sich Taras Togs befand; er hatte Tara sowie alle anderen Geschäftsleute in der Ladenzeile angewiesen, alles, was ich bei ihnen kaufte, auf seine Rechnung zu setzen, aber ich hatte der Versuchung, dies Angebot anzunehmen, bislang widerstanden. Nun - mit einer Ausnahme: Die Kleidungsstücke, die Bill in einigen unserer aufregenderen gemeinsamen Momente zerrissen hatte, hatte ich auf seine Kosten ersetzt.

Ich war sehr stolz auf beide Kleider, denn ich hatte so etwas wie sie nie zuvor besessen. Lächelnd zog ich den Reißverschluss des Kleidersacks zu.

Alcide steckte den Kopf durch die Schlafzimmertür, um sich zu erkundigen, ob ich bald fertig sei. Er warf einen Blick auf das in Gelb und mattweißen Tönen gehaltene Bett und die passenden Gardinen und nickte wohlwollend. Offenbar gefiel ihm, was er sah. „Ich muß noch meinen Chef anrufen", teilte ich ihm mit, „aber dann bin ich soweit, dann können wir gehen." Mit diesen Worten hockte ich mich auf mein Bett und griff zum Telefon.

Während ich Sams Privatnummer wählte, lehnte sich Alcide an die Wand neben meinem Einbauschrank. Mein Chef meldete sich ein wenig verschlafen, und ich entschuldigte mich für meinen frühen Anruf. „Was ist, Sookie?" wollte er wissen.

„Ich muß ein paar Tage fort", sagte ich. „Es tut mir leid, daß ich erst jetzt Bescheid sage, aber ich habe gestern Abend Sue Jennings angerufen und sie gefragt, ob sie vielleicht für mich einspringen kann. Sie hat zugesagt und so habe ich ihr meine Stunden gegeben."

„Wo fährst du hin?" wollte Sam wissen.

„Ich muß nach Mississippi", sagte ich. „Nach Jackson."

„Kümmert sich jemand um deine Post?"

„Mein Bruder. Vielen Dank für die Nachfrage."

„Müssen irgendwelche Blumen gegossen werden?"

„Nein. Die werden alle auch so überleben."

„Gut. Fährst du allein?"

„Nein", erwiderte ich zögernd. „Mit Bill?"

„Nein. Der ... ist nicht wieder aufgetaucht."

„Gibt es Probleme?"

„Mir geht es prima", log ich.

„Sag ihm, daß ein Mann dich begleitet", grummelte Alcide, woraufhin ich ihm einen genervten Blick zuwarf. Er lehnte immer noch an der Wand wo er, wie ich fand, reichlich viel Raum einnahm.

„Ist jemand bei dir?" Sam entgeht so leicht nichts.

„Ja. Alcide Herveaux", erwiderte ich, denn es konnte nicht schaden, wenn jemand, der sich etwas aus mir machte, wußte, mit welchem Typen ich die Gegend verließ. Allzuoft täuscht nun einmal der erste Eindruck; da war es nur gut, wenn Alcide wußte, daß es jemanden gab, der ihn im Fall eines Falles zur Rechenschaft ziehen würde.

„Aha!" meinte Sam. Der Name schien ihm bekannt. „Gib ihn mir mal."

„Warum?" Ich kann ja ziemlich viel väterliche Bevormundung vertragen, aber inzwischen hing sie mir reichlich zum Halse heraus.

„Reich einfach das verdammte Telefon weiter!" Sam flucht so gut wie nie, also verzog ich nur das Gesicht, um zu zeigen, was ich von seiner Bitte hielt, und gab den Hörer gehorsam an Alcide weiter, wonach ich wütend hinaus ins Wohnzimmer stapfte, um dort aus dem Fenster zu sehen. Wie ich gedacht hatte: Vor meinem Haus stand ein Dodge Ram mit extralanger Fahrerkabine. Ich hätte schwören können, daß dieser Pick-up mit allen nur irgend verfügbaren Extras ausgestattet war.

Meinen Koffer auf Rädern hatte ich bereits nach draußen gerollt. Meine Umhängetasche lag auf einem Stuhl neben der Tür - ich mußte also lediglich noch die dicke Winterjacke überziehen. Ich war froh, daß mich Alcide auf die Kleiderordnung dort in der Nachtbar hingewiesen hatte. Von allein wäre ich nicht auf die Idee gekommen, etwas Schickes einzupacken. Diese dämlichen Vampire! Bescheuerte Kleiderordnung!

Ich war verschnupft, reichlich verschnupft!

Während die beiden Gestaltwandler - so nahm ich wenigstens an - ihr Gespräch von Mann zu Mann führten, begab ich mich zurück in den Hausflur und ging im Geist noch einmal meinen Kofferinhalt durch. Dann warf ich einen Blick durch die offene Schlafzimmertür: Den Telefonhörer am Ohr hockte Alcide auf der Bettkante, auf der zuvor auch ich gesessen hatte. Auf eine merkwürdige Art wirkte er dort sehr zu Hause.

Ruhelos trabte ich zurück ins Wohnzimmer und starrte erneut aus dem Fenster. Vielleicht führten die beiden ja auch nur ein Gespräch von Gestaltwandler zu Gestaltwandler. Immerhin hatten beide dieselben Wurzeln, auch wenn Alcide in Sam (der sich für gewöhnlich in einen Collie verwandelte, allerdings nicht auf diese Gestalt beschränkt war) wohl eher ein Leichtgewicht sehen mochte. Sam wiederum, nahm ich an, war Alcide gegenüber ein wenig mißtrauisch: Werwölfe genießen generell keinen guten Ruf.

Nun kam Alcide den Flur herunter, wobei seine Schritte in den schweren Sicherheitsschuhen auf meinem Holzfußboden ordentlich dröhnten. „Ich habe versprochen, mich gut um Sie zu kümmern", verkündete er. „Nun können wir nur hoffen, daß ich mein Versprechen auch halten kann." Letzteres sagte er, ohne dabei zu lächeln.

Ich hatte mich gerade so schön in meinen kleinen Wutanfall hineingesteigert - doch Alcides Worte klangen derart nüchtern, daß die ganze heiße Luft aus meinem Körper wich wie aus einem Luftballon, den man mit einer Nadel angepiekst hat. Im komplexen Beziehungsgeflecht zwischen Vampiren, Werwölfen und Menschen gibt es ziemlich viel Spielraum dafür, daß irgendwo irgend etwas schiefgeht. So war mein eigener Plan für das weitere Vorgehen recht nebulös und das Druckmittel, das die Vampire Alcide gegenüber in der Hand hatten, auch nicht wirklich hundertprozentig. Vielleicht war Bill ja freiwillig verschwunden. Vielleicht gefiel es ihm ganz gut, von diesem König gefangengehalten zu werden, solange auch die Vampirdame Lorena anwesend war. Vielleicht würde er fuchsteufelswild werden, wenn er mitbekam, daß ich ihn suchte.

Vielleicht war er aber auch bereits vernichtet.

Ich schloß die Tür hinter mir ab und folgte Alcide, der gerade mein Gepäck in der erweiterten Fahrerkabine des Ram unterbrachte.

Von außen wirkte der Pick-up blitzblank und glänzend, innen jedoch war er chaotisch und vollgemüllt, wie eben Fahrzeuge sind, deren männliche Besitzer einen Großteil ihres Arbeitslebens auf der Straße zubringen: Ein Bauhelm lag dort herum, dazu Rechnungen, Kostenvoranschläge, Visitenkarten, Stiefel, ein Erste-Hilfe-Kasten. Zumindest gab es keine vergammelten Essensreste. Während wir meine holprige Auffahrt hinunterpolterten, hob ich eine Rolle Hochglanzbroschüren vom Boden auf. Die Broschüren wurden von einem Gummiband zusammengehalten, und ihre Titelseite zierte die Aufschrift: Herveaux und Sohn: das Einmaleins der akkuraten Landvermessung. Ich zog die oberste Broschüre hervor, und während Alcide die kurze Strecke gen Osten zur Autobahn (die uns nach Monroe, Vicksburg und schließlich Jackson bringen sollte) zurücklegte, las ich sie sorgfältig durch.

Ich stellte fest, daß Vater und Sohn Herveaux eine Landvermesserfirma ihr Eigen nannten, die in zwei Bundesstaaten operierte. Es gab Büros in Jackson, Monroe, Shreveport und Baton Rouge. Das Hauptbüro, hatte Alcide gesagt, befand sich in Shreveport. Die Broschüre zeigte ein Bild der beiden Besitzer. Der ältere Herveaux wirkte (auf bejahrtere Art und Weise) mindestens ebenso beeindruckend wie sein Sohn.

„Ist Ihr Dad auch ein Werwolf?" fragte ich, nachdem ich alle Informationen verdaut und festgestellt hatte, daß die Familie Herveaux äußerst wohlhabend, wenn nicht sogar reich war. Sie hatte für diesen Wohlstand allerdings hart geschuftet und würde das auch weiterhin tun müssen, es sei denn, der ältere Mr. Herveaux bekam seine Spielleidenschaft in den Griff.

„Meine beiden Eltern", sagte Alcide nach kurzem Zögern.

„Entschuldigung." Ich wußte zwar nicht, wofür ich mich entschuldigte, aber es schien mir sicherer, es zu tun.

„Nur so kann man überhaupt ein Werwolfkind zeugen", erklärte Alcide nach längerem Schweigen. Ich wußte nicht, ob er diese Erklärung aus reiner Höflichkeit abgab oder weil er wirklich fand, ich sollte über diese Dinge Bescheid wissen.

„Wie kommt es dann, daß Amerika nicht voller Werwölfe und Gestaltwandler ist?" hakte ich nach, nachdem ich mir seine Antwort hatte durch den Kopf gehen lassen.

„Gleiches muß sich mit Gleichem paaren, um Gleiches hervorzubringen, und das läßt sich nicht immer bewerkstelligen. Zudem entsteht in jeder Vereinigung nur jeweils ein Nachkomme, der diese Eigenschaft in sich trägt. Die Kindersterblichkeit ist hoch."

„Wenn Sie also einen anderen Werwolf heirateten, dann wäre eins ihrer Kinder ein Werwolfbaby?"

„Das stellt sich jeweils bei Beginn der - hm - Pubertät heraus."

„Aber das ist ja schrecklich! Es ist doch so schon schlimm genug, Teenager zu sein."

Alcide lächelte, den Blick nicht auf mich gerichtet, sondern auf die Straße. „In der Tat, das macht alles noch wesentlich komplizierter."

„Was ist mit Ihrer Exfreundin - ist sie eine Wandlerin?"

„Ja. Ich gehe eigentlich in der Regel nicht mit Wandlern, aber ich dachte, mit ihr wäre es anders. Werwölfe und Wandler fühlen sich stark zueinander hingezogen. Animalischer Magnetismus, nehme ich an." Alcide versuchte, witzig zu sein.

Sam, der selbst ein Wandler ist, war froh gewesen, sich mit anderen Gestaltwandlern in unserer Gegend anfreunden zu können. Er war mit einer Mänade zusammen gewesen (eine 'Beziehung' konnte man das, was die beiden gehabt hatten, wohl nicht nennen; das Wort war viel zu positiv und traf die Sache nicht), aber die war weitergezogen. Nun hoffte Sam, eine andere Wandlerin zu finden, die zu ihm passen könnte. Er fühlte sich zusammen mit einem anderen merkwürdigen menschlichen Wesen wie mir oder mit einem Wandler wohler als mit normalen Frauen. Als er mir das zum ersten Mal direkt so gesagt hatte, mochte er es als Kompliment oder auch nur als einfache Darstellung von Tatsachen gemeint haben. Trotzdem war ich ein klein wenig verletzt gewesen, auch wenn man mir ja, seit ich ein kleines Mädchen gewesen war, wieder und wieder nachdrücklich vor Augen gehalten hatte, daß ich nicht als normal gelten konnte.

Die Telepathie wartet nämlich nicht bis zur Pubertät. „Warum?" fragte ich direkt heraus, was nun wahrlich nicht besonders geschickt formuliert war. „Warum dachten Sie, es wäre mit dieser Frau anders?"

„Sie hat mir gesagt, sie sei steril, sie könne keine Kinder bekommen. Ich habe dann aber herausgefunden, daß sie die Pille nahm. Das ist ein Unterschied. Ich will das hier nicht weitervererben, aber selbst eine Wandlerin und ein Werwolf können zusammen ein Kind bekommen, das sich dann jeweils bei Vollmond wandeln muß. Der Unterschied zu den Reinblütigen - beide Eltern Werwolf oder beide Eltern Wandler - ist lediglich der, daß nur die Reinblütigen sich nach freiem Willen wandeln können."

Darüber würde ich nachdenken müssen. „Normalerweise gehen Sie also mit normalen Mädchen aus. Ist es nicht sehr schwer, eine solche Beziehung aufrechtzuerhalten? Einen solch wichtigen Aspekt des eigenen Lebens geheimzuhalten?"

„]a", mußte Alcide eingestehen, „es kann recht anstrengend sein, mit einem normalen Mädchen zusammenzusein. Aber mit irgendwem muß ich doch schließlich ausgehen!" Seine tiefe, barsche Stimme klang leicht verzweifelt.

Darüber dachte ich eine Weile nach, woraufhin ich die Augen schloß und langsam bis zehn zählte. Bill fehlte mir sehr, und zwar auf eine ganz elementare und gänzlich unerwartete Art und Weise. Einen ersten Hinweis darauf hatte ich erhalten, als ich mir in der Woche zuvor den Letzten Mohikaner auf Video angeschaut hatte: Ich hatte für niemanden Augen gehabt außer für Daniel Day-Lewis, wie er durch den Wald rennt. Das hatte mir einen ziemlichen Schlag in die Magengrube versetzt. Wenn ich hinter einem Baum hätte hervortreten können, ehe der Mann auf dem Bildschirm Madeleine Stowe sah ...

Ich würde genau achtgeben müssen, wie ich mich aufführte!

„Wenn Sie also jemanden beißen, dann wird dieser jemand nicht automatisch zu einem Werwolf?" Entschlossen hatte ich meine Gedanken in eine andere Richtung gelenkt. Vergeblich, denn nun mußte ich daran denken, wie es gewesen war, als Bill mich zum letzten Mal biß, wie mir da ein Stromstoß bis in die ... ach verdammt!

„Aus so einem Biß entsteht ein Wolfsmensch. Die sind Ihnen sicher aus den Filmen bekannt. Sie sterben aber rasch, diese armen Wesen, und diese Eigenschaft vererbt sich nicht, wenn sie in ihrer - nun: ihrer menschlichen Gestalt Kinder zeugen. Jeweils beim Gestaltwandel kommt es zu Fehlgeburten."

„Interessant." Mir fiel wirklich nicht ein, was ich sonst hätte sagen können.

„Aber da ist auch noch das Element des Übernatürlichen, wie bei den Vampiren", sagte Alcide, immer noch ohne mich auch nur aus den Augenwinkeln heraus anzusehen. „Dieses Gemisch aus Genetik und Übernatürlichem - was das heißt, kann anscheinend niemand so richtig verstehen. Wir können der Welt nicht so einfach mitteilen, daß es uns gibt, wie die Vampire es getan haben. Uns würde man in Zoos sperren, sterilisieren, ghettoisieren - weil wir nun mal von Zeit zu Zeit Tiere sind. Die Vampire scheinen nur reicher und glamouröser geworden zu sein, seit sie an die Öffentlichkeit gegangen sind." Bei diesen Worten klang er mehr als nur leicht verbittert.

„Wie kommt es überhaupt, daß Sie mir all diese Dinge einfach so erklären?" fragte ich. „Wenn die ganze Sache doch ein Geheimnis ist?" Der Mann hatte mir innerhalb von zehn Minuten mehr mitgeteilt als Bill in all den acht Monaten.

„Mein Leben wird einfacher, wenn Sie sich auskennen - wo wir doch jetzt ein paar Tage zusammen verbringen sollen. Ich gehe mal davon aus, daß auch Sie Ihre ganz eigenen Probleme haben. Zudem scheinen die Vampire auch über Sie ein gewisses Maß an Macht ausüben zu können. Ich glaube nicht, daß Sie unsere Geheimnisse verraten werden, und sollte es zum Schlimmsten kommen und ich mich völlig in Ihnen getäuscht haben, dann bitte ich einfach Eric, Ihnen einen kleinen Besuch abzustatten und Ihre Erinnerungen zu tilgen." Irgendwie irritiert und verwundert schüttelte er den Kopf. „Ich weiß zwar nicht, warum, aber ich habe aus irgendeinem Grund das Gefühl, Sie zu kennen."

Darauf wollte mir keine Antwort einfallen, aber irgend etwas mußte ich sagen, denn wenn ich schwieg, bekamen seine letzten Worte eine allzu große Bedeutung. „Ich bedauere sehr, daß die Vampire Ihren Dad in der Hand haben. Aber ich muß Bill einfach finden, und wenn es nur diesen einen Weg dafür gibt, dann muß ich den gehen. Das bin ich ihm schuldig, auch ..." Meine Stimme wurde immer leiser. Diesen Satz mochte ich wirklich nicht beenden! Jedes einzelne denkbare Satzende war einfach zu traurig, zu endgültig.

Er zuckte die Achseln, was bei Alcide Herveaux ziemlich viel Bewegung verursachte, weil er so groß war. „Es gibt wahrlich Schlimmeres, als ein hübsches Mädchen in einen Nachtclub auszuführen", versicherte er mir erneut, ganz offensichtlich bemüht, mich aufzumuntern.

Ich an seiner Stelle wäre vielleicht nicht so großherzig gewesen. „Hat Ihr Dad immer schon gespielt?"

„Nein. Das macht er erst, seit meine Mutter tot ist."

„Tut mir leid." Ich sah ihn nicht an für den Fall, daß er in diesem Augenblick unbeobachtet sein wollte. „Was mich betrifft, so leben meine beiden Eltern nicht mehr", sagte ich dann.

„Sind sie schon lange tot?"

„Sie starben, als ich sieben Jahre alt war."

„Wer hat Sie dann großgezogen?"

„Meine Oma. Mein Bruder und ich sind bei ihr groß geworden."

„Was ist mit Ihrer Oma? Lebt sie noch?"

„Nein. Sie starb in diesem Jahr, sie wurde ermordet."

„Das ist hart." Sein Tonfall war recht beiläufig.

„Ja, das ist es." Ich hatte noch eine Frage: „Haben Ihre Eltern Ihnen erklärt, was mit Ihnen los ist?"

„Nein. Mein Opa hat es mir gesagt, als ich etwa dreizehn war. Er hatte die Zeichen erkannt. Ich weiß wirklich nicht, wie verwaiste Werwölfe es schaffen können, den Wechsel ohne jegliche Hilfe durchzustehen."

„Das wäre sehr schwer, das kann ich mir vorstellen."

„Wir versuchen, alle Werwölfe in unserer Gegend zu kennen und mitzubekommen, wenn sie Kinder haben, damit niemand ungewarnt bleibt."

Selbst eine Warnung aus sozusagen zweiter Hand war wohl in diesem Fall besser als überhaupt keine. Zu solch einer Unterredung gebeten zu werden, würde aber wohl im Leben eines jeden Menschen zu einem großen Trauma werden.

In Vicksburg hielten wir, um zu tanken. Ich bot an, die Tankfüllung zu zahlen, aber Alcide versicherte mir ziemlich überzeugend, er könne die Quittung an seine Buchhaltung weiterreichen, da er tatsächlich vorhatte, in Jackson Kunden zu besuchen und die Reise somit als Geschäftsreise galt, deren Kosten sich absetzen ließen. Auch mein Angebot, die Zapfsäule zu betätigen lehnte er ab. Er nahm nur die Tasse Kaffee an, die ich ihm brachte und für die er sich so ausführlich bedankte, als hätte ich ihm einen neuen Anzug geschenkt. Der Tag war kalt und klar, weswegen ich rasch eine kleine Runde um den Autohof drehte, um mir die Beine zu vertreten. Dann kletterte ich wieder in den Pick-up.

Als Nächstes fuhren wir an den alten Schlachtfeldern entlang, deren Anblick mich an einen der anstrengendsten Tage meines gesamten Erwachsenenlebens erinnerte und schon ertappte ich mich dabei, wie ich Alcide vom Lieblingsverein meiner Großmutter erzählte, von den Nachkommen Ruhmreicher Toter, und von der Expedition zu den Schlachtfeldern des Bürgerkriegs, die dieser Verein zwei Jahre zuvor unternommen hatte. Bei diesem Ausflug hatte ich einen der Wagen voller Nachkommen gesteuert, Maxine Fortenberry (die Oma eines guten Freundes meines Bruders Jason) den anderen. Wir hatten uns alles ausführlich angesehen. Jeder Nachkomme hatte einen literarischen Text über die Belagerung dabeigehabt, um ihn den anderen vorzutragen, und da wir gleich zu Anfang beim Besucherzentrum haltgemacht hatten, waren alle bestens mit Kartenmaterial und Andenken ausgerüstet gewesen. Veldas Rezitation von Cannon Depends erwies sich als ziemlicher Fehlschlag, aber wir amüsierten uns trotzdem alle blendend. Wir lasen sämtliche Inschriften auf sämtlichen Denkmälern, wir picknickten direkt neben der frisch restaurierten USS Cairo und fuhren erschöpft und mit Mitbringseln reichlich beladen wieder nach Hause zurück. Sogar ins Isle of Capri-Casino hatten wir uns gewagt, um dort eine Stunde lang mit offenen Mündern dem munteren Treiben zuzusehen und selbst zaghaft ein paar der Spielautomaten mit Münzen zu füttern. Meine Oma hatte den Tag aus ganzem Herzen genossen. Sie war fast so glücklich gewesen wie an dem Abend, an dem sie Bill hatte dazu bewegen können, beim Treffen der Nachkommen zu erscheinen und einen Vortrag zu halten.

„Warum war ihr dieser Vortrag denn so wichtig?" wollte Alcide wissen, der über meine Beschreibung unseres Abendessens am Cracker Barrel hatte lächeln müssen.

„Bill ist Veteran", sagte ich. „Armeeveteran."

„Ja und?" Dann dämmerte ihm langsam, wie das gemeint sein konnte. „Wollen Sie damit etwa sagen, Ihr Freund sei Bürgerkriegsveteran?"

„Jawohl. Er war während des Krieges noch Mensch, seine Wandlung fand erst später statt. Damals hatte er Familie." Irgendwie brachte ich es nicht mehr über mich, Bill als meinen Liebsten zu bezeichnen: Immerhin hatte er vorgehabt, mich zugunsten einer anderen zu verlassen.

„Wer hat ihn denn zum Vampir gemacht?" wollte Alcide wissen. Mittlerweile waren wir in Jackson angekommen, und unser Wagen schlängelte sich durch den Stadtverkehr auf dem Weg zu dem Apartment, das Alcides Firma in dieser Stadt unterhielt.

„Das weiß ich nicht", antwortete ich. „Darüber spricht er nicht."

„Das erscheint mir ein wenig merkwürdig, Ihnen nicht?"

Offen gestanden mußte ich ihm recht geben. Andererseits ging ich davon aus, daß diese Information etwas sehr Persönliches war, etwas, wovon Bill mir, sollte er es so wollen, bestimmt irgendwann Mitteilung machen würde. Ich wußte bereits, daß die Beziehung zwischen einem älteren Vampir und dem Nachkömmling, den er 'herüberbringt', eine sehr starke ist.

„Ich nehme an, Bill ist nicht mehr mein Freund", mußte ich eingestehen. „Auch wenn 'Freund' ein ziemlich harmloser Ausdruck ist für das, was Bill für mich darstellt."

„Ach ja?"

Ich errötete. Ich hätte das wohl lieber nicht sagen sollen. „Aber finden muß ich ihn trotzdem", ergänzte ich.

Daraufhin schwiegen wir beide eine Weile. Ich sah aus dem Fenster: Dallas war die letzte Stadt gewesen, die ich besucht hatte, und so stellte ich Vergleiche an. Ganz eindeutig war Jackson nicht annähernd so groß wie Dallas (ein Pluspunkt, was mich betraf). Alcide wies mich auf die goldene Statue hin, die die Kuppel des neuen Parlamentsgebäudes zierte und ich bewunderte das Kunstwerk, das meiner Meinung nach einen Adler darstellte, wie es sich gehört. Ganz genau ließ sich das mit dem Adler aber nicht sagen, und es war mir peinlich nachzufragen. Vielleicht wurde es ja Zeit, daß ich mir eine Brille zulegte. Das Haus, zu dem wir wollten, befand sich in der Nähe der Kreuzung High Street/State Street. Neu war das Gebäude nicht: Die einstmals goldbraunen Steine hatten sich schmutzig hellbraun verfärbt.

„Die Wohnungen hier sind größer, als die in den neuen Wohnblocks", erklärte Alcide. „Wir haben ein Gästezimmer. Eigentlich sollte alles für uns bereit sein. Wir haben einen Reinigungsdienst mit der Aufgabe betraut, die Wohnung zu betreuen."

Ich nickte schweigend. Ich konnte mich nicht entsinnen, je zuvor in einem Apartmenthaus gewesen zu sein - bis mir einfiel, daß es doch ein Mietshaus gab, das ich kannte: In Bon Temps stand ein U-förmiges, zweistöckiges Apartmenthaus, die Kingfisher Apartments. In den vergangenen sieben Jahren hatte bestimmt jede alleinstehende Person unserer Stadt im Verlauf ihrer Beziehungskarriere irgendwann einmal eine Wohnung dort gemietet.

Alcides Wohnung, teilte er mir mit, lag im obersten, im vierten Obergeschoß des Hauses. Von der Straße aus gelangte man über eine Rampe in die Tiefgarage des Gebäudes. Am Eingang dieser Garage befand sich ein kleines Häuschen, in dem ein Wachmann saß, dem Alcide einen Plastikausweis zeigte. Der untersetzte Mann, dem eine Zigarette im Mundwinkel baumelte, warf einen eingehenden Blick auf diesen Ausweis, ehe er einen Knopf betätigte, woraufhin sich die Schranke vor der Zufahrt hob und wir freie Fahrt hatten. Beeindruckend fand ich diese Sicherheitsvorkehrungen nicht. Der Wachmann machte den Eindruck, als könne ich persönlich ihn mühelos aufs Kreuz legen, von meinem Bruder Jason ganz zu schweigen. Der hätte den Mann jederzeit zu Brei hauen können.

Nun kletterten wir aus dem Pick-up und hoben unsere Reisetaschen von der schmalen Rückbank. Mein Kleidersack schien sich gut gehalten zu haben. Alcide schnappte sich meinen Koffer, ohne vorher zu fragen, ob es mir recht sei. Dann ging er zu einem zentralen Block innerhalb des Parkbereichs, in dessen Wand ich eine glänzende Fahrstuhltür erkannte. Alcide betätigte einen Knopf, woraufhin sich die Tür umgehend öffnete. Nachdem Alcide auf den Knopf für den vierten Stock gedrückt hatte, setzte sich das Gefährt rumpelnd in Bewegung. Immerhin war die Kabine sauber, ebenso, als wir oben angekommen waren, Teppich und Flur, die sichtbar wurden, als die Fahrstuhltür aufging.

„Wir haben das Haus gekauft, als diese Wohnungen in Eigentumswohnungen umgewandelt wurden", erklärte Alcide, als sei das für ihn keine große Sache. Er und sein Dad hatten an der Umwandlung verdient. Es gab vier Wohnungen pro Stockwerk.

„Wer sind Ihre Nachbarn?" wollte ich wissen.

„Wohnung 501 gehört zwei Senatoren, die hier in Jackson im Senat sitzen. Ich bin sicher, die beiden sind heimgefahren - es sind Parlamentsferien. In 502 wohnt Mrs. Charles Osburgh III. mit ihrer Pflegerin. Noch letztes Jahr war Mrs. Osburgh eine richtig große Dame - jetzt kann sie, glaube ich, nicht mal mehr laufen. 503 steht im Moment leer, es sei denn, der Makler hat es geschafft, sie irgendwann während der letzten zwei Wochen zu verkaufen." Alcide entriegelte die Wohnungstür von Nummer 504, stieß sie auf und bat mich mit einer Handbewegung, vor ihm einzutreten. Gehorsam trat ich in den stillen, warmen Flur, von dem zur Linken eine Küche abging, die vom Rest der Wohnung nicht durch Wände, sondern durch halbhohe Tresen abgetrennt war, was einen unverstellten Blick auf den Wohn- und Eßbereich des Apartments erlaubte. Unmittelbar rechts von mir befand sich eine Tür, die höchstwahrscheinlich zu einer Garderobe gehörte. Weiter hinten im Flur führte eine Tür zu einem kleinen Schlafzimmer mit einem sorgfältig gemachten Doppelbett. Eine weitere Tür führte in ein kleines Bad mit blauen und weißen Kacheln sowie Handtüchern, die sauber und ordentlich an den dafür vorgesehenen Haken hingen.

Auf der anderen Seite des Wohnzimmers, zu meiner Linken, führte eine Tür in ein größeres Schlafzimmer, in das ich allerdings nur einen kurzen Blick warf, damit es nicht so aussah, als hätte ich ein übermäßiges Interesse an Alcides Privatgemach. Bei dem Bett in diesem Zimmer handelte es sich um ein Doppelbett in Übergröße. Ließ das darauf schließen, daß Alcide und sein Dad ein reges gesellschaftliches Leben führten, wenn sie in Jackson weilten? Daß sie oft Gäste hatten?

„Das große Schlafzimmer hat ein eigenes Bad", erklärte Alcide. „Ich würde Ihnen dieses Zimmer zu gern zur Verfügung stellen, aber leider befindet sich dort auch das Telefon, und ich erwarte ein paar geschäftliche Anrufe."

„Das kleinere Schlafzimmer reicht doch völlig", versicherte ich rasch. Nachdem ich meine Sachen dort untergebracht hatte, sah ich mich noch ein wenig um.

Die ganze Wohnung war eine Symphonie in Beige. Beige der Boden, beige die Möbel. Tapeten mit einem orientalisch anmutenden Bambusmuster vor beigefarbenem Untergrund. Alles wirkte sehr ruhig und sehr sauber.

Während ich meine Kleider in den Schrank hängte, fragte ich mich, wie oft ich den Club wohl würde besuchen müssen. Mehr als zweimal, und ich würde einkaufen gehen müssen, was angesichts meiner finanziellen Verhältnisse unmöglich war. Vielleicht nicht wirklich unmöglich, aber auf jeden Fall unklug. Bei diesen Überlegungen senkte sich eine altvertraute Last auf meine Schultern.

Meine Großmutter, Gott habe sie selig, hatte nie viel besessen und hatte mir von daher auch nicht viel hinterlassen können. Nachdem die Kosten für die Beerdigung beglichen waren, war wirklich kaum etwas übriggeblieben. Daß sie mir ihr Haus vererbt hatte, war ein völlig unerwartetes, wunderbares Geschenk gewesen.

Das Geld, mit dessen Hilfe meine Großmutter Jason und mich aufgezogen hatte, jenes Geld, das aus einer längst versiegten Ölquelle gestammt hatte, war seit langem aufgezehrt. Mit dem Lohn, den mir die Vampire in Dallas für meinen Einsatz dort gezahlt hatten, hatte ich die beiden Abendkleider gekauft, meine Grundsteuer bezahlt und einen Baum fällen lassen, dessen Wurzeln sich im Winter zuvor bei einem Eissturm gelockert hatten. Der Baum hatte sich danach immer stärker und gefährlicher Richtung Hausdach geneigt, wobei ein großer Ast sich bereits gelöst und das Blechdach beschädigt hatte. Den Schaden am Dach hatten Jason und Hoyt Fortenberry für mich richten können; soviel Geschick beim Dachdecken besaßen sie glücklicherweise.

Ich erinnerte mich an den Wagen des Dachdeckers, der vor Belle Rive gestanden hatte.

Abrupt ließ ich mich auf das Bett fallen. Was war das denn jetzt? War ich wirklich so kleingeistig, neidisch zu werden, weil mein Liebster sich wohl ein Dutzend Dinge hatte einfallen lassen, um sicherzustellen, daß es seinen Nachkommen (den unfreundlichen und manchmal recht hochnäsigen Bellefleurs) nur ja an nichts mangelte, während ich, immerhin die Liebe seines Lebens nach dem Tode, mich so um meine Finanzen sorgte, daß mir oft die Tränen kamen?

Aber sicher war ich so kleingeistig! Da können Sie Gift drauf nehmen!

Dafür hätte ich mich eigentlich schämen müssen, oder?

Aber das würde ich später erst tun. Noch war mein Kopf nicht fertig mit den Beschwerden, noch spuckte er ständig neue aus.

Da hockte ich also, sorgte mich um das liebe Geld (besser gesagt, um den Mangel an demselben) und fragte mich gleichzeitig, ob Eric, als er mich für seine Mission anheuerte, wohl je der Gedanke gekommen war, daß ich nichts verdiente, wenn ich nicht zur Arbeit ging. Wenn ich nichts verdiente, konnte ich meine Stromrechnung nicht bezahlen, auch den Kabelanschluß nicht, das Telefon, die Kfz-Versicherung ... aber trotzdem hatte ich die moralische Verpflichtung, Bill zu finden, ja? Auch wenn ich gar nicht wußte, was aus unserer Beziehung geworden war! Ich ließ mich zurückfallen und redete mir ein, es würde sich schon alles regeln. Ganz hinten in meinem Kopf war ich überzeugt davon, ich müsse mich nur mit Bill zusammensetzen - gesetzt den Fall, ich bekam ihn zurück um ihm meine Lage zu schildern. Er würde doch gewiß ... er würde bestimmt irgend etwas tun!

Andererseits ging es aber doch nicht an, daß ich einfach so Geld von Bill annahm. Etwas anderes wäre es natürlich gewesen, wenn wir verheiratet gewesen wären. Wenn man verheiratet ist, ist so etwas in Ordnung. Mann und Frau teilen ihren gesamten Besitz. Aber Bill und ich konnten ja nicht heiraten, das war nicht legal.

Außerdem hatte er auch nie um meine Hand angehalten.

„Sookie?" erklang da eine Stimme von der Türschwelle.

Ich blinzelte und richtete mich auf. Mein Gastgeber lehnte am Türpfosten, die Arme vor der Brust verschränkt.

„Alles in Ordnung?"

Ich nickte zögernd.

„Fehlt er Ihnen?"

Es war mir zu peinlich, meine Geldsorgen zu erwähnen, und natürlich waren die auch nicht wichtiger als Bill. Um die Dinge zu vereinfachen, nickte ich also.

Alcide setzte sich neben mich und legte den Arm um meine Schultern. Wie warm der Mann war. Er roch nach Waschmittel, nach Weichspüler, und Irish Moos-Seife und nach Mann. Ich schloß die Augen und zählte wieder einmal bis zehn.

„Er fehlt Ihnen", sagte er, wie um sich selbst zu bestätigen. Mit der Linken langte er am eigenen Körper vorbei, um meine Linke zu ergreifen, während er mich fester in den rechten Arm nahm.

Sie wissen ja gar nicht, wie sehr er mir fehlt! schoß es mir durch den Kopf.

Anscheinend entwickelt nämlich der Körper, hat man sich erst einmal an regelmäßigen, phantastischen Sex gewöhnt, eine Art Eigenleben, sobald man ihm dieses wunderbare Freizeitvergnügen wieder raubt - mal ganz abgesehen von der Sache mit dem Umarmen und Kuscheln. Mein Körper jedenfalls flehte mich förmlich an, ich möge doch bitte diesen Alcide ganz einfach rücklings aufs Bett werfen und den Rest ihm überlassen. Er hätte zu gern mit diesem stattlichen Mann getan, wonach ihm der Sinn stand, und zwar auf der Stelle.

„Ja, er fehlt mir wirklich, ganz gleich, welche Probleme wir haben", sagte ich mit ganz dünner, zittriger Stimme. Ich wagte nicht, die Augen zu öffnen, aus Furcht, in Alcides Augen etwas glimmen zu sehen, etwas, das mir den letzten Anstoß hätte geben können. Dann wäre ich nicht mehr zu halten gewesen.

„Was meinen Sie - wann sollten wir aufbrechen?" fragte ich, um der Unterhaltung eine andere Wendung zu geben.

Wie warm er war.

Eine andere Wendung! „Soll ich uns etwas kochen, ehe wir losziehen?" Das schien mir das Mindeste, was ich tun konnte. Kurz entschlossen schoß ich vom Bett wie ein Schachtelteufelchen und warf Alcide das natürlichste Lächeln zu, das ich zustande bringen konnte. Wenn ich nicht sofort aus der unmittelbaren Nähe dieses Mannes verschwand, würde ich hemmungslos über ihn herfallen.

„Ach, lassen Sie uns doch ins Mayflower Cafe gehen. Ein nettes Restaurant, sieht aus wie eine dieser altmodischen Gaststätten und ist auch eine, aber es wird Ihnen dort sicher gefallen. Alle gehen dorthin - vom Senator bis zum Tischler, alle möglichen Leute. Sie schenken allerdings keinen Wein aus, nur Bier - macht Ihnen das etwas aus?" Ich zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. Natürlich nicht. „Ich trinke nicht oft", erklärte ich.

„Ich auch nicht", antwortete er. „Das mag daran liegen, daß mein Vater die Tendenz hat, von Zeit zu Zeit zu viel zu trinken. Dann trifft er immer falsche Entscheidungen." Alcide schien seine Worte sofort zu bereuen. „Nach dem Mayflower Cafe gehen wir in den Club", setzte er kurz angebunden hinzu. „Dieser Tage wird es früh dunkel, aber die Vamps tauchen erst auf, wenn sie ein wenig Blut intus, ihre Damen abgeholt und ein paar Geschäfte erledigt haben. Wir sollten da so gegen zweiundzwanzig Uhr auflaufen. Das heißt, wir sollten gegen acht essen gehen. Ist das in Ordnung?"

„Sicher." Nur daß ich nun nicht wußte, was ich die ganze Zeit bis dahin mit mir anfangen sollte, denn es war erst zwei Uhr nachmittags. Alcides Wohnung brauchte nicht saubergemacht zu werden, und es gab auch keinen Grund zu kochen. In meinem Koffer befanden sich Liebesromane für den Fall, daß ich lesen wollte. Angesichts der Verfassung, in der ich war, wäre eine solche Lektüre meinem ... Gemütszustand jedoch wohl kaum zuträglich gewesen.

„Hören Sie, wäre es in Ordnung, wenn ich kurz losgehe und ein paar Kundenbesuche erledige?" erkundigte sich mein Gastgeber besorgt.

„Natürlich, machen Sie das ruhig!" Um so besser, dachte ich, dann war er wenigstens nicht in meiner unmittelbaren Nähe. „Erledigen Sie ruhig alles, was Sie erledigen müssen. Ich habe mir etwas zum Lesen mitgebracht, und dann gibt es ja auch noch das Fernsehen." Ich konnte mir ja erst mal den Krimi zu Gemüte führen.

„Wenn Sie möchten ... ich weiß nicht... meine Schwester Janice hat einen Schönheitssalon nur ein paar Straßen weiter, in der Altstadt. Janice hat einen Mann aus Jackson geheiratet. Wenn Sie möchten, könnten Sie rübergehen und sich dort generalüberholen lassen."

„Ach ich ... nun ... das." Mir wollte so rasch keine Ausrede einfallen. Das einzige Hindernis, das mich von einer solch netten Verwöhnkur trennte, war schließlich akuter Geldmangel, und das konnte ich schlecht sagen.

In Alcides Augen blitzte Verstehen auf. „Wenn Sie zu Janice gingen, hätte meine Schwester Gelegenheit, Sie ordentlich unter die Lupe zu nehmen. Wir tun doch so, als wären Sie meine neue Freundin. Janice hat Debbie gehaßt. Sie würde sich freuen, wenn Sie vorbeikämen."

„Sie sind wirklich sehr nett zu mir", sagte ich und versuchte, nicht so verwirrt und gerührt zu klingen, wie ich mich fühlte. „Das hatte ich nicht erwartet."

„Sie sind auch nicht das, was ich erwartet hatte", erwiderte Alcide, woraufhin er einen Zettel mit der Telefonnummer des Salons, den seine Schwester betrieb, neben dem Telefon deponierte und aus der Wohnung eilte, um sich seinen Geschäften zu widmen.