Kapitel 11

Ein Silberstreif zeichnete sich am Horizont ab, als ich mich aus dem Palais des Königs von Mississippi schlich. Der Morgen war wärmer als die vorangegangenen, und es war noch recht dunkel, nicht nur der frühen Morgenstunde wegen, sondern auch, weil Regen in der Luft lag. Ich trug mein Hab und Gut zusammengerollt unter dem Arm. Irgendwie hatten nämlich sowohl meine Handtasche als auch die schwarze Samtstola den Weg aus dem Nachtclub hierher in Russel Edgingtons Villa gefundenen. Ich hatte die Handtasche zusammen mit meinen hochhackigen Schuhen in die Stola gewickelt - immerhin war der Wohnungsschlüssel, den Alcide mir geliehen hatte, immer noch in dem Täschchen, und ich fand die Vorstellung, notfalls in Alcides Wohnung Schutz suchen zu können, höchst beruhigend. Unter dem anderen Arm trug ich die sorgsam zusammengefaltete Wolldecke, die auf meinem Bett gelegen hatte. Das Bett selbst hatte ich noch gemacht, ehe ich ging, damit das Verschwinden der Decke hoffentlich möglichst lange unbemerkt bleiben würde.

Bernhard hatte, als er mich ausstattete, vergessen, mir auch eine Jacke zu leihen, weswegen ich mir beim Verlassen des Hauses eine Steppjacke schnappte, die unten an der Treppe am Treppengeländer hing. Mich plagten ungeheure Schuldgefühle dieser Jacke wegen. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich einen Diebstahl begangen, und nun gleich zwei an einem Tag: die Jacke und die Wolldecke. Mein Gewissen hatte einiges dagegen einzuwenden.

Als ich mir dann aber vor Augen hielt, was ich unter Umständen alles würde tun müssen, um diesem Anwesen irgendwann einmal den Rücken kehren zu können, schien mir der Diebstahl einer Winterjacke und einer Wolldecke unter dem Strich doch recht harmlos. Von daher riet ich meinem Gewissen, lieber die Klappe zu halten.

Ich schlich durch die wahrhaft riesige Küche des Hauses zur Hintertür, allerdings hätten meine Füßen in den Stoffschuhen mit Gummizug, die ich anhatte, gern ein wenig mehr Halt gefunden. Die Schuhe hatten sich in dem Kleiderpaket befunden, das Bernhard mir gebracht hatte, aber sie waren mir etwas zu groß. Dennoch schien es mir erheblich sicherer, in Socken und Hausschuhen unterwegs zu sein, als in meinen hochhackigen Sandaletten einherzustolzieren.

Noch hatte ich niemanden zu Gesicht bekommen. Ich schien genau die richtige, die magische Zeit abgepaßt zu haben. Sicher lagen fast alle Vampire inzwischen in ihren Särgen oder Betten oder unter der Erde oder wo es ihnen sonst beliebte, sich tagsüber aufzuhalten. Die Werwesen, ganz gleich welcher Provenienz, waren wahrscheinlich immer noch auf Sauftour oder schliefen schon ihren Rausch aus. Dennoch vibrierte ich förmlich vor Spannung. Ich wagte nicht, meinem Glück gänzlich zu trauen, denn es konnte mich ja jederzeit wieder verlassen.

Hinter dem Haupthaus fand ich in der Tat einen Pool; einen recht kleinen, der für den Winter mit einer riesigen schwarzen Plane abgedeckt war. Die Ränder der Plane waren mit Gewichten beschwert, und die Plane selbst bedeckte weit mehr als nur den eigentlichen Durchmesser des Schwimmbeckens. Die winzige Umkleidekabine beim Pool war stockfinster. Ich schlich einen mit unregelmäßigen Gehwegplatten gepflasterten Pfad entlang, trat durch ein Loch in einer dichtgewachsenen Hecke und befand mich nun auf einem gepflasterten Areal. Das mußte der Vorhof der ehemaligen Stallungen sein, das erkannte ich sofort, trotz der immer noch vorherrschenden Dunkelheit: Mein enorm gesteigertes Sehvermögen machte es möglich. Bei diesem Stallgebäude handelte es sich um ein ziemlich großes Haus mit weißen, schindelverkleideten Außenwänden und Gaubenfenstern im ersten Stock (wo Bubba seiner Meinung nach Wohnungen entdeckt hatte). Insgesamt war dies das schmuckste, aufwendigste Garagengebäude, das ich je zu Gesicht bekommen hatte - und doch hatten die einzelnen Parkbuchten für die Autos keine Türen, sondern lediglich offene Torbögen. So konnte ich ganz klar die vier dort geparkten Fahrzeuge erkennen: von der Limousine bis zum Jeep. Auf der rechten Seite des Hauses entdeckte ich dann statt eines weiteren Torbogens eine solide Mauer und in dieser Mauer eine Tür.

Bill, dachte ich. Bill! Indessen klopfte mein Herz, als wolle es gleich zerspringen. Dann überkam mich ein fast überwältigendes Gefühl der Erleichterung, als ich den Lincoln entdeckte, der relativ dicht an der fraglichen Tür geparkt stand. Ich steckte den Schlüssel in das Schloß der Fahrertür, drehte ihn um, und das Türschloß klickte. Dann öffnete ich die Tür, woraufhin das Licht im Innenraum des Wagens anging, was aber keinem aufzufallen schien, da offenbar niemand in der Nähe war. Ich verstaute das Bündel mit meinen Habseligkeiten auf dem Beifahrersitz und drückte, nachdem ich den winzigen Schalter gefunden und betätigt hatte, mit dem sich die Innenbeleuchtung ausschalten ließ, die Tür wieder an, ohne sie jedoch einschnappen zu lassen. Dann verwendete ich eine kostbare Minute darauf, mir das Armaturenbrett anzuschauen, obwohl ich eigentlich so aufgeregt und verängstigt war, daß es mir wirklich schwer fiel, mich richtig zu konzentrieren. Danach trat ich ans Heck des Wagens und schloß den Kofferraum auf. Dieser war riesig, im Gegensatz zum Wageninnern jedoch nicht sauber. Eric schien alle größeren Gegenstände entfernt und weggeworfen zu haben; geblieben waren nur ein paar kleine Plastiktüten auf dem Fußboden, Zigarettenpapier und Spuren von weißem Pulver. Hm. Na ja. Gut - das durfte jetzt keine Rolle spielen. Eric hatte zwei Flaschen Blut in den Kofferraum gelegt, die ich jetzt auf eine Seite schob. Gut, der Kofferraum war dreckig, aber zumindest enthielt er nichts, was Bill den Aufenthalt darin unbequem machen könnte.

Dann holte ich tief Luft und preßte meine Wolldecke an die Brust. In die Decke gehüllt war der Pfahl, der mir eine so schreckliche Wunde zugefügt hatte, die einzige Waffe, die mir zur Verfügung stand. Ich hatte ihn aus dem Papierkorb gefischt und mitgenommen, auch wenn er eigentlich ein ziemlich grauenvolles Bild bot (immer noch klebten mein Blut und einige Gewebereste daran). Zumindest wußte ich mit Gewißheit, daß sich mit diesem Pfahl großer Schaden anrichten ließ.

Der Lichtstreifen am Horizont war breiter geworden. Aber nun spürte ich die ersten Regentropfen im Gesicht und war sicher, daß die Dunkelheit noch ein wenig länger andauern würde. Auf Zehenspitzen schlich ich zur Garage. Jeder, der mich sah, würde es sofort verdächtig finden, wie ich dort herumschlich, aber ich brachte es nicht fertig, zielstrebig und hocherhobenen Hauptes auf die Tür zuzugehen, auf die ich es abgesehen hatte. Der Garagenhof war mit Kies ausgestreut - es war fast unmöglich, sich geräuschlos zu bewegen, aber ich tat mein Bestes, möglichst leise aufzutreten.

An der Tür angekommen, legte ich erst einmal mein Ohr an das Holz und lauschte mit meinen - durch Erics Blut geschärften - Sinnen. Ich vernahm gar nichts. Immerhin wußte ich nun, daß sich hinter der Tür keine Menschen befanden. Leise drückte ich die Türklinke herunter, ließ sie langsam wieder in ihre Ausgangsposition zurückgleiten, gab der Tür einen leichten Stoß und betrat den dahinterliegenden Raum.

Das Zimmer hatte Holzfußboden, einen ziemlich fleckigen Holzfußboden, und es stank fürchterlich. Sofort war mir klar, daß Russel diesen Raum nicht zum ersten Mal als Folterkammer benutzte. Mitten im Zimmer saß Bill, mit silbernen Ketten an einen einfachen Stuhl mit gerader Rückenlehne gefesselt.

Die ganzen letzten Tage hatte ich mich mit ungeheuer verworrenen Gefühlen und einer mir gänzlich unvertrauten Umgebung herumschlagen müssen; nun schien es mir mit einem Schlag, als nähme meine Welt wieder erkennbare Konturen an.

Alles war klar und eindeutig: Hier saß Bill, und ich würde ihn retten.

Nachdem ich im Schein der nackten Glühbirne, die von der Decke baumelte, meinen Liebsten in aller Ausführlichkeit hatte betrachten können, wußte ich ganz genau, daß ich alles tun würde, um ihn zu retten.

Ein solch dramatischer Anblick hatte sich mir noch nie in meinem ganzen Leben geboten.

Brandwunden bedeckten Bills Körper überall dort, wo die silbernen Ketten ihn gefesselt hielten. Ich wußte, welche Schmerzen Vampire beim Kontakt mit Silber verspüren, von daher wußte ich auch, welche Qualen Bill gerade durchlebte. Nicht nur mit Hilfe der Ketten hatte man ihm die Haut versengt, auch andere Mittel waren dafür eingesetzt worden. Noch dazu hatte er so viele Schnittwunden, daß er nicht in der Lage war, sie von sich aus zu heilen. Man hatte ihn hungern lassen und am Schlafen gehindert. In sich zusammengesunken hing er vornübergebeugt im Stuhl und ich wußte, daß er die vorübergehende Abwesenheit seiner Folterer nutzte, um sich, so gut es ging, rasch ein wenig zu erholen. Sein dunkles Haar hing ihm blutverkrustet ins Gesicht.

Außer der Tür, durch die ich gekommen war, gab es noch zwei weitere aus dem fensterlosen Raum, von denen die eine, die zu meiner Rechten, in eine Art Schlafsaal führte. Diese Tür stand offen, und ich konnte ein paar Betten erkennen. Auf dem einen lag lang ausgestreckt und in voller Montur ein Mann, der von der Welt nicht mehr viel mitbekam. Einer der Werwölfe, zurück vom monatlichen Gelage. Er schnarchte mit offenem Mund, und seine Kinnpartie zierten dunkle Flecken, die ich mir wirklich nicht genauer ansehen wollte. Leider konnte ich den Rest des Schlafsaals nicht einsehen, weswegen ich nicht sicher hätte sagen können, ob dort unter Umständen noch weitere Werwölfe schlummerten oder nicht. Wollte ich auf Nummer Sicher gehen, so war es bestimmt angesagt, mit der Anwesenheit weiterer Wächter zu rechnen.

Die zweite Tür ganz am Ende des Raums führte weiter in die Garage hinein und war unter Umständen der Zugang zur Treppe, die hinauf in die Wohnungen im ersten Stock führte. Ich hatte aber nicht mehr die Zeit, dies genauer zu untersuchen. Mir saß ein Gefühl der Dringlichkeit im Nacken, das mich anstachelte, Bill hier so rasch wie irgend möglich rauszuschaffen. Ich zitterte, so eilig hatte ich es plötzlich, so unumgänglich schien es mir, hier schnell wieder zu verschwinden. Bis jetzt hatte ich enormes Glück gehabt. Ich durfte auf gar keinen Fall darauf zählen, daß es anhielt.

Entschlossen trat ich zwei Schritte näher an Bill heran.

Ich bekam genau mit, wann er meine Witterung aufnahm, wann er wußte, daß ich es war.

Bills Kopf fuhr hoch, und mit glühenden Augen funkelte mein Liebster mich an. Auf seinem dreckverschmierten Gesicht breitete sich herzzerreißende Hoffnung aus. Warnend hob ich den rechten Zeigefinger. Dann trat ich geschwind, aber lautlos hinüber zur Tür, die in den Schlafsaal führte und zog sie zu, ohne das Schloß jedoch einrasten zu lassen. Danach stellte ich mich hinter den Stuhl, auf dem Bill hockte und besah mir ausführlich die Ketten, in die mein Freund gewickelt war. Die Ketten waren mit zwei winzigen Vorhängeschlössern gesichert, wie wir sie alle von den Sicherheitsketten an den Schließfächern in der Schule her kennen. „Schlüssel?" hauchte ich Bill ins Ohr. Er besaß noch einen einzigen Finger, den sie ihm nicht gebrochen hatten, und mit dem deutete er nun auf die Tür, durch die ich hereingekommen war. Dort hingen an einem Nagel ziemlich weit oben zwei Schlüssel, und zwar genau so, daß Bill sie immer vor Augen hatte. Natürlich hatten diese Folterknechte auch an solche Kleinigkeiten gedacht! Ich legte die Wolldecke samt Pfahl vor Bills Füße, schlich über den fleckenübersäten Fußboden zur Wand neben der Eingangstür und reckte mich, so hoch ich konnte, ohne jedoch an die Schlüssel heranzukommen. Für einen Vampir, der schweben konnte, wäre es kein Problem gewesen, sie zu erreichen. Das erinnerte mich daran, daß ich ja zumindest stark war: stark dank Erics Blut.

An der Wand neben der Tür hing ein Regal voller interessanter Dinge wie Feuerhaken und Zangen. Eine Zange! Sofort stellte ich mich auf Zehenspitzen und nahm mir eine Zange aus dem Regal, wobei ich ein heftiges Würgen unterdrücken mußte, als ich bemerkte, womit sie besudelt war. Die Zange war verklebt mit einer Schicht - ach, einfach schrecklichem Zeug. Dann hob ich das Werkzeug hoch zu dem Nagel, an dem die Schlüssel hingen, und es gelang mir, obwohl die Zange recht schwer war, die Schlüssel zwischen die beiden Zangenbacken zu klemmen und vom Nagel zu schieben. Des weiteren schaffte ich es auch noch, die Zange wieder so weit zu senken, daß ich mir die Schlüssel schnappen konnte. Erleichtert, aber auch so leise, wie man überhaupt nur atmen kann, stieß ich einen tiefen Seufzer aus. So schwer war das ja gar nicht gewesen.

Es sollte sich bald erweisen, daß dies die letzte leichte Aufgabe gewesen war, vor der ich im Rahmen dieses Unterfangens stand. Nun kam die schreckliche Arbeit, Bill auszuwickeln. Ich strengte mich sehr an, so gut wie keinen Lärm zu machen, nach Möglichkeit gar nicht mit den Ketten zu klirren, aber es war erstaunlich schwierig, die einzelnen glänzenden Stränge zu entwirren. Sie schienen einfach an Bill festzukleben, dessen ganzer Körper steif vor Anspannung war.

Irgendwann verstand ich, worum es ging: Bill bemühte sich nach Leibeskräften, nicht laut loszuschreien, während ich die Kettenglieder aus seiner verbrannten Haut löste. Da drehte sich mir der Magen um, und ich mußte meine Arbeit mehrere kostbare Sekunden lang einstellen, während ich ganz vorsichtig und tief Atem holte. Wenn es mir schon derart schwerfiel, dieses Leiden mit anzusehen, wieviel schwerer mußte es dann für Bill sein, es zu erdulden?

Da nahm ich noch einmal all meine mentalen Kräfte zusammen und machte mich erneut ans Werk. 'Was getan werden muß, das kann eine Frau auch tun!' hatte mir meine Großmutter immer versichert. Nun stellte sich wieder einmal heraus, wie recht meine Oma auch hierin gehabt hatte.

Man hatte die Silberketten meterweise - und das ist wortwörtlich zu verstehen - um Bill herumgeschlungen, und es nahm viel mehr Zeit in Anspruch, als mir eigentlich lieb war, ihn leise und vorsichtig wieder auszuwickeln. Andererseits wäre mir wohl jede Zeitspanne zu lang vor gekommen - in meinem Rücken lauerten Gefahren, ich atmete Unheil ein und wieder aus, mit jedem Atemzug mußte ich mir die Katastrophe vergegenwärtigen. Bill war sehr schwach, und nun, wo die Sonne aufgegangen war, mußte er sich sehr anstrengen, um überhaupt wach zu bleiben. Es half, daß der Tag recht düster war, aber sobald die Sonne höher stand, würde mein Freund nicht mehr wirklich in der Lage sein, sich zu bewegen, ganz egal, wie trübe der Himmel draußen war.

Das letzte Kettenende glitt zu Boden.

„Du mußt aufstehen", flüsterte ich meinem Liebsten ins Ohr. „Du mußt wirklich! Ich weiß, wie weh dir das tut, aber ich kann dich nicht tragen." Ich ging zumindest davon aus, daß ich nicht in der Lage sein würde, Bill zu tragen. „Draußen steht ein Lincoln, der Kofferraum ist offen. Ich wickle dich in die Decke hier und lege dich in den Kofferraum, und dann verschwinden wir. Hast du mich verstanden, Baby?"

Bills dunkles Haupt neigte sich den Bruchteil eines Zentimeters.

Genau in diesem Moment fand meine Glückssträhne ihr Ende.

„Wer zum Teufel sind denn Sie?" verlangte eine weibliche Stimme mit einem schweren ausländischen Akzent zu wissen. Jemand war durch die Tür getreten, die in meinem Rücken lag.

Unter meinen Händen zuckte Bill merklich zusammen. Ich wirbelte herum, um mich der Stimme zu stellen, während ich mich gleichzeitig bückte, um den Pfahl aufzuheben, und da war sie auch schon über mir.

Da hatte ich mir nun eingeredet, die würden alle den Tag über in ihren Särgen sein, aber Pustekuchen! Hier war eine, die ihr Bestes gab, mich umzubringen.

Wäre meine Angreiferin nicht ebenso überrascht gewesen wie ich, dann hätte ich die nächste Minute nicht überlebt. So gelang es mir, meinen Arm aus ihrem Griff zu winden und mich so zu drehen, daß ich hinter Bill stand, mein Gesicht dem Stuhl zugewandt. Die Fangzähne der fremden Vampirin waren voll ausgefahren, und sie zischte mich über den Kopf meines Liebsten hinweg wütend an. Sie war blond wie ich, aber mit braunen Augen und weit zierlicher, eine eher winzige Frau. Sie hatte getrocknetes Blut an den Händen, und ich wußte, daß dieses Blut von Bill stammte. Tief in meinem Innern loderte eine Flamme auf, und ich spürte, wie diese Flamme sich durch meine Augen hindurch einen Weg ins Freie bahnen wollte.

„Du bist wohl seine kleine sterbliche Hurenschlampe!" zischte die Vampirin. „Weißt du was? Die ganze Zeit hat er mich gefickt. Sobald er mich sah, warst du ihm völlig gleichgültig, da hatte er nur noch Mitleid mit dir."

Elegant hatte Lorena ihre Worte nicht gewählt, aber sie wußte genau, wie man aus Worten eine Waffe schmiedet und wo man mit dieser Waffe dann zusticht, um wirklich zu verletzen. Ich wischte die Worte beiseite - sie dienten ohnehin nur dazu, mich abzulenken. Ich packte den Pfahl fester, um auf alles vorbereitet zu sein, und dann setzte die Vampirfrau auch schon über Bills Kopf hinweg und landete direkt auf mir.

Noch während sie in der Luft war, hatte ich, ohne bewußt darüber nachzudenken, den Pfahl hochgerissen und hielt ihn nun in solch einem Winkel, daß die Spitze nach oben wies. Als Lorena auf mir landete, bohrte diese Spitze sich in ihre Brust und trat auf der anderen Seite wieder aus. Dann gingen wir beide zu Boden, wobei ich das Ende des Pfahls immer noch umklammert hielt und sie sich, um nicht mit dem ganzen Körper auf mich zu fallen, mit beiden Händen abstützte. Voller Erstaunen betrachtete sie das Holz in ihrer Brust. Dann sah sie mir in die Augen. Ihr Mund stand offen, die Fangzähne zogen sich langsam zurück. „Nein!" sagte sie, und dann brachen ihre Augen.

Unter Zuhilfenahme des Pfahls schob ich die Frau beiseite und rappelte mich auf. Ich rang nach Luft; meine Hände zitterten wie Espenlaub. Lorena regte sich nicht mehr. Der kleine Zwischenfall hatte sich so rasch und leise abgespielt, ich mochte kaum glauben, daß er wirklich stattgefunden hatte.

Bills Blick glitt über das Ding am Boden und kehrte dann zu mir zurück. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. „Nun", sagte ich munter. „Die habe ich jedenfalls umgenietet."

Gleich darauf lag ich neben der Leiche auf den Knien und versuchte, nicht zu kotzen.

Weitere kostbare Sekunden verstrichen, in denen ich alles daran setzte, wieder richtig zu mir zu kommen. Ich hatte doch ein Ziel, und dieses mußte ich unbedingt erreichen! Lorenas endgültiger Tod würde mir nicht die Bohne nützen, wenn es mir nicht gelang, Bill hier herauszuschaffen, ehe noch jemand auf die Idee kam, nach ihm zu sehen. Nun hatte ich eine so schreckliche Tat begangen - dabei mußte doch unbedingt irgend etwas Gutes herausspringen, irgendein Vorteil für mich.

Wahrscheinlich, schoß es mir durch den Kopf, wäre es nicht unklug gewesen, die Leiche - die bereits zu schrumpeln begann - zu verstecken. Aber das war wirklich zweitrangig. Das wichtigste war, Bill, der immer noch in sich zusammengesackt auf dem verdreckten Stuhl hing, hier wegzuschaffen. Nachdenklich legte ich ihm die Wolldecke um die Schultern. Ich hatte nicht gewagt, ihm ins Gesicht zu sehen, seitdem ich diese schreckliche Tat begangen hatte.

„War es Lorena?" flüsterte ich in Bills Ohr, mit einem Mal von schlimmen Zweifeln geplagt. „Hat sie dir dies alles angetan?"

Er nickte; wieder dieses kleine, kaum merklich Nicken.

Ding Dong - die Hex' war tot.

Ich wartete, ob ich etwas fühlen würde und wenn ja, was. Aber das einzige, was mir in den Sinn kam, war die Frage, warum jemand, der Lorena hieß, Englisch mit ausländischem Akzent sprach. Aber das war eine so blöde Frage, die konnte ich Bill unmöglich stellen. Also ließ ich es lieber sein.

„Du mußt aufwachen, Bill! Du mußt wach bleiben, bis ich dich im Auto habe." Während ich flehentlich auf Bill einflüsterte, versuchte ich gleichzeitig, die Were im Nebenzimmer sozusagen mental im Auge zu behalten. Hinter der angelehnten Tür fing einer von ihnen an zu schnarchen; bei einem anderen, dessen Anwesenheit ich zuvor gar nicht mitbekommen hatte, regte sich etwas in den Gedanken. Ich erstarrte und war sekundenlang unfähig, mich zu rühren; dann spürte ich, wie der fragliche Verstand wieder in ein Muster überging, das auf Schlaf deutete. Ich holte ganz tief Luft und wickelte Bill ein Ende der Wolldecke fest um den Kopf. Dann legte ich mir seinen linken Arm um den Hals und zog. Bill schaffte es wahrhaftig, sich aus dem Stuhl zu erheben und brachte es danach, wenn auch nur unter leisem Stöhnen, sogar fertig, sich mit schlurfenden Schritten zur Tür zu schleppen. Das heißt: Ich trug ihn mehr, als daß er wirklich ging, weswegen ich ganz froh war, an der Tür eine kleine Pause einlegen zu können, um die Türklinke herunterzudrücken. Dabei wäre mir Bill um ein Haar aus dem Arm gerutscht, denn er schlief wortwörtlich im Stehen.

Überhaupt hatte lediglich die drohende Gefahr, auf der Flucht entdeckt zu werden, ihn soweit aufgeputscht, daß er sich hatte bewegen können.

Die Tür sprang auf, und ich überprüfte ein letztes Mal den Sitz der Wolldecke, die gelb und fransig Bills Kopf ganz bedecken sollte. Auch wenn das Sonnenlicht nur schwach und wäßrig trübe war, stöhnte Bill auf, als wir nach draußen traten und erschlaffte fast völlig in meinen Armen. Da fing ich an, leise auf ihn einzureden, mit ihm zu schimpfen, zu fluchen, ihn auf jede nur denkbare Weise zu triezen, damit er in Bewegung blieb. Ich sagte, wenn es der Schlampe Lorena gelungen sei, ihn wachzuhalten, dann würde ich das ganz gewiß auch schaffen. Ich sagte, ich würde ihn windelweich schlagen, wenn er es nicht bis zum Auto schaffte.

Dann endlich, nach einer letzten riesigen Kraftanstrengung, hatte ich es vollbracht und wir standen am Kofferraum des Lincoln. Ich öffnete den Deckel. „Hock dich auf den Rand hier!" wies ich meinen Liebsten an und zupfte und schob dann solange an ihm herum, bis er, das Gesicht zu mir gewandt, auf dem Rand des Kofferraums saß. Genau da verließ ihn das letzte Fünkchen Leben. Er sackte einfach in sich zusammen und kippte nach hinten. Mit einem Klagelaut, der mir fast das Herz gebrochen hätte, fand sein langer Körper Platz in dem beengten Raum, der ihm zur Verfügung stand, und dann lag mein Freund absolut schlaff und leblos einfach nur noch da. Es war jedesmal schrecklich, Bill so sterben zu sehen. Diesmal hätte ich ihn am liebsten angeschrien, mit den Fäusten gegen seine Brust getrommelt.

Aber nichts von alldem hätte auch nur den geringsten Sinn gehabt.

Mühsam beherrschte ich mich also, zwang mich dazu, alle überstehenden Körperteile - ein Arm, ein Bein - zu Bill in den Kofferraum zu stopfen und schloß die Haube. Dann erlaubte ich mir den Luxus, einen Moment lang einfach nur dazustehen und nichts als tiefe Erleichterung zu empfinden.

Dann stand ich dort im Tageslicht auf dem menschenleeren Garagenhof, und in meinem Kopf brach eine kurze, aber heftige Debatte los. Sollte ich versuchen, Lorenas Leiche zu verstecken? Wäre ein solcher Versuch Mühe und Zeit wirklich wert, die er mich kosten würde?

Innerhalb der nächsten dreißig Sekunden änderte ich wohl an die sechsmal meine Meinung. Dann endlich beschied ich, daß es wirklich von großem Vorteil wäre, sollte es mir gelingen, Lorenas Leiche fortzuschaffen. Solange keine Leiche sichtbar herumlag, gingen die Werwölfe vielleicht davon aus, daß Lorena Bill mitgenommen hatte, um ihm irgendwo anders eine kleine Extra-Foltersitzung zuteil werden zu lassen. Russel und Betty Joe waren vorübergehend tot; die standen nicht zur Verfügung und konnten keine Anweisungen erteilen. Darüber, daß Betty Joe mir so dankbar sein könnte, daß sie mich, sollten wir entdeckt werden, eventuell verschonen würde, machte ich mir keinerlei Illusionen. Ein etwas schnellerer Tod als sonst in solchen Fällen üblich war das Höchste, was ich mir von ihr erhoffen durfte.

Nachdem ich meine Entscheidung getroffen hatte, begab ich mich kurzentschlossen und tapfer wieder auf den Rückweg in jenes schrecklich blutbefleckte Zimmer. Zusammen mit dem Blut war Leid und Elend in Wände und Fußboden gedrungen, hatte alles durchtränkt. Ich fragte mich, wie viele Menschen, Were und Vampire wohl in diesem Raum schon gefangengehalten worden waren. Rasch und leise rollte ich die Silberketten auf und stopfte sie Lorena in die Bluse. So mußte jeder, der hier nachsehen kam, davon ausgehen, daß Bill immer noch damit gefesselt war. Dann sah ich mich um und versuchte zu entscheiden, ob noch weitere Reinigungsmaßnahmen vonnöten wären. Aber in diesem Zimmer war so viel Blut geflossen, daß es auf das von Lorena nun auch nicht mehr ankam.

Gut, dann war also die Zeit gekommen, die Leiche zu entfernen.

Ich mußte mir Lorena über die Schulter werfen, wenn ich nicht wollte, daß die Hacken ihrer Schuhe über den Boden schleiften und unnötigen Lärm verursachten. So etwas hatte ich noch nie zuvor getan, und die ganze Sache erwies sich als ziemlich unhandlich. Gott sei Dank war Lorena so schmal und zierlich, und glücklicherweise hatte ich jahrelange Übung darin, bestimmte Sachen einfach gedanklich auszublenden. Ansonsten hätte mir nämlich sowohl die Art, wie Lorena mir schlaff von der Schulter baumelte, als auch die Tatsache, daß bei ihr sozusagen bereits die Farbe abblätterte, den letzten Nerv geraubt. Wie die Dinge lagen, mußte ich trotzdem noch die Zähne zusammenbeißen, um zu verhindern, daß die Lachbläschen der reinen Hysterie, die in meiner Kehle hochstiegen, sich womöglich noch entluden.

Es regnete in Strömen, als ich die Leiche zum Pool trug. Ohne Erics Blut hätte ich die schweren Ränder der Poolabdeckung bestimmt nicht hochheben können. So jedoch gelang es mir spielend mit einer Hand, und dann beförderte ich das, was von Lorena übriggeblieben war, mit einem einzigen Fußtritt ins Schwimmbecken. Ich wußte wohl, daß jeden Moment jemand an eines der rückwärtigen Fenster des Palais treten und erkennen konnte, was ich hier unten am Schwimmbecken trieb - aber sollte einer der Menschen, die im Haus lebten, wirklich an jenem Morgen aus dem Fenster gesehen und mein Tun durchschaut haben, dann hat dieser jemand ganz offensichtlich beschlossen, Stillschweigen zu wahren.

Mittlerweile war ich zerschlagen bis ins Mark. Den gepflasterten Pfad entlang trottete ich durch die Hecke hindurch zum Auto zurück. Eine Sekunde lang lehnte ich mich an die Fahrertür, wollte einfach nur tief durchatmen und zu mir kommen. Dann kletterte ich auf den Fahrersitz und drehte den Zündschlüssel im Schloß. Der Lincoln war das größte Auto, dessen Steuer ich je in Händen gehalten, und eines der luxuriösesten, in denen ich je gesessen hatte, aber mir gelang es in diesem Moment nicht, mich wirklich für den Wagen zu interessieren, geschweige denn, mich an ihm zu erfreuen. Ich schnallte mich an, stellte die Spiegel richtig ein und sah mir das Armaturenbrett noch einmal ganz genau an. Da es immer noch stark regnete, mußte ich wissen, wie sich die Scheibenwischer einschalten ließen. Der Lincoln war ganz neu; die Scheinwerfer gingen von allein an - eine Sorge weniger also.

Erneut holte ich einmal ganz tief Luft. Das war jetzt bestimmt schon Phase drei der Aktion zur Rettung Bill Comptons. Wenn ich bedachte, wie sehr der Erfolg meines Vorgehens bislang vom reinen Zufall abhängig gewesen war, wurde mir etwas mulmig. Andererseits ließ sich aber auch festhalten, daß selbst der ausgetüfteltste Plan nie wirklich jede, aber auch jede Eventualität in Betracht ziehen kann. Das ist unmöglich. Die Pläne, die ich persönlich zu schmieden pflegte, konnte man wohl allesamt als recht flexibel bezeichnen ...

Ich wendete den Wagen und fuhr vom Hof. In anmutigem Bogen erstreckte sich die Auffahrt bis hinüber zur Vorderfont des Haupthauses. Ich sah diese Vorderfront nun zum ersten Mal. Wie wunderschön sie war - weißlackierte Schindeln, langgestreckte Säulen, ganz so, wie ich es mir ausgemalt hatte. Bei der Renovierung dieses Objekts hatte Russel ganz schön tief in die Tasche gegriffen.

Nun schlängelte sich die Auffahrt an Gartenanlagen vorbei, die selbst jetzt in den Brauntönen des Winters noch wie frisch manikürt aussahen. Aber da an diesem Morgen auch die längste Auffahrt für meinen Geschmack viel zu kurz gewesen wäre, konnte ich auf die Schönheit rings um mich herum kaum achten. Ich sah die Mauer schon vor mir, auf die ich unweigerlich zusteuerte. In der Mauer ein großes Tor, im Tor ein Wachhäuschen, im Wachhäuschen Wächter - mir brach trotz der Kälte am ganzen Leib kalter Schweiß aus.

Kurz vor dem Tor brachte ich den Wagen zum Stehen. In der rechten Torhälfte befand sich ein kleines Kabäuschen, unten weiß gemauert, von der Hüfte aufwärts aus Glas. Das Häuschen reichte von der Innenseite der Mauer bis zu deren Außenseite, so daß die Wachen im Innern sowohl die ankommenden als auch die abfahrenden Wagen kontrollieren konnten. Im Interesse der beiden diensthabenden Were dort im Wachhaus hoffte ich, daß das Häuschen beheizt wurde. Die beiden Jungs trugen ihre Ledermontur und blickten griesgrämig drein. Sie hatten eine schwere Nacht hinter sich, daran konnte kein Zweifel bestehen. Während ich langsam abbremste, mußte ich einer fast überwältigenden Versuchung widerstehen, einfach weiterzufahren und die Schranke am Tor niederzuwalzen. Dann trat einer der Were aus dem Häuschen, und ich sah, daß er bewaffnet war. Wie gut, daß ich meinem Impuls widerstanden hatte!

„Ich nehme an, Bernhard hat Ihnen mitgeteilt, daß ich heute morgen abfahre?" sagte ich, nachdem ich das Seitenfenster an der Fahrerseite heruntergelassen hatte. Ich versuchte, mir bei diesen Worten auch noch ein Lächeln abzuringen.

„Sind Sie die, die letzte Nacht gepfählt wurde?" Der Wer, der mich befragte, war ein finster dreinblickender, unrasierter Kerl, der nach nassem Hund roch. ,Ja."

„Wie geht's Ihnen denn so?"

„Besser, vielen Dank für die Nachfrage."

„Kommen Sie denn wieder, um sich die Kreuzigung anzugucken?"

Da hatte ich ihn doch aber ganz sicherlich mißverstanden. „Wie bitte?" hakte ich mit schwacher Stimme nach.

Der Gefährte des Griesgrams, der sich nun in die offene Tür des Wachhäuschens gestellt hatte, sagte: „Halt bloß das Maul, Doug."

Doug warf seinem Kumpanen einen wütenden Blick zu, mußte jedoch erkennen, daß der wenig beeindruckt war und zuckte die Achseln. „Gut, wir wissen Bescheid. Sie dürfen fahren."

Beide Torflügel öffneten sich - viel zu langsam für meine Begriffe. Als sie dann weit genug offenstanden und die beiden Were zurückgetreten waren, fuhr ich langsam und gesetzt vom Anwesen. Plötzlich fiel mir ein, daß ich gar nicht wußte, welchen Weg ich einzuschlagen hatte - aus irgendeinem Grund schien es mir aber richtig, nach links abzubiegen. Ich wollte zurück nach Jackson, und mein Unterbewußtsein flüsterte mir zu, wir seien in der Nacht zuvor von der Landstraße aus rechts in die Zufahrt zu Russels Besitz eingebogen.

Mein Unterbewußtsein war ein mieser, fieser Lügner.

Fünf Minuten später stand unumstößlich fest, daß ich mich verfahren hatte. Die Sonne ging weiterhin gnadenlos auf - natürlich, daran konnten auch noch so dichte Wolkenmassen sie nicht hindern. Ich konnte mich wirklich nicht mehr daran erinnern, wie gut Bill noch durch die Wolldecke geschützt war, und genausowenig wußte ich, wie lichtundurchlässig der Kofferraum sein mochte. Schließlich gehört der sichere Transport von Vampiren bei Tageslicht nicht zu den Dingen, mit denen Autohersteller für die Überlegenheit ihrer Produkte werben.

Aber wasserdicht würde der Kofferraum auf jeden Fall sein, versicherte ich mir. Das war immer sehr wichtig, und von wasserdicht bis lichtundurchlässig konnte es kein weiter Schritt sein. Wie dem auch sein mochte: Mir schien die Suche nach einem dunklen Ort, an dem ich den Lincoln die verbliebenen Stunden des Tages über parken konnte, von extremer Bedeutung. Eigentlich drängten mich alle meine Sinne, rasch das Gaspedal ganz durchzutreten und das Palais weit hinter mir zu lassen, so schnell wie eben möglich - nur für den Fall, daß jemand nach Bill sähe und in der Lage war, zwei und zwei zusammenzuzählen. Ich riß mich jedoch zusammen und lenkte mein Fahrzeug erst einmal kurz auf den Seitenstreifen der Landstraße. Dann öffnete ich das Handschuhfach. Gott schütze Amerika! Da lag doch wahrhaftig eine Karte des Bundesstaates Mississippi, einschließlich einer Detailkarte von Jackson!

Das wäre mir auch eine große Hilfe gewesen - wenn ich gewußt hätte, wo genau ich mich befand.

Leute, die auf der Flucht sind, sollten sich wirklich nicht verfahren!

Ich holte ein paarmal tief Luft. Dann fädelte ich mich wieder in den fließenden Verkehr ein und fuhr einfach weiter, bis ich eine geöffnete Tankstelle sah. In diese Tankstelle bog ich schließlich ein, auch wenn der Lincoln (Danke, Eric!) vollgetankt war. Ich hielt an einer Zapfsäule. Neben mir stand ein schwarzer Mercedes, dessen Fahrerin, eine Frau mittleren Alters, die einen intelligenten Eindruck machte und legere, bequeme, aber dennoch geschmackvolle Kleidung trug, gerade damit beschäftigt war vollzutanken. Ich holte den Schwamm zum Fensterputzen aus dem entsprechenden Wassereimer und erkundigte mich dabei ganz beiläufig bei der Dame: „Sie wissen nicht zufällig, wie ich von hier wieder auf die I-20 komme?"

„Aber sicher weiß ich das", erwiderte die Mercedesfahrerin strahlend, denn sie gehörte zu den Frauen, die nichts lieber tun, als anderen zu helfen. Ich dankte allen Schutzengeln, daß ich gerade an diese Dame geraten war. „Wir sind in Madison, Jackson liegt südlich von hier. Eine Meile weiter in dieser Richtung", mit diesen Worten wies sie nach Westen, „befindet sich die I-55. Auf der I-55 fahren Sie nach Süden, und so kommen Sie dann direkt zur I-20. Sie können auch ..."

„Danke", unterbrach ich, denn nun lief ich Gefahr, mit Informationen überfrachtet zu werden. „Das klingt perfekt, mehr brauche ich nicht. Sonst verfahre ich mich nur noch mehr."

„Das kann ich verstehen. Hauptsache, ich konnte Ihnen helfen."

„Ja, das haben Sie wirklich."

Wir strahlten einander an, zwei nette Frauen an der Zapfsäule einer Tankstelle. Fast hätte ich ihr erzählt, daß hinten in meinem Kofferraum ein Vampir lag, den man schwer gefoltert hatte - so leicht war mir im Kopf. Ich hatte Bill gerettet! Ich war noch am Leben! Heute Nacht würden wir uns auf den Heimweg nach Bon Temps machen können! Das Leben würde wieder glücklich und sorgenfrei sein. Außer, daß ich mich natürlich mit der Untreue meines Liebsten befassen mußte und daß ich würde herausfinden müssen, ob man die Leiche des Werwolfs gefunden hatte, die wir in Bon Temps hatten beiseite schaffen müssen und daß ich abwarten mußte, welche Nachrichten von dem Werwolf an mein Ohr drangen, dessen Leiche irgend jemand in Alcides Wandschrank gestopft hatte und daß auch noch völlig unklar war, wie die Königin von Louisiana auf die Unbedachtheiten reagieren würde, die Bill mit Lorena begangen hatte - die verbalen Unbedachtheiten, ich glaubte keinen Moment lang, daß die Königin sich für Bills sexuelle Eskapaden interessierte.

Aber abgesehen von diesen Kleinigkeiten ging es Bill und mir einfach prima.

„Sorgt euch nicht um den morgigen Tag, denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage." Das war das liebste Bibelzitat meiner Großmutter gewesen, und es schien mir nun sehr passend. Als ich etwa neun Jahre alt gewesen war, hatte ich meine Oma gebeten, mir zu erklären, was es bedeutet. „Das bedeutet, daß du nicht nach Arger Ausschau halten sollst, weil der Ärger selbst nämlich bereits nach dir Ausschau hält", hatte meine Großmutter damals geantwortet.

Mit diesem Rat im Herzen räumte ich sozusagen in meinem Kopf auf. Mein nächstes Ziel war klar definiert: Ich mußte nach Jackson zurückfinden und in den Schutz der Tiefgarage gelangen. Ich konzentrierte mich also auf die Wegbeschreibung, die die freundliche Frau an der Tankstelle mir gegeben hatte, und bereits eine halbe Stunde später konnte ich zu meiner großen Erleichterung in Jackson einfahren.

Wenn es mir gelänge, den Regierungssitz auszumachen, dann würde ich auch Alcides Wohnhaus finden können, das wußte ich genau. Allerdings hatte ich nicht mit all den Einbahnstraßen gerechnet, und außerdem hatte ich auch nicht wirklich aufgepaßt wie ein Schießhund, als Alcide mir auf einer kurzen Spritztour die Innenstadt von Jackson erklärt hatte. Aber Gott sei Dank gibt es im ganzen Staat Mississippi nur wenige vierstöckige Gebäude, selbst in der Hauptstadt nicht, weswegen ich das Haus, nach dem ich suchte, rasch gefunden hatte, auch wenn ich ein paar Minuten lang höchst beunruhigt und ein wenig ziellos durch die Straßen hatte fahren müssen.

Nun wähnte ich mich am Ende aller Probleme. Aber so etwas sollte man tunlichst nie denken. Nie!

Ich bog in die Zufahrt zur Tiefgarage und hielt in dem kleinen Bereich vor dem Wachhäuschen, wo man warten mußte, bis der Wachmann einen erkennt und den Hebel umlegt oder den Knopf betätigt oder was er sonst tun mag, damit die Schranke hochgeht und die Einfahrt in die Garage frei wird. Ich hatte schreckliche Angst, der Mann könne mir die Zufahrt verweigern, da ich nicht über den speziellen Aufkleber verfügte, der bei Alcides Pick-up an der Windschutzscheibe prangte.

Letztlich war der Wachmann gar nicht da. Das Häuschen stand leer. Das durfte aber doch eigentlich ganz sicher nicht vorkommen! Ich runzelte die Stirn und überlegte, was ich tun sollte. Da kam der Wachmann auch schon zurück. In seiner schweren braunen Uniform trottete er die Rampe herauf und wirkte leicht entsetzt, als er mich warten sah. Rasch beschleunigte er seine Schritte und eilte auf mein Auto zu. Ich seufzte. Nun würde ich doch mit ihm reden müssen. Widerstrebend drückte ich den entsprechenden Knopf, und das Fenster an der Fahrerseite senkte sich.

„Es tut mir leid, daß ich nicht auf meinem Posten war", entschuldigte sich der Wachmann auf der Stelle. „Ich mußte ... ich hatte ... ich hatte ein persönliches Bedürfnis."

Wenn ich da nicht ein kleines Druckmittel gegen ihn in der Hand hatte!

„Ich mußte mir ein Auto leihen", sagte ich. „Könnte ich vielleicht eine Plakette haben, die vorübergehend gültig ist?" Ich fixierte den Mann bedeutungsvoll und etwas streng. 'Mach mir keinen Ärger mit der Plakette', wollte dieser Blick besagen, 'und ich erzähle niemandem, daß du deinen Posten im Stich gelassen hast.' „Ja, Ma'am. Apartment 504?"

„Welch ein Gedächtnis", lobte ich, woraufhin sich das Narbengesicht des Mannes knallrot färbte.

„Das gehört zu meinem Job", sagte er beiläufig und gab mir eine Plakette mit eingestanzter Nummer, die ich auf dem Armaturenbrett ablegte. „Würden Sie mir die einfach wiedergeben, wenn Sie abreisen? Sollten Sie allerdings dauerhaft hier einziehen wollen, dann müssen Sie ein Formular ausfüllen, das wir hier vorrätig haben, und dann bekommen Sie eine richtige Vignette. Das heißt", fügte er hastig hinzu, wobei er fast ein wenig stotterte, da die Sache ihm peinlich schien, „Mr. Herveaux muß das Formular ausfüllen. Er ist der Wohnungseigentümer."

„Aber natürlich!" sagte ich. „Kein Problem." Ich winkte dem Mann fröhlich zu, und er zog sich in sein Kabäuschen zurück, um die Schranke zu betätigen.

Dann fuhr ich in die dunkle Tiefgarage, und mich überkam das Gefühl grenzenloser Erleichterung, das einen nun einmal überkommt, wenn man die Gewißheit hat, eine große Hürde genommen zu haben.

Ein wenig verspätet setzte jedoch kurz danach die Reaktion auf all das ein, was hinter mir lag. Am ganzen Leibe schlotternd zog ich den Schlüssel aus dem Zündschloß. Ein paar Reihen weiter meinte ich Alcides Pick-up stehen zu sehen, aber ich war so tief in die Garage hineingefahren, wie es irgend ging und stand nun - zum Glück hatte sich das so ergeben - weit von allen anderen Fahrzeugen entfernt in der dunkelsten Ecke der Garage. Weiter hatte ich nicht geplant. Ich hatte keine Ahnung, was ich als Nächstes tun sollte. Ich hatte nie geglaubt, daß ich überhaupt bis hierher kommen würde. Ich schmiegte mich in die bequemen Polster des Lincoln, fest entschlossen, mich nur eben mal kurz eine Minute zu entspannen, nur so lange, bis meine Hände nicht mehr zitterten und ich getrost aus dem Wagen steigen konnte. Ich hatte die ganze Fahrt vom Palais bis hierher die Heizung auf vollen Touren laufen lassen, so daß es im Auto warm wie in einem Backofen war.

Als ich erwachte, hatte ich ein paar Stunden lang geschlafen.

Im Auto war es kalt, und mir war trotz der gestohlenen Steppjacke womöglich noch kälter. Steif kletterte ich vom Fahrersitz, und dann dehnte und streckte ich mich, um meine verspannten Muskeln zu lockern.

Ob ich rasch einmal einen Blick auf Bill werfen sollte? Bestimmt war er im Kofferraum hin- und hergerollt - da mußte ich sicherstellen, daß er noch vollständig zugedeckt war.

Eigentlich wollte ich ihn nur wiedersehen. Beim bloßen Gedanken daran klopfte mein Herz schneller - was für eine Vollidiotin ich doch war!

Rasch überprüfte ich den Abstand des Lincoln zu dem kleinen Streifen Licht, der durch die Garageneinfahrt drang und befand, daß wir weit genug von dieser Lichtquelle entfernt waren. Noch dazu hatte ich den Wagen so geparkt, daß sich der Kofferraum entgegengesetzt zur Garageneinfahrt befand.

Unfähig, der Versuchung noch länger zu widerstehen, trat ich ans Heck des Lincoln. Ich drehte den Schlüssel im Kofferraumschloß, zog ihn wieder heraus, nachdem das Schloß aufgeschnappt war und steckte ihn in die Jackentasche. Dann sah ich zu, wie der Deckel des Kofferraums langsam aufging.

Die Garage lag im Dämmerlicht, viel konnte ich also nicht sehen; selbst die fransige gelbe Decke war kaum zu erkennen. Aber erst einmal hatte es den Anschein, als sei Bill nach wie vor gut zugedeckt. Ich beugte mich ein wenig vor, um eine Ecke der Decke zurechtzuzupfen, die Bills Kopf bedeckte, und dann erhielt ich eine kurze, wirklich ganz kurze Warnung, die kaum mehr als eine Sekunde gedauert haben kann. Das Geräusch einer Schuhsohle auf Beton - dann erhielt ich von hinten einen kräftigen Schubs.

Ich plumpste in den Kofferraum und landete auf Bill.

Nach einer weiteren Sekunde und einem zweiten Schubs hatten sich auch meine Beine zu uns gesellt. Dann fiel die Kofferraumklappe zu.

Nun waren Bill und ich also zusammen im Kofferraum des Lincoln eingesperrt.