Kapitel 6

Im Fahrstuhl schwiegen wir. Während Alcide die Wohnungstür aufschloß, lehnte ich mich erschöpft gegen die Wand neben der Tür. Ich war völlig durch den Wind, müde, haderte mit mir selbst, und der Zwischenfall mit dem Rocker sowie Debbies Zerstörungswut hatten mich aufgewühlt.

Zudem wurde ich das Gefühl nicht los, mich entschuldigen zu müssen, obgleich ich gar nicht wußte, wofür eigentlich.

„Gute Nacht", sagte ich, als ich dann endlich an der Tür zu meinem Zimmer stand. „Ach ja - Ihr Mantel!" Rasch streifte ich mir das Kleidungsstück von den Schultern und hielt es Alcide hin, der es achtlos über die Rücklehne eines der Barhocker im Eßbereich warf.

„Brauchen Sie Hilfe mit dem Reißverschluß?" fragte er.

„Es wäre toll, wenn Sie mir helfen könnten! Wenigstens die ersten Zentimeter." Damit kehrte ich meinem Gastgeber den Rücken zu. Bei eben jenen Zentimetern hatte er mir auch geholfen, ehe wir am Abend aufgebrochen waren. Wie nett von ihm, daran zu denken, ehe er sich in sein eigenes Zimmer zurückzog.

Kurz darauf spürte ich seine großen Finger auf meinem Rücken, dann folgte das leise zischende Geräusch, das entsteht, wenn man einen Reißverschluß aufzieht. Aber als Nächstes geschah etwas Unerwartetes: Ich spürte, wie Alcide mich noch einmal berührte.

Ganz langsam glitten seine Fingerspitzen meinen Rücken hinab, während ich am ganzen Leib zitterte.

Da wußte ich nicht, was ich tun sollte.

Ebensowenig wußte ich, was ich tun wollte.

Ich zwang mich, mich umzudrehen und Alcide anzuschauen. In dessen Augen erkannte ich dieselbe Unsicherheit, die auch ich verspürte.

„Der denkbar schlechteste Zeitpunkt!" sagte ich. „Sie haben die Trennung von Ihrer Freundin noch nicht verdaut, ich bin auf der Suche nach meinem Liebsten, der mir zwar untreu geworden ist, der aber dennoch ..."

„Ganz schlecht, der Zeitpunkt", pflichtete Alcide mir bei, woraufhin er mir beide Hände auf die Schultern legte, sich leicht vorbeugte und mich küßte. Meine Arme zögerten knapp eine Sekunde, dann lagen sie aber auch schon um seine Taille - ebenso lange hatte seine Zunge gebraucht, den Weg in meinen Mund zu finden. Alcide küßte sehr sanft. Mich juckte es in den Fingern, ihm durchs Haar zu fahren; ich wollte dringend herausfinden, wie breit seine Brust war, ob seine Pobacken wirklich so knackig und rund waren, wie es den Anschein hatte, wenn er Hosen trug, ob sie wirklich so hoch oben ansetzten ... ach verdammt. Sanft, aber bestimmt schob ich ihn von mir.

„Ganz schlechter Zeitpunkt", wiederholte ich und dann lief ich rot an, weil mir bewußt wurde, daß Alcide nun, wo mein Reißverschluß hinten offen stand, problemlos meinen BH und auch den Ansatz meiner Brüste sehen konnte. Nur gut, daß ich einen hübschen BH trug!

„Oh mein Gott", sagte er, denn ihm waren BH und Busen durchaus nicht entgangen. Dann wagte er den heldenhaften Versuch, die grünen Augen zusammenzukneifen. „Ganz schlechter Zeitpunkt", murmelte er. „Auch wenn ich nur hoffen kann, daß sich recht bald ein günstigerer ergibt!"

Ich lächelte. „Wer weiß?" sagte ich und trat in mein Zimmer, solange ich noch in der Lage war, überhaupt einen Schritt in diese Richtung zu tun. Leise schloß ich die Tür hinter mir. Dann hängte ich mein rotes Kleid auf, höchst erfreut darüber, daß es immer noch so hübsch und vor allem fleckenfrei aussah. Bis auf die Ärmel natürlich, die waren das reine Desaster, voll schmieriger Fingerabdrücke und Blutspritzer. Ich stieß einen tiefen Seufzer des Bedauerns aus.

Nun mußte ich ja aus dem Zimmer und über den Flur, wenn ich ins Bad wollte. Da ich Alcide nicht noch mehr entflammen wollte und mein Morgenrock eindeutig kurz, rosa und aus durchsichtigem Nylon war, huschte ich, als ich meinen Gastgeber in der Küche rumoren hörte, ganz rasch und leise von der Schlafzimmer- zur Badezimmertür. Im Badezimmer kam dann eines zum anderen, weswegen ich mich letztlich eine ganze Weile dort aufhielt. Als ich das Bad verließ, brannte in der ganzen Wohnung außer der Lampe, die ich in meinem Zimmer angelassen hatte, kein Licht mehr. Nun ließ ich die Rollläden herunter, auch wenn ich mir dabei ein wenig albern vorkam, denn außer dem unsrigen war kein einziges Gebäude in diesem Straßenblock vier Stockwerke hoch. Dann zog ich mein rosa Nachthemd an und kroch ins Bett, wo ich noch ein wenig in meinem Liebesroman lesen wollte, in der Hoffnung auf einen beruhigenden Effekt. Da dies einer der Romane war, in denen die Heldin am Schluß Gelegenheit erhält, mit dem Helden das Bett zu teilen, klappte das mit dem Beruhigen nicht so recht, aber zumindest dachte ich nicht mehr ununterbrochen daran, wie die Haut des Rockers gezischt hatte, als der Kobold Hand an ihn gelegt hatte, daran, wie Bill gefoltert wurde. Auch Debbies schmales, bösartiges Gesicht stand mir nicht mehr ständig vor Augen.

Bei der Liebesszene (na ja, eigentlich war es eine Sexszene) wanderten meine Gedanken unweigerlich zu Alcides warmem Mund.

Irgendwann einmal legte ich das Lesezeichen ins Buch, schaltete die Nachttischlampe aus und verkroch mich ganz tief in die Laken, nachdem ich dafür gesorgt hatte, daß auch die Woll- und die Tagesdecke über mir lagen. Danach fühlte ich mich - endlich - sicher und warm.

Jemand klopfte ans Fenster.

Erschrocken stieß ich einen leisen Schrei aus, wußte dann aber gleich, wer das sein konnte. Ich warf mir den Morgenrock über und öffnete die Rollläden.

Eric schwebte direkt vor meiner Fensterscheibe, genau wie ich gedacht hatte. Ich knipste das Licht an und versuchte dann das Fenster, mit dem ich nicht vertraut war, zu öffnen.

„Was zum Teufel willst du denn hier?" fragte ich gerade unwillig, da kam auch schon Alcide ins Zimmer gestürzt.

Ich warf meinem Gastgeber einen flüchtigen Blick zu und wandte mich dann wieder an den Vampir. „Laß mich in Ruhe. Ich brauche meinen Schlaf", tadelte ich, wobei mir egal war, ob ich mich anhörte wie eine alte Megäre oder nicht. „Hör doch bitteschön außerdem damit auf, ständig nachts vor irgendwelchen Häusern aufzutauchen in der Hoffnung, ich ließe dich rein."

„Laß mich rein", bat Eric.

„Nein! Na ja, eigentlich ist es Alcides Wohnung. Was würden Sie denn tun, Alcide?"

Mit diesen Worten wandte ich mich um, weshalb ich erstmals richtig wahrnahm, wie Alcide gekleidet war, und ich konnte nur mit Mühe verhindern, daß mir der Mund offen stehenblieb. Alcide schlief in einer dieser langen, gestreiften Pyjamahosen und war ansonsten nackt. Oh weh! Hätte ich ihn so eine halbe Stunde zuvor zu Gesicht bekommen, wäre der Zeitpunkt vielleicht genau der richtige gewesen.

„Was wollen Sie, Eric?" erkundigte sich Alcide weitaus ruhiger als ich zuvor.

„Wir müssen reden." Eric klang ungeduldig.

„Wenn ich ihn jetzt hereinlasse, kann ich das widerrufen?" wollte Alcide von mir wissen.

„Aber klar doch." Ich grinste. „Das können Sie jederzeit widerrufen."

„Na gut. Sie dürfen hereinkommen." Alcide schob das Fenster hoch, und Eric glitt mit den Füßen voran ins Zimmer. Rasch schloß ich das Fenster hinter ihm, denn nun war mir wieder kalt geworden. Auch auf Alcides Brust hatte sich eine Gänsehaut gebildet, und seine Brustwarzen ... ich zwang mich entschieden dazu, nur noch Eric anzusehen.

Der warf uns beiden einen scharfen Blick zu, wobei seine blauen Augen im Lampenlicht schimmerten wie Saphire. „Was hast du herausbekommen, Sookie?" wollte er wissen.

„Die Vampire hier haben ihn wirklich."

Vielleicht hatten sich Erics Augen bei meinen Worten ein wenig geweitet, aber das war auch die einzige Reaktion, die er zeigte. Er schien angestrengt nachzudenken.

„Ist es nicht gefährlich für Sie, unangekündigt in Edgingtons Revier aufzutauchen?" fragte Alcide, der wieder einmal, wie er es wohl gern tat, an der Wand lehnte. Er und Eric waren beide groß; mein kleines Zimmerchen fühlte sich mit einem Mal recht überlaufen an. Vielleicht lag es ja auch an den Egos der beiden, vielleicht verbrauchten sie gerade allen vorhandenen Sauerstoff.

„Aber ja!" verkündete Eric mit einem strahlenden Lächeln. „Sehr gefährlich."

Ob die beiden es überhaupt mitbekämen, wenn ich wieder ins Bett kroch? Ich mußte gähnen, woraufhin sich sofort zwei Augenpaare auf mich richteten. „Sonst noch was, Eric?" fragte ich.

„Hast du denn außerdem noch was zu berichten?"

„]a. Sie haben Bill gefoltert."

„Dann haben sie nicht vor, ihn gehen zu lassen."

Natürlich nicht. Man ließ keinen Vampir frei, den man gefoltert hatte. Sonst mußte man nämlich wirklich den Rest seines Lebens ständig auf der Hut sein. Soweit hatte ich noch gar nicht gedacht, wußte aber sofort, daß Eric recht hatte.

„Heißt das, Sie greifen an?" Wenn das geschah, wollte ich weder in Jackson noch in der Umgebung sein.

„Darüber muß ich erst einmal nachdenken", antwortete Eric. „Geht ihr morgen wieder in die Bar?"

„Ja, Russel hat uns höchstpersönlich eingeladen."

„Sookie hat heute Nacht Russels Aufmerksamkeit erregt", erklärte Alcide.

„Aber das ist ja perfekt!" freute sich unser Gast. „Setz dich morgen zu Russel und seiner Bande und stöbere in ihren Hirnen herum, Sookie."

„Mann, darauf wäre ich von allein niemals gekommen! Mein Gott, bin ich froh, daß du mich geweckt hast, um mir das zu sagen."

„Keine Ursache", sagte Eric. „Wann immer du von mir geweckt werden willst, Sookie, sag einfach Bescheid."

Ich seufzte. „Hau ab, Eric. Noch einmal gute Nacht, Alcide."

Alcide richtete sich auf und wartete ab, ob Eric wieder durchs Fenster verschwinden würde. Eric rührte sich nicht. Er wollte abwarten, bis Alcide gegangen war.

„Ich widerrufe die Einladung in meine Wohnung", erklärte Alcide, woraufhin Eric auf dem Absatz kehrtmachte, zum Fenster trat, es öffnete und sich grollend hinaus schwang. Er wirkte ungehalten. Draußen an der frischen Luft erlangte er aber rasch seine Fassung wieder, strahlte uns an und ließ sich winkend nach unten sinken.

Alcide knallte das Fenster zu und schloß die Rollläden.

„Nein, es gibt eine ganze Reihe Männer, die mich überhaupt nicht leiden können", teilte ich ihm fröhlich mit, denn ich hatte die ganze Zeit über mühelos hören können, was er dachte.

Da warf er mir einen merkwürdigen Blick zu. „ Ach ja?"

„Ja, wirklich."

„Wenn Sie das sagen."

„Das geht den meisten normalen Leuten so mit mir - die halten mich alle für verrückt."

„Ist das so?"

„Ja, das ist wirklich so, und es macht sie ungeheuer nervös, wenn ich sie bediene."

Da fing er an zu lachen, eine Reaktion, die so anders war als die, die ich eigentlich bezweckt hatte, daß ich nun beim besten Willen nicht mehr wußte, wie ich fortfahren sollte.

Immer noch mehr oder weniger vor sich hin kichernd verließ mein Gastgeber schließlich das Zimmer.

Was das wohl gewesen sein mochte? Ich knipste die Lampe aus und warf meinen Morgenrock über das Fußende des Bettes. Dann kroch ich wieder unter all meine Laken, Decken und Tagesdecken, zog mir die ganze Chose dicht unters Kinn und rollte mich zusammen. Draußen war es dunkel und ungemütlich, aber ich lag nun endlich im Bett, warm und sicher und allein.

Wirklich und wahrhaftig mutterseelenallein.

* * *

Als ich am nächsten Morgen aufstand, war Alcide schon verschwunden. Bauleute und Landvermesser müssen früh aufstehen, ich dagegen war es gewöhnt, lange zu schlafen, da ich in einer Kneipe arbeitete und noch dazu mit einem Vampir liiert war. Wollte ich mit Bill zusammensein, mußte das ja zwangsläufig nachts geschehen.

An der Kaffeekanne lehnte ein Zettel mit einer Nachricht. Ich hatte ein wenig Kopfweh an diesem Morgen, denn ich war es wirklich nicht gewohnt, Alkohol zu trinken und hatte am Abend zuvor zwei Gläser zu mir genommen. Als Kater konnte man mein Kopfweh zwar nicht bezeichnen, aber ich war mitnichten so fröhlich und munter wie sonst. Ich mußte die Augen zusammenkneifen, um die winzige Handschrift auf dem Zettel entziffern zu können.

„Muß ein paar Sachen erledigen. Fühlen Sie sich wie zu Hause. Ich bin am Nachmittag wieder da."

Etwa eine Minute lang fühlte ich mich enttäuscht, als habe jemand die Luft aus mir herausgelassen. Dann aber riß ich mich zusammen. Es war ja nun nicht so, als hätte er mich angerufen und sich mit mir für ein romantisches Wochenende in Jackson verabredet oder als würden wir uns lange und gut kennen. Meine Gesellschaft war dem Mann aufgezwungen worden. Also zuckte ich die Achseln und goß mir eine Tasse Kaffee ein. Dann machte ich mir Toast und schaltete die Fernsehnachrichten ein. Nachdem ich mir alle Schlagzeilen des Morgens angesehen hatte, die CNN zu vermelden hatte, beschloß ich, erst einmal duschen zu gehen. Ich ließ mir Zeit, denn ich hatte sonst ja nichts vor.

Mir drohte etwas, was ich eigentlich gar nicht kannte: Langeweile.

Zu Hause gab es stets etwas zu tun für mich, wenn auch vielleicht nicht gerade immer das, was ich gern getan hätte. Wenn man ein Haus besitzt, harrt immer irgendwo eine Aufgabe auf einen, die erledigt werden muß, und in Bon Temps gab es für mich noch dazu die Leihbücherei, den Laden, in dem alles nur einen Dollar kostet, und den Supermarkt. Seit ich mit Bill zusammen war, hatte ich auch oft Botengänge für ihn erledigt; Dinge, die nur tagsüber geregelt werden können, wenn die Büros geöffnet sind.

Als Bill mir durch den Kopf schoß, zupfte ich mir gerade die Brauen, wobei ich mich über das Waschbecken gebeugt hatte, um in den Badezimmerspiegel schauen zu können. Ich mußte die Pinzette aus der Hand legen und mich auf den Badewannenrand setzen. Meine Gefühle für Bill waren verworren und im Widerstreit miteinander, und es bestand wenig Hoffnung darauf, daß ich sie in Kürze würde klären können. Aber zu wissen, daß er Schmerzen litt, daß er in großen Schwierigkeiten steckte und daß ich nicht in der Lage war, ihn zu finden - das war schwer zu ertragen. Ich hatte nie erwartet, daß unsere Romanze problemlos verlaufen würde. Immerhin war unsere Beziehung eine zwischen zwei verschiedenen Arten. Noch dazu war Bill viel älter als ich. Aber diese tiefe, unendlich schmerzende Kluft, die sich in mir aufgetan hatte, seit er gegangen war, hätte ich nie im Leben erwartet.

Ich zog Jeans und einen Pullover an und machte mein Bett. Ich ordnete all meine Schminksachen auf der Konsole im Badezimmer an, das ich benutzte und hängte mein Handtuch ordentlich auf. Ich hätte auch Alcides Zimmer aufgeräumt, hätte ich nicht das Gefühl gehabt, es sei irgendwie dreist, wenn ich seine Sachen anfaßte. Also las ich statt dessen ein paar Kapitel in meinem Buch und fand dann, ich könne unmöglich noch länger in der Wohnung hocken.

Ich hinterließ Alcide eine Nachricht, in der ich ihm mitteilte, ich sei spazieren gegangen. Beim Hinunterfahren teilte ich die Fahrstuhlkabine mit einem Mann in Freizeitkleidung, der eine Tasche mit Golfschlägern umarmt hielt. Fast hätte ich ihn gefragt, ob er vorhabe, Golf zu spielen, konnte mich aber gerade noch beherrschen und beschränkte mich darauf, festzustellen, es sei ein wunderschöner Tag für Aktivitäten an der frischen Luft, und das stimmte auch; der Tag war hell und sonnig, klar wie eine Glasglocke und recht mild. Er wirkte irgendwie glücklich, dieser Tag mit all den Weihnachtsdekorationen ringsum, die in der Sonne glitzerten, mit all den Menschen, die durch die Straßen eilten und zum Einkaufen wollten.

Ich fragte mich, ob Bill Weihnachten zu Hause sein würde. Ob er in der Lage wäre, Heiligabend mit mir in die Kirche zu gehen und wenn, ob er das überhaupt tun würde. Ich dachte an die neue Säge, Marke Skil, die ich für Jason erstanden hatte. Ich hatte sie mir monatelang bei Sears in Monroe zurücklegen lassen und letzte Woche abgeholt. Arlenes Kindern hatte ich je ein Spielzeug gekauft und Arlene selbst einen Pullover. Das waren die Menschen, für die ich Weihnachtsgeschenke kaufte, mehr gab es eigentlich nicht, und das war recht kläglich. Spontan beschloß ich, Sam dieses Jahr eine CD zu schenken, und der Gedanke heiterte mich auf. Ich liebe es, Leute zu beschenken. Dies hatte das erste Weihnachten sein sollen, das ich mit einem Freund verbrachte ...

Mein Gott, nun war ich wieder dort, wo ich angefangen hatte, ganz wie die Schlagzeilen im Fernsehen, bei denen ja auch eine Staffel immer wieder von neuem gezeigt wird ...

„Sookie!" ertönte da plötzlich eine Stimme.

Ich schreckte aus meinen trüben Gedanken hoch und sah Janice, die mir von der anderen Straßenseite her zuwinkte, wo sie in der Tür ihres Ladens stand. Ganz unbewußt hatte ich bei meinem Spaziergang eine Richtung eingeschlagen, die mir bereits vertraut war. Ich winkte zurück.

„Kommen Sie doch rüber", rief Janice.

Ich ging bis zur Straßenecke und wartete, bis die Fußgängerampel auf grün sprang. Im Salon ging es hoch her, und sowohl Jarvis als auch Corinne hatten alle Hände voll zu tun.

„Heute Abend finden viele Weihnachtsfeiern statt", erklärte Janice, während ihre Hände geschäftig das schulterlange schwarze Haar einer jungen Matrone auf Lockenwickler rollten. „Normalerweise haben wir Samstag Nachmittag gar nicht offen." Janices Kundin, an deren Händen eine beachtliche Zahl sehenswerter Diamantringe blitzte, blätterte in einer Nummer der Zeitschrift Southern Living, während meine neue Freundin mit ihrem Kopf beschäftigt war.

„Klingt das lecker?" fragte sie nun Janice. „Hackklöße mit Ingwer?" Ein glitzernder Fingernagel richtete sich auf das entsprechende Rezept.

„Irgendwie orientalisch", meinte Janice.

„Hm, ja, irgendwie schon." Aufmerksam las die Frau das Rezept. „Das bringt außer mir so schnell niemand auf den Tisch", murmelte sie nachdenklich. „Man könnte sie auf Zahnstocher spießen."

„Sookie, was haben Sie denn heute vor?" wollte Janice wissen, als sie sicher sein konnte, daß ihre Kundin voll und ganz mit dem Nachdenken über Hackfleisch beschäftigt war.

„Ich hänge rum, bummele ein wenig durch die Gegend, mehr nicht", antwortete ich mit einem Achselzucken. „Ihr Bruder ist los, ein paar Sachen erledigen. Er hat mir eine Nachricht hinterlassen."

„Er hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen und notiert, was seine Pläne sind? Mensch, darauf können Sie aber mächtig stolz sein. Der Mann hatte keinen Kuli mehr in der Hand, seit er aus der Schule ist." Bei diesen Worten warf sie mir einen raschen Seitenblick zu und grinste. „Habt ihr euch gut amüsiert gestern Abend?"

Darüber mußte ich nachdenken. „Es war ganz in Ordnung", erklärte ich dann zögernd. Immerhin hatte es mir ja wirklich auch Spaß gemacht, mit Alcide zu tanzen.

Daraufhin brach Janice in schallendes Gelächter aus. „Wenn Sie erst so lange nachdenken müssen, kann es kein perfekter Abend gewesen sein."

„Nein, war es eigentlich auch nicht", mußte ich zugeben. „In der Bar kam es zu einer kleinen Schlägerei, und ein Mann ist daraufhin hinausgeworfen worden. Dann war da noch Debbie."

„Wie lief denn deren Verlobungsfeier?"

„An ihrem Tisch saßen ziemlich viele Leute", erklärte ich. „Aber nach einer Weile kam sie rüber zu uns und stellte eine Menge Fragen." Bei der Erinnerung an Debbie mußte ich lächeln. „Sie war weiß Gott nicht erbaut darüber, Alcide in Begleitung einer anderen Frau zu sehen."

Janice lachte erneut.

„Wer hat sich denn verlobt?" wollte die Kundin wissen, die sich gegen das Rezept entschieden hatte.

„Debbie Pelt, kennen Sie die? Die früher mit meinem Bruder zusammen war?" fragte Janice.

„Aber klar", antwortete die schwarzhaarige Frau erfreut. „Die war mal mit Ihrem Bruder zusammen, mit Alcide? Aber jetzt heiratet sie jemand anderen?"

„Sie heiratet Charles Clausen", erklärte Janice ernsthaft nickend. „Kennen Sie den auch?"

„Klar! Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Er heiratet Debbie Pelt? Na, besser er als Ihr Bruder!" stellte die Schwarzhaarige mit verschwörerischem Unterton fest.

„Das habe ich allerdings auch schon gedacht", sagte Janice. „Wissen Sie vielleicht irgend etwas, das ich nicht weiß?"

„Diese Debbie steht auf verrückte Sachen", teilte die Schwarzhaarige mit, wobei sie die Brauen hochzog, um ihren Worten tiefere Bedeutung zu verleihen.

„Worauf denn?" erkundigte ich mich neugierig und wagte in Erwartung der Dinge, die nun kommen mochten, kaum zu atmen. Konnte es angehen, daß diese Frau von Gestaltwandlern, von Werwölfen wußte? Mein Blick traf den Janices. Ich erkannte in ihren Augen dieselbe angespannte Wachsamkeit, die auch ich in diesem Moment verspürte.

Janice wußte Bescheid über ihren Bruder. Sie wußte von dessen Welt - und sie wußte, daß auch ich Bescheid wußte.

„Sie betet den Teufel an", erklärte die Schwarzhaarige gewichtig. „Hexerei und so!"

Mit offenen Mündern starrten Janice und ich im Frisierspiegel das Spiegelbild der Frau an und boten der Kundin somit haargenau die Reaktion, auf die sie gehofft hatte. Tief befriedigt nickte sie.

Nun sind Teufelsanbetung und Hexerei keineswegs Synonyme, aber ich hatte nicht vor, mich mit der Frau darüber zu streiten. Dafür war hier weder die rechte Zeit, noch der rechte Ort.

„Jawohl, die Damen, so habe ich es wenigstens gehört. Jedes Mal, wenn Vollmond ist, geht sie mit ein paar von ihren Freunden raus in die Wälder, und dann machen die irgend etwas. Niemand scheint genau zu wissen, was", mußte sie dann allerdings zugeben.

Janice und ich stießen beide gleichzeitig die Luft aus, die wir angehalten hatten.

„Ach du meine Güte!" murmelte ich schwach.

„Dann kann mein Bruder ja froh sein, daß er aus der Beziehung raus ist. Mit so etwas wollen wir nichts zu tun haben", verkündete Janice rechtschaffen.

„Natürlich nicht", pflichtete ich ihr bei.

Dabei sahen wir einander tunlichst nicht an.

Nach diesem kleinen Gedankenaustausch machte ich Anstalten zu gehen, aber Janice fragte mich, was ich am Abend anziehen wolle.

„Das Kleid, das ich für heute Abend mithabe, könnte man champagnerfarben nennen", sagte ich. „Eine Art Beige, glänzend."

„Dann geht das nicht mit den roten Nägeln", konstatierte Janice entschieden. „Corinne!"

Meine Proteste nützten nicht: Als ich den Laden wieder verließ, waren meine sämtlichen Nägel bronzefarben lackiert, und Jarvis hatte sich nochmals liebevoll meiner Frisur gewidmet. Ich unternahm den Versuch, Janice zu bezahlen, aber sie erlaubte mir lediglich, ihren Angestellten ein Trinkgeld zu geben.

„So bin ich noch nie im Leben verwöhnt worden!" bedankte ich mich bei Alcides Schwester.

„Was arbeiten Sie denn?" Diese Frage war aus irgendeinem Grund am Tag zuvor nicht gestellt worden.

„Ich bin Kellnerin", sagte ich.

„Ganz etwas anderes als Debbie", meinte Janice daraufhin nachdenklich.

„Ach ja? Was arbeitet Debbie denn?"

„Sie ist Rechtsanwaltsgehilfin."

Was hieß, daß die Wandlerin eine Ausbildung am College genossen hatte. Ich hatte es nicht geschafft, auf ein College zu gehen. Zum einen wäre das finanziell kaum zu leisten gewesen, auch wenn ich wohl Mittel und Wege gefunden hätte, wenn ich wirklich gewollt hätte. Aber es war mir aufgrund meiner Behinderung schon sehr schwer gefallen, überhaupt die High School abzuschließen. Ich kann Ihnen versichern, daß ein telepathisch veranlagter Teenager es wahrlich nicht leicht hat, und damals konnte ich meine Fähigkeiten noch sehr schlecht kontrollieren. Jeder einzelne Tag war voller Dramen gewesen - voller Dramen der anderen. Der Versuch, sich auf das zu konzentrieren, was im Unterricht gesagt wurde, in einem Raum voll surrender Köpfe Klassenarbeiten zu schreiben ... einzig die Hausaufgaben hatte ich immer ausgezeichnet hinbekommen.

Janice schien es nicht allzuviel auszumachen, daß ich Serviererin war, immerhin eine Beschäftigung, bei der man sich nicht darauf verlassen kann, daß sie die Familien der Freunde, mit denen man ausgeht, positiv beeindruckt.

Wieder einmal mußte ich mir streng vor Augen halten, daß die vorübergehende Übereinkunft, die ich mit Alcide geschlossen hatte, von ihm nicht freiwillig eingegangen worden war, daß er selbst nie darum gebeten hatte und daß ich, hatte ich erst einmal herausgefunden, wo sie Bill gefangen hielten - na, erinnerst du dich noch an deinen Liebsten, Sookie? An Bill? - Alcide nie wiedersehen würde. Na ja, vielleicht schaute er einmal im Merlottes vorbei, wenn ihm der Sinn danach stand, auf dem Weg von Jackson nach Shreveport kurz von der Autobahn abzubiegen, aber das wäre dann auch alles.

Janice hoffte ganz ehrlich, ich möge ein permanentes Mitglied ihrer Familie werden, was ich sehr nett von ihr fand. Mir war die Frau sehr sympathisch. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, Alcide wäre mir wirklich zugetan, es bestünde wirklich die Chance, Janice als Schwägerin zu bekommen.

Man sagt, ein paar kleine Tagträumereien schadeten niemandem. Das stimmt nicht.