Kapitel 7

Als ich die Wohnung betrat, wartete Alcide bereits auf mich. Ein Stapel hübsch verpackter Geschenke im Wohnzimmer erklärte, wie mein Gastgeber zumindest einen Teil des Vormittags verbracht hatte: Er hatte seine Weihnachtseinkäufe vervollständigt.

Alcide wirkte leicht betreten, als er mich sah. Offenbar (schwer zu durchschauen war der Mann wirklich nicht!) hatte er etwas getan, von dem er nicht wußte, ob ich es gutheißen würde. Was immer es sein mochte: Anscheinend war er noch nicht bereit, es mir zu enthüllen; also gab ich mir Mühe, höflich zu bleiben und mich seinem Kopf fernzuhalten. Als ich den kleinen Flur zwischen Schlafzimmerwand und Küchentresen durchquerte, drang mir ein Geruch in die Nase, den man nicht als angenehm bezeichnen konnte. Vielleicht wurde es Zeit, den Müll wegzubringen? Welchen Müll wir wohl in der kurzen Zeit hier in der Wohnung produziert haben mochten, daß ein so unangenehmer, wenn auch nicht allzu aufdringlicher Geruch in der Luft hing? Dann vergaß ich den Gestank auch schon wieder. Ich war immer noch in der guten Stimmung, in die mich mein Plauderstündchen mit Janice versetzt hatte, und Alcide wiederzusehen hob diese Laune nur noch zusätzlich.

„Hübsch sehen Sie aus!" begrüßte mich mein Gastgeber.

„Ich habe kurz bei Janice vorbeigeschaut." Da ich nicht wollte, daß er unter Umständen auf die Idee kam, ich beute die Großzügigkeit seiner Schwester aus, fügte ich hinzu: „Sie schafft es einfach, einen dazu zu bringen, daß man Sachen annimmt, die man eigentlich wirklich nicht annehmen wollte!"

„Janice ist ein guter Mensch", erwiderte Alcide. „Seit unserer High School-Zeit weiß sie über mich Bescheid und hat bis jetzt keiner einzigen Seele davon erzählt."

„Ja, das ist mir auch aufgefallen."

„Wie - ach, natürlich." Er schüttelte den Kopf. „Mir kommen Sie vor wie die normalste Person, die mir je begegnet ist - es fällt mir schwer, ständig daran zu denken, daß Sie ja mit all diesen Extras ausgestattet sind!"

So hatte es bislang noch niemand formuliert.

„Haben Sie auch diesen merkwürdigen Geruch bemerkt, als Sie hereinkamen? Dort beim ..." Alcide konnte den Satz jedoch nicht beenden, da es nun an der Tür schellte.

Während ich mich aus meinem Mantel schälte, ging Alcide, um zu öffnen.

Er klang erfreut, als er den Besucher begrüßte, weswegen auch ich mich mit einem Lächeln auf den Lippen der Tür und dem Neuankömmling zuwandte. Der junge Mann, der gerade die Wohnung betrat, schien nicht überrascht über meinen Anblick. Alcide stellte ihn mir als Del Phillips vor, Janices Ehemann. In der Erwartung, den Ehemann ebenso sympathisch zu finden wie die Frau, schüttelte ich Del die Hand.

Der jedoch berührte meine Finger nur so kurz, wie es überhaupt möglich war, ohne offen unhöflich zu wirken und ignorierte mich danach völlig. „Ich wollte fragen, ob du heute Nachmittag bei uns vorbeikommen könntest, Alcide. Ich will draußen die Weihnachtsbeleuchtung anbringen und brauche Hilfe." Dabei sah er wirklich ausschließlich Alcide an.

„Wo ist Tommy?" fragte mein Gastgeber, der ziemlich enttäuscht wirkte. „Hast du ihn nicht mitgebracht, wenn du mich schon mal besuchst?" Tommy war Janices Baby.

Mit einem Seitenblick auf mich schüttelte Del den Kopf. „Du hast eine Frau in der Wohnung, da schien es mir nicht recht, das Kind mitzubringen. Der Junge ist bei meiner Mutter."

Der Kommentar kam so unerwartet, daß ich nur sprachlos dastehen und unseren Besucher anstarren konnte. Auch Alcide war überrumpelt und betroffen. „Sei bitte nicht unhöflich zu meiner Freundin, Del", bat er.

„Da sie in deiner Wohnung wohnt, ist sie wohl mehr als eine Freundin", erwiderte der beiläufig. „Es tut mir leid, Miß, aber es ist einfach nicht richtig."

„Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!" Hoffentlich hörte man mir die Wut auch an, die ich bis tief in den verkrampften Magen hinein empfand! Bestimmt war es falsch, mitten in einem heftigen Wutanfall die Bibel zu zitieren. Ich verzog mich ins Gästezimmer und knallte die Tür hinter mir zu.

Bald darauf hörte ich, wie Del Phillips die Wohnung verließ. Dann klopfte Alcide an meine Tür.

„Möchten Sie eine Runde Scrabble spielen?" wollte er wissen.

Ein wenig erstaunt blinzelte ich ihn an. „Klar."

„Ich habe es mir vorhin zugelegt, als ich für Tommy einkaufen war."

Den Couchtisch hatte er bereits direkt vor das Sofa geschoben, aber dann hatte ihm wohl der Mut gefehlt, das funkelnagelneue Spiel auch auszupacken und aufzubauen.

„Dann schenke ich uns inzwischen eine Cola ein", sagte ich. Nicht zum ersten Mal fiel mir auf, wie kühl es in der Wohnung war; nicht so kühl wie draußen auf der Straße, aber doch so kühl, daß ich wünschte, ich hätte einen leichten Pulli mitgebracht, um ihn im Haus überziehen zu können. Ob Alcide wohl beleidigt war, wenn ich ihn bat, die Heizung höher zu drehen? Ich erinnerte mich, wie warm sich seine Haut angefühlt hatte. Offenbar gehörte er zu den Menschen, die einfach nicht so leicht froren. Oder waren alle Wer so veranlagt? Vorsichtig, um nur ja meine Frisur nicht zu gefährden, zog ich mir das Sweatshirt über, das ich auch am Vortag getragen hatte.

Alcide hatte sich neben den Couchtisch auf den Fußboden gehockt, und ich ließ mich ihm gegenüber nieder, ebenfalls auf dem Boden. Offenbar war es schon eine Weile her, daß einer von uns Scrabble gespielt hatte. Also studierten wir erst einmal aufmerksam die Regeln, ehe wir loslegten.

Alcide hatte die Technische Hochschule von Louisiana absolviert. Ich war zwar nie auf dem College gewesen, las aber sehr viel - so waren wir ungefähr gleich gut, was den Wortschatz anging. Alcide war der bessere Stratege. Wie es aussah, dachte ich ein bißchen schneller als er.

Ich erzielte mit einem sehr schwierigen Wort eine Menge Punkte, was zur Folge hatte, daß mir mein Gegner die Zunge herausstreckte. Ich mußte lachen, woraufhin er bat: „Lesen Sie nur nicht meine Gedanken! Das wäre Schummeln!"

„So etwas würde ich natürlich nie tun!" sagte ich sittsam, und er knurrte mich an.

Ich verlor die Partie - allerdings mit nur zwölf Punkten Rückstand. Nachdem wir alles noch einmal ausführlich durchgekaut und uns dabei freundschaftlich gekabbelt hatten, stand Alcide auf, um unsere Gläser in die Küche zu bringen. Er stellte sie in der Spüle ab und fing dann an, sämtliche Küchenschränke zu durchsuchen, während ich die Spielsteine wieder in ihre Schachtel räumte und den Deckel schloß.

„Wohin soll ich das Spiel räumen, wo wollen Sie es aufbewahren?" fragte ich.

„Legen Sie es bitte in den Schrank dort neben der Tür. Da sind ein paar freie Regale."

Ich klemmte mir daraufhin die Schachtel unter den Arm und ging zum Wandschrank im Flur. Der Geruch, der mir auch schon vorher aufgefallen war, schien hier stärker zu sein als im übrigen Teil der Wohnung.

„Wissen Sie was, Alcide", sagte ich tapfer, wobei ich hoffte, nicht allzu unverschämt zu wirken. „Irgend etwas stinkt hier vergammelt. Gleich hier im Flur."

„Ist mir auch schon aufgefallen. Deswegen sehe ich mir gerade die Schränke an. Vielleicht liegt irgendwo eine tote Maus herum."

Dann fand ich heraus, was so stank.

„Oh nein!" rief ich aus. „Oh neinneinneinnein."

„Erzählen Sie mir jetzt bloß nicht, es hat sich eine Ratte im Schrank versteckt und ist da gestorben!" sagte Alcide.

„Keine Ratte", stellte ich fest. „Ein Werwolf."

Es gab im Wandschrank ein Regalbrett oberhalb einer Kleiderstange. Der Schrank war winzig, nur dazu gedacht, die Mäntel der Gäste aufzunehmen. Nun war er voll. Der braunhäutige Mann aus dem Club Dead, der mich so aufdringlich bei der Schulter gepackt hatte, steckte darin. Er war tot, ganz und gar tot - und das bereits seit einigen Stunden.

Ich schien nicht wegsehen zu können.

Die Tatsache, daß Alcide nun hinter mich getreten war, beruhigte und tröstete mich mehr, als ich erwartet hatte. Über meinen Kopf hinweg starrte mein Gastgeber in den Schrank, wobei seine Hände meine Schultern umklammert hielten.

„Blut ist keins zu sehen!" bemerkte ich mit zitternder Stimme.

„Sein Hals!" Alcide klang mindestens ebenso erschüttert wie ich.

In der Tat ruhte der Kopf des Mannes im Schrank auf dessen rechter Schulter, war aber noch mit dem Körper verbunden. Igitt! Ich mußte schlucken. „Wir sollten die Polizei verständigen", sagte ich, was aber ganz und gar nicht so klang, als setzte ich großes Vertrauen in eine solche Maßnahme. Inzwischen war ich auch in der Lage, Einzelheiten wahrzunehmen - der Körper war einfach in den Schrank gestopft worden, wo er nun fast aufrecht stand. Ich nahm an, irgend jemand hatte den Toten in den Schrank geschoben und dann mit Gewalt die Tür geschlossen. In dieser Stellung war der Mann dann sozusagen steif geworden.

„Aber wenn wir die Polizei rufen ..." Alcide beendete den Satz gar nicht erst, sondern holte statt dessen tief Luft. „Die glauben uns nie, daß wir das nicht waren. Sie werden die Freunde des Toten befragen, und diese Freunde werden aussagen, der Mann sei letzte Nacht im Club Dead gewesen, was die Polizei überprüfen wird. Dann kommt heraus, daß der Mann in der Bar Ärger hatte, weil er Sie belästigte. Danach glaubt niemand mehr, daß wir bei seiner Ermordung nicht die Hand mit im Spiel hatten."

„ Andererseits", sagte ich langsam, wobei ich mehr oder weniger laut dachte, „glauben Sie wirklich, daß die Rocker den Club Dead auch nur mit einem Wort erwähnen werden?"

Darüber mußte Alcide erst einmal nachdenken - das tat er, indem er sich bedächtig mit dem Daumen über die Unterlippe fuhr. „Da könnten Sie recht haben", gestand er ein. „Wenn die Freunde des Toten den Club Dead nicht zur Sprache bringen, dann können sie auch nicht auf den - Zwischenfall - zu sprechen kommen, an dem wir beide beteiligt waren. Wissen Sie, was sie dann tun? Die werden bestimmt die Sache in die eigenen Hände nehmen wollen."

Da hatte er nun wieder recht, und zwar erheblich. Es war ihm gelungen, mich zu überzeugen. Keine Polizei. „Dann werden wir ihn selbst wegschaffen müssen", sagte ich, um ohne Umschweife aufs Wesentliche zu sprechen zu kommen. „Wie wollen wir das bewerkstelligen?"

Alcide war ein praktisch veranlagter Mann. Er war es gewohnt, Probleme zu lösen und sich dabei stets zuerst der Klärung des schwerwiegendsten zu widmen.

„Wir müssen ihn aufs Land schaffen", erklärte er nun, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte. „Das heißt, wir müssen ihn erst mal runter in die Garage bringen. Dazu müssen wir ihn einpacken."

„Der Duschvorhang!" schlug ich vor und deutete mit der Kinnspitze auf das Badezimmer, das ich benutzte. „Könnten wir den Schrank zumachen und irgendwo anders hingehen, während wir die Sache planen?"

„Aber auf jeden Fall!" erwiderte Alcide, der es mit einem Mal ebenso eilig hatte wie ich, sich dem grausigen Anblick vor unseren Augen zu entziehen.

So standen wir mitten im Wohnzimmer und beratschlagten, was zu tun sei. Als erstes schaltete ich die Heizung in der Wohnung komplett aus und lüftete durch. Die Leiche im Schrank hatte ihre Anwesenheit nur deswegen erst so spät kundgetan, weil Alcide die Temperaturen in der Wohnung gern niedrig hielt und weil die Schranktür fest schloß. Nun mußten wir zunächst den dezenten, aber nachdrücklichen Geruch loswerden, der über allem hing.

„Wir müssen mit ihm fünf Treppen runter, und ich glaube nicht, daß ich ihn so weit werde tragen können", meinte Alcide. „Das heißt, wir müssen den Lift nehmen, zumindest für einen Teil der Strecke. Das ist der gefährlichste Teil des ganzen Unternehmens."

Wir sinnierten, planten und diskutierten, bis wir einen Plan zu haben glaubten mit dem sich erfolgreich würde arbeiten lassen. Alcide erkundigte sich zweimal besorgt bei mir, ob auch wirklich alles in Ordnung sei, und ich versicherte ihm beide Male, dies sei durchaus der Fall. Schließlich dämmerte mir, daß er befürchtete, ich würde hysterisch werden oder in Ohnmacht fallen.

„Ich habe es mir noch nie leisten können, mich allzusehr anzustellen!" beruhigte ich ihn. „Noch dazu liegt mir das nicht." Sollte Alcide erwartet haben, ich würde um mein Riechfläschchen bitten oder ihn anflehen, mich vor dem bösen, bösen Wolf zu retten - vielleicht hatte er ja sogar gehofft, ich würde etwas derartiges tun -, dann war er ganz einfach an die falsche Frau geraten.

Nun mochte ich mir ja fest vorgenommen haben, nie den Kopf zu verlieren, aber das hieß noch lange nicht, daß meine Nerven in jenem Moment nicht bloßlagen. Ich zitterte wie Espenlaub und konnte mich gerade noch daran hindern, den Duschvorhang, als ich ihn nun holen ging, einfach gewaltsam aus seinen durchsichtigen Plastikringen zu reißen. ,Immer langsam', wies ich mich zurecht. 'Ganz ruhig. Einatmen - ausatmen. Hol den Duschvorhang runter und breite ihn im Flur auf dem Fußboden aus!'

Der Vorhang war grün und blau; in ebenmäßigen Reihen schwammen ernsthaft dreinschauende gelbe Fische darauf vor sich hin.

Inzwischen hatte sich Alcide hinunter in die Tiefgarage begeben, um den Pick-up so nah wie möglich an die hintere Treppe zu fahren. Als er wieder in die Wohnung trat, sah ich, daß er daran gedacht hatte, ein Paar Arbeitshandschuhe mitzubringen. Er streifte sie über und holte tief Luft - vielleicht ein Fehler angesichts der Tatsache, daß er nun wieder ganz dicht bei der Leiche stand. Dann packte Alcide mit eisiger, fest entschlossener Miene die Schultern des toten Mannes und zog daran.

Das Resultat war derart dramatisch, daß man es sich kaum vorstellen kann: Der Rocker fiel einfach so, als Ganzes, aus dem Schrank, stocksteif, wie tiefgefroren. Alcide mußte sogar rasch nach rechts springen, um zu verhindern, daß die Leiche im Fallen auf ihm zu liegen kam. Der Tote schlug einmal leicht gegen den Tresen und landete dann seitwärts genau auf dem Duschvorhang.

„Holla!" sagte ich mit zittriger Stimme. „Das hat ja ziemlich gut hingehauen."

Die Leiche lag nämlich wirklich fast genau so, wie wir sie haben wollten. Entschieden nickten wir einander zu und hockten uns jeweils an ein Ende des Duschvorhangs. Zugleich hoben wir je eine Seite der Plastikplane an, schlugen sie über den Toten und verfuhren dann mit der anderen Seite ebenso. Als das Gesicht des Mannes bedeckt war, konnten wir uns ein wenig entspannen. Alcide hatte auch eine Rolle festes Klebeband mit nach oben gebracht - ein richtiger Mann hat immer eine Rolle Klebeband im Pick-up -, das wir benutzten, um die Leiche ganz fest im Duschvorhang einzuwickeln. Dann schlugen wir jeweils die Enden hoch und klebten auch sie fest. Glücklicherweise war der Wer zwar stämmig, aber nicht besonders groß gewesen.

Wir richteten uns auf und gönnten uns eine winzige Verschnaufpause. Alcide sagte als erster wieder etwas. „Sieht aus wie ein riesiger grüner Burrito!" versuchte er zu scherzen.

Ich schlug mir die Hand vor den Mund, denn es galt, einen Lachkrampf zu ersticken.

Mit einem überraschten Ausdruck in den Augen blickte Alcide mich über die wohlverschnürte Leiche hinweg an. Dann aber lachte auch er plötzlich los.

Als wir uns wieder beruhigt hatten, fragte ich: „Bereit für Kapitel zwei?"

Er nickte, und ich zog meinen Mantel an, um mich dann zwischen Alcide und der Leiche hindurchzuquetschen. Ich trat hinaus auf den Flur, wobei ich für den Fall, daß jemand zufällig genau in diesem Moment vorbeikommen sollte, rasch die Wohnungstür hinter mir schloß, und ging hinüber zum Fahrstuhl.

Ich hatte gerade den Rufknopf gedrückt, da kam ein Mann um die Ecke, um sich neben mir an der Fahrstuhltür aufzubauen. Ein Verwandter der alten Mrs. Osburgh vielleicht, oder einer der Senatoren hatte noch einmal kurz nach Jackson zurückkehren müssen. Wer immer der Mann sein mochte: Er war gut gekleidet, etwa sechzig Jahre alt und wohlerzogen genug, sich zur Konversation verpflichtet zu fühlen.

„Recht kalt heute, nicht wahr?"

„Ja, aber nicht so kalt wie gestern". Verzweifelt starrte ich auf die Tür zum Fahrstuhlschacht und wünschte sehnlichst, sie möge sich öffnen und der Mann verschwinden.

„Sind Sie gerade erst eingezogen?"

Noch nie zuvor hatte mich ein höflicher Mensch so irritiert. „Ich bin zu Besuch." Ich gab mich gelangweilt und uninteressiert, um ihm zu vermitteln, daß von mir aus die Unterhaltung zwischen uns beiden damit beendet war.

„Oh!" sagte er vergnügt. „Bei wem denn?"

Glücklicherweise kam just in diesem Moment der Fahrstuhl. Seine Türen öffneten sich gerade noch rechtzeitig, denn sonst hätte ich dem höflichen Herrn womöglich den Kopf abgerissen. Der forderte mich mit einer Geste auf, vor ihm in die Kabine zu treten, aber ich trat statt dessen einen Schritt zurück und rief aus: „Oh Schreck, ich habe den Schlüssel vergessen!" Dann eilte ich von dannen, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Ich stellte mich vor die Tür der Wohnung, von der Alcide berichtet hatte, sie sei zur Zeit unbewohnt und klopfte. Hinter mir hörte ich, wie sich die Fahrstuhltür wieder schloß, woraufhin ich einen Seufzer der Erleichterung ausstieß.

Als ich mir ausrechnen konnte, daß der geschwätzige Herr Zeit genug gehabt hatte, seinen Wagen aufzusuchen und aus der Garage zu fahren - es sei denn, er würde dem Wachmann ein Ohr abschwätzen -, rief ich den Fahrstuhl zurück. Es war Samstag, von daher ließ sich nicht sagen, wie die Zeitpläne und Vorhaben unserer Mitbewohner aussahen. Alcide zufolge waren viele der Eigentumswohnungen im Haus als Investition gekauft worden und wurden an Mitglieder der Legislative weitervermietet, von denen die meisten jetzt kurz vor den Feiertagen nicht mehr hier waren. Die Mieter jedoch, die ständig hier wohnten, würden sich heute anders als sonst im Haus bewegen: Nicht nur war Wochenende, es war noch dazu das vorletzte Wochenende vor Weihnachten. Als der Fahrstuhl wieder bei mir ankam, war dessen quietschende Kabine aber Gott sei Dank leer.

Ich raste zurück zur 504, klopfte zweimal und rannte sofort zurück zum Fahrstuhl, um dessen Türen offenzuhalten. Alcide tauchte in der Wohnungstür auf, die Leiche mit den Beinen voran vor sich herschiebend. Er bewegte sich so schnell, wie es einem Mann möglich ist, der einen völlig erstarrten Leichnam schieben muß.

Hier handelte es sich um den kritischsten Punkt des Unterfangens: Alcides Bündel war unverwechselbar eine Leiche, die man in einen Duschvorhang gewickelt hatte. Das Plastik dämpfte den Geruch zwar, in der engen Fahrstuhlkabine konnte man ihm aber nicht entgehen. Unbeschadet gelangten wir ins nächsttiefere Stockwerk, dann noch ein Stockwerk weiter. Im zweiten Stock verließen uns die Nerven. Wir ließen den Fahrstuhl anhalten, dessen Türen sich dann zu unserer unendlichen Erleichterung auf einen leeren Korridor öffneten. Ich sprintete aus der Kabine und eilte hinüber zur Treppenhaustür, die ich dann für Alcide offenhielt. Dann eilte ich ihm voran die Treppe hinunter und spähte durch das Glasfenster der Treppenhaustür hindurch in die Garage.

„Stop!" rief ich leise und hielt warnend die Hand hoch. Eine Frau mittleren Alters und ein Teenager luden Pakete aus dem Kofferraum ihres Toyota, wobei sie in eine wortreiche Auseinandersetzung vertieft waren. Das Mädchen war zu einer Party eingeladen, die die ganze Nacht dauern sollte. Nein, sagte die Mutter.

Sie mußte da hin, all ihre Freunde würden da sein! Nein, sagte die Mutter.

Aber Mama, die anderen Mütter lassen ihre Kinder auch hingehen! Nein, sagte die Mutter.

„Bitte, jetzt nicht so streiten, daß einer von euch die Treppe nimmt!" flehte ich still.

Aber dann stiegen beide in den Aufzug, wobei sie sich nach wie vor ununterbrochen stritten. Ich bekam noch mit, wie die Tochter ihren Strom an Argumenten kurz unterbrach, um festzustellen, im Fahrstuhl stinke es, dann schloß sich die Tür hinter ihr und ihrer Mutter.

„Was ist denn jetzt?" flüsterte Alcide.

„Gar nichts. Ich will bloß abwarten, ob das noch eine Minute lang gut geht."

Nachdem eine weitere Minute lang alles ruhig geblieben war, trat ich eilends hinüber zu Alcides Pick-up, derweil ich hastige Blicke in alle Richtungen warf, um ganz sicher zu gehen, daß wir alleine waren. Der Wachmann, der in seinem kleinen Glashaus am Fußende der Rampe hockte, konnte uns nicht sehen.

Ich schloß die Heckklappe des Pick-up auf; die Ladefläche war Gott sei Dank mit einer Plane geschützt. Dann ließ ich einen letzten prüfenden Blick durch die Garage schweifen, eilte zurück zur Treppenhaustür und klopfte leise. Nach ungefähr einer Sekunde zog ich die Tür auf.

Mit einer Geschwindigkeit, die ich ihm in seinem schwer bepackten Zustand gar nicht zugetraut hätte, kam Alcide durch die Tür geschossen und eilte auf den Pick-up zu. Mit vereinten Kräften gelang es uns, die Leiche auf die Ladefläche zu schieben. Unendlich erleichtert klappten wir die Heckklappe wieder zu und verriegelten sie.

„Kapitel zwei beendet", verkündete Alcide in einer Art, die ich nur als albern hätte bezeichnen können, wäre mein neuer Freund nicht ein so großer, erwachsener Mann gewesen.

Mit einer Leiche im Fahrzeug durch die Straßen einer Stadt zu fahren ist eine Lehrstunde in Paranoia, das kann ich Ihnen versichern. Noch dazu eine Lehrstunde, bei der einem hinterher die Haare zu Berge stehen.

„Beachten Sie um Gottes Willen jede einzelne Verkehrsregel!" rief ich Alcide ins Gedächtnis, ganz verzweifelt darüber, wie angespannt meine Stimme klang.

„Schon gut", gab der knurrend und ebenso angespannt zurück.

„Glauben Sie, die Leute in dem Jimmy da starren zu uns herüber?"

„Nein."

Offenbar war es das beste, wenn ich den Mund hielt. Also tat ich genau das. Wir fuhren zurück auf die Interstate 20, auf der wir nach Jackson gekommen waren, und folgten dieser Straße so lange, bis rings um uns keine Stadt mehr war, sondern reines Farmland.

In Höhe der Abfahrt Bolton befand Alcide: „Das sieht gut aus hier."

„Stimmt!" meinte ich erleichtert, denn ich hatte das deutliche Gefühl, daß ich es nicht mehr sehr lange schaffen würde, in Begleitung einer Leiche durch die Gegend zu fahren. Die Landschaft zwischen Jackson und Vicksburg ist recht flach. Große Felder beherrschen sie, hier und da unterbrochen von ein paar sumpfigen Flußarmen. Die Gegend, in der Alcide und ich uns befanden, unterschied sich in nichts vom Rest der Landschaft. Wir verließen die Autobahn und wandten uns nach Norden, wo sich Wälder erstreckten. Nach ein paar Kilometern bog Alcide rechts in eine Landstraße ein, die schon vor etlichen Jahren hätte neu geteert werden müssen. Hier standen die Bäume zu beiden Seiten des oft geflickten grauen Streifens ganz dicht. Viel Chancen hatte die Sonne am matten Winterhimmel nicht, durch das Laub der Bäume zu scheinen und ein bißchen Licht auf die Straße zu schicken. In der Fahrerkabine des Pick-up zitterte ich unglücklich vor mich hin.

„Es dauert nicht mehr lange", sagte Alcide, woraufhin ich ruckartig nickte.

Linkerhand entdeckte ich eine wirklich winzige Stichstraße. Ich deutete darauf, Alcide trat auf die Bremse, und einen Moment lang begutachteten wir die Möglichkeiten, die sich uns dort boten. Dann nickten wir einander zu: Die Straße hatte unserer beider Zustimmung gefunden. Alcide fuhr rückwärts hinein, was mich zuerst überraschte, mir dann aber richtig und logisch erschien. Je weiter wir in den Wald vordrangen, desto besser gefiel mir der Ort, den wir für unser Vorhaben gewählt hatten. Die Straße war vor nicht allzu langer Zeit mit Kies bestreut worden; wir würden keine Reifenspuren hinterlassen, und wahrscheinlich, so dachte ich, führte diese denn doch etwas rudimentäre Piste zu einer Jagdhütte, die wohl jetzt, da die Jagdsaison für Hirsche zu Ende gegangen war, kaum mehr benutzt wurde.

Genau wie ich gedacht hatte tauchte auch, kaum waren wir die Staubstraße ein paar Meter entlanggefahren, wobei der neue Kies unter unseren Rädern knirschte, ein Schild auf, das jemand an einen Baum genagelt hatte: „Kiley-Odum Jagdclub Privatbesitz BETRETEN VERBOTEN."

Wir arbeiteten uns weiter voran. Vorsichtig und langsam setzte Alcide auf der schmalen Straße zurück.

„Hier!" sagte er dann endlich, nachdem wir so weit in den Wald hineingefahren waren, daß wir ziemlich sicher sein konnten, von der Straße aus nicht mehr gesehen zu werden. Alcide schaltete die Automatik des Pick-up auf 'P'. „Hören Sie, Sookie, Sie müssen nicht mit aussteigen!"

„Es geht schneller, wenn wir zusammenarbeiten."

Er versuchte, mir einschüchternde Blicke zuzuwerfen, aber ich starrte ihn nur unverwandt mit steinerner Miene an, und so mußte er schließlich seufzend nachgeben. „Na gut, bringen wir es hinter uns."

Die Luft war kalt und naß, und wenn man einen Moment stehenblieb, kroch sie einem eiskalt und feucht direkt in die Knochen. Ich spürte deutlich, daß gerade ein Temperatursturz stattfand. Der klare, helle Himmel, an dem ich mich am Morgen erfreut hatte, war nur noch eine schöne Erinnerung. Ein angemessener Tag, um sich einer Leiche zu entledigen. Alcide öffnete die Heckklappe des Pick-up, dann streiften wir uns Handschuhe über und packten entschlossen das blaugrüne Bündel. Hier draußen in den frierenden Wäldern wirkten die munteren gelben Fische fast schon obszön.

„Ziehen Sie mit aller Kraft", riet Alcide mir, und auf drei zerrten wir beide so kräftig, wie wir irgend konnten. Beim ersten Versuch bekamen wir ungefähr die eine Hälfte des Bündels von der Ladefläche; es hing nun irgendwie häßlich und anstößig über die hinteren Stoßdämpfer. „Fertig? Dann noch einmal: eins, zwei drei!" Wieder zerrte ich mit Macht, und diesmal wurde die Leiche, wohl auch durch die eigene Schwerkraft, aus dem Pick-up und direkt auf die Straße befördert.

Wie glücklich wäre ich gewesen, hätten wir nun einfach von dannen fahren können! Leider jedoch waren wir vorhin in der Wohnung zu der Erkenntnis gelangt, daß es sich nicht würde vermeiden lassen, den Duschvorhang wieder mitzunehmen. Wer konnte schon sagen, welche Fingerabdrücke sich auf dem Vorhang und auf dem Klebeband finden ließen? Außerdem gab es sicher auch noch andere, mikroskopisch feine Beweismittel, von denen ich keine Ahnung hatte.

Nicht umsonst zähle ich zu den Zuschauern des Discovery Channels!

Alcide besaß ein Allzweckmesser, und so überließ ich ihm gern die ehrenvolle Aufgabe des Auspackens. Während er an dem Plastik herumschnippelte, hielt ich ihm einen offenen Müllbeutel hin, in den er alles hineinstopfen konnte. Ich versuchte, nicht hinzusehen, aber natürlich tat ich es doch.

Die Leiche sah nicht besser aus als vorhin in der Wohnung.

Auch mit dieser Arbeit waren wir schneller fertig, als ich eigentlich angenommen hatte. Ich hatte mich schon umgedreht, um zum Wagen zurückzugehen, als ich mitbekam, daß Alcide unverwandt stehenblieb, das Gesicht gen Himmel gewandt. Es sah aus, als nähme er alle Gerüche des Waldes in sich auf.

„Heute Nacht ist Vollmond", sagte er, wobei sein ganzer Körper sacht zu beben schien. Als er mich ansah, wirkten seine Augen fremd. Nicht, daß sie ihre Farbe oder Form merklich geändert hätten; es schien mir jedoch so, als blicke mich aus diesen Augen eine völlig andere Person an.

Da stand ich nun allein im Wald mit einem Gefährten, der in eine andere Dimension hinüber gewechselt war. Ich mußte gegen widerstreitende Gefühle ankämpfen und hätte am liebsten geschrien, wäre in Tränen ausgebrochen, einfach fortgerannt. Statt dessen strahlte ich Alcide an und wartete ab. Nach einer langen, angstbesetzten Schweigepause sagte mein neuer Freund: „Wir sollten zurück zum Wagen gehen."

Ich war nur zu froh, wieder auf den Sitz klettern zu können!

„Wie er wohl ums Leben gekommen sein mag?" fragte ich, als es so aussah, als habe Alcide zu seinem normalen Selbst zurückgefunden.

„Ich glaube, jemand hat ihm den Hals umgedreht", erwiderte Alcide. „Ich kann mir nur nicht vorstellen, wie er in die Wohnung gelangte. Ich weiß, daß ich letzte Nacht die Tür abgeschlossen hatte. Da bin ich absolut sicher, und heute morgen war sie auch wieder verschlossen."

Eine Weile versuchte ich, mir auszumalen, was geschehen sein mochte, aber es wollte mir nicht gelingen. Dann fragte ich mich, woran man starb, wenn einem der Hals umgedreht wurde. Diese Frage jedoch, beschloß ich gleich darauf hastig, war nicht wirklich dazu geeignet, um sich just in diesem Moment damit zu befassen.

Auf dem Rückweg machten wir an einem Wal-Mart halt. Jetzt, an einem der Adventswochenenden, drängten sich dort die Massen der Einkaufenden. Wieder einmal schoß mir durch den Kopf, daß ich immer noch kein Geschenk für Bill hatte.

Gleich darauf durchzuckte mich wie ein scharfer Schmerz die Erkenntnis, daß ich vielleicht nie für Bill würde ein Weihnachtsgeschenk kaufen können, jetzt nicht, unter Umständen überhaupt nie.

Alcide und ich benötigten Raumspray, ein Reinigungsmittel für den Teppichboden und einen neuen Duschvorhang. Entschlossen stellte ich meine traurigen Gefühle hintan und machte mich auf die Suche. Alcide überließ es mir, den neuen Duschvorhang auszuwählen, was mir unerwartete Freude bereitete. Mein Gastgeber zahlte bar, so daß es über unseren Besuch in diesem Laden keinerlei Unterlagen geben würde.

Als wir dann wieder im Pick-up hockten, sah ich mir erst einmal meine Fingernägel an und war froh darüber, daß sie einen unversehrten Eindruck machten. Gleich darauf wurde mir peinlich bewußt, daß ich wohl bereits recht abgestumpft war, wenn es mir gelang, in einer solchen Situation an Fingernägel zu denken. Immerhin hatte ich gerade eine Leiche beiseitegeschafft. Ein paar Minuten lang hockte ich da, grübelte über diese Erkenntnis nach und fühlte mich äußerst unwohl in meiner Haut.

Meine Gefühle teilte ich Alcide mit, der nun, da wir ohne unseren stummen Passagier in die Zivilisation zurückgekehrt waren, auch wieder ansprechbar schien.

„Sie haben ihn ja schließlich nicht umgebracht", stellte mein neuer Freund klar. „Oder?"

Ich blickte in die grünen Augen und empfand lediglich mildes Staunen. „Ganz sicher nicht. Sie?"

„Nein", sagte er, und ich konnte seiner Miene entnehmen, daß er diese Frage erwartet hatte. Es war mir nur nicht in den Sinn gekommen, sie zu stellen.

Auch wenn es mir nie in den Sinn gekommen war, Alcide zu verdächtigen: Irgendwer hatte dafür gesorgt, daß aus dem lebenden Werwolf eine Leiche wurde. Zum ersten Mal an diesem Tag machte ich mir Gedanken darüber, wer die Leiche wohl in unsere Flurgarderobe gestopft haben mochte - bis jetzt war ich viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, dafür zu sorgen, daß sie wieder verschwand.

„Wer hat denn Zugang zur Wohnung?" fragte ich.

„Nur mein Vater, die Putzfrau, die sich um die meisten Wohnungen im Haus kümmert, und ich. Die hat aber noch nicht einmal einen eigenen Schlüssel. Der Hausmeister gibt ihr jeweils einen." Wir hielten hinter einer kleinen Ladenzeile, damit Alcide unseren Müllbeutel mit dem Duschvorhang in einen der Müllcontainer werfen konnte, die dort herumstanden.

„Das ist ja eine ziemlich kurze Liste."

„Ja", sagte Alcide langsam. „Das stimmt. Aber ich weiß, daß mein Vater in Jackson ist. Ich habe heute morgen nach dem Aufstehen mit ihm telefoniert. Die Putzfrau kommt nur, wenn wir beim Hausmeister eine entsprechende Nachricht hinterlassen. Er hat einen Schlüssel für unsere Wohnung, gibt ihr den, wenn sie ihn braucht, und sie gibt ihn zurück, wenn sie fertig ist."

„Was ist mit dem Wachmann in der Garage? Ist er die ganze Nacht im Dienst?"

„Ja, sonst könnte sich jeder leicht in die Garage schleichen und den Aufzug benutzen. Man gelangt in der Regel durch die Garage ins Haus, aber es gibt auch richtige Haustüren von der Hauptstraße aus. Die sind allerdings immer verschlossen. Ein Wachmann steht dort nicht, aber man braucht einen Schlüssel, um sich Eintritt zu verschaffen."

„Wenn es also jemandem gelänge, sich an der Wache vorbeizuschleichen, könnte dieser jemand ohne weiteres mit dem Fahrstuhl in Ihr Stockwerk fahren, ohne aufgehalten zu werden."

„Ja, sicher."

„Woraufhin dieser jemand aber immer noch die Wohnungstür aufbrechen müßte."

„Ja - und eine Leiche den ganzen Weg mit sich herumschleppen um dann in den Wandschrank zu stopfen. Das hört sich alles recht unwahrscheinlich an."

„Aber genau so scheint es ja passiert zu sein. Oh! Haben Sie Debbie einen Schlüssel gegeben? Vielleicht hat sich den jemand geborgt." Ich bemühte mich, neutral zu klingen, was mir aber wahrscheinlich nicht allzu gut gelang.

Daraufhin herrschte eine Weile nichts als Schweigen.

„Ja, Debbie hatte einen Schlüssel", erklärte Alcide dann steif.

Ich biß mir auf die Lippen, um mir die nächstliegende Frage zu verkneifen.

„Nein, sie hat ihn mir nicht zurückgegeben."

Da hatte ich die Frage also noch nicht einmal stellen müssen.

Das Schweigen in der Fahrerkabine wurde immer aufgeladener, bis Alcide, um es zu brechen, vorschlug, ein spätes Mittagessen zu sich zu nehmen. Sobald er den Vorschlag gemacht hatte, stellte ich zu meiner großen Verwunderung auch schon fest, wie hungrig ich war.

Wir aßen im Hal and Mal, einem Restaurant in der Nähe der Innenstadt, das sich in einem alten Lagerhaus befand. Dort standen die Tische so weit voneinander entfernt, daß Alcide und ich uns unterhalten konnten, ohne daß andere Gäste sich gleich genötigt fühlten, die Polizei zu verständigen.

„Ich glaube nicht", murmelte ich, „daß jemand mit einer Leiche über der Schulter in Ihrem Haus herumschleichen könnte, ganz gleich, zu welcher Stunde."

„Wir haben es doch gerade getan", entgegnete Alcide, worauf mir keine Erwiderung einfiel. „Ich gehe davon aus, daß es so zwischen - sagen wir mal: zwei und sieben Uhr in der Frühe geschah. Um zwei schliefen wir bereits, oder nicht?"

„Eher um drei, wenn man Erics Stippvisite bedenkt."

Unsere Blicke kreuzten sich. Heureka! Eric!

„Aber warum hätte er das tun sollen? Ist er verrückt nach Ihnen?" fragte Alcide geradeheraus.

„Verrückt würde ich das nicht nennen", widersprach ich verlegen.

„Oh: Er will Ihnen an die Wäsche."

Ich nickte, wobei ich es vermied, Alcide direkt anzusehen.

„Da ist er wohl nicht der einzige", meinte der tonlos.

„Ach", sagte ich wegwerfend. „Sie sind doch immer noch fixiert auf diese Debbie, und das wissen Sie sehr genau."

Daraufhin sahen wir einander in die Augen. Es war wohl am besten, wenn wir einmal alles offen aussprachen, um dann das Thema getrost wieder ad acta legen zu können.

„Sie können meine Gedanken weit besser lesen, als ich gedacht hätte", sagte Alcide, das breite Gesicht in unglückliche Falten gelegt. „Aber sie ist nicht... warum liegt mir überhaupt so viel an ihr? Ich bin mir noch nicht einmal sicher, daß ich sie mag, Sie hingegen sind mir verdammt sympathisch."

„Vielen Dank", sagte ich mit einem strahlenden Lächeln, das von Herzen kam. „Sie sind mir auch verdammt sympathisch."

„Offensichtlich sind wir besser füreinander als die beiden Leute, mit denen wir zusammen sind", stellte Alcide fest.

Das war unleugbar wahr. „Ja. Noch dazu wäre ich mit Ihnen glücklich."

„Ich würde es auch sehr genießen, meine Tage mit Ihnen zu verbringen."

„So, wie es im Moment aussieht, wird es dazu wohl aber nicht kommen."

„Nein." Alcide stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wohl kaum."

Als wir das Lokal verließen, strahlte uns die junge Kellnerin, die uns bedient hatte, an, wobei sie dafür sorgte, daß Alcide nicht entging, wie eng sich die Jeans um ihre wohlgeformten Hüften schmiegte.

„Hier ist mein Plan - glaube ich jedenfalls", ließ Alcide sich vernehmen. „Ich werde versuchen, Debbie mit Stumpf und Stiel aus meinem Herzen zu reißen, und dann tauche ich auf Ihrer Türschwelle auf, wenn Sie überhaupt nicht damit rechnen und hoffe, daß Sie Bill bis dahin aufgegeben haben."

„Und dann leben wir glücklich bis ans Ende unserer Tage?" Ich lächelte.

Alcide nickte.

„Na, das ist doch mal etwas, worauf man sich freuen kann!" bemerkte ich trocken.