Kapitel 5

Janice Herveaux Phillips (seit zwei Jahren verheiratet und Mutter eines Säuglings, wie mir fast umgehend mitgeteilt wurde) war genau so, wie ich es von Alcides Schwester auch erwartet hätte: Sie war groß, attraktiv, redete, wie ihr der Schnabel gewachsen war und verfügte über eine Menge Selbstvertrauen. Zudem führte sie ihren Betrieb höchst effizient.

Ich hatte bislang sehr selten überhaupt einen Fuß in einen Schönheitssalon gesetzt. Meine Großmutter pflegte sich ihre Dauerwelle daheim zu machen, eigenhändig, und ich hatte mir die Haare nie färben oder irgend etwas anderes mit ihnen anstellen lassen, außer sie von Zeit zu Zeit ein wenig zu kürzen. Als ich Janice diese Tatsache gestand - sie hatte mitbekommen, wie ich mich neugierig, wie nur komplette Ignoranten es tun, im Laden umgesehen hatte -, erhellte ein strahlendes Lächeln deren breites Gesicht. „Dann brauchen Sie einfach alles!" erklärte sie hochzufrieden.

„Nein, nein", widersprach ich besorgt, „Alcide ..."

„Alcide hat mich von seinem Mobiltelefon aus angerufen und mir deutlich zu verstehen gegeben, daß ich Sie ordentlich in die Mangel nehmen soll", unterbrach mich Janice. „Ganz ehrlich, Schatz: Jede Frau, die es schafft, ihn von dieser Debbie loszueisen, ist meine beste Freundin!"

Da konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. „Aber ich bezahle!"

„Nein, Schatz, Ihr Geld nehmen wir hier nicht. Selbst wenn Sie meinem Bruder schon morgen den Laufpaß geben - wenn es Ihnen gelingt, ihm über die heutige Nacht hinwegzuhelfen, dann ist es die Sache schon wert."

„Die heutige Nacht?" Mich beschlich das bedrückende Gefühl, wieder einmal nicht alles zu wissen, was es zu wissen gab.

„Zufällig weiß ich, daß die Schlampe vorhat, heute Nacht ihre Verlobung bekanntzugeben. In dem Club, in den sie immer alle gehen", erklärte Janice.

Na ja, diesmal war es wohl eher eine Nebensache gewesen, von der ich nichts gewußt hatte. „Dann heiratet Sie den ... Mann, mit dem sie sich eingelassen hat, als sie Alcide verließ?" (Mir war es gerade so eben noch gelungen, das Wort 'Gestaltwandler' nicht zu sagen.)

„Reichlich überstürzt, was? Was kann an dem Typen schon dran sein, was mein Bruder nicht hat?"

„Da fällt mir spontan nichts ein!" sagte ich im Brustton der Überzeugung, was mir ein strahlendes Lächeln von Janice eintrug. Ganz bestimmt war auch ihr Bruder nicht ohne jeglichen Fehl und Tadel - vielleicht erschien er immer in seiner Unterwäsche zum Abendbrot oder bohrte in aller Öffentlichkeit in der Nase.

„Sagen Sie Bescheid, wenn Ihnen doch etwas einfällt. Nun wollen wir aber mal." Geschäftig sah Janice sich um. „Corinne übernimmt Maniküre und Pediküre, Jarvis Ihre Frisur. Sie haben wirklich wunderschönes Haar!"

„Alles mein eigenes und reine Natur", gestand ich.

„Sie färben nicht?"

„Nein."

„Dann sind Sie ja wirklich ein Glückspilz." Begeistert schüttelte Janice den Kopf.

Mit dieser Meinung stand sie aber ziemlich allein da!

Janice selbst arbeitete gerade an einer Kundin, deren Silberhaar und Goldschmuck auf ein Leben mit Privilegien hindeutete. Diese Frau musterte mich mit kalten Augen und gleichgültiger Miene, während Janice ihren Angestellten im Maschinengewehrtempo Anweisungen erteilte, um sich gleich darauf wieder der Dame mit dem großen Geld zuzuwenden.

Ich war noch nie in meinem Leben so verwöhnt worden. Noch dazu war alles, wirklich alles, was sie hier mit mir anstellten, völlig neu für mich. Corinne (Maniküre und Pediküre), die so rund und saftig war wie eins der Würstchen, das ich an diesem Morgen gebraten hatte, lackierte mir Fuß- und Fingernägel schreiend rot, passend zu dem Kleid, das ich am Abend tragen wollte. Jarvis, der einzige Mann im Laden, besaß Finger, die sich so leicht und schnell bewegen konnten wie Schmetterlinge. Er war dünn wie ein Grashalm, sein Haar platinblond aus der Tube. Während er mir die Haare wusch und dann auf Lockenwickler drehte, schnatterte er ununterbrochen fröhlich auf mich ein. Dann machte er es mir unter der Trockenhaube bequem. Nur einen Stuhl von der reichen Dame entfernt saß ich dann dort, und man behandelte mich ebenso aufmerksam wie sie. Ich erhielt eine Ausgabe der Zeitschrift People, in der ich blättern konnte, und Corinne brachte mir eine Cola. Wie schön es war, von Menschen umgeben zu sein, die mich alle förmlich beknieten, mich doch bitte ganz entspannt und wohl zu fühlen!

Als die Uhr an der Trockenhaube dann endlich verkündete, meine Haare seien trocken, fühlte ich mich fast schon geröstet. Jarvis holte mich unter der Haube hervor, um mich wieder auf dem Stuhl in seinem Arbeitsbereich zu plazieren. Nachdem er sich mit Janice beraten hatte, schnappte er sich den heißen Lockenstab, der in einer Halterung an der Wand hing und machte sich mit äußerster Akribie daran, mein Haar Strähne für Strähne zu offenen Locken zu drehen, die mir den Rücken hinabrannen. Danach sah ich umwerfend aus. Es macht glücklich, wenn man umwerfend aussieht. Seit Bills Verschwinden hatte ich mich nicht mehr so gut gefühlt.

Janice nutzte jede freie Minute, um zu mir zu kommen und ein wenig mit mir zu plaudern. Ich ertappte mich dabei, daß ich fast schon vergaß, daß ich ja gar nicht wirklich Alcides neue Freundin war, daß ich ja gar nicht wirklich unter Umständen sogar Janices Schwägerin würde werden können. Es geschah wahrlich nicht oft, daß mich jemand so warmherzig aufnahm und akzeptierte.

Ich verspürte den dringenden Wunsch, mich irgendwie für diese liebenswürdige Behandlung zu revanchieren, sollte sich je Gelegenheit dazu bieten - als eine solche Gelegenheit sich auch bereits bot. Jarvis' Arbeitsplatz war genauso angeordnet wie der Janices, nur spiegelverkehrt, so daß ich Rücken an Rücken mit der vornehmen Kundin saß, an der Janice arbeitete. Als ich dann einmal kurz mir selbst überlassen war, weil Jarvis einen bestimmten Haarfestiger holen wollte, den ich seiner Meinung nach einmal ausprobieren sollte, beobachtete ich (im Spiegel), wie Janice ihre Ohrringe aus den Ohren löste, um sie in einer kleinen Porzellanschale zu deponieren. Was danach geschah, hätte ich vielleicht gar nicht mitbekommen, hätte ich nicht im Kopf der reichen Dame einen ganz klaren, habgierigen Gedanken aufblitzen 'sehen', ein einfaches, aber aufschlußreiches: „Aha!". Dann entfernte sich Janice, um ein Handtuch zu holen, und ich konnte im Spiegel mitverfolgen, wie die silberhaarige Kundin mit einer geschickten Handbewegung die Ohrringe von der Schale fegte und in ihre Jackentasche steckte, während Janice ihr den Rücken zugewandt hielt.

Als ich dann fertig frisiert war, hatte ich mir genau zurechtgelegt, wie ich mit der Sache umgehen würde. Ich wartete nur noch darauf, mich von Jarvis verabschieden zu können, der gerade telefonierte, und zwar mit seiner Mutter, wie ich den Bildern in seinem Kopf entnahm. Nachdem ich mich bei ihm bedankt hatte, glitt ich von meinem Vinylstuhl und trat hinüber zu der reichen Dame, die gerade damit beschäftigt war, einen Scheck für Janice auszustellen.

„Entschuldigen Sie", sagte ich, das Gesicht zu einem strahlenden Lächeln verzogen. Janice wirkte durch mein Auftauchen leicht verwirrt, die elegante Frau starrte mich hochnäsig an. Diese Kundin ließ eine Menge Geld hier im Salon; Janice wollte sie bestimmt höchst ungern verlieren. „Sie haben einen kleinen Klecks Gel da unten auf der Jacke", teilte ich der Dame mit. „Das habe ich im Handumdrehen wieder draußen, wenn Sie die Jacke rasch einmal ablegen."

Das konnte sie nun wirklich schlecht ablehnen. Auch hielt ich die Jacke schon an den Schulternähten und zog sanft daran. Ganz automatisch half sie mir, sich das rotgrün karierte Jackett über die Arme zu streifen. Ich verschwand damit hinter dem Vorhang, der die Waschbecken für die Haarwäsche verbarg, wo ich dann ein wenig an einem völlig einwandfreien Stück Stoff herumwischte, um der Sache Glaubwürdigkeit zu verleihen. Natürlich holte ich bei der Gelegenheit auch gleich die Ohrringe aus der Jackentasche und steckte sie ein.

„Sehen Sie? So gut wie neu!" verkündete ich kurz darauf strahlend. Dann half ich der Frau, sich wieder anzuziehen.

„Vielen Dank." Janice schlug einen allzu munteren Ton an. Bestimmt hatte sie mitbekommen, daß irgend etwas nicht stimmte.

„Gern geschehen." Nichts hätte mein Lächeln trüben können.

„Natürlich", äußerte sich nun auch die reiche Frau, wobei nicht ganz klar war, wie sie das meinte. „Bis nächste Woche dann, Janice."

Darauf stolzierte sie auf hohen, klappernden Absätzen zur Tür, ohne sich ein einziges Mal umzusehen. Als sie außer Sichtweite war, griff ich in meine Tasche und streckte nun Janice meine geschlossene Hand hin. Sie streckte daraufhin ebenfalls die Hand aus, ich öffnete die Faust und ließ die Ohrringe in ihre offene Handfläche gleiten.

„Allmächtiger!" stöhnte Janice, wobei sie mit einem Schlag fünf Jahre gealtert schien. „Das hatte ich doch glatt vergessen! Ich habe etwas in ihrer Reichweite liegen lassen."

„Dann macht sie das also immer?"

„Ja! Weswegen wir jetzt auch schon der fünfte Salon sind, den sie in den letzten zehn Jahren mit ihrer Kundschaft beehrt. Die anderen haben ihre Macke immer eine Weile ertragen, aber dann ist jedes Mal etwas passiert, das zu weit ging, so daß es einfach zu viel wurde, um es schlicht zu ignorieren. Dabei ist sie wirklich reich und gebildet. Sie ist anständig erzogen. Ich weiß nicht, warum sie so etwas tut."

Achselzuckend blickten wir einander an: Die Launen der reichen akademischen Oberschicht überstiegen unser Begriffsvermögen. Zwischen uns herrschte einen Moment lang völlige Übereinstimmung. „Ich hoffe, sie bleibt Ihnen als Kundin erhalten", sagte ich dann. „Ich habe versucht, taktvoll vorzugehen."

„Was ich sehr zu schätzen weiß. Aber die Ohrringe zu verlieren hätte mir weit mehr ausgemacht als der Verlust dieser Kundin. Mein Mann hat mir den Schmuck geschenkt. Die Ohrringe kneifen leider immer, wenn ich sie länger getragen habe, und ich habe nicht weiter nachgedacht, als ich sie vorhin herausnahm."

Nun hatte sie sich aber wirklich genug bei mir bedankt, nun reichte es. Also zog ich meinen Mantel an. „Ich werde mich mal auf den Weg machen", sagte ich. „Es war wunderschön, so verwöhnt zu werden. Ich habe es sehr genossen."

„Bedanken Sie sich bei meinem Bruder", antwortete Janice, die mich nun wieder strahlend und unbefangen anlächelte. „Immerhin haben Sie ja auch gerade bezahlt." Bei diesen Worten hielt sie die Ohrringe hoch.

Auch ich lächelte immer noch, als ich aus der Wärme und der freundlichen Atmosphäre des Salons hinaus auf die Straße trat, aber schon bald schwand meine gute Laune wieder. Das Thermometer war gesunken, und der Himmel verfinsterte sich von Minute zu Minute mehr. Ich bewältigte den Rückweg zum Apartmenthaus im Laufschritt. Nach einer ziemlich frösteligen, ungemütlichen Fahrt im quietschenden Fahrstuhl war ich froh, endlich den Schlüssel, den Alcide mir überlassen hatte, ins Schloß der Wohnungstür stecken und in die Wärme treten zu können. Kaum angekommen, knipste ich eine Lampe an und schaltete den Fernseher ein, denn mir war ein wenig nach Gesellschaft zumute. Dann kauerte ich mich auf dem Sofa zusammen und überdachte die Freuden, die der Nachmittag mir beschert hatte. Bald war ich zumindest in Ansätzen aufgetaut, mußte aber zu meinem Bedauern feststellen, daß Alcide wohl den Thermostat der Heizung heruntergedreht hatte: Zwar war es in der Wohnung merklich wärmer als draußen, die Luft war aber dennoch eher kühl als wirklich warm.

Das Geräusch eines Schlüssels, der sich im Schloß drehte, weckte mich aus meinen Tagträumen: Alcide trat ein, unter dem Arm ein Klemmbrett mit Bürounterlagen. Er wirkte müde und mit den Gedanken ganz woanders, aber seine Miene entspannte sich, als er mich dort sitzen und warten sah.

„Janice hat mich schon angerufen und mir erzählt, daß Sie bei ihr im Salon waren", sagte er zur Begrüßung, wobei seine Stimme mit jedem Wort wärmer klang. „Sie hat mich gebeten, mich noch einmal ganz herzlich in ihrem Namen bei Ihnen zu bedanken."

Ich zuckte die Achseln. „Ich weiß meine Frisur und die Nägel auch sehr zu schätzen", sagte ich. „Ich habe das zum ersten Mal gemacht."

„Sie waren noch nie zuvor in einem Schönheitssalon?"

„Meine Großmutter ist von Zeit zu Zeit hingegangen. Mir haben sie dort mal die Haarspitzen gekürzt. Ein einziges Mal."

Er wirkte so verdattert, als hätte ich ihm eben anvertraut, ich hätte noch nie in meinem Leben ein Wasserklosett zu Gesicht bekommen.

Um die aufkommende Peinlichkeit zu überspielen, spreizte ich die Finger, damit Alcide meine Nägel bewundern konnte. Da ich keine allzu langen Nägel hatte haben wollen, hatte Corinne mir, wie sie mir versichert hatte, die kürzesten angefertigt, die sie mir guten Gewissens hatte verpassen können. „Die Fußnägel passen farblich!" teilte ich meinem Gastgeber stolz mit.

„Das will ich sehen!" sagte der.

Daraufhin band ich mir die Schnürsenkel meiner Turnschuhe auf, streifte die Socken von den Füßen und streckte ihm die Füße hin. „Sind die nicht hübsch?" wollte ich wissen.

Alcide betrachtete mich mit einem Blick, der irgendwie komisch war. „Sie sehen phantastisch aus", sagte er dann ganz still.

Ich warf einen Blick auf die Uhr, die auf dem Fernseher stand. „Ich sollte mich wohl lieber fertig machen", sagte ich und fragte mich, wie ich es schaffen sollte, in die Badewanne zu steigen, ohne meine Frisur und die Nägel zu gefährden. Dann gingen mir die Neuigkeiten über Debbie durch den Kopf, die ich am Nachmittag von Janice erfahren hatte. „Sind Sie denn wirklich willens und in der Lage, sich heute noch groß in Schale zu werfen?" wollte ich von Alcide wissen.

„Aber klar doch", erwiderte der munter.

„Ich für meinen Teil werde nämlich Nägel mit Köpfen machen."

Da blickte er interessiert drein. „Wie soll ich das denn verstehen?"

„Warten Sie ab, Sie bekommen es schon zu sehen!" Alcide war ein netter Mann mit einer bezaubernden Familie, der mir gerade einen außerordentlich wichtigen Gefallen tat. Gut - man hatte ihn gezwungen, mir diesen Gefallen zu tun. Aber unter den gegebenen Umständen verhielt er sich mir gegenüber extrem liebeswürdig.

* * *

Gut eine Stunde später hatte ich meinen großen Auftritt: Alcide stand in der Küche und goß sich gerade ein Glas Cola ein, als ich aus meinem Zimmer trat. Bei meinem Anblick vergaß er alles, und das Glas lief über, weil er nichts anderes tun konnte, als mich anzustarren.

Das war ja nun wirklich ein echtes Kompliment.

Alcide machte sich sofort daran, den Küchentresen mit Krepp-Papier abzuwischen, wobei er mir immer wieder verstohlene Seitenblicke zuwarf. Ganz langsam drehte ich mich einmal um die eigene Achse.

Ich war ganz in Rot, Schreiendrot, das Rot von Feuerwehrwagen. Einen Gutteil des Abends würde ich bitterlich frieren müssen, denn mein Kleid war schulterfrei, auch wenn es Ärmel gab, die man allerdings unabhängig vom Kleid überstreifte. Das Kleid besaß hinten einen Reißverschluß und war unterhalb der Hüfte ausgestellt - das, was unterhalb der Hüfte davon noch übrig war. In einem solchen Gewand hätte mich meine Oma nicht aus dem Haus gelassen, sie hätte sich notfalls über die Türschwelle geworfen, um das zu verhindern. Ich war verliebt in dieses Kleid. Ich hatte es bei Taras Togs als absolutes Schnäppchen erworben, wobei ich den Verdacht nicht loswurde, daß Tara es extra für mich beiseite gelegt hatte. Ein unwiderstehlicher und äußerst unkluger Impuls hatte mich dazu verleitet, mir auch gleich noch den passenden Lippenstift und entsprechende Schuhe zuzulegen - nun waren, dank Janice, auch noch die Nägel hinzugekommen. Ich besaß einen grauschwarzen Seidenschal mit Fransen, den ich umlegen konnte und ein winzig kleines, perlenbesticktes Handtäschchen, das genau zu den Schuhen paßte.

„Bitte noch einmal drehen!" bat Alcide ein wenig heiser. Er trug einen konventionellen schwarzen Anzug, dazu ein weißes Hemd und eine in Grüntönen gemusterte Krawatte, die zu seinen Augen paßte.

Offenbar war nichts und niemand in der Lage, sein Haar zu bändigen. Vielleicht hätte er statt meiner den Schönheitssalon seiner Schwester aufsuchen sollen! Ich fand, er sah hübsch und ein wenig derb aus, wobei hübsch vielleicht noch nicht einmal das treffende Wort war. Attraktiv, ja, das kam schon eher hin.

Langsam drehte ich mich noch einmal um die eigene Achse. Ich besaß nicht genug Selbstvertrauen, um verhindern zu können, daß meine Augenbrauen fragend in die Höhe schossen, als ich die Vorstellung beendet hatte.

„Bei Ihrem Anblick läuft einem das Wasser im Munde zusammen", verkündete Alcide, ohne mit der Wimper zu zucken. Daraufhin stieß ich die Luft aus, die ich angehalten hatte, ohne es überhaupt zu bemerken.

„Danke", sagte ich höflich, krampfhaft bemüht, nicht über beide Backen zu strahlen wie ein tumbes Honigkuchenpferd.

Der Einstieg in die Fahrerkabine von Alcides Pick-up fiel mir nicht leicht: Mein Kleid war derart kurz, die Hacken meiner Schuhe derart hoch, daß es die Sache ziemlich erschwerte. Ich schaffte es erst, nachdem Alcide mir einen wohlplazierten Schubs versetzt hatte.

Unser Ziel war ein kleines Lokal an der Ecke Capitol/Roach Road. Das Mayflower Cafe wirkte von außen wirklich nicht besonders beeindruckend, entpuppte sich dann aber als ebenso interessant, wie Alcide prophezeit hatte. Ein paar der Gäste an den Tischen, die auf dem schwarzgekachelten Fußboden verteilt standen, hatte sich ebenso herausgeputzt wie Alcide und ich, andere trugen Flanellhemd und Jeans. Manche hatten ihren eigenen Wein oder härtere Getränke mitgebracht. Ich war froh, daß weder mein Begleiter noch ich tranken. Alcide bestellte sich nur ein Bier. Ich trank Eistee. Das Essen war wirklich gut, nichts Hochgestochenes. Unser Abendessen zog sich lange hin und war sehr interessant. Viele Leute im Lokal kannten Alcide und kamen an unseren Tisch, um ihn zu begrüßen und herauszufinden, wer ich war. Von unseren Besuchern hatten ein paar etwas mit der Landesregierung zu tun, andere waren, wie Alcide selbst, im Baugewerbe tätig und wieder andere schienen Freunde von Alcides Vater zu sein.

Bei einigen unserer Besucher handelte es sich nicht gerade um gesetzestreue Bürger. Ich mag ja mein ganzes Leben in Bon Temps verbracht haben, aber einen Ganoven erkenne ich auf den ersten Blick, wenn ich mitbekomme, was sich in seinem Hirn abspielt. Ich will damit nicht sagen, daß diese Leute darüber nachdachten, wie sie jemanden umlegen oder irgendwelche Senatoren bestechen könnten oder daß sie irgend etwas anderes derart Spezifisches planten. Ihre Gedanken waren einfach von Gier beherrscht - sie gierten nach Geld, gierten nach mir und einer gierte auch nach Alcide (was der, wie ich genau sehen konnte, gar nicht mitbekam).

Aber am meisten gierten all diese Männer, aber auch wirklich alle, nach Macht. Ich nehme an, in der Hauptstadt eines US-Bundesstaates stellt sich diese Gier unausweichlich ein, auch wenn es sich um die Hauptstadt eines derart von Armut geplagten Bundesstaates handelt, wie Mississippi einer ist.

Die Frauen, die zu den gierigsten Männern gehörten, waren fast alle gut zurechtgemacht und gepflegt und sehr teuer gekleidet. Aber an diesem Abend war ich durchaus in der Lage, es mit jeder einzelnen von ihnen aufzunehmen, weswegen ich den Kopf stolz hocherhoben trug. Eine der Frauen fand, ich sähe aus wie eine Edelnutte - ich beschloß, dies als Kompliment zu nehmen, zumindest in jener einen Nacht. Immerhin hielt sie mich für eine teure Hure. Eine andere Frau, Bankerin, kannte Debbie, Alcides Exfreundin, weswegen sie mich ganz genau von Kopf bis Fuß begutachtete, weil sie der Meinung war, Debbie würde sich über eine detaillierte Beschreibung meiner Person freuen.

Keiner dieser Menschen wußte natürlich auch nur das geringste über mich. Es war wunderbar, unter Leuten zu sein, die weder meine Herkunft noch meine Erziehung noch meinen Beruf und meine Fähigkeiten kannten. Ich war fest entschlossen, diese Situation in vollen Zügen zu genießen und auszukosten und konzentrierte mich ganz darauf, nicht zu reden, es sei denn, ich wurde direkt angesprochen. Weiterhin war ich tunlichst darauf bedacht, mein kostbares Kleid nicht zu bekleckern und mich auf meine guten Manieren zu besinnen - die Tischmanieren wie die gesellschaftlichen. So sehr mir die ganze Sache nämlich Spaß machte: Es wäre doch schade gewesen, Alcide in Verlegenheit zu bringen, wo ich doch nur so kurze Zeit Teil seines Lebens sein würde.

Alcide hatte sich die Rechnung geschnappt, ehe ich überhaupt Gelegenheit erhielt, die Hand danach auszustrecken und knurrte mich an, als ich den Mund aufmachte, um gegen sein Verhalten zu protestieren. Letztlich gab ich dann mit einem knappen Nicken nach. Ich war nach diesem kurzen stummen Streit froh mitzubekommen, daß Alcide ein großzügiges Trinkgeld gab. Dadurch stieg er ehrlich gesagt erheblich in meiner Achtung. Um noch ehrlicher zu sein, ich schätzte den Mann bereits mehr, als überhaupt gut war. Dabei gab ich wirklich acht wie ein Schießhund, um irgend etwas Negatives an ihm entdecken zu können. Als wir nun wieder in den Pick-up kletterten, half er meinem Einstieg kräftiger nach als zuvor, und ich hätte schwören können, daß ihm die Sache Spaß machte. Ansonsten waren wir beide ziemlich ruhig und nachdenklich.

„Sie waren recht schweigsam beim Abendbrot", sagte er dann. „Haben Sie sich nicht gut amüsiert?"

„Doch, es hat mir sehr gefallen. Ich fand es nur nicht an der Zeit, meine Meinung zu bestimmten Dingen allzu deutlich kundzutun."

„Wie fanden Sie O'Malley?" O'Malley, ein Mann von Anfang sechzig mit dicken, stahlgrauen Brauen, hatte bestimmt geschlagene fünf Minuten neben unserem Tisch gestanden und sich mit Alcide unterhalten, wobei er immer wieder verstohlen auf meinen Busen geschielt hatte.

„Meiner Meinung nach plant er, Sie nach Strich und Faden über den Tisch zu ziehen."

Noch stand der Wagen, und das war auch gut so. Alcide schaltete die Innenbeleuchtung der Fahrerkabine ein und starrte mich an, die Miene ruhig, aber erzürnt. „Was soll das heißen?" fragte er.

„Er wird Sie bei der nächsten Ausschreibung ganz einfach unterbieten können, weil er eine der Frauen aus Ihrem Büro bestochen hat. Thomasina oder so? Von ihr kennt er die Gebote, die Sie abgegeben haben, und dann ..."

„Was?"

Ich war froh, daß die Heizung auf Hochtouren lief. Wenn Werwölfe wütend werden, spürt man das in der Luft, die einen umgibt. Da hatte ich nun so sehr gehofft, mich Alcide gegenüber nicht zu erkennen geben zu müssen. Es war so schön gewesen, unerkannt zu sein.

„Ich meinte Sie ... was sind Sie?" fragte er noch einmal, um diesmal ganz sicher zu gehen, daß ich verstanden hatte, was er meinte.

„Telepathin", murmelte ich.

Daraufhin herrschte erst einmal Schweigen. Alcide mußte verdauen, was er da gerade gehört hatte.

„Haben Sie wenigstens auch etwas Gutes zu hören bekommen?" fragte er dann.

„Klar doch! Mrs. O'Malley will Ihnen an die Wäsche", antwortete ich strahlend, während ich mich zusammenreißen mußte, um nicht auch noch nervös an meinen Haaren zu zupfen.

„Das soll eine gute Nachricht sein?"

„Vergleichsweise schon, denke ich", gab ich zurück. „Immerhin ist es angenehmer, körperlich vernascht zu werden als ökonomisch." Mrs. O'Malley war mindestens zwanzig Jahre jünger als ihr Mann und die gepflegteste Person, die ich in meinem Leben je gesehen hatte. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß sie selbst ihre Augenbrauen jeden Abend hundertmal bürstete.

Alcide schüttelte den Kopf. Was er dachte, hätte ich nicht sagen können, denn ich erhielt kein klares Bild. „Was ist mit mir?" wollte er wissen. „Können Sie mich lesen?"

Darum ging es also. „Gestaltwandler sind schwierig", erklärte ich. „Bei denen kann ich keine klaren Gedanken aufschnappen. Ich spüre eher generelle Stimmungen, Absichten, derlei Dinge. Ich nehme an, wenn Sie Ihre Gedanken direkt an mich richteten, dann würde ich sie sicher verstehen. Wollen wir es einmal probieren? Denken Sie doch bitte etwas, direkt an mich gerichtet."

Das Geschirr in meiner Wohnung hat am Rand ein Muster aus gelben Rosen.

„Rosen würde ich dazu nicht sagen", erwiderte ich zerstreut. „Wenn Sie mich fragen, dann sind es eher Zinnien."

Da bemerkte ich, wie Alcide sich zurückzog, ängstlich wurde. Ich seufzte. Es war immer wieder dieselbe Leier, immer dasselbe Lied. Bei ihm tat es mir weh, denn ich hatte ihn gern. „Aber Ihre Gedankengänge einfach so auszumachen ist nicht möglich", sagte ich. „Das ist ein zu verschwommener Bereich. Bei Werwölfen und Wandlern kann ich da nicht ran, zumindest nicht immer und zuverlässig."(Andere Übernatürliche dagegen waren relativ einfach zu lesen, aber ich fand es nicht notwendig, das jetzt zu erwähnen.)

„Gott sei Dank."

„Ach ja!" meinte ich betont spitz, um die Stimmung etwas aufzulockern. „Was haben Sie denn zu befürchten? Was gäbe es denn zu erfahren bei Ihnen?"

Da grinste Alcide mich doch wahrhaftig an, ehe er die Innenbeleuchtung wieder ausschaltete, um aus der Parklücke zu fahren. „Das ist doch egal", erklärte er, wobei es schien, als sei er mit den Gedanken ganz woanders. „Ganz egal. Das also haben Sie heute Abend vor? Um so Hinweise aufzuschnappen, wo Ihr Vampir sein könnte?"

„Richtig. Die Gedanken von Vampiren kann ich nicht lesen. Vampire scheinen keine Hirnströme auszusenden. So erkläre ich mir jedenfalls das, was ich tue: Ich fange Hirnströme auf. Ich weiß nämlich nicht genau, wie ich das tue, was ich nun einmal tun kann und ob es irgendeine wissenschaftliche Bezeichnung dafür gibt." Gelogen war die Sache mit den Vampiren nicht, denn in einem untoten Kopf konnte ich wirklich nicht lesen - abgesehen von kleinen Einblicken, die in Sekundenschnelle an mir vorbeischossen, wie es von Zeit zu Zeit geschah. Diese kleinen Einblicke zählten nicht wirklich, und es durfte auch um Himmels willen niemand davon erfahren. Wenn die Vampire auf die Idee kämen, ich sei in der Lage, ihre Gedanken zu lesen, dann könnte selbst Bill mich nicht mehr retten. Falls er es denn überhaupt noch versuchen würde.

Immer, wenn ich kurze Zeit vergessen hatte, wie grundlegend anders meine Beziehung zu Bill geworden war, tat die Erinnerung an unser Zerwürfnis wieder so weh, als seien die Wunden ganz frisch.

„Was sieht Ihr Plan für heute Abend also vor?" wollte Alcide wissen.

„Ich werde mein Augenmerk auf Menschen richten, die mit örtlichen Vampiren zusammen sind oder für sie arbeiten. Bill wurde von Menschen entführt, nicht von Vampiren. Sie haben ihn sich am Tage geschnappt. So hat man es Eric zumindest mitgeteilt."

„Danach hätte ich mich schon viel früher erkundigen müssen", sagte Alcide, mehr zu sich selbst, als an mich gerichtet. „Sie sollten mir die näheren Umstände der ganzen Affäre schildern, für den Fall, daß mir etwas zu Ohren kommt - und damit meine ich, wirklich zu Ohren!"

Während wir nun also an einem Gebäude vorbeifuhren, bei dem es sich, wie Alcide mir erklärte, um den alten Bahnhof von Jackson handelte, gab ich ihm ein kurzes Resümee all dessen, was ich wußte. Ich erhaschte noch einen kurzen Blick auf ein Straßenschild, auf dem 'Armite' stand, dann fuhren wir unter einer Markise vor, die sich über ein menschenleeres Stück Bürgersteig am Rande der Innenstadt erstreckte. Der Bereich direkt unter dieser Markise war in einem sehr kalten Licht hell erleuchtet. Irgendwie erschien mir dieses kleine Stück Bürgersteig unheimlich, unheilverkündend, was auch daran liegen mochte, daß der Rest der Straße im Dunkeln lag. Jedenfalls beschlich mich ein ganz klammes Gefühl im Nacken, und ich verspürte das dringende Bedürfnis, dies spezielle Stück Gehsteig lieber zu meiden.

Streng wies ich mich an, derartige völlig unangebrachte Gefühle gefälligst hintanzustellen. Immerhin handelte es sich hier letztlich lediglich um einen Streifen Zement. Nirgends waren wilde Bestien in Sicht, und wenn sich abends um fünf die Büros in der Innenstadt von Jackson geleert hatten, herrschte dort nirgendwo mehr reges Treiben, selbst unter normalen Umständen nicht. Ich hätte wetten können, daß in dieser kalten Dezembernacht die meisten Bürgersteige im Bundesstaat Mississippi ziemlich verwaist dalagen.

Aber es lag wirklich etwas Unheilverkündendes in der Luft unter der Markise, eine Art lauernde Wachsamkeit, gepaart mit einem Schuß Bosheit. Wir konnten die Augen nicht sehen, die uns beobachteten, aber beobachtet wurden wir. Alcide kletterte aus dem Pick-up und trat an die Beifahrertür, um mir beim Aussteigen behilflich zu sein, wobei ich bemerkte, daß er die Wagenschlüssel im Zündschloß hatte steckenlassen. Ich drehte mich so, daß meine Beine aus dem Wagen baumelten und legte Alcide die Hände auf die Schultern. Meine lange Seidenstola hatte ich fest um mich geschlungen; ihre Fransen zitterten leicht, als ein kalter Windstoß den Bürgersteig entlangfuhr. Ich stieß mich ab, Alcide hob mich an, und dann stand ich auf dem Boden.

Woraufhin der Pick-up davonfuhr.

Ich warf Alcide einen raschen Seitenblick zu, um festzustellen, wie er das aufnahm, aber er wirkte nicht sonderlich beeindruckt. „Wenn Fahrzeuge direkt vor dem Haus parkten, würde das die Aufmerksamkeit der Normalbevölkerung auf den Club lenken", erklärte er, derweil seine Stimme in der unendlichen Stille, die das grell beleuchtete Stück Bürgersteig umgab, seltsam gedämpft klang.

„Dürfen denn da normale Leute rein?" fragte ich und wies mit dem Kinn auf eine einzelne, schmale Metalltür, die ungefähr so wenig einladend aussah, wie eine Tür nur aussehen kann. Nirgends stand ein Name, auch auf dem Haus selbst nicht, nirgendwo Reklame, noch nicht einmal Weihnachtsschmuck. (Natürlich begehen Vampire kaum einen Feiertag, außer Halloween. Daß sich Samhain, das uralte keltische Fest des Herbstmonds, nun in Putz und Tand hüllt, finden die Untoten klasse. Von daher ist Halloween in ihren Kreisen äußerst beliebt und wird weltweit in der gesamten Vampirgemeinde gefeiert.)

„Klar doch - wenn sie bereit sind, für einen Getränkebon fünfundzwanzig Dollar hinzublättern und sich die schlimmsten Drinks servieren zu lassen, die im Umkreis von fünf Bundesstaaten gemixt werden und die ihnen, so langsam das irgend geht, von den unhöflichsten überhaupt nur denkbaren Kellnern vorgesetzt werden, dann schon."

Ich versuchte, ein Lächeln zu verbergen, denn dies war kein Ort, an dem man lächelte. „Was, wenn die Leute bereit sind, das hinzunehmen?"

„Es wird ihnen keine Bühnenshow geboten, niemand redet mit ihnen, und wenn sie das auch noch ertragen, dann finden sie sich plötzlich draußen auf dem Bürgersteig bei ihren Autos wieder und können sich nicht erinnern, wie sie dahin gekommen sind."

Mit diesen Worten langte Alcide nach dem Griff, der sich in der Metalltür befand, und zog daran. Das Unheil, das hier so drohend die Luft schwängerte, schien ihm nicht das geringste auszumachen.

Wir gelangten in einen winzigen Flur, der nach nur einem Meter vor einer weiteren Tür endete. Auch hier wußte ich wieder genau, daß wir beobachtet wurden, selbst wenn ich nirgendwo eine Kamera entdecken konnte und auch die Tür keinen Spion aufwies.

„Wie heißt der Club?" erkundigte ich mich flüsternd.

„Der Vamp, der hier Besitzer ist, hat ihn Josephine's getauft", erwiderte Alcide ebenso leise. „Aber bei den Werwölfen redet man nur vom Club Dead."

Da war ich fast versucht zu lachen, was ich jedoch sein ließ, denn in genau diesem Moment öffnete sich die zweite, die innere Tür.

Der Türsteher war ein Goblin.

Zwar hatte ich noch nie in meinem Leben einen Kobold zu Gesicht bekommen, aber 'Goblin' war das Wort, das mir bei seinem Anblick durch den Kopf schoß, ganz so, als befände sich hinter meinen Augenlidern ein Wörterbuch für das Übernatürliche. Der Goblin war sehr klein und wirkte äußerst mißgelaunt. Er hatte ein wulstiges Gesicht und breite Hände. In seinen Augen glommen Feuer und Bosheit. Er funkelte uns böse an, als sei Kundschaft das Letzte, was er in diesem Moment brauchen könne.

Wie ein normaler Sterblicher es über sich brachte, auch nur einen Fuß ins Josephine's zu setzen, trotz des Bürgersteigs vorm Lokal, auf dem es ganz klar spukte, trotz der Fahrzeuge, die ganz von allein verschwanden und trotz des Goblins an der Tür, war mir schleierhaft. Manche Leute wollen scheinbar, daß man sie umbringt.

„Mr. Herveaux", begrüßte uns der Goblin langsam mit tiefer, knurrender Stimme. „Schön, Sie wieder einmal zu sehen. Ihre Begleiterin ..."

„Miß Stackhouse", stellt Alcide mich vor. „Sookie, darf ich Sie mit Mr. Hob bekannt machen?" Der Goblin musterte mich prüfend aus glühenden Augen. Dabei schien er beunruhigt, als gelinge es ihm nicht recht, mich in eine passende Schublade zu stecken. Aber nach knapp einer Sekunde trat er beiseite, um uns einzulassen.

Noch war nicht viel los im Josephine's . Für die Kundschaft, die hier für gewöhnlich verkehrte, war es natürlich noch viel zu früh. Nach der unheimlichen Begrüßung draußen glich der ausgedehnte Raum, in den wir nun gelangten, enttäuschend jeder anderen Bar. Ein großer, quadratisch angeordneter Tresen beherrschte die Mitte des Raums, darin eine Lücke, durch die die Kellner aus- und eingehen konnten. Die Lücke war mit einem Brett verschlossen, das sich hochklappen ließ. Unwillkürlich fragte ich mich, ob der Besitzer dieses Etablissements wohl alte Wiederholungen der Fernsehserie Cheers konsultiert hatte, ehe er die Bar einrichtete. Die Gläser hier hingen jedenfalls mit der Öffnung nach unten in einem Holzgestell, es gab Seidenblumen auf den Tischen, leise Musik und gedämpftes Licht. Rund um den Tresen hatte man in gleichmäßigen Abständen polierte Barhocker angeordnet. Links vom Tresen gab es eine kleine Tanzfläche, noch weiter links eine winzige Bühne für eine Band oder einen DJ. Um die restlichen drei Seiten des Rechtecks verteilt standen die üblichen kleinen Tische, von denen im Augenblick etwa die Hälfte besetzt war.

Als nächstes entdeckte ich an der Wand die Hausordnung. Man hatte die Regeln so vieldeutig formuliert, daß jeder Stammgast sie sofort verstehen konnte, nicht jedoch ein Tourist, der sich zufällig hierher verirrte. „Das Wandeln im Lokal ist streng untersagt", lautete eine der Regeln. Damit war gemeint, daß Werwölfe und Gestaltwandler sich hier nicht von Menschen in Tiere verwandeln durften - nun, das konnte ich nachvollziehen. „Bisse aller Art verboten", lautete eine weitere Regel, „Lebende Snacks werden nicht geduldet", eine dritte.

Igitt.

Die Vampire saßen über die ganze Bar verteilt, manche in Gesellschaft von ihresgleichen, manche in Gesellschaft von Menschen. Eine Gruppe von Wandlern, die sich sehr zu amüsieren schienen und bei denen es hoch herging, saß in der südlichen Ecke. Dort hatte man mehrere Tische zusammengeschoben, um Platz für die Gesellschaft zu schaffen, deren Mittelpunkt offenbar eine große, junge Frau bildete. Die Frau hatte ein langes, schmales Gesicht, glänzendes, kurzes schwarzes Haar und war sportlich gebaut. Sie hatte sich um einen quadratischen Mann herumdrapiert, der etwa dasselbe Alter zu haben schien wie sie - ich schätzte die beiden auf etwa achtundzwanzig. Der Mann hatte runde Augen und eine platte Nase. Sein Haar wirkte so zart und weich, wie ich es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte - fast wie Babyhaar, noch dazu hellblond, so hell, daß es schon fast weiß wirkte. Ich fragte mich, ob das wohl die Verlobungsfeier sein mochte und ob Alcide gewußt hatte, daß diese Party gerade hier stattfand. Die Aufmerksamkeit meines Begleiters galt im Moment nämlich eindeutig und ganz und gar der großen, munteren Gruppe.

Ich sah mir natürlich als erstes genau an, wie die anderen Frauen im Lokal gekleidet waren. Die Vampirinnen und die Frauen, die sich in Begleitung von Vampiren befanden, hatten sich ungefähr ebenso in Schale geworfen wie ich. Die Wandlerinnen gaben sich legerer. So trug die Schwarzhaarige, die ich für Debbie hielt, eine goldene Seidenbluse, dazu eine hautenge braune Lederhose und Stiefel. Sie lachte gerade über einen Spruch des blonden Mannes an ihrer Seite und ich spürte, wie Alcides Arm, auf den ich die Hand gelegt hatte, unter meinen Fingern ganz steif wurde. Ja, das war Debbie, die Ex-Freundin! Die schien sich nur noch blendender zu amüsieren, seit sie mitbekommen hatte, daß Alcide in die Bar getreten war.

Was für eine heuchlerische Tussi! Um zu diesem Urteil zu gelangen, hatte ich nicht länger gebraucht als die Zeit, die man benötigt, um mit dem Finger zu schnippen. Ich beschloß auf der Stelle, mich entsprechend zu benehmen. Hob, der Goblin führte uns an einen freien Tisch in Sichtweite der munter feiernden Gesellschaft und schob mir einen Stuhl zurecht. Ich nickte höflich und schälte mich aus meiner Stola, die ich sorgfältig zusammenfaltete und auf einen leeren Stuhl legte. Alcide nahm rechts von mir Platz, mit dem Rücken zu den lautstark feiernden Wandlern.

Dann nahte eine klapperdürre Vampirdame, um unsere Bestellung aufzunehmen. Mit einem Nicken erkundigte sich Alcide nach meinen Wünschen. „Einen Champagnercocktail!" bat ich, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ein Champagnercocktail schmeckt. Ich hatte mir nie die Mühe gemacht, mir im Merlottes selbst einen zu mixen, aber in einer Bar, in der jemand anderes zuständig war, dachte ich, ich könnte es durchaus einmal damit probieren. Alcide bestellte ein Heineken. Da Debbie oft in unsere Richtung zu schielen schien, beugte ich mich vor und strich Alcide eine schwarze Locke aus der Stirn. Der sah mich verwundert an, was Debbie aber natürlich nicht sehen konnte.

„Sookie?" fragte mein Begleiter leicht verunsichert.

Ich strahlte ihn an - aber nicht mit meinem verkrampften, nervösen Lächeln, denn zur Abwechslung war ich einmal überhaupt nicht nervös. Dank Bill setzte ich inzwischen einiges Vertrauen in meine körperlichen Reize. „Hallo junger Mann, haben Sie schon vergessen, daß Sie heute Abend mit mir unterwegs sind? Ich benehme mich einfach dementsprechend."

Die dürre Vampirin wählte genau diesen Moment, um unsere Getränke zu bringen, und ich stieß leicht mit meinem Glas an Alcides Bierflasche. „Auf unser Gemeinschaftsunternehmen", sagte ich, woraufhin Alcides Augen aufleuchteten. Dann nippten wir beide vorsichtig an unseren Gläsern.

Der Champagnercocktail schmeckte ausgezeichnet!

„Erzählen Sie mir etwas mehr über Ihre Familie", bat ich, denn es machte mir Spaß, seiner leicht rauhen, tiefen Stimme zu lauschen. Ehe ich anfangen konnte, den Gedanken anderer Gäste zuzuhören, mußte ich erst einmal abwarten, bis sich ein paar mehr Leute in der Bar eingefunden hatten.

Alcide erzählte also gehorsam davon, wie arm sein Vater gewesen war, als er sein Landvermessungsbüro gegründet hatte und wie lange es gedauert hatte, bis er zu einigem Wohlstand gelangt war. Er wollte gerade anfangen, mir von seiner Mutter zu erzählen, als Debbie an unseren Tisch getänzelt kam.

Was nur eine Frage der Zeit gewesen war.

„Hallo Alcide", schnurrte sie. Die markanten Gesichtszüge des Werwolfs gerieten ins Zittern, denn er war nicht in der Lage gewesen, ihr Näherkommen zu registrieren. „Wer ist denn deine neue Freundin? Hast du sie dir für den Abend ausgeborgt?"

„Oh, für deutlich länger als nur für einen Abend!" erwiderte ich an Alcides Stelle laut und deutlich, während ich Debbie mit einem Lächeln anstrahlte, das mindestens ebenso echt war wie deren eigenes.

„Wirklich?" Wenn ihre Brauen noch höher hätten klettern können, dann wären sie glatt im Himmel gelandet.

„Sookie ist eine gute Freundin", sagte Alcide gleichmütig.

„Ach ja?" Debbie hegte deutlich Zweifel daran, daß ihr Ex-Freund die Wahrheit gesagt hatte. „Dabei hast du mir doch vor noch gar nicht langer Zeit versichert, du würdest nie wieder eine 'Freundin' haben wollen, wenn du nicht ... na ja." Sie grinste.

Ich legte meine Hand auf Alcides riesengroße Rechte und warf Debbie einen Blick zu, der allerhand bedeuten mochte.

„Sag mal", meinte diese daraufhin, wobei sich ihre Lippen zu einem skeptischen Grinsen verzogen, „wie gefällt dir Alcides kleines Muttermal?"

Wer hätte denn ahnen können, daß sie bereit war, sich in aller Öffentlichkeit derart fies zu benehmen? Die meisten Frauen versuchen doch, zumindest Fremden gegenüber ein solches Benehmen zu vermeiden! Ekelziege!

Das Muttermal ist auf meiner rechten Pobacke. Es sieht aus wie ein Kaninchen. Wunderbar - Alcide hatte sich an das erinnert, was ich ihm gesagt hatte und seine Gedanken direkt an mich gerichtet.

„Ich liebe Kaninchen", verkündete ich strahlend, während meine Hand an Alcides Rücken hinabglitt, um ganz leicht den oberen Teil seiner rechten Pobacke zu streicheln.

Eine Sekunde lang blitzte die nackte Wut in Debbies Augen auf. Ihre Gefühle waren derart gebündelt, derart konzentriert, daß ihr Kopf weitaus mehr Einblicke bot, als ich es sonst bei Wandlern gewohnt war. Debbie dachte an ihren Verlobten, die Eule, daran, daß er im Heu wahrlich nicht so gut war wie Alcide, dafür aber mit einer Menge Bargeld ausgestattet und, anders als Alcide, bereit, Kinder zu zeugen. Zudem war sie stärker als die Eule, weshalb sie in der Lage sein würde, in der Beziehung zu dominieren.

Eine Dämonin war die Frau nicht (natürlich nicht, das hätte ja bedeutet, dem Verlobten ein allzu kurzes Verfallsdatum zuzuschreiben), aber ein süßer Schatz war sie wahrlich auch nicht.

Noch hätte Debbie die Sache umkehren und die Situation retten können. Aber die Tatsache, daß ich Alcides kleines Geheimnis kannte, machte sie wahnsinnig. Also beging sie einen riesigen Fehler.

Sie musterte mich von oben bis unten mit einem Blick, der einem Löwen das Blut in den Adern hätte gefrieren lassen. „Sieht ganz so aus, als seiest du heute bei Janice im Salon gewesen", sagte sie, die Augen unverwandt auf meine sorglos wippenden Locken und die knallroten Fingernägel gerichtet. Ihr eigenes Haar war asymmetrisch geschnitten, gestufte, dünne Strähnen, was sie aussehen ließ wie einen Hund auf einer exklusiven Hundeschau, einen Windhund etwa. Das schmale Gesicht unterstrich diese Wirkung noch. „Na ja - Janice schickt die Leute alle auf die Straße, daß sie aussehen wie nicht aus diesem Jahrhundert."

Alcide öffnete den Mund, wobei sich seine Muskeln vor Wut versteiften. Ich legte ihm die Hand auf den Arm.

„Wie findest du meine Frisur?" fragte ich sanft und schüttelte ein wenig den Kopf, woraufhin mir die Fülle der blonden Locken sanft über den Rücken strich. Dann nahm ich Alcides Hand und presste sie gegen eine der Strähnen, die mir vorn auf die Brust fielen. He, wer hätte das gedacht? Sookie, das sexy Kätzchen. Ich machte meine Sache gut.

Alcide stockte der Atem. Seine Finger glitten durch mein Haar, wobei die Knöchel mein Schlüsselbein streiften. „Wunderschön", erklärte er mit leicht heiserer Stimmer im Brustton der Überzeugung.

Ich lächelte ihn an.

„Nun glaube ich fast, er hat Sie gemietet, nicht ausgeborgt", sagte Debbie, denn sie hatte sich festgefahren, und nun ließ sich der Fehler nicht wieder gutmachen.

Das war nun allerdings eine fürchterliche Beleidigung, sowohl für Alcide als auch für mich. Nur unter Aufbietung aller Selbstbeherrschung schaffte ich es, mich weiter wie eine Dame zu benehmen. Ich konnte fast körperlich spüren, wie es mein primitives Ich, mein wahres Ich drängte, an die Oberfläche zu gelangen. Wir saßen einfach nur da und starrten die Wandlerin an, die angesichts unseres eisigen Schweigens ganz blaß wurde. „Gut, das hätte ich wohl nicht sagen sollen", meinte sie nervös. „Vergeßt es einfach."

In jedem fairen Faustkampf hätte mich die Frau mühelos schlagen können; immerhin war sie eine Wandlerin. Ich hatte jedoch keineswegs vor, fair zu kämpfen, sollte es dazu kommen.

Ich beugte mich vor, legte ihr einen knallroten Fingernagel auf die Lederhose und sagte: „Trägst wohl heute Kusine Elsie, was?"

Völlig unerwartet brach Alcides daraufhin in schallendes Gelächter aus. Lächelnd sah ich zu, wie er sich vor Lachen krümmte, und als ich mich wieder unserer Besucherin zuwandte, stolzierte diese gerade zu ihrer Gesellschaft zurück, in der es während unseres Schlagabtauschs recht still geworden war.

Ich nahm mir fest vor, an diesem Abend nie allein die Damentoilette aufzusuchen.

Als wir so weit waren, unsere zweite Runde zu bestellen, hatte sich die Bar langsam gefüllt. Ein paar Werwolffreunde Alcides waren in einer großen Gruppe aufgetaucht - Werwölfe waren gern im Rudel unterwegs, das hatte ich schon gelernt. Bei den Wandlern hängt es davon ab, in welches Tier sie sich in der Regel verwandeln. Theoretisch ist es diesen Wesen möglich, vielfältige Formen anzunehmen, aber Sam hatte mir erzählt, daß in der Regel jeder Gestaltwandler eine besondere Affinität zu einer bestimmten Kreatur verspürt und dann deren Gestalt annimmt, wenn er sich wandelt. Manchmal kam es vor, daß sie sich nach dieser Tierart benannten: Werhund, Werfledermaus, Wertiger. Nie einfach Wer, dieser Name war den Wölfen vorbehalten. Werwölfe hielten nicht viel von der Mannigfaltigkeit der Formen, die Gestaltwandler wählen konnten. Sie hielten generell nicht viel von Gestaltwandlern und betrachteten sich selbst, die Werwölfe, als eigentliche Elite der Gestaltwandlerwelt.

Für Wandler hingegen, erklärte mir Alcide nun, waren Werwölfe die harten Burschen der übernatürlichen Szene. „Viele von uns sind im Baugewerbe tätig", fügte er hinzu, bemüht, möglichst fair zu bleiben. „Viele Wer sind Mechaniker, Maurer, Klempner oder Köche."

„Nützliche Berufe", meinte ich.

„Ja", stimmte er zu. „Aber nicht gerade Büroberufe. Es gibt eine Menge Klassenvorurteile und Diskriminierung untereinander, auch wenn wir letztlich alle miteinander kooperieren."

Gerade kam eine kleine Gruppe Wer in Motorradkleidung herein. Sie trugen dieselben Lederwesten mit dem Wolfskopf auf dem Rückenteil, die auch der Mann getragen hatte, von dem ich im Merlottes angegriffen worden war. Ob sie nach ihrem Gefährten suchten? Ob sie inzwischen genauer wußten, nach welcher Frau sie Ausschau zu halten hatten? Was würden sie wohl unternehmen, wenn sie mitbekamen, wer ich war? Die vier Männer bestellten auf einen Schlag mehrere Krüge Bier und saßen dann, die Köpfe dicht zusammengesteckt, die Stühle ganz nah an den Tisch gezogen, eng beieinander und tuschelten geheimnisvoll.

Ein Diskjockey, bei dem es sich um einen Vampir zu handeln schien, fing an, Musik zu machen. Er machte seine Sache gut, die Musik hatte genau die richtige Lautstärke. Man wußte immer, welches Lied gerade gespielt wurde, konnte sich aber dennoch unterhalten.

„Lassen Sie uns tanzen", schlug Alcide mir vor.

Damit hatte ich nicht gerechnet, aber eigentlich war es eine gute Idee: Auf der Tanzfläche wäre ich näher bei den Vampiren und ihren menschlichen Begleitern. Dankend nahm ich an. Alcide hielt mir den Stuhl, als ich aufstand und hielt auf dem Weg zur Tanzfläche meine Hand. Genau in diesem Moment wechselte die Musik von irgendeinem Heavy Metal-Song zu Sarah McLachlans 'Good Enough', ein langsames Lied zwar, aber mit einem deutlichen Beat.

Singen kann ich nicht, aber ich kann tanzen, und wie sich zeigte, war auch Alcide ein guter Tänzer.

Der Vorteil beim Tanzen ist, daß man nicht reden muß, wenn man das Gefühl hat, man habe genug gesagt. Der Nachteil ist, daß man den Körper des Partners übermäßig stark wahrnimmt, wenn man tanzt. Auch vorher schon war mir Alcides tierischer Magnetismus - wenn Sie diesen Begriff bitte entschuldigen wollen - fast schon unangenehm deutlich bewußt gewesen. Nun versetzte mich die Nähe seines Körpers, das Schwingen im selben Rhythmus wie er, in eine Art Trance. Als das Lied zu Ende war, blieben wir beide auf der kleinen Tanzfläche stehen, und ich richtete den Blick zu Boden. Dann fing ein neues Musikstück an, von dem ich beim besten Willen nicht hätte sagen können, was es war, und wir tanzten weiter. So drehte und wendete ich mich im Tanz mit Alcide.

Dann sagte ein muskelbepackter, quadratischer Mann, der auf einem der Barhocker hinter uns thronte zu seinem Begleiter, einem Vampir: „Er redet immer noch nicht. Harvey hat heute angerufen. Sie haben das ganze Haus durchsucht und nichts gefunden."

„Wir sind in der Öffentlichkeit", tadelte der Vampir den Mann in scharfem Ton. Der Vampir war sehr klein - vielleicht war er in einer Zeit Vampir geworden, in der die Männer weitaus zierlicher gewesen waren als heute.

Ich wußte sofort, daß die beiden über Bill sprachen: Der Mensch hatte an Bill gedacht, als er sagte: 'Er redet nicht'. Er war ein extrem guter Sender. Bild und auch Ton aus seinem Kopf kamen sehr klar bei mir an.

Alcide machte Anstalten, mich auf die andere Seite der Tanzfläche zu lenken, aber ich widerstand seinen Vorgaben und blickte bedeutsam in Richtung Tresen, als er mich daraufhin erstaunt ansah. Er schien mich zu verstehen, wirkte aber nicht gerade glücklich darüber.

Ich kann wirklich niemandem raten, gleichzeitig tanzen und die Gedanken eines anderen Menschen lesen zu wollen! Ich war mental völlig verspannt, und mein Herz schlug heftig; die Tatsache, daß ich ein klares Bild von Bill hatte auffangen können, hatte mir einen schweren Schock versetzt. Zum Glück führte mich Alcide unmittelbar darauf zum Barhocker neben dem Vampir, an dessen Begleiter ich Interesse hatte und entschuldigte sich, denn er wollte zur Toilette. Ich versuchte, unbefangen den anderen Tänzern zuzuschauen und den Diskjockey zu beobachten, um den Mann, der links vom Vampir saß und dessen Gedanken ich gründlich erforschen wollte, nur ja nicht direkt anzusehen.

Mein Objekt dachte an Dinge, die er tagsüber getan hatte: Er hatte versucht, jemanden am Einschlafen zu hindern, jemanden, der eigentlich auf alle Fälle hätte schlafen müssen, einen Vampir nämlich. Bill.

Einen Vampir tagsüber wachzuhalten war die schlimmste Art der Folter und ungeheuer schwer zu bewerkstelligen. Vampire unterliegen einem sehr starken Zwang, unmittelbar bei Sonnenaufgang einzuschlafen und wirken dann im Schlaf fast wie tot.

Es mag daran liegen, daß ich vom Land kommen: Daß sich die Vampire, in deren Gewalt Bill sich befand, ganz übler Methoden bedienen könnten, um ihn zum Reden zu bringen, war mir irgendwie nie in den Sinn gekommen. Aber natürlich würden sie nicht einfach herumsitzen und warten, bis Bill nach Reden zumute war, wenn sie dringend Informationen von ihm haben wollten. Wie dumm ich doch war - dumm, dumm, dumm! Das Wissen darum, wie er behandelt wurde, traf mich als heftiger Schmerz bis ins Mark - obwohl ich wußte, daß er mich betrogen hatte, obwohl ich wußte, daß er vorgehabt hatte, mich zugunsten seiner Vampirgeliebten zu verlassen.

Ich war derart in trübsinnige Gedanken versunken, daß ich die Gefahr nicht erkannte, selbst, als sie sich direkt neben mir aufbaute - bis sie mich dann am Arm packte.

Einer der Werwölfe aus der Rockergruppe, ein hünenhafter, dunkelhaariger Mann, sehr schwer und sehr übelriechend, hatte sich neben mir aufgebaut und nach meinem Arm gegrabscht. Er verteilte schmierige Fingerabdrücke auf meinem schönen roten Ärmel, und so versuchte ich sofort, mich seinem Griff zu entziehen.

„Komm doch an unseren Tisch, du süßes Ding du, wir wollen dich kennenlernen", sagte der Mann grinsend. Er trug in jedem Ohr mehrere Ohrringe - was wohl bei Vollmond aus denen werden mochte? Aber mir war gleich klar, daß ich im Moment wichtigere Probleme zu klären hatte, denn der Ausdruck im Gesicht dieses Mannes war nicht mißzuverstehen. So sah kein Mann eine Frau an - es sei denn, sie stünde nur mit BH und Hotpants bekleidet an einer Straßenecke. Der Rocker ging davon aus, daß ich sein Angebot annehmen würde.

„Nein, danke", erwiderte ich höflich, wobei ich das beunruhigende Gefühl hatte, daß dies nicht das Ende vom Lied sein würde. Aber versuchen konnte ich es ja. Ich hatte im Merlottes allerhand Erfahrung mit aufdringlichen Typen sammeln können, allerdings immer mit Rückendeckung. Sam duldet es nicht, wenn seine Angestellten angegrapscht und belästigt werden.

„Aber klar willst du bei uns sitzen, Süße." So schnell ließ sich der Typ nicht entmutigen.

Zum ersten Mal in meinem Leben wünschte ich, Bubba an meiner Seite zu haben.

Offenbar hatte ich mich schon allzusehr daran gewöhnt, daß jeder, der mich schräg anmachte, ein böses Ende fand, und es mochte auch sein, daß ich mich schon zu sehr daran gewöhnt hatte, andere Leute meine Probleme regeln zu lassen.

Einen kurzen Moment lang erwog ich, den Wer zu verschrecken, indem ich seine Gedanken las. Das wäre leicht gewesen - dafür, daß er ein Wer war, stand sein Kopf weit offen. Aber nicht nur waren seine Gedanken langweilig und boten wenig Unerwartetes (nämlich Begierde und Aggression) - wenn seine Gang damit beauftragt war, nach Bills Freundin zu suchen und wenn sie wußten, daß diese Freundin Bardame und Telepathin war und wenn sie dann auf eine Telepathin trafen ...

„Ich will wirklich nicht an Ihren Tisch kommen", erwiderte ich lediglich. „Lassen Sie mich in Ruhe." Mit diesen Worten glitt ich vom Barhocker, um nicht länger in einer Position gefangen zu sein, die mir wenig Bewegungsspielraum bot.

„Da hockst du hier ohne Mann, und wir sind richtige Männer, Schatz!" Mit der freien Hand griff sich der Wer in den Schritt. Himmel! Welch ein Charme! Das machte mich ja richtig heiß. „Wir sorgen schon dafür, daß du es gut hast."

„Sie könnten nicht dafür sorgen, daß ich es gut habe und wenn Sie der Weihnachtsmann persönlich wären!" spuckte ich und trat dem Mann mit voller Wucht auf den Fuß. Das hätte unter Umständen ein wirkungsvoller Schachzug sein können, hätte der Mann nicht Motorradstiefel getragen. Wie die Dinge lagen, kostete es mich lediglich um ein Haar den Absatz meines einen Schuhs. Im stillen verfluchte ich meine künstlichen Nägel, die es mir erschwerten, die Fäuste zu ballen. Ich wollte ihn nämlich mit der Faust auf die Nase hauen. Ein Schlag auf die Nase tut ziemlich weh und würde ihn auf jeden Fall dazu bringen, mich loszulassen.

Der Mann zischte mich an, als mein Schuh seinen Fuß traf, lockerte seinen Griff aber in keiner Weise, sondern packte mich nun auch mit der anderen Hand bei der nackten Schulter, wobei sich seine Finger tief in mein Fleisch gruben.

In der Hoffnung, die Angelegenheit ohne allzu großes Aufsehen bereinigen zu können, hatte ich mich bis dahin ganz ruhig verhalten. Aber nun war der Punkt überschritten, wo wir uns gütlich hätten einigen können. „Loslassen!" schrie ich also und unternahm den heldenhaften Versuch, dem Mann mein Knie in die Eier zu rammen. Dessen Oberschenkel waren nur leider ziemlich dick, und er stand mit geschlossenen Beinen; da war es schwer, richtig zu zielen. Aber immerhin zuckte er zusammen, und wenn seine Nägel mir auch die Schulter zerkratzten, ließ er doch los.

Das mochte teilweise auch daran liegen, daß ihn Alcide von hinten am Kragen gepackt hatte. Dann trat auch Mr. Hob dazwischen, gerade rechtzeitig, denn nun hatten sich die Kumpel des Mannes in Bewegung gesetzt und eilten ihrem Freund zur Hilfe. Scheinbar war der Kobold, der uns eingelassen hatte, auch als Rausschmeißer tätig. Mr. Hob, allem Anschein nach ein kleiner, zierlicher Mann, hatte keinerlei Schwierigkeiten, dem Rocker die Arme um die Taille zu schlingen und ihn mühelos hochzuheben. Der Wer fing daraufhin an zu schreien, und im Lokal stank es plötzlich penetrant nach verbranntem Fleisch. Die klapperdürre Barfrau schaltete einen Hochleistungsventilator ein, der sogleich ganze Arbeit leistete. Die Schreie des Rockers konnten wir aber dennoch alle gut hören: Sie erklangen nun in einem kleinen Flur, den ich vorher gar nicht wahrgenommen hatte. Anscheinend führte er zur Rückseite des Hauses. Nun ertönten ein Poltern, ein Aufschrei und ein Knall - offenbar war die Hintertür der Bar geöffnet und der Übeltäter auf die Straße befördert worden.

Alcide wirbelte herum, um sich den Freunden des Rockers zu stellen. Am ganzen Leibe zitternd stand ich direkt hinter ihm. Die Wunden, die die Nägel des Rockers auf meiner Schulter hinterlassen hatten, bluteten und schrien nach Neosporin, einem Heilmittel, mit dem meine Großmutter all meine Verletzungen zu verarzten pflegte, nachdem ich mich geweigert hatte, weiterhin ihr geliebtes Campho-Phenique zu benutzen. Aber erst einmal mußte jeglicher Gedanke an Erste-Hilfe-Maßnahmen hintan gestellt werden: Wie es aussah, stand uns eine zünftige Schlägerei bevor. Auf der Suche nach einer Waffe sah ich mich hektisch nach allen Seiten um, und mein Blick fiel auf einen Baseballschläger, den die Barfrau, die die ganze Situation aufmerksam im Blick hatte, wohl unter ihrem Tisch hervorgezogen und auf den Tresen gelegt hatte. Ich schnappte mir den Schläger, baute mich neben Alcide auf, brachte mich und meine Waffe in Stellung und harrte der Dinge, die nun kommen mochten. Mein Bruder, dessen Kenntnisse, fürchte ich, auf zahlreiche Kneipenschlägereien zurückgingen, an denen er höchstpersönlich beteiligt gewesen war, hatte mich gelehrt, jeweils immer nur einen Mann aus einer Gruppe aufs Korn zu nehmen, und das tat ich nun auch. Dabei malte ich mir aus, wie ich den Schläger schwingen müßte, um sein Knie zu treffen, das für mich leichter zu erreichen war, als etwa der Kopf des Mannes. Traf ich, dann würde mein Gegner zu Boden gehen, da war ich ganz sicher.

Erst einmal aber trat nun jemand in das Niemandsland, das sich zwischen Alcide und mir und den Wer aufgetan hatte. Es handelte sich um den zierlichen Vampir, der neben dem Menschen gesessen hatte, dessen Hirn die Quelle so unerfreulicher Informationen gewesen war.

Der Mann war inklusive Absätze ungefähr einen Meter sechzig groß und zart gebaut. Meiner Einschätzung nach war er Anfang zwanzig gewesen, als er starb. Er war glattrasiert, sehr blaß, und seine Augen hatten die Farbe von Bitterschokolade, was einen krassen Gegensatz zu seinem roten Haar bildete.

„Mein Fräulein, ich entschuldige mich vielmals für diesen unglücklichen Zwischenfall", sagte er leise, im singenden, dicken Akzent der Südstaaten. Seit vor zwanzig Jahren meine Urgroßmutter verstorben war, hatte ich diesen Akzent nicht mehr so ausgeprägt zu hören bekommen.

„Es tut mir sehr leid, den Hausfrieden der Bar gestört zu haben", erwiderte ich so würdevoll, wie es mir möglich war, ohne den Griff um den Baseballschläger zu lockern. Ganz instinktiv hatte ich die hochhackigen Schuhe von den Füßen geschleudert, um besser kämpfen zu können. Ich richtete mich aus der leicht gebückten Haltung auf, die ich in Erwartung der Schlägerei angenommen hatte, und neigte kurz den Kopf vor dem kleinen Vampir, womit ich seinen Rang und seine Stellung anerkannte.

„Sobald ihr euch bei der Dame hier und bei ihrem Begleiter entschuldigt habt, solltet ihr Männer das Lokal verlassen", sagte der Kleine nun an die Adresse der Werwölfe gerichtet.

Die Rocker traten unsicher von einem Fuß auf den anderen, aber keiner von ihnen mochte der erste sein, der nachgab und sich entschuldigte. Einer von ihnen, offensichtlich jünger und unerfahrener als die anderen, ein Blonder mit dichtem Bart, der sein Stirnband in besonders lächerlicher Art um den Kopf geschlungen trug, konnte mit der ganzen Situation überhaupt nicht umgehen. Sein Stolz ertrug es nicht, in seinen Augen blitzte die reine Kampfeslust. Er telegraphierte sozusagen, was er als nächstes vorhatte, woraufhin ich meinen Baseballschläger blitzschnell an den kleinen Vampir weiterreichte, der ihn sich mit einer so raschen Bewegung schnappte, daß ich gar nicht mitbekam, wie es geschah. Pfeilschnell hatte er dann auch schon ausgeholt und dem Werwolf das Bein zerschmettert.

Im ganzen Lokal herrschte betroffenes Schweigen, als der laut schreiende Blonde von seinen Freunden hochgehoben und hinausgetragen wurde. Im Hinausgehen riefen die Werwölfe Alcide und mir brav ihre Entschuldigungen zu.

Danach setzte die Musik wieder ein, der kleine Vampir gab der Barfrau den Baseballschläger zurück, Alcide sah sich meine Wunden an, und ich fing an zu zittern.

„Mir ist weiter nichts passiert", versicherte ich, denn nun wollte ich eigentlich nur, daß die Leute woanders hinsahen.

„Aber Sie bluten, meine Liebe", sagte der Vampir.

Das stimmte: Die Fingernägel des Rockers hatten auf meiner Schulter Blutspuren hinterlassen. Ich wußte, was sich gehörte, also beugte ich mich vor, damit der Vampir mir das Blut ablecken konnte.

„Vielen Dank", erwiderte er prompt, und seine Zunge schnellte vor. Da ich wußte, daß meine Wunden sich mit Hilfe von Vampirspeichel schneller und besser schließen würden, hielt ich still, auch wenn mir die ganze Sache, um ehrlich zu sein, ein wenig so vorkam, als würde mich jemand in aller Öffentlichkeit befummeln. Ich lächelte während der ganzen Prozedur, auch wenn mir unwohl zumute war, wußte allerdings, daß mein Lächeln weder ruhig noch zufrieden wirkte. Alcide hielt meine Hand, was beruhigend wirkte.

„Tut mir leid, daß ich nicht schneller zur Stelle war", sagte er.

„Du hast ja schließlich nicht vorhersehen können, was passieren würde." Leck, leck, leck! Nun mach mal halblang - bestimmt blute ich doch schon gar nicht mehr!

Der Vampir hob den Kopf, leckte sich genüßlich die Lippen und strahlte mich an. „Was für ein herrliches Erlebnis! Darf ich mich vorstellen? Ich bin Russel Edgington."

Russel Edgington, der König von Mississippi; so etwas hatte ich bereits geahnt, als ich sah, wie die Rocker auf sein Eingreifen reagierten. „Angenehm, Ihre Bekanntschaft zu machen", antwortete ich höflich, wobei ich mich fragte, ob es angebracht war, einen Knicks zu machen. Aber er hatte sich ja nicht mit seinem Titel vorgestellt. „Ich bin Sookie Stackhouse, und dies ist mein Freund, Alcide Herveaux."

„Die Familie Herveaux ist mir seit Jahren bekannt", sagte der König von Mississippi. „Nett, Sie zu treffen. Wie geht es Ihrem Vater?" Statt in einer Vampir-Bar um Mitternacht hätte unser Gespräch ebensogut auf dem sonnenbeschienenen Rasen vor der Presbyterianischen Kirche stattfinden können, an einem schönen Sonntagvormittag.

„Es geht ihm gut, vielen Dank", antwortete Alcide ein wenig steif. „Es tut mir wirklich leid, daß es Probleme gegeben hat."

„Das war doch nicht ihre Schuld", erklärte der Vampir großherzig. „Manchmal kann ein Mann einfach nicht anders, er muß seine Dame allein lassen, und keine Dame trägt die Schuld an den schlechten Manieren irgendwelcher Narren." Edgington verbeugte sich wahrhaftig vor mir. Ich wußte wirklich nicht, wie ich die Geste erwidern sollte; so schien es mir am besten, noch einmal den Kopf zu senken, und zwar diesmal ein wenig tiefer als zuvor. „Meine Liebe, Sie sind wie eine Rose, die in einem ungepflegten Garten blüht", fuhr der König von Mississippi galant fort.

Sie hingegen, mein Herr, labern ziemlichen Schwachsinn. „Danke, Mr. Edgington", sagte ich, wobei ich den Blick senkte, damit er mir nicht ansehen konnte, wie wenig ich seinen Worten traute. Hätte ich lieber 'Hoheit' sagen sollen? „Alcide? Ich fürchte, ich muß unseren Abend für beendet erklären." Ich gab mir alle Mühe, ganz sanft und lieb und zittrig zu klingen, was mir auch leicht fiel, allzuleicht.

„Natürlich, Liebling", sagte er sofort. „Ich hole eben deine Stola und die Handtasche." Auf der Stelle machte sich der Gute auf den Weg zurück an unseren Tisch.

„Miß Stackhouse, wir alle würden es sehr gern sehen, wenn Sie morgen Abend wiederkämen", sagte Russel Edgington, hinter dem inzwischen sein menschlicher Begleiter aufgetaucht war, dessen Hände nun auf Edgingtons Schultern ruhten. Der kleine Vampir langte hoch und tätschelte eine der Hände. „Wir wollen doch nicht, daß die schlechten Manieren eines Einzelnen Sie dauerhaft abschrecken."

„Danke, ich werde es Alcide gern ausrichten", erklärte ich, bedacht, mir keine Begeisterung anmerken zu lassen. Es sollte so aussehen, als würde ich mich Alcides Wünschen beugen, ohne jedoch auf eine eigene Meinung zu verzichten. Leute ohne Rückgrat machen es in Vampirkreisen nämlich nicht lange. Edgington war der felsenfesten Überzeugung, das perfekte Bild des Südstaatengentleman alter Schule zu verkörpern. Wenn das sein Ding war, wollte ich gern mitspielen.

Mit finsterer Miene kehrte Alcide zu uns zurück. „Ich fürchte, deiner Stola ist ein Mißgeschick widerfahren", sagte er, und ich mußte feststellen, daß er vor Zorn bebte. „Ich nehme an, das war Debbie."

Irgend jemand hatte ein riesiges Loch in meine wunderschöne Seidenstola gebrannt. Ich versuchte, mir meine Betroffenheit nicht allzusehr anmerken zu lassen, aber leider vergeblich - mir traten sogar die Tränen in die Augen, was sicher auch daran liegen mochte, daß mich der Zwischenfall mit dem Rocker doch sehr aufgewühlt hatte.

Edgington sog das alles natürlich in sich auf. Konnte man sagen - begierig?

„Lieber der Schal als ich", beschied ich, versuchte ein lässiges Achselzucken und zwang meine Mundwinkel, sich nach oben zu verziehen. Zumindest schien meine Handtasche unversehrt. Daran lag mir viel, auch wenn die Tasche nur meine Puderdose, einen Lippenstift und das Geld, das ich mitgenommen hatte, um für unser Abendessen zu bezahlen, enthielt. Nun zog Alcide den Mantel aus und hielt ihn so, daß ich hineinschlüpfen konnte. Das machte mich sehr verlegen, und ich wollte schon protestieren, aber ein Blick in das Gesicht meines Begleiters genügte, um mich verstummen zu lassen. Ein Nein würde er nicht akzeptieren.

„Gute Nacht, Miß Stackhouse", verabschiedete sich der Vampir. „Herveaux, wir sehen Sie morgen? Sind Sie geschäftlich in Jackson?"

„Ja", erwiderte Alcide. „Es war nett, mit Ihnen zu plaudern, Russell."

* * *

Als wir aus der Bar traten, erwartete uns der Pick-up schon draußen vor der Tür. Der Bürgersteig wirkte nicht weniger bedrohlich als bei unserer Ankunft. Ich fragte mich, wie all diese Effekte wohl erzielt werden mochten, war aber zu deprimiert, meinen Begleiter danach zu fragen.

„Sie hätten mir Ihren Mantel nicht geben dürfen, Sie frieren sich jetzt doch zu Tode!" sagte ich, als wir ein paar Straßenzüge weit gefahren waren.

„Ich habe immer noch mehr an als Sie", widersprach Alcide.

Selbst ohne Mantel zitterte er lange nicht so sehr wie ich mit. Also kuschelte ich mich in das warme Kleidungsstück und freute mich an dem schönen Seidenfutter, der Wärme und dem leisen Geruch nach Alcide, der davon ausging.

„Ich hätte Sie mit diesen Rabauken im Club nie allein lassen dürfen", sagte er.

„Zur Toilette muß schließlich jeder einmal", hielt ich mild dagegen.

„Ich hätte jemanden bitten müssen, sich neben Sie zu setzen", beharrte Alcide.

„Ich bin erwachsen, Alcide. Ich brauche niemanden, der ununterbrochen auf mich achtgibt. In meinem Lokal muß ich andauernd mit solchen Sachen fertig werden." Gut, das mochte sich so anhören, als hinge mir dieses Fertigwerden zum Halse heraus, und genau das war auch der Fall. Als Kellnerin bekommt man Männer nun einmal nicht gerade von der besten Seite zu Gesicht, selbst dann nicht, wenn man in einem netten Lokal wie dem Merlottes arbeitet, wo der Chef aufpaßt, daß den Kellnerinnen nichts geschieht und wo die Gäste fast alle aus der Gegend stammen.

„Dann sollten Sie da nicht arbeiten." Alcide klang sehr entschieden.

„Okay, heiraten Sie mich und holen Sie mich weg von alldem", sagte ich mit todernster Miene und erhielt als Antwort einen ängstlichen Seitenblick. Ich grinste ihn an. „Von irgend etwas muß ich schließlich leben, Alcide, und im großen und ganzen gefällt mir mein Job."

Mein Begleiter sah nicht so aus, als würde er mir das abnehmen. Noch dazu wirkte er nachdenklich. Es wurde dringend Zeit für einen Themenwechsel.

„Die haben Bill", sagte ich.

„Das wissen Sie jetzt genau?"

„Ja."

„Warum? Was weiß er? Was muß Edgington so unbedingt erfahren, daß er dafür sogar in Kauf nimmt, einen Krieg anzuzetteln?"

„Das kann ich Ihnen nicht sagen."

„Aber Sie wissen es?"

Ihm jetzt die Wahrheit zu sagen hieße, ihm zu vertrauen. Wenn bekannt wurde, daß ich alles, wovon Bill Kenntnis hatte, ebenfalls wußte, schwebte ich in derselben Gefahr wie mein Liebster, und ich war viel schneller zu brechen.

„Ja", erwiderte ich auf Alcides Frage. „Das weiß ich."