Kapitel 10

Das Schlafzimmer war ziemlich voll. Eric hatte mich dort auf einem so hohen Bett abgelegt, daß ich fürchtete, ohne Trittleiter nicht wieder herunterzukommen. Ich hatte Russel sagen hören, dieses Bett sei für die geplante Heilung am besten geeignet. Mittlerweile fing ich an, mich zu fragen, was ich mir unter dieser 'Heilung' wohl vorzustellen hatte. Ich nahm nicht zum ersten Mal aktiv an einem Heilverfahren der Vampire teil - beim letzten Mal hatte man die Behandlung, durch die der betreffende Heilungsprozeß vonstatten gegangen war, getrost als unkonventionell bezeichnen können.

„Was passiert jetzt?" wollte ich daher von Eric wissen, der sich dicht neben meinem Bett aufgebaut hatte, und zwar auf der linken Seite, dort, wo ich unverletzt war.

Meine Frage wurde aber nicht von Eric beantwortet, sondern von dem Vampir, der Erics Platz an meiner rechten Seite eingenommen hatte. Dieser Vampir wirkte aufgrund seines langen Gesichts ein wenig wie ein Pferd; er hatte hellblonde Brauen und Wimpern, die fast nicht zu sehen waren, weil sie sich kaum von seiner blassen Haut abhoben. Seine bloße Brust war unbehaart. Er trug eine Hose, bei deren Anblick ich den starken Verdacht hatte, sie könne womöglich aus Vinyl bestehen und von daher selbst jetzt im Winter ein wenig zu - nun ja: nicht atmungsaktiv genug sein. Ich jedenfalls verspürte wenig Lust, ihm das Teil vom Leib zu pellen! Das einzige, was diesen Vampir vor der völligen Unscheinbarkeit rettete, war sein wunderbares, ganz glattes Haar in der Farbe weißen Maises.

„Miß Stackhouse, ich möchte Ihnen Ray Don vorstellen", sagte nun Russel Edgington.

„Hallo." Mit guten Manieren ist man immer und überall willkommen, pflegte meine Oma stets zu predigen.

„Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen", erwiderte der Vampir mit dem Pferdegesicht dann auch prompt und erwartungsgemäß. Ihn hatte man also auch gut erzogen - wobei die Götter wissen mochten, wann das geschehen war. „Wie es Ihnen geht, frage ich erst gar nicht", fuhr er fort. „Ich sehe schließlich selbst, daß Sie ein tiefes, breites Loch in Ihrer Seite haben."

„Irgendwie schon komisch, nicht? Daß der Pflock nun einen Menschen erwischt hat?" plapperte ich stoisch munter drauflos. Ich hoffte sehr, diesen Arzt später noch einmal zu Gesicht zu bekommen. Ich mußte ihn unbedingt nach dem Namen der Droge fragen, die er mir verpaßt hatte. Das Zeug war ja Gold wert!

Ray Don warf mir einen skeptischen Blick zu, der mir deutlich zu verstehen gab, daß ich die Grenze dessen, was dieser Vampir im Rahmen einer höflichen Unterhaltung als angenehm empfand, wohl überschritten hatte. Vielleicht konnte ich dem Mann einen dieser Kalender zukommen lassen, mit deren Hilfe man jeden Tag ein neues Wort lernen kann. So einen, wie ich ihn jedes Jahr an Weihnachten von Arlene geschenkt bekam.

„Ich erkläre dir, was nun passiert", warf Eric ein. „Du weißt doch, wie das ist bei uns Vampiren: Wenn wir uns nähren wollen und die Fangzähne ausfahren, dann geben sie eine geringe Menge Antigerinnungsmittel ab. Das ist dir bekannt, oder?"

„Ja, ja."

„Sobald wir mit dem Trinken aufhören wollen, sondern die Fangzähne ein Mittel ab, das die Blutgerinnung unterstützt und zudem noch eine Spur von ... von dem ..."

„Von dem Zeug, das euch allen bei der Wundheilung hilft - weswegen ihr immer so schnell gesund werdet?"

„Genau."

„Was soll Ray Don denn jetzt genau machen?"

„Ray Don, versichern uns seine Nestgefährten, hat ein großes Talent: Sein Körper speichert besonders große Mengen all der Chemikalien, über die wir eben sprachen."

Bei diesen Worten strahlte Ray Don mich an - offenbar war der Vampir mächtig stolz auf sein Talent.

„Er wird jetzt also mit Hilfe eines Freiwilligen die ganze Prozedur in Gang setzen und wenn er sich fertig genährt hat, wird er damit beginnen, deine Wunde zu reinigen und zu schließen."

Eins hatte Eric bei seiner Schilderung wohlweislich ausgelassen: Irgendwann im Laufe dieses Verfahrens würde der Pfahl aus meinem Fleisch gezogen werden müssen und keine Droge der Welt konnte verhindern, daß das höllisch weh tat. Soviel hatte ich mir schon selbst zurechtlegen können - in den wenigen klaren Momenten, die mir zuteil geworden waren.

„Na denn", sagte ich tapfer. „Dann wollen wir mal, was?"

Wie es sich herausstellte, war der Freiwillige ein dünner blonder Teenager, ein Mensch. Der Junge war nicht größer als ich und wahrscheinlich auch nicht breitschultriger. Er schien wirklich bereitwillig an das Unternehmen heranzugehen. Ray Don beschenkte den Jungen mit einem langen, feuchten Kuß, ehe er zur eigentlichen Sache kam. Auf diesen Kuß hätte ich persönlich gut verzichten können, da mir die öffentliche Zurschaustellung körperlicher Zuneigung eigentlich ziemlich zuwider ist, und wenn ich sage, der Kuß war lang und feucht, dann meine ich damit keinen diskreten Schmatz, sondern ein Rumknutschen der intensiven, von Ächzen und Stöhnen begleiteten Art, bei der einer dem anderen die Mandeln ablutscht! Endlich schien der Kuß zu beider Zufriedenheit beendet, Blondie legte den Kopf zur Seite, und Ray Don, der größer war als der Mensch, von dem er nippen sollte, senkte die Fangzähne in den Hals, der sich ihm bot. Dann folgte eine Menge Drücken und Keuchen, und selbst meinem drogenumnebelten Hirn entging nicht, daß der Zustand der Vinylhose an Ray Dons Leib nicht mehr viel der Phantasie überließ.

Eric sah sich die ganze Sache an, ohne nach außen hin irgendwelche Reaktionen zu zeigen. Überhaupt scheinen Vampire als Gruppe extrem tolerant zu sein, was sexuelle Präferenzen betrifft. Ich nehme an, daß wenig Tabus übrigbleiben, hat man erst einmal ein paar hundert Jahre gelebt.

Als Ray Don sich von Blondie ab- und meinem Bett zuwandte, hatte er einen blutigen Mund. Mein Stimmungshoch sank in den Keller, als Eric sich nun neben mich aufs Bett setzte, um meine Schultern auf die Matratze zu drücken. Nun kam also der große, böse, schreckliche Moment.

„Sieh mich an!" forderte Eric. „Sieh mich an, Sookie!"

Ich spürte, wie das Bett nachgab; Ray Don hatte sich wohl hingekniet und beugte sich nun über meine Wunde.

Im zerrissenen Fleisch meiner Seite kam es zu einer Bewegung, die mich bis ins Mark erschütterte. Ich spürte, wie ich kreidebleich wurde. Während das Blut aus meiner Wunde floß, stieg in meiner Kehle wilde Hysterie auf und drohte, sich zu entladen.

„Nicht, Sookie! Sieh mich an!" sagte Eric drängend.

Ich aber sah an mir selbst herunter und mußte feststellen, daß Ray Don sich den Pfahl geschnappt hatte.

Nun würde er ...

Ich schrie und schrie, bis ich keine Kraft mehr zum Schreien hatte. Als ich Ray Dons Mund an meiner Wunde saugen spürte, begegnete mein irrer Blick dem Erics. Der große blonde Vampir hielt meine Hände, und ich bohrte ihm die Fingernägel in die Haut, als würden wir gerade etwas ganz anderes miteinander treiben. Eric macht das nichts aus, dachte ich, als ich sah, daß ich ihn blutig gekratzt hatte.

Genau so war es auch: Es machte Eric überhaupt nichts aus. „Laß los!" befahl er mir gerade, woraufhin ich den Griff lockerte, mit dem ich seine Hände umklammert hielt. „Nein, nicht mich!" protestierte er lächelnd. „An mich kannst du dich klammern, solange du willst. Den Schmerz sollst du loslassen. Laß ihn los. Laß dich einfach fallen, du mußt!"

Da trat ich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben meinen eigenen freien Willen an eine andere Person ab. Je länger ich Eric ansah, desto leichter fiel mir dies, bis ich in der Lage war, mich ganz aus dem Leid und der Ungewißheit dieses unendlich fremden Ortes zurückzuziehen.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich immer noch im Bett, allerdings hatte man mich zugedeckt. Ich lag auf dem Rücken; mein einst so wunderhübsches Kleid hatte man mir ausgezogen, die beige Spitzenunterwäsche nicht. Das war gut. Neben mir lag Eric - das war weniger gut. Er schien sich das wirklich zur Gewohnheit machen zu wollen. Er lag auf der Seite, den Arm über meinen Oberkörper, ein Bein über mein Bein geworfen. Sein Haar lag Seite an Seite mit dem meinen auf dem Kissen verteilt, die einzelnen Strähnen kaum voneinander zu unterscheiden, so ähnlich war unser beider Haarfarbe. Ich lag immer noch in einem leicht benebelten, irgendwie schwebenden Zustand da und grübelte über diese Tatsache nach.

Eric hatte sich eine Auszeit genommen, befand sich also in jenem absolut unbeweglichen Zustand, in den Vampire sich versetzen können, wenn sie nichts anderes zu tun haben. Diese Auszeiten wirken erfrischend auf die Untoten, glaube ich. Sie mindern die Last der Welt, die die Vampire ansonsten Jahr für Jahr ununterbrochen bedrängt, an ihnen zehrt, sie abnutzt. Eine Welt voller Kriege, voller Hungersnöte, voller neuer Erfindungen und Einrichtungen, mit denen sie umzugehen lernen müssen. Eine Welt sich ständig ändernder Sitten und Wertvorstellungen, Gebräuche und Moden, die sie sich zu eigen machen müssen, um sich anzupassen, dazuzugehören. Ich zog die Decke beiseite, um mir meine Wunde anzusehen. Zwar hatte ich immer noch Schmerzen, aber sie waren schon wesentlich geringer geworden. Die Haut an meiner rechten Seite zierte dort, wo der Pfahl gesteckt hatte, ein großer runder Kreis frischen Narbengewebes. Die Haut an dieser Stelle war heiß, glänzend und irgendwie glatt und schimmernd.

„Es sieht schon wesentlich besser aus", sagte Eric, woraufhin ich vor Schreck nach Luft schnappte, denn ich hatte gar nicht mitbekommen, wie er aus seiner vorübergehenden Leblosigkeit aufgetaucht war.

Eric trug seidene Boxershorts, was mich erstaunte, denn ich hatte ihn für einen Mann gehalten, der knappe, kurze Unterhosen bevorzugt.

„Ganz herzlichen Dank, Eric." Mir war gleich, wie sehr meine Stimme zitterte: Eine Verpflichtung ist und bleibt nun einmal eine Verpflichtung, und ich mußte mich ganz einfach bei ihm bedanken.

„Wofür?" Erics Hand streichelte ganz sanft meinen Bauch.

„Dafür, daß du im Club zu mir gestanden hast. Dafür, daß du mit mir zusammen hier herausgekommen bist. Dafür, daß du mich nicht mit all diesen Leuten alleingelassen hast."

„Wie weit geht denn deine Dankbarkeit, Sookie?" flüsterte Eric, den Mund dicht über meinen Lippen. Seine Augen blickten mittlerweile hellwach, und sein Blick bohrte sich in den meinen.

„Wenn du solche Sachen sagst, macht das irgendwie alles kaputt!" antwortete ich, bemüht, nach wie vor sanft und ausgeglichen zu klingen. „Du solltest nicht wollen, daß ich mit dir schlafe, nur weil ich dir etwas schuldig bin!"

„Eigentlich ist es mir völlig egal, aus welchem Grund du mit mir schläfst - Hauptsache, du tust es!" erwiderte Eric ebenso unbewegt. Dann lagen seine Lippen auf meinem Mund, und ich konnte tun, was ich wollte - es gelang mir nicht, unbeeindruckt zu bleiben. Das lag zum einen daran, daß Eric Hunderte von Jahren auf dem Buckel hatte, in denen er seine Kußtechnik hatte verfeinern können. Allerdings muß man sagen, daß er diese Jahre wahrlich nicht ungenutzt hatte verstreichen lassen. Meine Hände stahlen sich fast gegen meinen Willen nach oben und legten sich auf Erics Schultern. Dann - auch wenn ich mich schäme dies zuzugeben - erwiderte ich seinen Kuß. Mein Körper mochte müde und zerschunden sein, er pochte trotzdem auf seinem Recht, er wollte haben, was er nun einmal begehrte, und weder mein Kopf noch mein Wille konnten mit ihm Schritt halten. Eric schien sechs Hände zu haben, und diese waren alle zur selben Zeit einfach überall auf meiner Haut, sie wiegelten meinen Körper auf, stachelten ihn an, sich durchzusetzen, sich zu nehmen, was er brauchte. Ein Finger fuhr unter das Gummi meines (minimalistischen) Slips und glitt direkt in mich hinein.

Ich gab ein leises Geräusch von mir - keins allerdings, das sich irgendwie nach Protest anhörte. Daraufhin bewegte sich der Finger in einem wunderbaren Rhythmus. Erics Mund wiederum schien fest entschlossen, sich meine Zunge in Gänze einzuverleiben. Meine Hände entwickelten ein Eigenleben und erfreuten sich der glatten Haut, über die sie strichen, der harten Muskeln, die unter dieser Haut spielten.

Dann flog das Fenster auf, und Bubba kroch herein.

„Miß Sookie! Mr. Eric! Ich habe Sie beide aufgespürt!" Bubba war ordentlich stolz auf seine Leistung.

„Wie schön für dich, Bubba", sagte Eric, und damit war die Küsserei beendet. Rasch packte ich Eric am Handgelenk und zog seine Hand weg. Das gelang mir nur, weil er keinen Widerstand leistete. Ich kann es nämlich an Stärke selbst mit dem schwächsten Vampir nicht aufnehmen.

„Warst du denn schon die ganze Zeit hier, Bubba?" fragte ich, als ich dann halbwegs wieder klare Gedanken fassen konnte. „Hier in Jackson, meine ich." Es war gut, daß Bubba gerade jetzt ins Zimmer gekommen war, auch wenn Eric da ganz augenscheinlich keineswegs meiner Meinung war.

„Mr. Eric hatte gesagt, ich soll mich an Ihre Fersen heften, Miß Sookie", stellte Bubba schlicht klar. Er ließ sich auf einen niedrigen Stuhl sinken, der im Zimmer stand und sehr geschmackvoll mit einem geblümten Stoff bezogen war. Eine schwarze Locke hing dem Vampir aus Memphis in die Stirn, und er trug an jedem einzelnen Finger einen Goldring. „Sind Sie denn schwer verletzt worden in dem Club da, Miß Sookie?"

„Es geht mir schon sehr viel besser, danke."

„Es tut mir so leid, daß ich meinen Job nicht hab' tun können, aber das kleine Ding da am Eingang hat mich einfach nicht reinlassen wollen. Der schien nicht zu wissen, wer ich bin! Gibt's denn so was?"

Wenn man bedachte, daß sich Bubba selbst kaum mehr daran erinnerte, wer er war und jedes Mal einen Anfall bekam, wenn es ihm wieder einfiel, war es vielleicht nicht weiter verwunderlich, wenn dem Kobold, der im Club Dead den Türsteher gab, diese Ikone der amerikanischen Popkultur unbekannt war.

„Aber ich habe gesehen, wie Mr. Eric Sie aus dem Haus getragen hat, und da bin ich Ihnen einfach gefolgt."

„Danke. Das war wirklich sehr intelligent von dir."

Er lächelte auf die ihm eigene, träge Art. „Miß Sookie?", wollte er wissen, „was tun Sie denn da im Bett mit Mr. Eric? Wo doch Bill Ihr Liebster ist?"

„Das ist wirklich eine gute Frage, Bubba", sagte ich. Ich versuchte, mich aufzusetzen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich stieß einen leisen Schmerzschrei aus, woraufhin Eric in einer mir unbekannten Sprache leise vor sich hinfluchte.

„Ich werde Miß Sookie jetzt Blut geben, Bubba", erklärte Eric unmittelbar darauf. „Vorher sage ich dir aber noch, was du für mich erledigen kannst."

„Aber sicher doch", meinte Bubba liebenswürdig.

„Wo es dir nun schon einmal gelungen ist, unerkannt über die Mauer und bis ins Haus zu kommen, möchte ich, daß du für mich das Anwesen durchsuchst. Wir glauben, daß Bill irgendwo auf dem Grundstück ist. Sie halten ihn gefangen. Versuche nicht, ihn zu befreien. Das ist ein Befehl. Wenn du ihn gefunden hast, komm hierher zurück und sag es uns. Wenn dich jemand sieht, renn nicht weg. Sag einfach gar nichts. Sag ihnen nichts von Sookie, nichts von Bill. Sag nur: 'Mein Name ist Bubba.' Kannst du das?"

„Hallo - mein Name ist Bubba."

„Genau."

„Hallo - mein Name ist Bubba."

„Richtig. Wunderbar. Nun aber schleich dich und sei ganz still und unsichtbar."

Bubba strahlte. „Klar, Mr. Eric. Aber wenn das vorbei ist, dann muß ich dringend los, mir was zum Essen suchen. Ich habe einen Mordshunger."

„Okay. Aber jetzt geh und suche."

Gehorsam kroch Bubba erneut zum Fenster hinaus. Das Zimmer, in dem wir waren, lag im ersten Stock, also fragte ich mich, wie er wohl hinunter bis auf den Boden kommen wollte. Aber da es ihm schon gelungen war, bis zum Fenster hoch zu kommen, würde er es umgekehrt wohl auch schaffen.

„Sookie", ließ sich Eric nun direkt an meinem Ohr vernehmen. „Wir können uns jetzt lang und breit darüber streiten, ob du mein Blut annehmen solltest oder nicht, und ich weiß genau, was du sagen willst, ich kenne jedes einzelne Argument. Fakt ist aber, daß der Sonnenaufgang naht. Ich weiß nicht, ob man dir gestatten wird, den Tag hier zu verbringen. Ich jedenfalls muß mir eine Zuflucht suchen, entweder hier im Haus oder anderswo. Ich will auf jeden Fall, daß du stark bist, daß du dich selbst verteidigen kannst. Zumindest solltest du in der Lage sein, dich schnell zu bewegen."

„Ich weiß, daß Bill hier ist", sagte ich, nachdem ich eine Weile über Erics Worte nachgedacht hatte. „Ganz egal, was wir vorhin um ein Haar getan hätten - nur um ein Haar, dank Bubba! -, ich muß Bill finden. Die beste Zeit, ihn hier rauszuschaffen, ist tagsüber, wenn ihr Vampire alle schlaft. Kann Bill sich tagsüber irgendwie noch bewegen?"

„So etwas wie ein Torkeln wird er schon zustande bringen, wenn er weiß, daß er in großer Gefahr ist", meinte Eric langsam und nachdenklich. „Aber jetzt ist mir noch klarer, wie dringend du mein Blut brauchst. Du mußt stark sein. Du wirst Bill vollständig einwickeln müssen, sein ganzer Körper muß bedeckt sein. Nimm am besten die Decke hier; sie ist dick genug. Wie willst du Bill hier herausschaffen?"

„Dazu brauche ich deine Hilfe", erklärte ich. „Wenn wir diese Sache mit dem Blut hinter uns haben, mußt du los, mir einen Wagen besorgen, einen Wagen mit einem riesigen Kofferraum wie bei einem Lincoln oder einem Caddy, mußt mir die Schlüssel für diesen Wagen zukommen lassen und unbedingt irgendwo anders schlafen! Du willst doch bestimmt nicht hier sein, wenn die aufwachen und mitkriegen, daß ihr Gefangener weg ist." Erics Hand ruhte immer noch auf meinem Bauch. Wir waren nach wie vor beide zusammen in die Bettdecke gewickelt, und dennoch fühlte sich die ganze Situation völlig anders an als noch vor wenigen Minuten.

„Wo willst du ihn hinbringen?"

„In irgendeinen unterirdischen Raum", sagte ich, wobei mir noch nicht klar war, wo das genau sein könnte. „He! Ich hab's: Vielleicht schaffe ich ihn in die Tiefgarage von Alcides Wohnhaus. Das ist doch besser, als ihn draußen irgendwo abzustellen."

Eric setzte sich auf und lehnte sich gegen das Kopfteil des Bettes. Seine seidenen Boxershorts waren königsblau, und als er nun die Beine spreizte, erhaschte ich einen Blick durch die Beinöffnung auf - guter Gott! Da kniff ich doch lieber rasch die Augen zu. Eric lachte vergnügt.

„Komm, Sookie, setz dich auch auf. Lehn dich mit dem Rücken an meine Brust, dann sitzt du am bequemsten", riet er mir.

Vorsichtig schob er mir die Hände unter die Achseln, zog mich hoch, lehnte mich gegen sich und schlang dann beide Arme um mich. Es war, als lehne ich an einem festen, kühlen Kissen. Sein rechter Arm verschwand, und kurz darauf vernahm ich ein leises, knirschendes Geräusch, wonach Erics Handgelenk vor meinem Gesicht auftauchte, verziert mit zwei kleinen Wunden, aus denen Blut tropfte.

„Das heilt dich von allem", sagte Eric.

Ich zögerte immer noch zuzugreifen, schalt mich dann aber eine Närrin. Mir war klar, daß Eric mich, je mehr ich von seinem Blut in mir hatte, immer besser kennen und durchschauen würde. Ich wußte auch, daß ihm das eine gewisse Macht über mich gab. Andererseits war mir durchaus klar, daß Erics Blut mir eine ganze Zeit lang zu größerer körperlicher Stärke verhelfen würde, und zwar zu ganz enormer Stärke, wenn man bedachte, wie alt dieser Vampir bereits war. Meine Wunden würden heilen; ich würde mich einfach wunderbar fühlen und wäre hübscher, begehrenswerter. Aus diesem Grund gab es ja auch seit neuestem den illegalen Berufszweig der Ausbluter: Diese Menschen - sie arbeiteten stets zu zweit - lauerten Vampiren auf, fingen diese ein, fesselten sie mit Silberketten und ließen sie dann zur Ader, bis kein Tropfen Blut mehr übrig war. Das so gewonnene Blut wurde in kleinen Ampullen auf dem Schwarzmarkt verkauft, wobei die Preise für diese Ware schwankten. Im letzten Jahr hatte eine Ampulle Vampirblut im Durchschnitt zweihundert Dollar gebracht. Was Erics Blut in Anbetracht seines Alters wert war, mochten die Götter wissen. Allerdings würde es auch schwer sein, Herkunft und Alter des Blutes nachzuweisen - eine Herausforderung für potentielle Ausbluter. Überhaupt war Ausbluten ein äußerst gefährlicher Beruf und noch dazu, wie gesagt, höchst illegal.

Eric machte mir also ein großes Geschenk, wenn er mir sein Blut einfach so anbot.

Gott sei Dank war ich noch nie das, was man landläufig als zimperlich bezeichnet. Kurz entschlossen legte ich den Mund auf die winzigen Wunden und sog kräftig.

Eric stöhnte. Auch diesmal, so konnte ich rasch feststellen, behagte ihm der enge Körperkontakt mit mir sehr. Er fing an, sich ein ganz klein wenig zu bewegen, und es gab wenig, was ich dagegen tun konnte, da er mich mit dem linken Arm unvermindert stark an sich drückte und sein rechter Arm ja immerhin damit beschäftigt war, mich zu füttern. Trotzdem muß ich zugeben, daß ich das ganze Prozedere schon ein wenig eklig fand. Aber da es Eric viel Spaß zu machen schien und ich mich mit jedem Schluck Blut, den ich ihm raubte, besser fühlte, fiel es mir schwer, mir einzureden, es sei falsch, wenn mein Wohltäter sich gut fühlte. Also versuchte ich einfach, an gar nichts zu denken und konzentrierte mich im wesentlichen darauf, bloß nicht noch mit eigenen Bewegungen auf die von Eric einzugehen. Ich hatte überdies noch genau vor Augen, was geschehen war, als ich einmal Bills Blut hatte trinken müssen, weil ich für etwas zusätzliche Kräfte benötigte. Unwillkürlich mußte ich daran denken, wie Bill damals reagiert hatte.

Dann zog Eric mich noch ein wenig enger zu sich heran, stieß ein langgezogenes 'Ohhhh!' aus und entspannte sich dann spürbar von Kopf bis Fuß. Ich fühlte, wie sich auf meinem Rücken ein feuchter Fleck ausbreitete und trank hastig einen letzten großen Schluck Blut. Da stöhnte Eric erneut, ein ganz dunkler Laut, der tief aus seiner Kehle drang, und seine Lippen glitten außen an meinem Hals entlang.

„Nur nicht beißen!" befahl ich. Ich klammerte mich mühsam an den letzten Rest meines gesunden Menschenverstands, was mir weiß Gott nicht leicht fiel. Auch ich war erregt - aufgrund der Erinnerung an Bill, wie ich mir eilig versicherte. Ich hatte an Bill denken müssen, an seine Reaktion, als sich meine Zähne in seine Haut gebohrt hatten, an die Art, wie er sofort und höchst intensiv erregt gewesen war. Eric war zufällig hier. Ich konnte doch nicht einfach mit einem Vampir schlafen, nur, weil ich ihn attraktiv fand! Schon gar nicht mit Eric! Ich mußte an die drastischen Konsequenzen denken, die so was nach sich ziehen würde. Schließlich war ich eine erwachsene Frau, schalt ich mich streng, und erwachsene Leute schlafen nicht einfach mit jedem, der geschickt, geübt und noch dazu hübsch ist.

Erics Fangzähne streiften meine Schulter.

Da machte ich, daß ich aus dem Bett kam. Schneller als eine Kanonenkugel schoß ich unter der Decke hervor und einmal quer durchs Zimmer, riß die Tür auf - und fand mich Auge in Auge mit dem kleinen brünetten Vampir wieder, dem mit den Locken. Der stand, den linken Arm voller Kleider, die rechte Hand erhoben, um sich durch Klopfen anzumelden, direkt vor meinem Zimmer.

„Sieh mal einer an!" begrüßte er mich lächelnd, und schauen tat er dann auch - ihm entging nichts an mir. Anscheinend war dieser Bursche nicht einseitig orientiert.

„Wollten Sie etwas mit mir besprechen?" Ich hatte mich an den Türrahmen gelehnt und tat mein Bestes, recht zart und zerbrechlich zu wirken.

„Ja. Russel dachte, Sie bräuchten bestimmt etwas zum Anziehen, wo wir Ihr wunderschönes Kleid doch leider zerschneiden mußten. Die Sachen hier hatte ich noch im Schrank hängen, und da wir dieselbe Größe zu tragen scheinen ..."

„Oh", murmelte ich schwach. Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mit einem Mann Kleider getauscht. „Danke. Das ist wirklich lieb von Ihnen." Das war es ja auch. Er hatte mir eine rauchblaue Trainingshose und ein dazu passendes Sweatshirt gebracht, dazu Socken, einen seidenen Bademantel und sogar ein frisches Unterhöschen. Über die Unterhose wollte ich lieber nicht allzu genau nachdenken.

„Es scheint Ihnen besser zu gehen", sagte der zierliche Mann, wobei er mich weiterhin wohlwollend musterten, jedoch auf eine recht unpersönliche Art. Vielleicht hatte ich meinen Charme ja auch überbewertet.

„Ich fühle mich immer noch ziemlich wackelig", murmelte ich. „Ich bin überhaupt nur aufgestanden, weil ich mal ins Bad muß."

Da flackerte es in Lockenköpfchens braunen Augen: Er hatte über meine Schulter hinweg einen Blick auf Eric erhascht. Dessen Anblick war deutlich mehr nach seinem Geschmack. Sein Lächeln wurde regelrecht einladend. „Leif, möchten Sie vielleicht heute den Sarg mit mir teilen?" Ich hätte schwören können, daß er bei diesen Worten sogar mit den Wimpern klimperte!

Ich konnte mich unmöglich umdrehen, um zu sehen, wie Eric auf diese Einladung reagierte. Immerhin zierte immer noch der feuchte Fleck meinen Rücken. Mit einem Mal ekelte ich mich vor mir selbst: Da war mir schon in Bezug auf Alcide der eine oder andere eindeutige Gedanke durch den Kopf gegangen, und nun, mit Eric, war es nicht bei Phantasien geblieben. Mein moralisches Rückgrat war wahrlich nichts, worauf ich stolz sein konnte. Daß ich von Bills Untreue wußte, durfte mir nicht als Entschuldigung dienen - zumindest war es keine wirklich gute Entschuldigung. Auch die Tatsache, daß mich das Zusammensein mit Bill an regelmäßigen, spektakulären Sex gewöhnt hatte, war keine Ausrede, die ich gelten lassen konnte - wenigstens keine einleuchtende.

Höchste Zeit, mich sozusagen moralisch geradezubiegen und mich fürderhin anständig zu benehmen. Schon durch diese Entscheidung ging es mir besser.

„Ich muß noch etwas für Sookie erledigen", beantwortete Eric gerade die Frage des lockenköpfigen Vampirs. „Ich weiß nicht genau, ob ich es schaffe, bei Tagesanbruch wieder hier zu sein. Sollte das aber der Fall sein, so können Sie fest damit rechnen, daß ich mich nach Ihnen umtun werde." Eric flirtete doch glatt zurück! Ich hüllte mich, während um mich herum dieser kleine erotische Schlagabtausch stattfand, in den seidenen Bademantel, der mit roten, schwarzen und weißen Blumen bedruckt war. Es handelte sich um ein bemerkenswertes Kleidungsstück - sobald ich es anhatte, war ich Lockenköpfchen glatt einen Seitenblick wert. Scheinbar fand er mich mit einem Mal weitaus interessanter als zuvor, wo ich mich ihm spärlich mit Unterwäsche bekleidet präsentiert hatte.

„Mm, lecker!" stellte er schlicht und einfach fest.

„Noch einmal ganz herzlichen Dank", entgegnete ich höflich. „Können Sie mir sagen, wo sich das nächste Bad befindet?"

Er wies den Flur hinab auf eine halb offenstehende Tür.

„Wenn Sie mich bitte entschuldigen würden", sagte ich an beide Vampire gerichtet. Dann machte ich mich auf, immer peinlich darauf bedacht, langsam und vorsichtig aufzutreten, um weiterhin den Anschein zu erwecken, als litte ich große Schmerzen. In der Nähe des Bades, vielleicht ein, zwei Türen weiter den Flur entlang, entdeckte ich das Kopfende einer Treppe. Gut - nun kannte ich also den Weg nach draußen. Das war eine große Erleichterung.

Das Badezimmer war ein ganz schlichtes, gewöhnliches Bad voller ganz normaler Dinge, mit denen eigentlich jedes Bad vollgestopft ist: Föne und Lockenscheren, Deodorant, Shampoo, Gel. Ein bißchen Schminkzeug, Bürsten, Kämme, Rasierer.

Die Abstellflächen wirkten alle sauber und aufgeräumt - und doch merkte man genau, daß sich mehrere Personen das Badezimmer teilten. Ich wäre jede Wette eingegangen, daß das persönliche Badezimmer Russel Edgingtons dieser schlichten kommunalen Einrichtung nicht im entferntesten glich. Ich stöberte ein paar Haarnadeln auf, mit deren Hilfe ich mir die Haare hochsteckte, und dann duschte ich derart geschwind, daß ich meine sämtlichen persönlichen Rekorde brach. Glücklicherweise hatte ich mir am Morgen erst die Haare gewaschen - dieser Morgen, so kam es mir vor, war schon Jahrhunderte her! - und da mein Haar Stunden braucht, ehe es wirklich trocken ist, war ich froh, diesen Schritt der Körperhygiene überspringen zu können und statt dessen meine Haut kräftig mit der duftenden Seife einseifen zu dürfen, die ich in der in die Fliesen der Duschkabine eingebauten Seifenschale gefunden hatte. Im Badezimmerschrank waren - welche Wohltat! - frische Handtücher gestapelt.

Es dauerte keine Viertelstunde, dann stand ich wieder im Schlafzimmer. Das Lockenköpfchen war fort, Eric hatte sich mittlerweile angezogen und Bubba war zurück.

Eric verlor kein einziges Wort über den peinlichen Zwischenfall, der sich zwischen uns beiden abgespielt hatte. Meinen Bademantel beäugte er zwar wohlwollend, ohne jedoch einen Kommentar dazu abzugeben.

„Bubba hat die ganze Gegend ausspioniert, Sookie", begrüßte mich Eric bei meinem Eintreten und es war klar, daß er mit diesen Worten Bubba selbst zitierte.

Der Vampir aus Memphis lächelte sein leicht schräges Lächeln. Er schien ausgesprochen zufrieden mit sich selbst. „Ich habe Bill gefunden, Miß Sookie!" verkündete er triumphierend. „In besonders guter Verfassung ist er nicht, aber er existiert noch."

Da knickten mir ohne jegliche Vorwarnung die Knie weg und ich sackte auf einen Stuhl, wobei ich von Glück sagen konnte, daß dieser Stuhl direkt hinter mir stand. Sehr eigenartig fühlte sich das an: Ich hielt mich immer noch kerzengerade, aber statt zu stehen, saß ich auf einmal. Eine weitere merkwürdige Empfindung in einer langen Nacht voller eigenartiger Geschehnisse und Gefühle!

Als ich nach einiger Zeit wieder an etwas anderes denken konnte als an meine Verwirrung, nahm ich am Rande wahr, daß sich in Erics Miene viele widersprüchliche Dinge spiegelten: Freude erkannte ich da, aber auch Bedauern, Zorn und Befriedigung. Bubba hingegen war einfach nur glücklich.

„Wo ist er?" wollte ich wissen, indes sich meine Stimme gar nicht so anhörte, als sei es wirklich meine eigene.

„Es gibt hier hinter dem Haus noch ein großes Gebäude. Eine Art Garage, mit Stellplätzen für vier Autos. Über den Garagen liegen Wohnungen. Unten, neben den Garagen, gibt es auf der einen Seite noch ein Extrazimmer."

Russel hatte seine Hilfskräfte wohl gern ständig dicht bei der Hand.

„Gibt es noch weitere Gebäude? Könnte ich das, was du mir eben geschildert hast, mit einem anderen Haus verwechseln?"

„Es gibt einen Swimmingpool, Miß Sookie, mit einem kleinen Häuschen direkt daneben, in dem die Leute sich umkleiden können, und es gibt einen ziemlich großen Geräteschuppen - ich glaube jedenfalls, daß es ein Geräteschuppen ist. Aber der hängt nicht mit der Garage zusammen."

„In welchem Teil der Garage hat man Bill denn untergebracht?" wollte Eric nun wissen.

„Im Zimmer unten auf der rechten Seite", sagte Bubba. „Vielleicht waren die Garagen früher mal Ställe - dann haben sie in dem Raum da unten die Sättel und so was aufbewahrt. Groß ist das Zimmer nicht."

„Wie viele sind bei ihm?" Eric stellte lauter wichtige, gute Fragen. Ich dagegen hatte weder Bubbas Aussage, Bill gehe es gut, richtig verdaut, noch die Bestätigung meiner Vermutung, daß sich mein Liebster ganz in der Nähe befand.

„Momentan sind drei im Zimmer. Zwei Männer und eine Frau - alles Vampire. Die Frau ist die mit dem Messer."

Ich sackte in mich zusammen. „Messer", wiederholte ich dumpf.

„Ja, Madam, sie schnippelt ziemlich übel an ihm herum".

Zögern durfte ich also auf keinen Fall noch länger, dafür war keine Zeit. Gerade hatte ich mir noch selbst gratuliert, weil ich fand, ich sei nicht zimperlich. Nun war es an der Zeit, mir zu beweisen, daß ich mit meiner Einschätzung richtig gelegen hatte.

„Er hat lange durchgehalten", sagte ich.

„Ja, das hat er", pflichtete Eric mir bei. „Ich ziehe jetzt los und besorge dir ein Auto. Ich werde versuchen, es dort hinten bei den Ställen zu parken."

„Glaubst du, man läßt dich auf das Grundstück zurück, wenn du es erst einmal verlassen hast?"

„Wenn ich Bernhard mitnehme, bestimmt."

„Bernhard?"

„Den Kleinen." Eric lächelte mich an, und diesmal fiel auch sein Lächeln ziemlich schief aus.

„Du meinst ... natürlich: wenn du Lockenköpfchen mitnimmst, kommst du auch wieder ins Haus, denn er wohnt ja hier."

„Ja. Aber das heißt auch, daß ich unter Umständen bleiben muß. Hier, bei ihm."

„Da könntest du dich nicht - irgendwie rauswinden?"

„Vielleicht ja, vielleicht aber auch nicht. Wenn die herausfinden, daß Bill verschwunden ist und du mit ihm, dann will ich eigentlich nicht ausgerechnet hier aufwachen."

„Miß Sookie, die haben Werwölfe darauf angesetzt, tagsüber auf Bill aufzupassen."

Sowohl Eric als auch ich blickten Bubba verständnislos an. „Die Werwölfe, die auf Sie angesetzt waren? Die sollen Bill bewachen, wenn die Vampire schlafen gehen."

„Aber heute ist Vollmond", überlegte ich. „Die Werwölfe werden völlig erschöpft sein, wenn sie schließlich an der Reihe sind, die Wache zu übernehmen. Falls sie überhaupt hier auftauchen!"

Eric sah mich erstaunt an. „Da hast du recht! So eine Gelegenheit erhalten wir nie wieder."

Wir sprachen noch eine ganze Weile über unser Vorgehen. Vielleicht sollte ich doch lieber so tun, als sei ich noch zu schwach zu irgend etwas und mich im Haus verkriechen, während Eric versuchte, aus Shreveport einen menschlichen Verbündeten kommen zu lassen? Eric meinte, er würde, sobald er die unmittelbare Umgebung dieses Hauses verlassen hatte, versuchen, mich von seinem Handy aus anzurufen.

„Vielleicht könnte uns ja Alcide morgen früh ein wenig unterstützen", schlug der große Vampir dann vor.

Ich muß zugeben, daß ich die Möglichkeit, Alcide erneut um Hilfe zu bitten, nicht übel fand. Alcide war groß, zäh und kompetent - irgend etwas tief in mir Verborgenes, Schwaches versuchte mir einzuflüstern, Alcide sei doch ganz sicher viel besser als ich in der Lage, mit all dem hier umzugehen und fertigzuwerden. Aber umgehend zwickten mich auch schon die Gewissensbisse, und ich wies mich streng zurecht.

Alcide durfte unmöglich noch weiter in die Sache hineingezogen werden. Er hatte seinen Teil getan. Er mußte den Leuten hier im Haus auf rein geschäftlicher Ebene begegnen können und war ruiniert, wenn Russel mitbekam, welchen Beitrag er bei Bill Comptons Flucht geleistet hatte.

Mittlerweile waren es nur noch zwei Stunden bis Sonnenaufgang, und wir durften keine Zeit mehr verschwenden. Noch waren viele Einzelheiten bei unserem Plan ungeklärt, aber Eric ging dennoch, um das Lockenköpfchen - Bernhard - zu suchen und es sittsam zu bitten, ihm doch ein wenig Gesellschaft zu leisten, während er sich um einen Wagen für mich kümmerte. Ich ging davon aus, daß Eric vorhatte, ein Auto zu leihen - welche Autovermietung aber um diese Uhrzeit noch aufhaben mochte, hätte ich nicht sagen können. Eric schien bei der Autobeschaffung jedoch keine Probleme zu erwarten, also bemühte ich mich, alle Zweifel aus meinem Kopf zu verbannen. Bubba erklärte sich bereit, noch einmal über Russel Edgingtons Mauer zu klettern, so wie er auch gekommen war, um sich auf der anderen Seite ein sicheres Plätzchen zum Schlafen zu suchen. Eric gab zu bedenken, Bubba habe sein Leben nur der Tatsache zu verdanken, daß Vollmond war, und ich war gern bereit, ihm das zu glauben. Der Vampir, der das Tor bewachte, mochte zwar gut sein, aber er konnte unmöglich überall sein.

Meine Aufgabe bestand darin, bis zum Tagesanbruch, wenn die Vampire sich zurückzogen, so zu tun, als sei ich noch sehr schwach. Nach Sonnenaufgang sollte ich Bill irgendwie aus dem Stall holen und in den Kofferraum des Autos befördern, das Eric herbeischaffen würde. Die Vampire, davon gingen wir aus, hatten keinen Grund, mich an der Abreise zu hindern.

„Das ist mit Abstand der schlechteste Plan, den ich je schmieden half", sagte Eric.

„Da hast du völlig recht - aber mit etwas Besserem können wir nun einmal nicht aufwarten."

„Sie werden das schon prima hinkriegen, Miß Sookie", versicherte Bubba mir aufmunternd.

Das war genau das, was ich brauchte: jemand mit einer positiven Haltung zum Geschehen! „Herzlichen Dank, Bubba", sagte ich, wobei ich mir wirklich Mühe gab, so dankbar zu klingen, wie ich mich fühlte. Erics Blut hatte mir neue Energie verliehen; ich hatte das Gefühl, daß meine Augen Funken sprühten und mir das Haar um den Kopf wogte wie eine Art elektrisierter Heiligenschein.

„Paß auf, Sookie, laß dich nicht hinreißen!" warnte Eric und spielte damit auf ein weitverbreitetes Problem an, mit dem man es zu tun bekam, wenn man auf dem Schwarzmarkt erworbenes Vampirblut zu sich nahm. Wer Vampirblut getrunken hatte, war versucht, verrückte Dinge zu tun, denn er fühlte sich unglaublich stark, unschlagbar. Manche Leute versuchten sich dann an Dingen, zu denen sie nicht in der Lage waren - wie der Typ zum Beispiel, der dachte, er könne es ganz allein mit einer ganzen Rockerbande aufnehmen oder wie die Frau, die dachte, sie könne sich mit einem fahrenden Eisenbahnzug messen. Ich holte einmal tief Luft und bemühte mich, Erics Warnung nicht in den Wind zu schlagen, sondern sie mir statt dessen deutlich hinter die Ohren zu schreiben. Aber am liebsten hätte ich mich aus dem Fenster gebeugt, um zu sehen, ob ich es schaffen würde, die Mauer hoch bis zum Dachfirst zu klettern. Das war ja wirklich furchteinflößend, die Sache mit Erics Blut! 'Furchteinflößend' - ein Wort, das ich bis dahin nie gebraucht hatte, das ich nun aber angebracht fand. Ich hatte mir nie vorstellen können, welch himmelweiter Unterschied da zwischen Bills Blut und Erics Blut bestand.

Als es nun klopfte, starrten wir alle drei die Tür an, als könnten wir durch sie hindurchsehen.

In erstaunlich kurzer Zeit hatte Bubba es geschafft, sich aus dem Fenster zu schwingen; Eric hockte auf dem Stuhl neben dem Bett, und ich lag im Bett, bemüht, ganz schwach und zittrig auszusehen.

„Herein", rief Eric mit gedämpfter Stimme, ganz wie es sich für einen Freund am Krankenbett einer Frau, die sich gerade von einer schweren Verletzung erholte, gehörte.

Es war Lockenköpfchen - das heißt, Bernhard. Bernhard trug Jeans und einen dunkelroten Pullover und sah zum Anbeißen aus. Ich schloß die Augen und hielt mir im Geist einen gestrengen Vortrag - ganz eindeutig hatte die Bluttransfusion meine Lebensgeister allzusehr geweckt.

„Wie geht es ihr?" erkundigte sich Bernhard flüsternd. „Sie ist nicht mehr ganz so bleich."

„Sie hat immer noch große Schmerzen. Aber dank der Großherzigkeit Ihres Königs heilt die Wunde bereits."

„Mein König ist froh, daß er helfen konnte", erwiderte Bernhard. „Aber er wäre noch froher, wenn sie - nun, wenn sie morgen früh ohne Hilfe das Grundstück wieder verlassen könnte. Er ist sicher, daß Ihr Freund Alcide bis dahin wieder in seine Wohnung zurückgefunden hat, nachdem er nun heute Nacht den Mond genießen konnte. Ich hoffe doch sehr, daß sich dies nicht allzu hart und brüsk anhört?"

„Durchaus nicht. Ich verstehe, worum es dem König geht", beteuerte Eric ebenso höflich wie unser Besucher.

Anscheinend befürchtete Russel, ich könnte einige Tage bleiben und sozusagen Kapital aus meiner heroischen Tat schlagen. Russel war es nicht gewöhnt, weibliche sterbliche Hausgäste um sich zu haben und wünschte von daher, ich möge zu Alcide zurückkehren, sobald man sicher sein konnte, daß der sich um mich kümmern würde. Russel war nicht wohl bei dem Gedanken, eine ihm unbekannte Frau könne tagsüber sein Anwesen unsicher machen, während er und all die Seinen im Tiefschlaf lagen.

Nun, mit diesen Bedenken hatte Russel durchaus recht.

„Dann werde ich jetzt losgehen und ein Auto besorgen. Das Auto parke ich hinter dem Haus, so kann Miß Stackhouse morgen allein nach Hause fahren. Wenn Sie nur dafür sorgen können, daß man sie unbehelligt die Tore passieren läßt? Ich gehe doch recht in der Annahme, daß die tagsüber bewacht werden? Dann hätte ich meinem Freund Alcide gegenüber alle Freundespflichten erfüllt."

„Das klingt doch ganz wunderbar einleuchtend", freute sich Bernhard, wobei er auch mir einen winzigen Bruchteil des strahlenden Lächelns zuteil werden ließ, mit dem er Eric fixierte. Ich gab das Lächeln nicht zurück, sondern schloß statt dessen erschöpft die Augen. „Ich werde am Tor eine entsprechende Nachricht hinterlassen. Ist es in Ordnung, wenn wir mit meinem Wagen fahren? Es ist nur eine alte Klapperkiste, aber sie bringt uns bestimmt bis nach - wohin müssen Sie denn überhaupt?"

„Das werde ich Ihnen erzählen, sobald wir unterwegs sind. Das Auto steht in der Nähe des Hauses, in dem ein Freund von mir wohnt. Dieser Freund kennt einen Mann, der uns für ein oder zwei Tage sein Auto leihen kann."

Wunderbar: Eric hatte einen Weg gefunden, sich einen Wagen zu beschaffen, ohne einen Rattenschwanz an Bürokratie hinter sich herzuziehen.

Dann spürte ich, wie sich links von mir etwas bewegte. Es war Eric, der sich über mich beugte, was ich wußte, da sein Blut, das nun in mir war, die Information an mich weitergab. Eine so enge Verbindung war beängstigend. Eben deshalb hatte Bill mich auch davor gewarnt, das Blut eines anderen Vampirs zu trinken, Blut, das nicht von ihm stammte. Zu spät! Ein ganz klarer Fall von 'vom Regen in die Traufe' ...

Eric küßte mich züchtig auf die Wange, ganz so, wie man es von einem Mann erwarten kann, der die Freundin eines nahen Freundes küßt, die krank zu Bett liegt. „Sookie", murmelte er dabei ganz leise, „kannst du mich hören?"

Ich nickte kaum merklich.

„Gut. Hör mal, ich gehe jetzt los und hole dir ein Auto. Wenn ich wiederkomme, lege ich die Schlüssel direkt neben dein Bett. Du mußt morgen früh gleich wegfahren, zurück zu Alcide. Hast du mich verstanden?"

Ich nickte erneut. „Tschüs", murmelte ich, wobei ich mir alle Mühe gab, verschlafen und leicht verwirrt zu klingen. „Vielen Dank für alles."

„Gern geschehen", erwiderte er und ich hörte die Spannung in seiner Stimme. Mit Mühe konnte ich verhindern, daß ich das Gesicht zu einem Grinsen verzog.

Niemand wird das nachvollziehen können, aber nachdem sie alle gegangen waren, schlief ich tatsächlich noch einmal ein. Bubba hatte offenbar getan, wie ihm geheißen und war über den Zaun entschwunden, um sich eine Zuflucht für den Tag zu suchen. In der Villa wurde es ruhig, als nach und nach die lärmenden Gelage der Nacht ein Ende fanden. Ich nahm an, die Werwölfe waren alle zusammen irgendwohin entschwunden, um ein letztes Mal gemeinsam den Mond anzuheulen. Während ich langsam in den Schlaf glitt, fragte ich mich, wie es den anderen Gestaltwandlern wohl ergangen sein mochte. Was hatten sie mit ihren Kleidern gemacht? Das Drama im Club war der totale Zufall gewesen; bestimmt gab es doch für den Normalfall ein Standardverfahren, nach dem vorgegangen wurde? Ich fragte mich, wo Alcide wohl war. Vielleicht war es ihm ja gelungen, den Drecksack Newlin zu erwischen.

Ich wachte auf, als ich neben meinem Kopf einen Schlüsselbund klirren hörte.

„Ich bin wieder da." Erics Stimme klang so leise, daß ich spontan die Augen aufschlug, um mich zu vergewissern, daß er wirklich im Zimmer war. „Es ist ein weißer Lincoln. Ich habe ihn draußen bei der Garage geparkt - in der Garage war kein Platz mehr, was wirklich schade ist. Sie haben mich auch nicht weiter herangelassen, sonst hätte ich bestätigen können, was Bubba erzählt hat. Hörst du mich?"

Ich nickte.

„Viel Glück." Eric zögerte. „Wenn ich mich loseisen kann, dann treffe ich dich bei Einbruch der Dunkelheit drüben in der Tiefgarage. Wenn ich dich dort nicht finde, begebe ich mich zurück nach Shreveport."

Ich öffnete die Augen. Das Zimmer war immer noch dunkel, und ich konnte sehen, wie Erics Haut schimmerte. Nicht nur Erics: auch meine. Das jagte mir eine Heidenangst ein. Gerade hatte das Leuchten meiner Haut nachgelassen, das eingesetzt hatte, als ich - in einer Notsituation - Bills Blut hatte trinken müssen, und schon war die nächste Krise da und prompt lag ich hier und leuchtete wie eine Discokugel. Anscheinend, stellte ich seufzend fest, war das Leben mit Vampiren eine einzige, immerwährende, große Notsituation.

„Wir sprechen uns später", sagte Eric, und das klang ein wenig unheilschwanger.

„Vielen Dank für das Auto."

Eric blickte nachdenklich auf mich herab. Am Hals trug er etwas, was nach Knutschfleck aussah. Ich hatte schon den Mund aufgetan, um ihn danach zu fragen, schloß ihn dann aber unverrichteter Dinge wieder. Besser gar nicht darauf eingehen.

„Ich mag es nicht, Gefühle zu haben", sagte Eric kalt, und dann ging er.

Das war ein Abgang, auf den ich schwerlich einen würde draufsetzen können.