Kapitel 8

Mich plagte das hilflose, kalte Gefühl, das einen überkommt, wenn man weiß, man wird sich in Kürze in Gefahr begeben. Alcide durfte nur diese Nacht noch den Club Dead besuchen, das hatte Terence ihm ganz deutlich zu verstehen gegeben. Danach sollte er sich dort nicht mehr blicken lassen. Nach dieser Nacht würde ich also auf mich allein gestellt sein, wobei noch nicht einmal klar war, ob mir der Zutritt zum Club ohne Alcide an meiner Seite überhaupt gestattet sein würde.

Ich kleidete mich an, wobei ich plötzlich wünschte, ich würde mich nicht für den Club Dead zurechtmachen, sondern für einen Besuch in einer ganz normalen Vampir-Bar, wo ganz normale Leute hinkamen, um Vampire anzugaffen. Fangtasia, die Bar, die Eric in Shreveport betrieb, war ein solches Lokal. Dorthin kamen sogar Busse voller Touristen im Rahmen ihres Besichtigungsprogramms, die gern bereit waren, sich einen aufregenden Abend lang ganz in Schwarz zu hüllen. Manche Besucher besprenkelten sich sogar mit künstlichem Blut oder trugen falsche Fangzähne, die sie dann stolz und mit breitem Grinsen vorführten. Diese Leute kamen, um die Vampire, die sorgfältig verteilt in der ganzen Bar saßen, anzustarren und sich an ihrem eigenen Mut zu berauschen. Von Zeit zu Zeit kam es zur Mißachtung ungeschriebener Gesetze, wenn Besucher sich bemüßigt fühlten, Grenzen zu überschreiten, die man gesetzt hatte, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten. So eine Grenzüberschreitung mochte sein, daß jemand versuchte, direkt mit einem der Vampire anzubändeln oder es Chow, dem Barkeeper, gegenüber an Respekt mangeln ließ. Einem solchen Menschen blieb es unter Umständen nicht erspart, unter Qualen herauszufinden, worauf er sich bei seinem Besuch im Fangtasia wirklich eingelassen hatte.

In einer Bar wie dem Club Dead lagen alle Karten ganz offen auf dem Tisch. Die Menschen dort dienten lediglich als Staffage - die Übernatürlichen waren die bestimmenden Faktoren des Ganzen.

In der vorigen Nacht war ich aufgeregt und neugierig gewesen, jetzt verspürte ich nur noch eine Art stoische Entschlossenheit. Mir war, als hätte ich starke Drogen genommen, die all meine normalen Empfindungen dämpften, so daß ich diese gar nicht mehr richtig spüren konnte. Ich streifte mir die Nylonstrümpfe über, dazu den hübschen schwarzen Strapsgürtel, den Arlene mir geschenkt hatte. Beim Gedanken an meine rothaarige Freundin und deren auch nach vier gescheiterten Ehen immer noch ungebremsten Optimismus die Männerwelt betreffend mußte ich schmunzeln. Koste jede Minute, jede Sekunde deines Lebens voll aus, pflegte Arlene mir zu predigen, geh mit Schwung an die Dinge heran! Wer kann denn sagen, hätte sie jetzt bestimmt bemerkt, welchen Mann mir diese Nacht bescheren mag? Vielleicht war dies die Nacht der Nächte, vielleicht sorgte genau dieses schwarze Strumpfband, das ich mir gerade über den Schenkel gestreift hatte, dafür, daß mein Leben eine ganz neue, völlig unerwartete Wendung nahm!

Ein richtig fröhliches Lächeln brachte ich zwar nicht zustande, aber als ich mir nun ganz vorsichtig das Kleid über den Kopf zog, fühlte ich mich schon viel weniger verbittert. Mein Kleid war champagnerfarben und sehr kurz - viel Stoff war nicht vorhanden. Dazu trug ich hochhackige Schuhe und Straßohrringe. Die Frage, ob mein alter blauer Mantel wirklich zu schäbig war für den heutigen Abend und ob es die Eitelkeit von daher verlangte, daß ich mir den Hintern abfror, hatte ich noch nicht abschließend entschieden. Ich warf einen letzten prüfenden Blick auf das gute aber auch wirklich schon sehr abgetragene Stück und stieß einen tiefen Seufzer aus. Dann legte ich mir den Mantel kurzentschlossen über den Arm und trug ihn ins Wohnzimmer. Alcide war schon fertig umgezogen und wartete auf mich. Mir war gerade aufgefallen, wie nervös der Mann wirkte, da zog er auch schon aus dem Geschenkestapel, den er am Morgen zusammengetragen hatte, eine Schachtel hervor. Dabei trug er dieselbe leicht befangene Miene zur Schau, die mir auch schon aufgefallen war, als ich am Vormittag von meinem Spaziergang heimkehrte.

„Das hier bin ich Ihnen schuldig, glaube ich", sagte er und gab mir die große Schachtel.

„Alcide! Sie haben ein Geschenk für mich besorgt?" Eine blöde Frage, ich weiß! Schließlich stand ich ja mit einem riesigen Paket in den Händen da! Aber wissen Sie: In meinem Leben kommt es nicht so oft vor, daß jemand mich beschenkt.

„Machen Sie schon auf", brummte mein Gastgeber.

Ich warf meinen Mantel auf den nächstbesten Stuhl und machte mich ungeschickt daran, den Karton aus seinem Geschenkpapier zu befreien - noch hatte ich mich nicht wirklich daran gewöhnt, mit künstlichen langen Fingernägeln zu leben. Als die weiße Pappschachtel ausgepackt war und ich ihren Deckel hob, sah ich auf den ersten Blick, daß Alcide meine Abendstola ersetzt hatte. Langsam zog ich ein langes, rechteckiges Stück Stoff aus der Verpackung, wobei ich jede Sekunde dieses Vorgangs aus ganzem Herzen genoß. Die Stola war wunderschön - ein schwarzer Samtumhang mit Perlenstickerei. Mir war sofort klar, daß Alcide für dieses Kleidungsstück mindestens fünfmal so viel hatte hinblättern müssen wie ich seinerzeit für die Stola, die nun unbrauchbar geworden war. Ich war sprachlos, etwas, was mir wirklich nicht oft passiert. Ich bekomme sehr selten Geschenke, und wenn mich dann doch einmal jemand beschenkt, dann nehme ich das nie auf die leichte Schulter. Ich kuschelte mich also in den Samt, genoß den Luxus, der mich jetzt umhüllte, aus ganzer Seele und rieb meine Wange an dem weich fließenden Stoff.

„Danke", sagte ich dann mit zittriger Stimme.

„Gern geschehen", erwiderte Alcide. „Mein Gott, nicht weinen! Ich wollte Ihnen doch eine Freude machen."

„Sie haben mir auch eine Freunde gemacht. Eine große Freude. Ich werde nicht weinen." Mit diesen Worten schluckte ich ein paar Tränen hinunter und ging ins Bad, um einen Blick in den Spiegel dort zu werfen. „Wunderschön!" rief ich Alcide zu und meinte es auch so.

„Ich freue mich, daß der Umhang Ihnen gefällt", sagte er brüsk. „Ich dachte, das sei das Mindeste, was ich tun konnte." Er trat neben mich und zog die Stola so zurecht, daß der schwarze Samtstoff die roten, verschorften Wunden auf meiner linken Schulter verdeckte.

„Sie waren mir gar nichts schuldig!" protestierte ich. „Ich bin diejenige, die in Ihrer Schuld steht." Dann mußte ich feststellen, daß die Ernsthaftigkeit, mit der ich Letzteres gesagt hatte, Alcide ebenso verstörte, wie meine Tränen es getan hatten. „Auf geht's!" fuhr ich also betont munter fort. „Club Dead, wir kommen. Heute abend finden wir einfach alles heraus, was wir wissen müssen, und niemand kommt dabei zu Schaden."

Womit dann wohl erwiesen wäre, daß ich einfach nicht über das zweite Gesicht verfüge.

* * *

Alcide trug an diesem Abend einen anderen Anzug und ich ein anderes Kleid, aber Josephine's schien sich ganz und gar nicht verändert zu haben: ein verlassener Bürgersteig, eine unheilverkündende Atmosphäre. Die Nacht war noch kälter als die vorhergegangene; es war so kalt, daß mir der Atem vor dem Mund gefror und ich ihn sehen konnte. Dankbar genoß ich die Wärme, die meine neue Samtstola mir spendete. Diesmal sprang Alcide rasch aus dem Auto, kaum daß wir angekommen waren, und eilte in den Schutz der Markise vor dem Eingang zur Bar, ohne auch nur Anstalten zu machen, mir beim Aussteigen behilflich zu sein. Unter der Markise wartete er dann auf mich.

„Vollmond", erklärte er kurz angebunden. „Das wird nicht einfach heute Nacht. Überall Spannungen."

„Tut mir leid", sagte ich, wobei ich mich ganz hilflos fühlte. „Das muß ja ziemlich anstrengend sein für Sie." Hätte er sich nicht verpflichtet, mich zu begleiten, wäre Alcide jetzt mit seinen Kumpels durch die Wälder gestreift und hätte Kaninchen und Hirsche jagen können. Er tat meine Entschuldigung mit einem Achselzucken ab. „Es gibt ja noch die morgige Nacht", versicherte er beruhigend. „Die ist fast so gut wie die heutige." Aber sein ganzer Körper vibrierte vor Spannung und strafte seine Worte Lügen.

In dieser Nacht erschrak ich kaum noch, als unser Pick-up scheinbar ganz von allein von dannen rollte; ich zuckte noch nicht einmal zusammen, als Mr. Hob die Tür öffnete. Ich kann nicht sagen, daß der Goblin bei unserem Anblick erfreut gewirkt hätte, aber ich wäre ohnehin nicht in der Lage gewesen, die Miene, die er normalerweise zur Schau stellte, richtig zu interpretieren. Der Mann hätte vor Freude geistig sozusagen Purzelbäume schlagen können - mir wäre das nicht aufgefallen.

Aus irgendeinem Grund jedoch hegte ich ernsthafte Zweifel daran, daß mein erneutes Auftauchen in seinem Club Hob freudig erregte. Ob er der Besitzer war? Ich mochte nicht recht glauben, daß Hob auf die Idee gekommen wäre, einen Club Josephine's' zu nennen. ,Zum stinkenden Kadaver', das wäre hingekommen, 'Glühende Maden' auch - aber 'Josephine's'? Nein.

„Wir wünschen hier heute Nacht keinen Arger", teilte Hob uns zur Begrüßung grimmig mit. Seine Stimme klang holprig und irgendwie verrostet, als würde er nicht oft etwas sagen und als gefiele ihm auch nicht, daß er sich nun zum Reden gezwungen sah.

„Das war nicht die Schuld von Miß Stackhouse", gab Alcide zurück.

„Nichtsdestoweniger", sagte Hob, wobei er es dann beließ. Wahrscheinlich hatte er das Gefühl, mehr brauche er nicht zu sagen, und damit hatte er auch völlig recht. Mit einer ruckartigen Kopfbewegung wies das kurze, massige Männchen auf eine Gruppe von Tischen, die man zusammengeschoben hatte. „Der König erwartet Sie bereits."

Die Männer am Tisch erhoben sich, als ich zu ihnen trat. Russel Edgington und sein Freund Talbot saßen so, daß sie die Tanzfläche im Auge hatten; ihnen gegenüber hatte ein älterer Vampir (älter in dem Sinne, daß er bereits älter gewesen war, als er untot wurde) Platz genommen. Neben diesem mir unbekannten Vampir saß eine Frau, die sitzen geblieben war, als ich an den Tisch trat. Ich musterte sie mit einem flüchtigen Blick, stutzte dann aber und sah genauer hin. Dann kreischte ich vor Freunde laut los.

„Tara!"

Als Antwort kreischte meine High School-Freundin ebenso laut und freudig wie ich und sprang auf. Wir umarmten einander enthusiastisch und kräftig, nicht wie bei sonstigen Treffen, bei denen wir es bei einer nicht halb so begeisterten, eher förmlichen Umarmung zu belassen pflegten. Club Dead war Neuland für uns; hier waren wir beide Fremde in einem fremden Land.

Tara ist ein paar Zentimeter größer als ich, hat dunkle Augen, dunkles Haar und olivfarbene Haut. An diesem Abend trug sie ein langärmliges Kleid aus einem weichen Stoff in Gold- und Bronzetönen, der schimmerte, wenn sie sich bewegte. Dazu trug sie Schuhe mit ungemein hohen Absätzen, wodurch sie ebenso groß war wie ihr Begleiter.

Gerade hatte ich mich aus der stürmischen Umarmung gelöst und Tara einen letzten, freundschaftlichen Klaps auf den Rücken gegeben, als mir auch schon klar wurde, daß dieses Zusammentreffen ausgerechnet hier, ausgerechnet heute das Schlimmste war, was mir überhaupt hätte widerfahren können. Rasch schaltete ich mich in Taras Gedanken ein, und es war genau, wie ich mir gedacht hatte: Sie wollte mich gerade fragen, warum ich mit einem Mann unterwegs war, bei dem es sich nicht um Bill handelte.

„Hey, Lieblingsfreundin, komm doch kurz mit mir Hände waschen!" bat ich sie daraufhin fröhlich, und brav schnappte Tara sich ihre Handtasche, nicht ohne ihrem Begleiter das perfekte Abschiedslächeln zuzuwerfen: halb Entschuldigung, halb Versprechen. Ich verabschiedete mich von Alcide mit einem fröhlichen Winken, entschuldigte mich bei den anderen Männern, und dann entfernten wir beide uns schleunigst in Richtung Toiletten, die von dem kleinen Flur abgingen, der zur Hintertür der Bar führte. Zum Glück war gerade niemand in der Damentoilette. Damit das auch so blieb, schloß ich die Tür und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Mir gegenüber stand Tara, tausend Fragen im Gesicht.

„Tara, bitte, erzähl nichts von Bill. Erzähl überhaupt nichts über Bon Temps."

„Willst du mir sagen, warum nicht?"

„Nun ..." Verzweifelt versuchte ich, mir eine halbwegs plausible Begründung einfallen zu lassen, aber mir wollte einfach keine in den Kopf kommen. „Tara, es kostet mich das Leben, wenn du den Mund nicht hältst."

Sie zuckte zusammen und warf mir einen prüfenden Blick zu. Wer hätte das nicht getan? Aber Tara hatte in ihrem Leben schon allerhand mitgemacht und war ein zäher, wenn auch verwundeter Vogel. „Ich habe mich so gefreut, dich zu sehen", sagte sie. „Ich habe mich dort in der Gruppe ziemlich allein gefühlt. Wer ist dein neuer Freund, und was ist er?"

Ich vergesse immer wieder, daß andere Menschen so etwas nicht von allein herausfinden können. Dazu kommt, daß ich manchmal fast vergesse, daß andere Menschen nichts von Werwölfen und Gestaltwandlern ahnen. „Landvermesser", sagte ich. „Komm, ich mache euch miteinander bekannt."

Am Tisch strahlte ich erst einmal alle anwesenden Männer ganz herzlich an und entschuldigte mich dafür, daß ich so schnell wieder verschwunden war. „Da habe ich ganz meine guten Manieren vergessen!" Dann machte ich Alcide mit Tara bekannt, und Alcide machte einen angemessen erfreuten Eindruck. Danach war Tara an der Reihe: „Sookie", sagte sie, „darf ich dir Franklin Mott vorstellen?"

„Freut mich sehr, Sie kennenzulernen", erwiderte ich höflich und hatte meine Hand schon ausgestreckt, ehe mir klar wurde, daß ich damit einen Faux Pas beging. Vampire schütteln sich nicht die Hand. Ich entschuldigte mich hastig, zog die Hand zurück und winkte dem Vampir einfach nur kurz zu. „Wohnen Sie hier in Jackson, Mr. Mott?" erkundigte ich mich dann, fest entschlossen, Tara durch mein Verhalten nicht in Verlegenheit zu bringen.

„Nennen Sie mich doch bitte Franklin", erwiderte der Vampir. Er hatte eine wunderbare, samtweiche Stimme und einen leichten italienischen Akzent. Er mochte Ende fünfzig, Anfang sechzig gewesen sein, als er starb; die Haare auf seinem Kopf und sein Schnurrbart waren stahlgrau, sein Gesicht von feinen Linien gezeichnet. Er wirkte sehr kraftvoll und ungeheuer männlich. „Ja, ich wohne in Jackson", fuhr er fort, „aber mein Unternehmen hat Zweigstellen hier, in Ruston und in Vicksburg. Tara habe ich auf einem Treffen in Ruston kennengelernt."

Langsam, aber sicher kam die Maschinerie in Gang, die für einen reibungslosen Ablauf höflicher gesellschaftlicher Konversation zuständig ist. Wir erklärten den Männern, daß wir zusammen die High School besucht hatten; dann bestellten alle etwas zu trinken. Die Vampire entschieden sich für synthetisches Blut; Tara, Talbot, Alcide und ich bestellten Mixgetränke, wobei ich befand, ein weiterer Champagnercocktail sei genau das Richtige für mich. Die Kellnerin, eine Gestaltwandlerin, bewegte sich merkwürdig. Fast schien es, als schleiche sie, und zum Reden aufgelegt war sie auch nicht. So eine Vollmondnacht machte sich anscheinend auf verschiedene Art und Weise bemerkbar.

In dieser Nacht, in der der Mondzyklus seinen Höhepunkt erreichen sollte, befanden sich weit weniger Doppelwesen in der Bar als in der Nacht zuvor. Ich war froh, feststellen zu können, daß Debbie und ihr Verlobter fehlten und daß nur sehr wenige Werrocker anwesend waren. Dafür waren mehr Vampire und Menschen gekommen. Wie die Vampire Jacksons es nur fertigbrachten, die Existenz dieser Bar geheimzuhalten? Es gab doch unter den Menschen, die in Begleitung übernatürlicher Wesen hierherkamen, bestimmt den einen oder anderen, der sich nur zu gern einem Reporter anvertraut oder auch nur in einer Gruppe von Freunden über seine Erlebnisse im Club Dead geplaudert hätte.

Ich fragte Alcide danach, und der meinte unbeeindruckt: „Auf der Bar liegt ein Zauberspruch. Selbst wenn Sie wollten, Sie wären gar nicht in der Lage, anderen zu erzählen, wie man hierher kommt."

Das würde ich später einmal ausprobieren müssen, um feststellen zu können, ob das wirklich nahtlos funktionierte. Wer den Zauberbann - oder wie man so etwas nannte - wohl gesprochen haben mochte? Jetzt, wo ich an Werwölfe, Vampire und Gestaltwandler glaubte, war es bis zum Glauben an die Existenz von Hexen und Hexerei auch nicht mehr weit.

Da saß ich nun zwischen Talbot und Alcide eingeklemmt an unserem Tisch und hatte eine Unterhaltung in Gang zu halten. Talbot schien nichts dagegen zu haben, ein wenig mit mir zu plaudern, und so fragten ich auch ihn nach den Geheimhaltungsregeln und Verfahrensweisen im Club, denn Alcide und Franklin Mott hatten festgestellt, daß sie gemeinsame Bekannte hatten und waren beschäftigt. Talbot trug zuviel Eau de Cologne, was ich ihm aber nicht ankreiden mochte. Der Mann war verliebt und noch dazu süchtig nach Sex mit Vampiren ... beides hängt keineswegs immer untrennbar miteinander zusammen, das dürfen Sie nicht denken! Talbot war ein skrupelloser, sehr intelligenter Mann, der nicht recht verstehen konnte, wie sein Leben eine so exotische Wendung hatte nehmen können. (Noch dazu war er ein hervorragender „Sender", weswegen ich auch mühelos so viel über sein Leben erfahren konnte).

Bereitwillig wiederholte der Mann Alcides Geschichte vom Zauberbann, der auf der Bar lag. „Um dafür zu sorgen, daß alles, was innerhalb der Bar geschieht, ein Geheimnis bleibt, bedient man sich allerdings noch anderer Methoden", fuhr er dann bedacht fort, als sei er sich nicht ganz schlüssig, ob er mir die kurze oder die lange Antwort zuteil werden lassen sollte. Nachdenklich betrachtete ich das angenehme, gutaussehende Gesicht neben mir und rief mir energisch in Erinnerung, daß dieser Mann genau wußte, daß Bill gefoltert wurde und daß ihm das völlig egal war. Ich wünschte mir, er würde wieder an Bill denken, ich wollte so gern mehr erfahren. Unter Umständen wüßte ich dann zumindest, ob Bill noch existierte oder aber bereits endgültig tot war. „Nun, Miß Sookie: Alles, was hier in diesen Räumen geschieht, bleibt deswegen ein Geheimnis, weil jedem, der plaudert, Gewalt und strenge Strafe droht."

Das erzählte mir der Mann voller Genuß - ihm gefiel das Konzept von Gewalt und Strafe. Noch dazu gefiel es ihm, das Herz Russel Edgingtons erobert zu haben - das Herz eines Wesens, das imstande war, einfach so zu töten, eines Wesens, das es verdiente, von allen gefürchtet zu werden. „Jeder Vampir oder Wer - oder auch jedes andere übernatürliche Wesen, und Sie haben noch nicht viele von denen zu Gesicht bekommen, glauben Sie mir der oder das einen Menschen mit hierher bringt, ist verantwortlich dafür, wie dieser Mensch sich benimmt. Wenn Sie zum Beispiel heute abend hier rausgehen und eine Boulevardzeitung anrufen, wäre Alcide verpflichtet, Sie aufzuspüren, zu jagen und zu töten."

„Verstehe." Ich verstand wirklich. „Was, wenn Alcide es nicht über sich brächte, mich zu töten?"

„Dann wäre auch sein Leben verwirkt, und einer der Kopfgeldjäger würde beauftragt, den Job zu erledigen."

Jesus Christus, Hirte von Judäa! „Kopfgeldjäger?" Alcide hätte mir wirklich mehr erzählen können, er hatte sich reichlich bedeckt gehalten! Das mit den Kopfgeldjägern war eine ziemlich unangenehme Überraschung. Von daher war es nicht weiter verwunderlich, daß meine Stimme bei der Frage nach diesen Kopfgeldjägern ein klein wenig krächzend klang.

„Aber sicher doch. Hier in der Gegend erledigen solche Aufgaben die Werwölfe, die Rockerkutten tragen. Heute Nacht hören die sich hier im Lokal ein wenig um, denn ..." Dann verfinsterte sich Talbots Miene, und er schien mißtrauisch zu werden. „Der Mann, der Sie belästigt hat - haben Sie den eigentlich letzte Nacht noch mal wiedergesehen? Nachdem Sie die Bar verlassen hatten?"

„Nein", sagte ich, was zumindest rein technisch gesehen nichts als die Wahrheit war. Ich hatte ihn ja wirklich in der fraglichen Nacht nicht noch einmal zu Gesicht bekommen. Mir war schon klar, was Gott von solchen Unwahrheiten hält, die man sagen kann, ohne zu lügen, aber ich ging davon aus, daß ER wollte, daß ich mein Leben rettete. „Alcide und ich fuhren gleich nach dem Vorfall zurück in seine Wohnung. Ich war ziemlich fertig." Bei diesen Worten senkte ich verschämt den Blick, ganz das brave Mädchen, das es nicht gewohnt ist, in einer Bar von fremden Männern angemacht zu werden. (Was natürlich ebenfalls nicht wirklich der Wahrheit entsprach: Sam hat solche Zwischenfälle zwar auf ein Minimum reduziert und das Gerücht, ich sei verrückt und von daher nicht wirklich begehrenswert, war weit verbreitet, aber dennoch bekam ich es von Zeit zu Zeit durchaus mit aggressiven Übergriffen auf meine Person und auch in einem gewissen Maß mit eher halbherzigen Anmachen durch Typen, die zu betrunken waren, um sich darum zu scheren, daß ich ja eigentlich als verrückt galt, zu tun).

„Als es gestern so aussah, als würde es zu Handgreiflichkeiten kommen, haben Sie sich ziemlich gut gehalten", bemerkte Talbot grüblerisch. Im Stillen dachte er, der Mut, den ich am Abend zuvor zur Schau gestellt hatte, passe so gar nicht zu dem sittsamen Benehmen, das ich heute an den Tag legte. Verdammt, da hatte ich meine Rolle wohl etwas übertrieben.

„Unsere Sookie hat Biß und Rückgrat!" mischte Tara sich in unser Gespräch, was mir nur recht war. „Sie war die Mutige, als wir damals auf der Bühne tanzten, nicht ich. Das muß jetzt eine Million Jahre her sein! Ich habe gezittert wie Espenlaub, als der Vorhang aufging."

Vielen Dank, Tara!

„Sie haben getanzt?" fragte Franklin Mott, dessen Aufmerksamkeit wir durch die Wende in der Unterhaltung nun auch geweckt hatten.

„Aber ja - und wir haben den Talentwettbewerb sogar gewonnen!" verkündete Tara stolz. „Aber was wir nicht wußten, was wir nicht einmal ahnten - bis wir dann den Schulabschluß in der Tasche hatten und uns ein wenig in der Welt umsehen durften das war, daß unsere kleine Nummer damals wohl ein wenig ..."

„... gewagt und aufreizend gewesen sein muß", ergänzte ich den Satz, denn ich wollte die Dinge lieber gleich beim richtigen Namen nennen. „Wir waren bestimmt die unschuldigsten beiden Mädchen an unserer kleinen High School, und unsere Tanznummer hatten wir nichtsahnend von einem Musikclip auf MTV abgekupfert."

„Wir haben Jahre gebraucht, bis wir endlich verstanden hatten, warum der Direx bei unserem Auftritt derart ins Schwitzen geraten ist!" plauderte Tara mit einem Lächeln, das anzüglich, aber auch gerade noch eben charmant zu nennen war. „Weißt du was? Ich rede mal kurz mit dem DJ!" Mit diesen Worten sprang sie auf und bahnte sich energisch einen Weg zu dem Vampir, der gerade auf der winzigen Bühne seine Musikanlage aufgebaut hatte. Der beugte sich zu ihr und hörte ihr aufmerksam zu. Dann nickte er.

„Oh nein!" Gleich würde es fürchterlich peinlich werden.

„Was ist denn?" fragte Alcide belustigt.

„Sie wird mich zwingen, die Nummer noch einmal zu bringen!"

Da eilte die strahlende Tara auch schon zurück an unseren Tisch. Bis sie mich bei den Händen packen und auf die Beine stellen konnte, hielt ich bereits fünfundzwanzig gute Gründe parat, die alle gegen ihr Vorhaben sprachen. Aber es war klar, daß es eigentlich nur einen Weg gab, mich aus der Affäre zu ziehen: die Flucht nach vorn. Tara hatte ihr Herz daran gehängt, daß wir uns hier produzierten, und Tara war meine Freundin. Die Menge wich zur Seite und machte uns Platz, und dann ertönten auch bereits die ersten Takte von Pat Benatars 'Love is a Battlefield'!

Leider Gottes erinnerte ich mich ganz genau an jede einzelne Drehung und Wendung, an jeden einzelnen lasziven Hüftschwung.

In aller Unschuld hatten Tara und ich unsere Nummer damals fast wie eine Paarnummer im Eiskunstlaufen geplant, was hieß, daß wir uns ständig - oder doch zumindest fast ständig - irgendwo berührten. Wenn das nicht aussah wie die lesbische Aufheiznummer in einer Striptease-Bar, dann wußte ich es auch nicht! Nicht, daß ich je in einer Striptease-Bar oder einem Pornokino gewesen wäre! Ich gehe nur davon aus, daß man dort dasselbe von wirklich allen Anwesenden aufsteigende Begehren mitbekommt, wie ich es nun in dieser Nacht im Josephine's wahrnahm. Es gefiel mir nicht, das Objekt all dieser gebündelten Begierde zu sein - andererseits, das läßt sich nicht leugnen, spürte ich auch eine gewisse Macht.

Inzwischen war ich nicht mehr unschuldig; seit Bill war mein Körper vertraut mit gutem Sex, und ich bin sicher, ich tanzte nun so, als wüßte ich, wie man sich am Sex erfreuen kann. Tara ging es ebenso. Auf eine leicht perverse Art erlebten wir einen Augenblick reiner Frauenpower: 'I'm a woman, hear me roar!' Nun, und die Liebe ist ja nun auch wirklich ein Schlachtfeld, da hatte Benatar völlig recht mit ihrem Lied.

Während der letzten paar Takte standen wir seitwärts zum Publikum, Tara hatte mir den Arm um die Hüfte gelegt, und wir stießen im Rhythmus mit den Hüften aneinander und beugten uns so weit vor, daß unsere Hände über den Boden fegten. Dann verstummte die Musik. Einen klitzekleinen Moment Augenblick lang herrschte tiefe Stille; dann folgte donnernder Applaus, gemischt mit ein paar begeisterten Pfiffen.

Die Vampire dachten an das Blut, das in unseren Adern floß - das konnte ich den hungrigen Blicken entnehmen, mit denen sie uns musterten. Ganz besonders dachten sie an die Hauptschlagadern an den Innenseiten unserer Oberschenkel. Außerdem hörte ich, wie die Werwölfe sich allesamt ausmalten, wie gut wir schmecken würden - so kam ich mir im Grunde wie der reine Snack vor, als wir uns nun einen Weg zurück an unseren Tisch bahnten. Die ganze Strecke entlang wurde Tara und mir von allen Seiten begeistert auf die Schulter geklopft. Wir erhielten zahlreiche Komplimente und ebenso viele Einladungen. Ich war sogar versucht, auf die Einladung eines Vampirs mit wunderhübschen Locken, der mit mir tanzen wollte, auch wirklich einzugehen. Er war ungefähr so groß wie ich und niedlich wie ein Kaninchen. Aber dann lächelte ich ihm doch nur zu und ging rasch weiter.

Mott war begeistert. „Sie hatten ja so recht!" sagte er, während er Tara den Stuhl zurechtrückte. Alcide blieb, wie ich feststellen mußte, sitzen und funkelte mich wütend an, wodurch er Talbot zwang, sich über ihn hinweg zu beugen, um auch mir den Stuhl zurechtzurücken - eine recht improvisierte, unbeholfen wirkende höfliche Geste. (Die Talbot allerdings ein lobendes Schultertätscheln Russels einbrachte.) „Ich kann nicht glauben, daß man euch Mädels für diese Nummer damals nicht gleich von der Schule geschmissen hat!" sagte der Liebhaber des Vampirkönigs, bemüht, den peinlichen Moment zwischen mir und meinem Begleiter zu überspielen. Für einen eifersüchtigen Blödmann hatte ich Alcide eigentlich nicht gehalten!

„Wir hatten ja keine Ahnung!" sagte Tara lachend. „Keinen blassen Schimmer. Wir konnten wirklich nicht verstehen, worüber sich alle so aufregten."

„Welche Laus ist denn Ihnen über die Leber gelaufen?" erkundigte ich mich derweil leise bei Alcide. Aber dann lauschte ich genau auf das, was in seinem Kopf vor sich ging und fand heraus, weswegen er so unzufrieden war. Alcide ärgerte sich, mir gegenüber zugegeben zu haben, daß Debbie ihm nicht gleichgültig war. Wenn er das nicht getan hätte, hätte er jetzt nämlich ernsthafte Anstrengungen unternommen, später mein Bett teilen zu dürfen. Einerseits fühlte er sich ein wenig schuldig am Lauf der Dinge, andererseits war er aber auch wütend darüber, und der Vollmond machte ihm schwer zu schaffen - wenn man es recht bedachte, lebte ja auch Alcide mit einem Zyklus, hatte sozusagen sein 'Tage'.

„Besonders angestrengt halten Sie ja nicht gerade Ausschau nach Ihrem Liebsten!" sagte er mit einem gehässigen, kalten Unterton.

Das war, als hätte man mir einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf gegossen - ein Schock, der noch dazu sehr weh tat. Mir schossen Tränen in die Augen. Erschwerend kam hinzu, daß jeder am Tisch mitbekommen hatte, daß Alcide etwas zu mir gesagt hatte, was mich sehr mitnahm.

Talbot, Russel und Franklin bombardierten meinen Begleiter daraufhin mit Blicken, die reine Drohgebärden waren. Talbots Blick war nur ein schwacher Abglanz dessen, was sein Liebhaber zustande brachte und konnte von daher getrost ignoriert werden. Aber Russel war nun einmal König und Franklin ganz augenscheinlich ein einflußreicher Vampir. Mit einem Schlag war meinem Begleiter wieder klar, wo er sich befand und mit wem zusammen er am Tisch saß.

„Entschuldige, Sookie, ich war nur eifersüchtig", sagte er so laut, daß jeder in unserer Runde ihn hören konnte. „Das war wirklich interessant."

„Interessant?" fragte ich so unbekümmert ich konnte. Ich war ziemlich wütend, verdammt wütend sogar. Ich lehnte mich hinüber und fuhr Alcide neckisch durchs Haar. „Du fandest uns also nur interessant?" Wir lächelten einander an, wobei sein Lächeln ebenso falsch war wie meins. Die anderen kauften es trotzdem. Ich verspürte den dringenden Wunsch, mir eine Handvoll dieser schwarzen Locken zu schnappen und kräftig daran zu reißen. Alcide mochte ja kein Telepath sein wie ich, aber einen starken spontanen Impuls konnte auch er lesen. Er mußte sich sehr zusammenreißen, um nicht erschrocken zurückzuzucken.

Wieder mischte Tara sich ein - Gott schütze diese Frau! - und erkundigte sich bei Alcide, was er beruflich mache, und so verging ein weiterer unangenehmer Moment, ohne daß etwas Schreckliches geschah. Ich schob meinen Stuhl ein kleines Stück weiter zurück und schuf so ein wenig Abstand zwischen mir und den anderen am Tisch. Dann ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Alcide hatte ja recht gehabt, es war wirklich an der Zeit, daß ich arbeitete, statt mich nur zu amüsieren. Aber ich hatte wirklich nicht gewußt, wie ich Tara etwas hätte verwehren können, was ihr offensichtlich so großen Spaß machte.

Einen Moment lang teilte sich die Menge auf der inzwischen überfüllten Tanzfläche, und ich erhaschte einen Blick auf Eric, der hinter der kleinen Bühne an der Wand lehnte. Seine Augen waren auf mich gerichtet und sprühten vor Hitze. Da war also jemand, der nicht wütend auf mich war, der unsere kleine Nummer ebenso gutgelaunt und wohlwollend aufgenommen hatte, wie wir sie hatten präsentieren wollen.

Eric sah in seinem Anzug und mit der Brille auf der Nase nett aus. Ich beschloß, es müsse an dieser Brille liegen, daß er so viel weniger furchterregend aussah als sonst und wandte meine Gedanken wieder der Arbeit zu. Weniger Weren und Menschen - das bedeutete, daß es einfacher war, einzelnen zuzuhören, daß es leichter war, bestimmte Gedankenstränge bis zu demjenigen zurückzuverfolgen, der sie gedacht hatte. Ich hatte kaum die Augen geschlossen, um mich besser konzentrieren zu können, da schnappte ich auch schon Teile eines inneren Monologs auf, der mich erschütterte.

„Ein Märtyrer", schoß es da irgendeinem Mann durch den Kopf. Daß es ein Mann war, das wußte ich - ebenso, daß der Gedanke hinter mir gedacht worden war, in der Nähe des Tresens. Unwillkürlich wollte ich den Kopf dorthin wenden, aber ich konnte mich gerade noch beherrschen. Es hätte nichts gebracht, jetzt dorthin zu sehen, dennoch war der Impuls, es zu tun, so stark, daß ich ihm fast nicht widerstehen konnte. Ich riß mich zusammen und starrte zu Boden, um mich nicht von den Bewegungen anderer Gäste ablenken zu lassen.

Kein Mensch denkt in vollständigen Sätzen, das ist doch klar, oder? Wenn ich die Gedanken anderer also aufschreibe, dann übersetze ich dabei quasi.

„Wenn ich sterbe, wird mein Name weiterleben", dachte der Unbekannte. „Mein Name wird berühmt sein. Gleich ist es soweit. Gott, bitte mach, daß es nicht weh tut. Wenigstens ist er bei mir ... ich hoffe, der Pfahl ist spitz genug."

Verdammt! Ehe ich mich's versah, war ich auch schon aufgesprungen und hatte unseren Tisch verlassen.

* * *

Dann schob ich mich ganz langsam immer näher an den Tresen heran, wobei ich die Musik und die Stimmen um mich herum so gut es ging ausblendete, um mich ganz auf die Dinge konzentrieren zu können, die im stillen gesagt wurden. Das war ein wenig wie Schwimmen unter Wasser. Am Tresen saß eine Frau mit einem Turm hochtoupierten Haars auf dem Kopf, die sich gerade ein Glas synthetisches Blut hinter die Binde kippte. Das Kleid, das sie trug, hatte ein enges Oberteil, unter dem sich ein weit ausgestellter Rock bauschte. Die muskulösen Arme und breiten Schultern der Frau wirkten in dieser Bekleidung etwas befremdlich, aber ich würde nicht diejenige sein, die ihr das sagte, und so hielt es wohl auch jede andere Person, die halbwegs bei Verstand war. Diese Frau konnte niemand anderes sein als Betty Joe Pickard, Russel Edgingtons Stellvertreterin. Irgendwie war ihr Outfit aber auch perfekt: Es fehlten weder die weißen Handschuhe noch die Pumps. Eigentlich war das einzige, was fehlte, ein kleiner Hut mit einem halben Schleier! Ich wäre jede Wette eingegangen, daß Betty Joe eine große Verehrerin Mamie Eisenhowers gewesen war.

Hinter dieser wahrhaft beeindruckenden Frau standen ebenfalls mit den Gesichtern zum Tresen zwei Männer, von denen der eine groß war und mir seltsam vertraut vorkam. Sein braunes Haar mit den zahlreichen grauen Strähnchen war lang, aber sorgfältig gekämmt und wirkte wie ein ganz gewöhnlicher Männerhaarschnitt, dem man erlaubt hatte zu wachsen, wohin er will. Die Frisur paßte überhaupt nicht zu dem Anzug, den der Mann trug. Sein Begleiter war ein bißchen kleiner und hatte dickes, zerzaustes, schwarzes Haar, das allerdings auch bereits leicht graumeliert war. Der zweite Mann trug ein Sportsakko, das gut von der Stange eines Warenhauses stammen mochte, und zwar von der Stange, an der die Sonderangebote hingen.

Unter diesem billigen Sakko trug der Mann in einer extra zu diesem Zweck eingenähten Tasche einen Pfahl.

Das hört sich vielleicht jetzt schrecklich an, aber ich muß zugeben, ich zögerte. Wenn ich den Mann aufhielte, dachte ich, würde ich damit mein bisher unerkannt gebliebenes Talent offenbaren und zugleich ja auch meine Identität. Die Folgen einer solchen Enthüllung hingen von dem ab, was Edgington über mich wußte. Offenbar war ihm bekannt, daß Bills Freundin im Merlottes in Bon Temps als Kellnerin arbeitete, aber er wußte nicht, wie diese Freundin hieß. Deswegen hatte ich mich ihm getrost als Sookie Stackhouse vorstellen können. Sollte Russel jedoch wissen, daß Bills Freundin Telepathin war und sollte er dann entdecken, daß das auch auf mich zutraf - wer konnte sagen, was dann passieren würde?

Obwohl: Um ehrlich zu sein, konnte ich mir die Folgen einer solchen Entdeckung durchaus vorstellen.

Während ich noch zögerte, gleichzeitig beschämt und verängstigt, wurde mir die Entscheidung auch schon aus der Hand genommen. Der Mann mit dem schwarzen Haar langte in seinen Mantel, während der Fanatismus, der in seinem Kopf tobte, einen absoluten Höhepunkt erreichte. Der Fanatiker zog tatsächlich einen langen, zugespitzten Stab aus Eschenholz aus der Manteltasche, und dann passierten ziemlich viele Dinge auf einmal.

Ich schrie: „Pflock!" und machte einen Satz nach vorn, erwischte den Fanatiker am Arm und klammerte mich verzweifelt mit beiden Händen daran fest. Die Vampire und ihre Menschen wirbelten herum, um zu sehen, woher die Bedrohung kam, wohingegen die Wandler und Werwölfe sich wohlweislich rings an den Wänden verteilten, um das Feld ganz den Vampiren zu überlassen. Der große Mann mit dem langen Haar schlug auf mich ein, wobei seine riesigen Hände mich schmerzhaft auf Kopf und Schultern trafen, während sein dunkelhaariger Gefährte sich verzweifelt windend versuchte, meinem Griff zu entkommen. Als ihm das nicht gelang, warf er sich von einer Seite auf die andere, um mich abzuschütteln.

Irgendwann in diesem ganzen Durcheinander begegnete mein Blick dem des großen Mannes mit dem langen Haar, und wir erkannten einander: Es war G. Steve Newlin, einstiger Führer der Bruderschaft der Sonne, einer militanten Anti-Vampir-Organisation, deren Filiale in Dallas mehr oder weniger hatte ins Gras beißen müssen, nachdem ich ihr einen Besuch abgestattet hatte. Newlin würde den Leuten hier sicher sagen, wer ich war, davon durfte ich ausgehen, aber im Moment konnte ich da wenig tun, da ich mich ganz auf den Mann mit dem Pfahl konzentrieren mußte. Inzwischen schwankte ich ziemlich auf meinen hohen Absätzen und mußte mich arg abmühen, um nicht hinzufallen - da hatte der potentielle Mörder endlich einen brillanten Einfall: Er verlagerte den Pfahl einfach aus seiner fest umklammerten Rechten in seine freie linke Hand.

Steve Newlin versetzte mir noch einen raschen letzten Stoß in den Rücken und sprintete dann Richtung Ausgang. Ich erhaschte einen kurzen Blick auf die Kreaturen, die in Windeseile unter großem Geheul und Gezwitscher hinter ihm herhechteten, aber dann holte der schwarzhaarige Mann mit der Linken aus und versenkte seinen Pfahl an meiner rechten Seite ins weiche Fleisch meiner Taille.

Das brachte mich dazu, seinen Arm freizugeben und fassungslos auf die Wunde zu starren, die er mir beigebracht hatte. Als ich den Blick wieder hob, konnte ich ihm lange in die Augen starren. Dort erkannte ich aber nur die Angst und den Schrecken, die ich selbst auch empfand. Dann holte Betty Joe mit der weiß behandschuhten Faust aus und schlug zweimal zu - bumm, bumm. Der erste Schlag brach dem Mann das Genick, der zweite zertrümmerte ihm den Schädel. Ich konnte hören, wie die Knochen knackten.

Der Schwarzhaarige ging zu Boden, und da meine Beine irgendwie mit seinen verheddert waren, fiel auch ich hin, wobei ich flach auf dem Rücken zu liegen kam.

Da lag ich nun und starrte an die Decke der Bar, auf den Ventilator, der sich hoch über mir gravitätisch vor sich hin drehte. Ich fragte mich, wer wohl mitten im Winter den Ventilator angestellt haben mochte. Ich sah einen Falken die Decke entlangstreichen, der es nur knapp schaffte, nicht in die Rotorblätter zu geraten. Ein Wolf trat an meine Seite, leckte mir das Gesicht, winselte, drehte sich dann aber um und schoß von dannen. Tara schrie. Ich nicht. Mir war unendlich kalt.

Mit der Rechten bedeckte ich die Stelle, an der der Pfahl in meinen Körper eingedrungen war. Ich wollte die Wunde nicht sehen und hatte große Angst davor, daß ich doch unwillkürlich hinsehen würde. Ich spürte deutlich, wie es rings um die Wunde immer feuchter wurde.

„Jemand soll den Notruf verständigen!" kreischte Tara und sank neben mir in die Knie. Über ihren Kopf hinweg wechselte Betty Joe einen Blick mit der Barfrau. Ich verstand, was dieser Blick besagen sollte.

„Tara", sagte ich, und es kam heraus wie ein Krächzen. „Die Wandler wandeln sich gerade alle. Es ist Vollmond. Die Polizei darf hier nicht rein, und die kommt auf jeden Fall, wenn jemand den Notruf verständigt."

Die Sache mit den Wandlern kam bei Tara gar nicht an, denn sie ahnte ja noch nicht einmal, daß es solche Dinge überhaupt gab. „Die Vampire lassen dich bestimmt nicht sterben", versicherte mir meine Freundin. „Du hast gerade einem von ihnen das Unleben gerettet."

Ich war mir in Bezug auf die Vampire nicht so sicher wie Tara. Über dem Gesicht meiner alten Schulfreundin tauchte nun auch das Franklin Motts auf; der Vampir sah mich an, und ich konnte seinen Gesichtsausdruck nur allzu gut interpretieren.

„Tara", flüsterte ich. „Du mußt raus hier. Es wird hier gleich ziemlich hoch hergehen, und für den Fall, daß die Polizei doch auftaucht, darfst du auf keinen Fall hier sein."

Franklin Mott nickte zustimmend.

„Ich verlasse dich nicht, bis Hilfe gekommen ist", erklärte Tara wild entschlossen. Gott schütze die Gute.

Die Menge, die mich umgab, bestand aus Vampiren. Einer davon war Eric. Erics Gesichtsausdruck vermochte ich nicht zu deuten.

„Der große Blonde dort wird mir helfen", sagte ich zu Tara, wobei meine Stimme nur noch ein leiser Hauch war. Schwach wies ich mit dem Finger auf Eric, ohne ihn dabei direkt anzusehen, aus Furcht, in seinen Augen Ablehnung lesen zu müssen. Wenn Eric mir nicht helfen wollte, dann würde ich wohl, nahm ich an, einfach hier liegenbleiben und sterben. Auf dem blankpolierten Holzfußboden einer Vampir-Bar in Jackson, Mississippi.

Mein Bruder Jason würde ziemlich sauer sein.

Tara kannte Eric eigentlich bereits aus Bon Temps; allerdings waren die beiden einander in einer ziemlich streßgeladenen Nacht vorgestellt worden. Sie schien jedenfalls den großen Blonden, den sie damals kennengelernt hatte, nicht mit dem in Verbindung zu bringen, den sie nun vor sich sah, adrett in Anzug und Krawatte, die Haare im Nacken zu einem strengen Zopf geflochten und mit einer Brille auf der Nase.

„Bitte helfen Sie Sookie", bat sie, direkt an Eric gewandt, während ihr Franklin Mott fast gewaltsam auf die Beine half.

„Dieser junge Mann wird froh sein, Ihrer Freundin helfen zu können", sagte Mott mit einem strengen Blick auf Eric, der diesem befahl, ihm verdammt noch mal bloß nicht zu widersprechen.

„Natürlich! Ich bin ein guter Freund Alcides", log Eric, ohne mit der Wimper zu zucken.

Er nahm Taras Platz an meiner Seite ein, und sobald er neben mir kniete, stieg ihm auch schon der Geruch meines Blutes in die Nase, das war nicht zu übersehen. Eric wurde womöglich noch bleicher als zuvor; seine Wangenknochen schienen sich durch die Haut bohren zu wollen. Aus seinen Augen schossen Blitze.

„Du ahnst ja nicht, wie schwer das ist", flüsterte er mir heiser zu, „sich nicht einfach zu bücken und zu lecken."

„Wenn du anfängst, kommen alle anderen auch", sagte ich, „und die werden nicht nur lecken, sie werden beißen." Direkt neben meinen Füßen stand ein deutscher Schäferhund und starrte mich aus strahlenden bernsteingelben Augen an.

„Das ist aber auch das einzige, was mich abhält", murmelte Eric.

„Wer sind Sie?" fragte Edgington, der sich Eric gerade sorgsam von oben bis unten besah. Er stand nun ebenfalls neben mir, jedoch auf der anderen Seite, und beugte sich zu uns beiden herunter. In letzter Zeit hatte sich ziemlich häufig jemand über mir aufgebaut - aber gerade jetzt war ich wohl kaum in der Lage, etwas dagegen zu unternehmen.

„Ich bin ein Freund Alcides", wiederholte Eric geduldig. „Er hat mich heute Nacht hierher eingeladen, weil er wollte, daß ich seine neue Freundin kennenlerne. Mein Name ist Leif."

Da Eric kniete, sah Russel auf ihn herab. Seine goldenen Augen bohrten sich in Erics blaue. „Alcide ist nicht oft mit Vampiren zusammen", sagte er argwöhnisch.

„Ich gehöre zu den wenigen, mit denen er befreundet ist."

„Hören Sie, wir müssen die junge Dame hier raus schaffen", meinte Russel.

Ein paar Meter weiter war schon die ganze Zeit über ein leises Knurren zu hören gewesen, das nun intensiver wurde. Anscheinend hatte sich dort ein ganzer Pulk Tiere um irgend etwas geschart, das auf dem Fußboden lag.

„Schafft das raus da!" röhrte Hob. „Zur Hintertür raus. Ihr kennt die Regeln."

Zwei der Vampire hoben die Leiche hoch - denn die Leiche des Schwarzhaarigen war es, um die sich Weren und Wandler so gern in die Haare bekommen wollten - und trugen sie zur Hintertür hinaus, gefolgt von allen Tieren. Das war es dann also; da ging er hin, der schwarzhaarige Fanatiker.

Erst vor ein paar Stunden hatten Alcide und ich uns einer Leiche entledigen müssen, wobei es uns nicht in den Sinn gekommen war, sie einfach hierher zu schaffen und in der Seitengasse hinter dem Club abzuladen. Die Leiche, um die es hier aktuell ging, war allerdings auch ganz frisch.

„... vielleicht eine Niere beschädigt", sagte Eric. Ich war wohl ein paar Sekunden lang bewußtlos gewesen - oder zumindest ganz woanders.

Inzwischen schwitzte ich stark, und die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Voller Bedauern dachte ich daran, daß ich mein neues Kleid völlig durchschwitzen würde. Aber wahrscheinlich hatte das große blutige Loch, das der Pfahl gerissen hatte, das Kleid ohnehin schon ruiniert, oder?

„Wir bringen sie in mein Haus", verkündete Russel, und wenn ich nicht ganz genau gewußt hätte, wie schwer ich verletzt war, hätte ich bei diesen Worten unter Umständen laut aufgelacht. „Der Wagen ist schon unterwegs. Ich denke allerdings, es ist besser für die Frau, wenn sie beim Transport ein vertrautes Gesicht um sich hat. Was meinen Sie?"

Von wegen vertrautes Gesicht: Ich vermutete eher, daß Russel sich ungern den Anzug dreckig machen wollte, was unweigerlich geschehen würde, wenn er mich hochhob. Für Talbot war ich wahrscheinlich zu schwer, und für den kleinen Vampir mit den schwarzen Locken, der immer noch dort bei den anderen stand und lächelte, war ich wohl zu umfangreich ...

Dann ging mir erneut ein wenig Zeit verloren.

„Alcide hat sich in einen Wolf verwandelt und ist hinter dem Begleiter des Mörders hergejagt", erklärte Eric, ohne daß ich mich hätte erinnern können, ihn nach Alcide gefragt zu haben. Ich wollte Eric mitteilen, wer dieser Gefährte des Mörders gewesen war, aber mir fiel gerade noch rechtzeitig ein, daß ich das wohl lieber nicht tun sollte. „Leif", murmelte ich und nahm mir fest vor, mir diesen Namen gut einzuprägen, „Leif, ich glaube, man sieht meine Strapse. Heißt das ...?" „Ja?"

... und schon war ich wieder bewußtlos. Dann bekam ich mit, daß ich bewegt wurde und erkannte, daß Eric mich trug. Noch nie in meinem Leben hatte etwas so weh getan, und ich überlegte, daß ich, bis ich Bill kennenlernte, Krankenhäuser nur von außen gekannt hatte. Nun, so dachte ich traurig, und zwar nicht zum ersten Mal, schien ich einen Gutteil meiner Zeit damit zu verbringen, mich zusammenschlagen zu lassen oder mich vom Zusammengeschlagenwerden zu erholen. Dieser Gedanke kam mir ungeheuer wichtig und bedeutsam vor.

Neben Eric und mir trabte auch ein Luchs aus der Bar - aus Erics Armen blickte ich hinab in goldgelbe Augen. Was für eine Nacht für Jackson! Ich hoffte sehr, daß alle Guten in der Stadt es diese Nacht vorgezogen hatten, zu Hause zu bleiben.

Dann befanden wir uns auch schon in der Limousine; mein Kopf ruhte auf Erics Schenkeln, uns gegenüber saßen Russel, Talbot und der kleine, schwarzgelockte Vampir. Als wir an einer roten Ampel halten mußten, trottete schwerfällig ein Bison an uns vorbei.

„Gut, daß die Innenstadt von Jackson im Dezember an den Wochenenden nachts so gut wie menschenleer ist!" bemerkte Talbot gerade, woraufhin Eric lachte.

Mir kam es vor, als führen wir eine ganze Weile. Eric strich mir den Rock über den Beinen glatt, strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ich sah zu ihm auf und ...

„... wußte sie, was er vorhatte?" fragte Talbot, als ich wieder zu mir kam.

„Sie sagt, sie hat gesehen, wie der Kerl den Pflock aus der Tasche zog", sagte Eric, der meisterhafte Lügner. „Sie war auf dem Weg zum Tresen, um sich etwas zu trinken zu holen."

„Da hatte Betty Joe ja Glück", bemerkte Russel in seinem weichen, schleppenden Südstaatenakzent. „Die jagt wohl noch immer hinter dem her, der entkommen ist."

Nun bogen wir in eine Auffahrt und hielten vor einem Tor. Ein bärtiger Vampir trat an den Wagen und spähte durch die Windschutzscheibe, wobei er jeden einzelnen Insassen sorgfältig musterte. Er war weitaus besser auf der Hut als der Wachmann in Alcides Wohnkomplex, dem seine Arbeit ziemlich egal gewesen zu sein schien. Dann vernahm ich ein elektronisches Summen, dann öffnete sich eine Tür, und wir fuhren eine Einfahrt entlang (unter den Rädern der Limousine knirschte Kies), die uns letztlich zu einem ungeheuer prächtigen Haus führte. Die Villa war so hellerleuchtet wie eine Geburtstagstorte, und als mich Eric nun ganz vorsichtig aus dem Auto hob, konnte ich sehen, daß wir unter einem Schutzdach vor dem Hauseingang gehalten hatten. Dieses war prunkvoll gestaltet und so prachtvoll verziert, wie ich es nie bei einer simplen Markise für möglich gehalten hätte. Auf diesem Anwesen ruhte selbst der Carport auf Säulen! Irgendwie rechnete ich jede Sekunde damit, Vivian Leigh die Treppe herunterschreiten zu sehen.

Dann wurde mir wieder schwarz vor Augen, und als nächstes befanden wir uns bereits im Foyer. Meine Schmerzen waren dabei, sich zu verabschieden, weswegen mir wunderbar leicht zumute war.

Da Russel der Besitzer dieser stattlichen Villa war, wurde sein Nachhausekommen als ganz große Sache behandelt. Als die Bewohner der Villa dann noch frisches Blut rochen, überschlugen sie sich fast im Bemühen, möglichst rasch herbeizueilen und sich um ihren Herrn und Meister zu scharen. Ich sah mich um und hatte das Gefühl, mitten in einer Talentshow gelandet zu sein, bei der nach dem attraktivsten Titelbildmodell für romantische Liebesromane gesucht werden sollte. Noch nie hatte ich so viele hübsche Männer auf einem Haufen gesehen, und allesamt waren sie, was ich unschwer feststellen konnte, nicht für mich bestimmt. Russel war eine schwule Vampirversion von Hugh Hefner, sein Haus die Playboy-Villa, Betonung auf 'Boy'.

„Wasser, Wasser überall und doch kein Tropfen zu trinken!" sagte ich, woraufhin Eric laut loslachte. Das mochte ich so sehr an diesem großen, blonden Vampir, dachte ich verträumt: Er verstand mich einfach.

„Gut! Die Spritze zeigt Wirkung", bemerkte ein weißhaariger Mann in karierter Hose und Freizeithemd. Er war ein Mensch, und irgendwie deutete alles an ihm darauf hin, daß er Arzt war; er hatte es nicht nötig, sich ein Stethoskop um den Hals zu hängen - ihn erkannte man auch so. „Brauchen Sie mich noch?" fragte er nun.

„Bleiben Sie doch noch eine Weile, wenn es Ihnen nichts ausmacht", schlug Russel vor. „Josh wird Ihnen sicher gern Gesellschaft leisten."

Leider bekam ich nicht mit, wie Josh aussah, denn nun trug mich Eric die Treppe hoch.

„Rhett und Scarlett", murmelte ich.

„Das verstehe ich nicht", sagte Eric bedauernd.

„Du willst mir doch nicht sagen, daß du Vom Winde verweht nicht gesehen hast!" Ich war entsetzt. Dann fragte ich mich, ob mein Erstaunen gerechtfertigt war: Warum sollte sich ein Wikinger, der Vampir geworden war, dieses Musterbeispiel südstaatlicher Mystik anschauen wollen? Bestimmt jedoch kannte er statt dessen die Ballade vom alten Seemann, mit der ich mich auf der High School hatte herum quälen müssen. „Den Film mußt du dir unbedingt ansehen! Es gibt ihn auch auf DVD. Warum führe ich mich eigentlich so bescheuert auf? Warum komme ich nicht um vor Angst?"

„Der menschliche Doktor hat dir eine gehörige Portion Drogen verpaßt", sagte Eric und lächelte auf mich herab. „Nun trage ich dich hinauf in eins der Schlafzimmer, damit du geheilt werden kannst."

„Er ist hier!" teilte ich Eric mit.

Dessen Augen signalisierten eine Warnung. „Russel? Ja, natürlich ist er hier. Aber Alcide hat sich, fürchte ich, nicht gerade wie ein edler Ritter benommen. Er ist einfach hinaus in die Nacht, hinter dem zweiten Übeltäter her. Er hätte bei dir bleiben sollen."

„Der kann mich doch mal!" sagte ich freundlich.

„Das würde er auch gern, besonders, nachdem er dich hat tanzen sehen."

Richtig lachen konnte ich nicht, dazu war mir zu elend zumute, aber der Gedanke an Lachen schoß mir zumindest kurz durch den Kopf. „Vielleicht war es keine gute Idee, mich derart unter Drogen zu setzen", teilte ich Eric mit. Ich brauchte einen klaren Kopf! Ich mußte so viele Geheimnisse wahren.

„Da magst du recht haben, aber ich bin froh, daß du jetzt keine Schmerzen mehr hast."

Dann befanden wir uns in einem Schlafzimmer, wo Eric mich doch wirklich und wahrhaftig auf einem Himmelbett ablegte. Er nahm die Gelegenheit wahr, mir warnend zuzuflüstern, ich solle um Himmels willen vorsichtig sein. Ich setzte alles daran, diese Warnung tief in meinem drogenvernebelten Inneren zu versenken, denn sonst - denn sonst wäre ich womöglich einfach damit herausgeplatzt, daß ich es einfach wußte, über jeden Zweifel erhaben wirklich wußte, daß Bill sich irgendwo ganz in meiner Nähe befand.