Der zerbrochene Spiegel

 

 

 

Das Schiff mit Passagieren aus Holland kam in Stockholm an, als schon die ersten Herbststürme die Blätter von den Bäumen fegten. Elchschinken hingen in den königlichen Räucherkammern; Fässer mit eingelegten Pilzen, Fisch und Zwiebeln lagerten bereits als Wintervorrat in den Kellern.

»Monsieur Descartes ist da!«, rief Kristina Elin zu, die eben die Weisungen für ein neues Schulhaus überprüfte. »Ausgerechnet jetzt, wo Chanut für ein paar Wochen in Frankreich ist! Gib Herrn Freinsheim Bescheid und geh mit ihm zum Hafen!«

Elin sprang so schnell auf, dass ihr Stuhl beinahe umfiel. Wenig später verließ sie mit ihrem weiten Dominomantel bekleidet das Schloss und eilte zur Anlegestelle. Ein schneidender Herbstwind heulte um die Häuser am Hafen. Blinzelnd sah sich Elin nach Herrn Freinsheim um, aber natürlich brauchte er einige Zeit, um mit der Kutsche nachzukommen. Währenddessen gingen bereits die ersten Passagiere von Bord. Elin hielt den Mantel mit den Händen zu und spähte zu den gebeugten Gestalten, die im Gänsemarsch das Schiff verließen. Vor Aufregung wurde ihr Mund ganz trocken.

»Monsieur Descartes?«, rief sie auf gut Glück. Fünf Gestalten hoben den Kopf eine winkte. Descartes war nicht besonders groß, dicklich und unscheinbar. Es war nichts Strahlendes an ihm. Nie hätte sie vermutet, einen der größten Philosophen ihrer Zeit vor sich zu haben. Eine Zornesfalte teilte seine Stirn. Er hatte dunkle, ausdrucksstark geschwungene Brauen und tiefe Falten um den Mund. Seine Augen waren hellwach.

»Monsieur Freinsheim wird gleich mit der Kutsche hier sein, um Sie zur Botschaft zu bringen«, sagte Elin.

»Nach der langen Fahrt hätte ich auch nichts dagegen, einige Straßen zu Fuß zu gehen«, gab der Philosoph zurück und schenkte ihr ein liebenswertes, schlaues Lächeln.

Schon am nächsten Tag ließ Kristina Monsieur Descartes ins Schloss bitten. Zu Elins Überraschung erschien der unscheinbare Mann herausgeputzt wie ein Edelmann mit spitzengeschmückten Handschuhen, geschlitzten Ärmeln und frisch gewelltem Haar in der Bibliothek.

»Griechisch, Mademoiselle?«, fragte er tadelnd und tippte mit spitzem Finger auf das Buch, das aufgeschlagen vor Elin lag. »Zeitverschwendung. Lassen Sie die klassische Philologie hinter sich und vertrauen Sie lieber auf Ihren Verstand. Wie Madame Chanut mir in ihren Briefen mitteilte, haben Sie genug davon.«

Verlegen klappte Elin das Buch zu.

»Aber man muss doch die alten Sprachen können.«

»Überflüssig! Gedankenspiele für Kinder. Bestimmt beschäftigen Sie sich auch mit Geschichte, nicht wahr?«

Sie nickte. Descartes lachte nachsichtig.

»Sie sind jung, Mademoiselle. Aber Sie werden feststellen, dass uns die Geschichte keine Antworten liefern kann. Es sind nur Ansammlungen fremder Gedanken und Behauptungen. Die wahren Antworten liegen in uns selbst.«

Elin wollte gerade etwas erwidern, als schon Kristina in Begleitung von Herrn Freinsheim auftauchte. Sie strahlte wie ein Mittsommertag, als sie den Philosophen begrüßte.

»Mein lieber Herr Cartesius!«, rief sie. »Ich hoffe, Sie fühlen sich in der Botschaft wohl, auch wenn die Chanuts nicht da sind

»Vielen Dank für Ihre Sorge, Majestät«, erwiderte Descartes. »Der junge Monsieur de Vaincourt tut alles, um mir den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu machen. Bei den Kenntnissen, die er sich in der Astronomie angeeignet hat, würde er einen guten Kapitän abgeben.«

»Ich bin sicher, Sie werden sich schnell einleben und sich hoffentlich dazu entschließen, recht lange bei uns zu bleiben. Der Winter mag einem Mann aus den wärmeren Ländern grau erscheinen, aber den Sommer hier müssen Sie erleben!«

Elin entging nicht, wie der Philosoph kaum merklich zusammenzuckte.

»Bedauerlicherweise bleibe ich nur ein paar Wochen, Ihre Majestät, um Ihnen meine Aufwartung zu machen«, sagte er.

Kristinas Antwort war ein Lächeln, das Elin nur allzu gut kannte.

 

Für die Philologen und anderen Gelehrten bei Hofe war die Ankunft des Philosophen wie ein Wind, der die sorgfältig auf einem Tisch angeordneten Papiere durcheinander wirbelte. Descartes dachte gar nicht daran, seinen Widerwillen gegen das Studium der alten Sprachen zu verbergen. Gerne stritt er sich auch mit Tervué und zog dessen mathematisches und theologisches Wissen in Zweifel. Und auch mit den protestantischen Geschichtswissenschaftlern verscherzte er es sich, allen voran mit Herrn Gesenbek.

Je dunkler die Wintertage wurden, desto frostiger wurde auch das Klima am Hof. Nur Königin Kristina schien davon nichts zu bemerken. Die Regierungsgeschäfte beanspruchten ihre ganze Aufmerksamkeit. Der Rat drängte darauf, dass sie endlich den offiziellen Krönungstermin bekannt geben sollte, und Karl Gustav versuchte immer noch, sie zur Heirat umzustimmen.

An einem kalten Morgen beorderte sie Descartes zu einer Audienz. Inzwischen war der erste Schnee gefallen und hatte die Stadt mit eisigem Samt bedeckt. Als Elin an die Tür der Botschaft klopfte, war es kurz nach vier Uhr in der Frühe. Descartes tat ihr Leid, offenbar war er ein so zeitiges Aufstehen nicht gewöhnt. Er sah steinalt aus, hatte noch den Abdruck einer Kissenfalte auf der Wange und nuschelte eine unverständliche Begrüßung. Henri, der ebenfalls aufgestanden war, nutzte die Zeit, in der der Philosoph seine Bücher zusammensuchte, um mit Elin einige Worte zu wechseln. In Augenblicken wie diesen fehlten Elin die Sommernächte besonders die lächerlich wenigen gestohlenen Momente, die sie für sich hatten, vergrößerten ihre Sehnsucht und ließen sie beide umso hungriger nach Nähe zurück.

Pünktlich um fünf Uhr morgens begann der Unterricht in der zugigen Bibliothek des Schlosses. Zu ihrer maßlosen Enttäuschung durfte Elin nicht daran teilnehmen.

»Ärgern Sie sich nicht, Fräulein Elin«, tröstete Herr Freinsheim sie. »Sie werden noch genug Gelegenheit haben, mit Monsieur Descartes zu sprechen.«

Wie Recht der Bibliothekar mit dieser Vermutung hatte, durfte Elin schon in den nächsten Wochen erfahren. Denn obwohl der Philosoph von der Königin und ihrem Wissen begeistert war und der nächsten Unterrichtsstunde entgegenfieberte, schien Kristina ihn mit einem Mal vergessen zu haben und wies ihn an, die folgenden Wochen erst einmal dazu zu nutzen, sich in Stockholm einzuleben. Währenddessen wurde das Kesseltreiben der Gelehrten bei Hofe immer schlimmer. Gegen Descartes wurden Gerüchte geschürt. Er wurde angefeindet und beschuldigt, atheistische Lehren zu verbreiten. Unterlagen verschwanden, gefälschte Briefe waren im Umlauf. Gekränkt zog sich Descartes schließlich in die Botschaft zurück.

»Diese Königin hat alles gesehen, alles gelesen ihr Geist ist wirklich außerordentlich und sie weiß alles!«, bemerkte er, als er mit Freinsheim, Henri und Elin am Tisch saß. »Aber sie geht mit Menschen so um wie mit Büchern, die sie sich beschafft und in ihrer Bibliothek abstellt. Offenbar sammelt sie Wissenschaftler wie andere Leute Kuriositäten.«

Elin schwieg, aber insgeheim gab sie dem Philosophen Recht. In letzter Zeit war das Verhältnis zwischen Kristina und ihr noch angespannter geworden. Es war beinahe so, als hätte ihre Liebe zu Henri die feste Mauer der Freundschaft zu Kristina an einigen Stellen beschädigt. Steinchen für Steinchen löste sich, Lücken wurden sichtbar, durch die Elin jetzt Details wahrnahm, die sie früher nicht gestört hatten. Umso schöner waren die Abende im obersten Stock der Botschaft, wo Descartes Henri und ihr mit dem Blick auf einen samtfarbenen und diamantbestickten Himmel den Lauf der Gestirne erklärte, über Astronomie und Arithmetik sprach und neue Welten der Vernunft und des Verstandes an den Himmel malte, die alle nach mathematischen Prinzipien erfasst werden konnten. Verstohlen betrachtete Elin Henris Gesicht, wenn er in den Himmel schaute und er gefiel ihr besser denn je. Doch auch mit Henri ging in diesen Wochen eine Veränderung vor. Er war schweigsamer geworden und grübelte viel vor sich hin. Seinen Kummer wollte er Elin nicht verraten, und so erklärte sie sich sein Verhalten mit den langen dunklen Nächten und der Einsamkeit in der verwaisten Botschaft.

Nach und nach verlor sie ihre Scheu vor Descartes und kam zu dem Schluss, dass er ein liebenswürdiger und väterlicher alter Mann war ein wenig verhärtet durch sein Schicksal, aber ein unerschütterlicher Menschenfreund. Nur wenn er von der menschlichen Maschine sprach, erinnerte sich Elin an Emilia und zweifelte daran, dass der Mensch wie ein Uhrwerk repariert werden konnte. Verstohlen strich ihr Henri dann über den Arm.

Als hätte das Kesseltreiben gegen Descartes auch den Blick auf Elin gelenkt, flammten überraschend die Gerüchte über sie und Henri wieder auf erst unmerklich, schließlich immer offener. Schmähbriefe machten die Runde, und einige Wissenschaftler, die Elins Dienste bis vor kurzem hoch geschätzt und sie für ihre Wissbegierde gelobt hatten, weigerten sich nun, sie zu unterrichten. Ganz offen ließ Tervué in der Bibliothek unverschämte Bemerkungen fallen, mit denen er darauf anspielte, dass Elin als Descartes Spionin arbeite. An dem Tag, an dem das erste Mal offen das Wort »Franzosenhure« fiel, klopfte es energisch an der Tür zu Elins Gemach, in das sie sich geflüchtet hatte. Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Kristina die Tür und trat ein. Instinktiv verbarg Elin den noch verschlossenen Brief, den ihr Henri hatte zukommen lassen, hinter dem Rücken.

»Nun?«, sagte Kristina barsch. »Gibst du deinen Feinden Recht, indem du dich hier verkriechst?«

»Und Sie?«, konterte Elin. »Lassen Sie meinen Feinden freie Hand, indem Sie die Beleidigungen überhören?« Sie ärgerte sich darüber, wie kläglich ihre Stimme klang, und hoffte, der Königin würden ihre geröteten Augen nicht auffallen. Mit wenigen Schritten war Kristina bei Elins Bett und ließ sich darauffallen.

»Deshalb bin ich hier«, sagte sie. »Weil ich mich nicht länger taub stellen kann. Und weil ich dir gegenüber nicht länger stumm bleiben will.« Sie machte eine Pause, in der sie sich ein weiteres Kissen heranzog und unter ihren Kopf schob. »Du hast mir besser gefallen, als du Henri noch gehasst hast«, meinte sie schließlich in freundlichem Plauderton. »Erinnerst du dich noch an den Brief, den ich Monsieur Descartes vor einem Jahr geschrieben habe? Wir diskutierten darüber, was den größeren Schaden verursacht: falsch angewendete Liebe oder Hass. Nun, ich sagte ihm, meiner Meinung nach sei es die Liebe. Diese Leidenschaft führt uns zu weit größeren Exzessen. Denn der Hass richtet sich nur auf das gehasste Objekt, während die gestörte Liebe nichts verschont nur ihr Objekt. Allen anderen um sie herum schadet sie ohne Bedenken.«

Elin hatte schon bei den ersten Worten der Königin Herzklopfen bekommen. Die Kanten von Henris Brief drückten in ihre Handfläche.

»Dann sprechen wir hier von zwei unterschiedlichen Dingen, Kristina«, sagte sie. »Sie von falsch angewendeter Liebe. Ich von der Liebe zwischen Henri und mir.«

Die Königin lachte auf es war ein zynisches Lachen. Elin konnte wieder einmal durch die Lücke in der Mauer sehen und erkannte in Kristina eine verbitterte junge Frau, gefangen in ihren Ängsten und Leidenschaften, die sie auch durch alle Vernunft nicht besiegen konnte.

»Wie du meinst, Elin. Dann will ich jetzt ehrlich zu dir sein, auch wenn es grausam klingen mag: Wo, denkst du, soll das, was du für Liebe hältst, hinführen? Meinst du etwa, Graf de Vaincourt heiratet eine Scheuermagd? Und noch dazu einen Bastard?«

»Einen gelehrten Bastard«, erwiderte Elin würdevoll. »Sie sollten wissen, dass mich solche Worte schon lange nicht mehr treffen. Und niemand sagt, dass ich je daran gedacht habe zu heiraten.«

Das war nicht die ganze Wahrheit. In Wirklichkeit war ihr elend vor Angst. Wie immer hatte Kristina das Messer direkt in die Wunde gestoßen.

»Denke daran, dass du nicht die Privilegien hast, die einer Königin gebühren.« Kristina musterte Elin mit einem Ausdruck von Mitleid, der Elin wütend machte. »Weißt du, dass Henris Vater gedroht hat, ihn zu enterben?«

Zu ihrem Ärger konnte Elin ihre Überraschung nicht verbergen. »Aha«, meinte Kristina trocken. »Da haben meine Zuträger also bessere Arbeit geleistet als die Liebe. Kannst du dir vorstellen, was der Grund für diese Drohung ist?«

»Zwischen ihnen gibt es immer Streit. Sie sind sehr verschieden.«

»Nun, ich wünschte aufrichtig für dich, das wäre der einzige Grund. Nein, Henri ist derzeit nicht gerade entzückt von seiner adligen Verlobten in Frankreich, die dem Haus de Vaincourt einen Aufstieg garantieren würde.«

Die Nachricht traf Elin wie ein Schlag ins Gesicht. Dennoch riss sie sich zusammen.

»Falls es in dieser Hinsicht etwas zu bereden gibt, wird Henri es mir selbst sagen.«

»Oh, hör doch auf, die Eisprinzessin zu spielen!« Wütend setzte Kristina sich auf und schlug mit der flachen Hand auf das Bett. »Glaubst du wirklich an ein Wunder? Es ist eine Sache, vor einer ungeliebten Hochzeit nach Schweden zu fliehen. Eine ganz andere Sache aber ist die Verpflichtung der eigenen Familie gegenüber. Es geht um sein Erbe! Du glaubst doch nicht, dass Henri wegen dir darauf verzichtet!« Ihre Stimme wurde leiser und noch schneidender. »Aber natürlich hat eine Heirat wenig mit Liebe zu tun. Er könnte dich als seine Mätresse nach Frankreich mitnehmen.«

Elin stand da wie betäubt. Der Brief in ihrer Hand war längst zerknittert. Aber Kristina hatte noch einen weiteren Trumpf in der Hand.

»Er hat dir doch wenigstens gesagt, dass er in zwei Wochen nach Frankreich reist, oder?«

Elin spürte kaum, wie ihre Knie einknickten, als sie sich auf den Stuhl sinken ließ. Sie holte Henris Brief hervor und faltete das Schreiben auseinander. Stumm las sie, ohne die Buchstaben richtig wahrzunehmen. Nur so viel verstand sie: Henri hatte sie verraten.

»Nun, mir soll es gleich sein«, schloss Kristina. »Entscheide, was dir wichtiger ist die Liebe oder die Gelehrsamkeit. Beides gleichzeitig kann und werde ich dir zu deinem eigenen Wohl nicht gestatten. Es gibt zu viel Gerede und Unruhe hier am Hof. Fehlt nur noch, dass du verdächtigt wirst, eine Agentin der Katholiken zu sein, die den Auftrag hat, mich zu bekehren.«

Elin kämpfte gegen die Tränen. Die Stille im Raum war so kalt wie das Winterwasser des Mälarsees. Nur langsam gewann ihre Wut wieder die Oberhand. Es tat unendlich gut, den Brief zu zerknüllen und ihn in die Ecke zu schleudern, was Kristina ein triumphierendes Grinsen entlockte.

»Ich entscheide mich dafür, mich weiterhin um Monsieur Descartes zu kümmern, wenn Sie erlauben«, sagte Elin. »Und bitte Sie, mich von der Arbeit in der Bibliothek bis auf weiteres zu entbinden, Majestät.«

 

Natürlich hatte sie erwartet, dass Henri sie früher oder später finden würde, aber dass er sie ausgerechnet im Stall aufspürte, wo sie Enhörnings geschwollenes Sprunggelenk mit Tabaktinktur und Branntwein einrieb, überraschte und verunsicherte sie. Die vergangenen paar Stunden hatte sie damit zugebracht, sich Antworten zurechtzulegen, aber als sie nun Henris Gesicht direkt vor sich sah, versetzte ihr sein Anblick einen solchen Stich, dass alle Sätze in ihrem Kopf zu sinnlosen Gedankenfetzen zerfielen. Sie stieß grob seinen Arm weg, als er sie an sich ziehen wollte. Henri runzelte verwirrt die Stirn.

»Elin?«

»Fass mich nicht an!«, zischte sie.

Seine Verwunderung verwandelte sich in Bestürzung.

»Du hast den Brief gelesen«, stellte er fest. »Aber warum bist du so wütend?«

Sie zuckte mit den Schultern und klopfte Enhörnings Hals.

»Du verlässt uns in zehn Tagen. Viel Glück.«

Henri starrte sie so fassungslos an, als hätte sie ihm ohne Grund einen Fausthieb versetzt. Dann machte er den Mund wieder zu und seufzte.

»Ich weiß, ich hätte es dir früher sagen sollen. Mein Vater ist schwer erkrankt. Meine Mutter bittet mich, nach Frankreich zurückzukehren zumindest, bis einige Dinge geklärt sind. Aber ich komme so schnell wie möglich nach Stockholm zurück. Vielleicht schon im nächsten Sommer.«

»Um der Königin deine französische Frau vorzustellen? Herzlichen Glückwunsch übrigens zur Verlobung.«

Elin gab Enhörning einen Klaps, damit er sein Gewicht auf das andere Bein verlagerte. Erst als er scheute und zur Seite sprang, wurde ihr bewusst, wie fest sie zugeschlagen hatte. Henri war rot geworden und senkte schuldbewusst den Kopf.

»Es ist die Königin, nicht wahr? Unsere Liebe ist ihr ein Dorn im Auge. Deshalb redet sie dir ein, ich würde mich tatsächlich auf diesen Kuhhandel einlassen.«

Elin warf das Tuch hin und drehte sich zu Henri um.

»Auf den Handel hast du dich längst eingelassen«, sagte sie kalt. »Wie lange bist du schon verlobt?«

Die Antwort kostete ihn viel Überwindung, das konnte sie sehen, und es machte ihr sogar auf eine grausame Weise Spaß, ihn leiden zu lassen.

»Seit ich fünfzehn bin«, antwortete er schließlich. »Es war ein Arrangement, gegen das ich mich damals nie aufgelehnt hätte.«

»Und mir sagst du nichts davon. Sondern machst mir Vorwürfe wegen Hampus. Wer nimmt schon einen Krüppel, Mademoiselle?‹ – Mein Gott, und ich habe dir jedes Wort geglaubt.«

Erstaunlicherweise blieb er völlig ruhig und steckte all ihre Schläge ein.

»Du hast Recht«, gab er leise zu. »In allem hast du Recht aber vielleicht verstehst du wenigstens, dass ich dich liebe, dass ich Angst hatte, dich zu verlieren …«

»Soll ich dich etwa bemitleiden?«, sagte sie scharf. »Ich bin nicht länger deine Mätresse. Was willst du noch von mir?«

Einen Augenblick lang war sie sich nicht sicher, ob er sie umarmen oder zurückstoßen wollte. Sie fürchtete und ersehnte seine Berührung, aber dann gewann ihr Stolz. Sie wich aus dem Verschlag zurück und hob abwehrend die Hand.

Henri hielt in seiner Bewegung inne und blinzelte.

»Was ich von dir will?«, murmelte er. »Das kann ich dir sagen. Ich habe es satt, mich in Kammern und Ställen herumdrücken zu müssen, um dich zu sehen. Es ist ein offenes Geheimnis und wenn ich aus Frankreich zurückkomme, würde ich gerne dich heiraten.«

»Nein.« Die Pferde scharrten in den Boxen und äugten zu ihnen herüber. Elin räusperte sich und gab sich alle Mühe, vernünftig und beherrscht zu klingen. »Hör auf, in die Sterne zu schauen, Henri. Ich weiß, wer ich bin, und du weißt, wer du bist. Im Wald am Mälarsee spielte es keine Rolle, aber …«

»Was aber?« Jetzt war es Henri, der die Geduld verlor und wütend wurde. Seine Augen funkelten im Halbdunkel des Stalls. »Ich bin bereit, ins Kreuzfeuer zu gehen und diese Verlobung zu lösen.«

»Das sagst du jetzt, aber wenn du erst wieder zu Hause bist, ist Schweden tausende von Meilen entfernt. Und wenn dein Vater mit deinem Erbe winkt …«

»Natürlich, wir Adligen sind käuflich! Sobald wir Geld und Ruhm sehen, werfen wir sogar die Menschen, die wir lieben, einfach weg«, zischte er. »Du bist es, die feige und voller Misstrauen ist, Elin! Du lernst die Landkarten auswendig und träumst davon, zu reisen und ein eigenes Leben zu führen. Und nun hast du jemanden gefunden, der dieselben Träume hat, der dich aufrichtig liebt und alles für dich wagen will, und den stößt du weg, um weiter an diesem Hof deine Wunden zu lecken und zu träumen.«

»Du hast mich angelogen!«

»Ich habe geschwiegen, weil es nicht wichtig ist, wen ich heiraten soll. Es zählt nur, wen ich heiraten will.«

»Da irrst du dich. Es zählt, dass ich dich auf keinen Fall heiraten will.«

Sein spöttisches, arrogantes Lächeln, das sie nur zu gut kannte, leuchtete auf.

»Das werden wir noch sehen«, stellte er fest. »Schließlich liebst du mich und zwar sehr!«

»Wirklich? Vielleicht hatte ich nur Mitleid mit dir.«

Er ballte die Hände zu Fäusten. Als er wieder zu sprechen anfing, bebte seine Stimme, als müsste er sich mühsam beherrschen, Elin nicht an den Schultern zu packen und zu schütteln.

»Was muss ich mir noch alles anhören und tun, um für dich gut genug zu sein?«, zischte er. »Hast du schon einmal das Wort Vertrauen gehört, Elin?«

»Vertrauen muss man sich verdienen, statt es zu verspielen, Henri.«

»Du hast mein Wort.«

»Dein Wort genügt mir nicht.«

»Was, verdammt noch mal, genügt dir dann?«

»Beweise«, sagte sie.

Sie verschränkte die Arme und hob das Kinn. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie das Gefühl, einen Kampf gewonnen zu haben.

Henri fluchte und schlug mit der Faust auf die Trennwand der Box. Enhörning legte die Ohren an und schnappte nach seinem Arm. Henri drehte sich um und ging. Sie hätte ihm hinterherlaufen sollen, stattdessen trat sie zu ihrem Pferd und fuhr mit den Fingern durch die schwarze Mähne des Tieres, immer und immer wieder, bis das Mähnenhaar glatt war wie ein Band aus Seide.

 

Seltsamerweise war es ausgerechnet Lovisa, die in dieser Zeit am engsten zu ihr hielt. Als sie Elins verweintes Gesicht sah, verbiss sie sich einen Kommentar und schloss sie einfach in die Arme.

»Kopf hoch, Kind«, murmelte sie. »Alles Schöne geht irgendwann vorbei aber auch alles Schlechte, jetzt musst du den Kopf stolz erhoben tragen.«

Die nächsten Tage blieb Elin der französischen Botschaft fern und verkroch sich auch am Tag von Henris Abreise im Bett. Sie zog die Vorhänge zu und starrte die Stoffbahnen an, die sie von der Welt, die sie bisher zu kennen glaubte, vollständig abschlossen. Als hätte der Kummer ihr Blut vergiftet, bekam sie Fieber und träumte davon, wie Henri in einem Bett aus leuchtenden Farnen eine französische Herzogin umarmte. Kristina war sehr besorgt und versuchte sie aufzuheitern, indem sie ihr aus dem Trost der Philosophie vorlas, doch auch diese Worte erschienen Elin hohl und bitter. Nachdenklich betrachtete sie die Karten von Terra Australis und der französischen Küste, die sie vor langer Zeit über ihren Tisch gehängt hatte. Trotz des Mitgefühls, das die Königin ihr gegenüber zeigte, hatte Elin den Eindruck, dass Kristina über Henris Abreise erleichtert war. Und manchmal, wenn sie die Königin betrachtete, die gebogene Nase, die wachen Augen und die energischen Bewegungen, fragte sie sich, wann genau der Vorhang zwischen ihnen zu einer Wand geworden war. Längst waren sie und die Königin keine Spiegelbilder mehr eher zwei unterschiedliche Porträts, die sich zufällig dieselbe Kunstkammer teilten. Elin begann, ihre Worte gegenüber Kristina sorgfältiger zu wählen und ihre Geheimnisse für sich zu behalten. Hampus schrieb aus Leyden von anatomischen Studien und schilderte eine Blasensteinoperation, der er beigewohnt hatte, und Helga brachte ihr Konfekt in Form von kleinen Häusern, in die sie mit einer Nadel Fenster und Türen geritzt hatte. Als Elin das erste Mal wieder zur Botschaft ging, war Descartes so erfreut sie zu sehen, dass er über das ganze Gesicht zu strahlen begann.

»Wie schön, dass Sie wieder da sind!«, rief er. »In dieser kalten Botschaft bin ich so einsam wie ein Gletscher. Fast hätte ich das Sprechen verlernt! Monsieur Henri lässt Sie übrigens grüßen. Er hat sich den Abschied sehr schwer gemacht.«

»Wie bedauerlich für ihn«, erwiderte Elin steif. Descartes lächelte und bat den Diener um zwei Becher Wein. »Die Vernunft überwindet Leidenschaften und Laster«, war sein trockener und etwas ironischer Kommentar. Elin machte es nichts aus, dass der Philosoph mit Angelegenheiten, die die Gefühle betrafen, nicht besonders viel anfangen konnte und wenig Takt zeigte. Im Gegenteil sein mangelndes Mitleid machte es ihr leichter, ihre Sorgen in einer Kammer zu verschließen und sich stattdessen ganz auf die mathematische Betrachtung der Wissenschaften einzulassen, die Descartes zu seiner »Methode« erhoben hatte. Dennoch stellte sie fest, dass sich Kummer nicht in mathematische Formeln und logische Gesetzmäßigkeiten fassen ließ. Es war nicht einmal das Schlimmste, die Liebe unter dem Winterschnee zu begraben. Das Schlimmste war, den Anblick des Nachthimmels mit den von Henri so geliebten Sternen nicht mehr ertragen zu können. Ihre Melancholie schien Descartes anzustecken, denn er wurde immer unzufriedener und klagte: »Was soll ich hier in diesem Land der Bären, in dem die Menschen im Winter zufrieren wie die Flüsse?« Immer noch hatte Kristina ihn nicht zur Audienz gebeten. Neben den Staatsgeschäften übte sie ein großes Ballett zu Ehren des Westfälischen Friedens ein und schlug Descartes lediglich vor, sich am Tanz zu beteiligen. »Um Himmels willen, Majestät!«, antwortete er ihr in seiner direkten Art. »Ich bin über fünfzig Sie wollen doch kein lahmes Ross zum Rennen schicken?« Kristina lachte und beauftragte ihn kurzerhand damit, stattdessen ein Libretto für das Ballett zu verfassen. Elin sah ihm an, wie unglücklich er über diesen Auftrag war.

»Ich hätte nicht übel Lust, so bald wie möglich nach Holland zurückzukehren«, brummte Descartes, als er sich mit Feder und Papier an den Tisch setzte. »Aber besser dichten als untätig herumsitzen, nicht wahr, Mademoiselle?«

Das Ballett wurde am Geburtstag der Königin, dem achten Dezember, aufgeführt. Elin hatte die Finanzen für die Beschaffung der Kostüme, der Hintergrundmalereien und die Dekoration geführt. Die Kostüme, die die ungeheure Summe von 16850 Riksdalern verschlungen hatten, waren aus Atlasseide genäht und mit silbernen und goldenen Borten verziert. Allein für das Gewand der Königin hatte man zweiundzwanzig Ellen Silberborte und achtundzwanzig Ellen Silbergaze benötigt. Von allen Balletten, die Elin bisher auf Tre Kronor gesehen hatte, war dies eindeutig das prachtvollste. Kristina tanzte mit einer Leidenschaft, die sogar den strengen Oxenstiernianern ein Lächeln entlockte. Descartes Ballett-Gedicht mit dem Titel »La naissance de la paix Die Geburt des Friedens« wurde während des Tanzes verlesen und erntete viel Applaus. Das Publikum war begeistert, aber Elin sah nur schweigend zu. An diesem Abend war das rosenfarbene Land tot, eine Ansammlung von Farben ohne Seele und Leben.

Kurz nach dem Julfest kehrten die Chanuts nach Stockholm zurück. Elin war sicher, dass Madame Chanut von dem Zerwürfnis zwischen ihr und Henri gehört hatte, denn sie ging besonders herzlich und behutsam mit ihr um und vermied es sorgfältig, in ihrer Gegenwart über Henri zu sprechen. Das Haus füllte sich allmählich mit Besuchern und Abendgesellschaften. Selbst Monsieur Tervué war wieder oft zu Gast und unterhielt sich bei diesen Gelegenheiten sogar einmal mit Descartes. Es verwunderte Elin, dass die beiden Männer diesmal nicht in Streit gerieten. Die Anspannung war jedoch trotzdem zu spüren.

Endlich schien sich auch Kristina an den eigentlichen Grund zu erinnern, warum sie den Philosophen nach Stockholm berufen hatte, und bestellte ihn zum Unterricht in die Bibliothek. Descartes blühte bei dieser Nachricht auf wie eine Winterrose und war am Morgen schon um vier Uhr hellwach. Als ihn Elin um halb fünf Uhr bei der Botschaft abholte, war sie überrascht, dass er ihr persönlich öffnete fertig angekleidet, herausgeputzt und reisebereit. Beherzt schritt er durch den frisch gefallenen Schnee. »Auf zur Methode!«, rief er, sobald er Platz genommen hatte. »Was werden Sie heute machen, Mademoiselle? Reiten Sie aus?«

»Oh nein. Mein Pferd lahmt leider immer noch ein wenig ein Ausritt würde ihm nur Schmerzen bereiten.«

Descartes winkte ab und rieb sich die klammen Hände.

»Sie wissen doch: Tiere haben keine Seele und somit auch keine Empfindungen. Diese vermeintlichen Schmerzenslaute sind nichts anderes als das Quietschen eines schlecht geölten Wagenrads und somit ohne Bedeutung.«

»Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie jemals das Stöhnen eines verwundeten Tieres gehört hätten.«

Er zeigte ihr ein breites Lächeln, das in ein Gähnen überging, und schüttelte den Kopf.

»Ich wusste, in Ihnen steckt keine besonders begabte Philosophin, dafür sind Ihre mathematischen Fähigkeiten umso bemerkenswerter. Aber natürlich steht es Ihnen frei, an allem zu zweifeln auch an den Worten eines Philosophen.«

Elin sah Kristina an diesem Morgen nur kurz und wenn sie ehrlich war, war sie froh darum, die Königin nicht sprechen zu müssen. Stattdessen betrat sie ihr kaltes Gemach, das ihr in den vergangenen Monaten immer fremder geworden war. Sie rief keinen Diener, um Feuer im Kamin zu machen, sondern erledigte diese Arbeit selbst. Auf dem Tisch hatte sich Staub angesammelt und die Fensterscheiben waren über und über mit Eisblumen bedeckt. Stumm setzte sich Elin an den Kamin und betrachtete ihr Porträt, das darüber hing. Ein wenig erinnerte die grünäugige Frau auf dem Bild heute an eine spöttische Jagdgöttin. Allerdings an eine, die nicht besonders glücklich aussah. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich Elin endlich dazu aufraffte, sich an den Tisch zu setzen und nach der Feder zu greifen. Diese Zeilen würden sie mehr Arbeit kosten als alle Briefe, die sie jemals an Emilia geschrieben hatte. Nie hätte sie gedacht, wie viel Mut es erforderte, Hampus zu erklären, dass sie ihn niemals heiraten werde auch wenn sie ihn als Freund liebte und es aus Vernunftgründen sicher die bestmögliche Verbindung wäre. Als sie nach einer Ewigkeit endlich den letzten Punkt setzte, stellte sie erstaunt fest, dass sie zwölf Seiten geschrieben hatte. Bevor sie es sich anders überlegen konnte, faltete sie den Papierstapel und versiegelte ihn. Dann machte sie sich auf den Weg zu Herrn Freinsheim. Sie fand den Bibliothekar in seinen Privatgemächern, wo er auf einer Leiter stand und gerade dem Wissenschaftler Herrn Gesenbek einen dicken Band aus der obersten Regalreihe reichte.

»Guten Morgen«, sagte sie. Gesenbek gönnte ihr nur einen kurzen feindseligen Blick und riss das Buch an sich, als würde er befürchten, dass sie es ihm entreißen wollte. Mit einem unverständlichen Brummen bedankte er sich bei Freinsheim und entfernte sich hastig.

Der Bibliothekar stieg von der Leiter und lächelte Elin zu.

»Nimm es ihm nicht übel. Seit die Königin bei Herrn Descartes Unterricht nimmt, fürchten so einige der Herren, dass die klassischen Wissenschaften am Hof bald nichts mehr gelten und somit auch ihre Posten überflüssig werden könnten. Was hast du da?«

»Einen Brief an Hampus«, antwortete Elin leise. »Ich möchte Sie bitten, ihn einem der Sendboten mitzugeben.«

Freinsheim nickte und nahm das Schreiben an sich.

»Ist die Königin noch beim Unterricht?«, fragte er dann.

»Oh ja die Tür zur Bibliothek ist noch verschlossen.«

»Nun, falls du die Königin vor mir siehst, richte ihr doch bitte aus, dass ich sie darum ersuche, mir heute ein paar Minuten ihrer Zeit zu schenken.« Etwas beunruhigte Elin am betont munteren Tonfall von Freinsheims Stimme. Seine tiefen Falten auf der Stirn sprachen eine ganz andere Sprache.

»Was ist, Herr Freinsheim?«, fragte sie geradeheraus. »Sie machen sich Sorgen worüber?«

Der Bibliothekar seufzte und rieb sich müde die Augen.

»Ach, das Übliche«, murmelte er. »Es geht um Herrn Descartes. Irgendjemand hier im Hause gibt sich große Mühe, immer neue Schmähungen und Gerüchte zu verbreiten. Neuerdings heißt es sogar, Descartes habe vor, die Königin dazu zu überreden, einen Großteil der Wissenschaftler am Hof zu entlassen.«

»Was? Das ist doch Unsinn!«

»Das wissen wir beide aber sag das jemandem wie Herrn Gesenbek, der ernsthaft um seine Existenz fürchtet. Und es ist nun einmal leider wahr, dass Monsieur Descartes mit Kritik gegenüber den Sprachwissenschaftlern und anderen Gelehrten nicht gerade geizt.«

»Das stimmt allerdings«, gab Elin zu. »Aber er macht es nicht, um die anderen vor den Kopf zu stoßen. Er scheint sich nicht bewusst zu sein, wie viele Feinde er sich mit seiner Offenheit schafft. Ich werde mit ihm reden.«

»Tu das«, seufzte Herr Freinsheim. »Tu das.«

Wie begründet Freinsheims Sorge war, wurde Elin klar, als sie bei der Bibliothek ankam. Mehrere Wissenschaftler und Sekretäre hatten sich dort eingefunden und warteten darauf, die Bibliothek betreten zu können. Elin fühlte sich unbehaglich und betrachtete die Männer aus sicherer Entfernung. Sie sah missgünstige und besorgte Gesichter und hörte Getuschel und gezischte Gerüchte. Tervué brütete dumpf vor sich hin und Herr Gesenbek sah todunglücklich aus und hielt das schwere Buch an seine Brust gepresst, als wäre es ein schützender Schild. Endlich ging die Tür der Bibliothek auf und eine strahlende Kristina betrat den Gang, gefolgt von Descartes.

»Ah, die Herren warten schon!«, rief sie den Wissenschaftlern zu. Dann wandte sie sich sofort wieder Descartes zu und verabschiedete ihn herzlich. Elin schauderte, als sie den Blick bemerkte, mit dem Tervué den Philosophen musterte. Blanker Hass blitzte darin auf.

 

Elins Gespräch mit Descartes hatte nicht den gewünschten Erfolg. Der Philosoph lächelte über ihre Besorgnis und schüttelte nur nachsichtig den Kopf.

»Die Wahrheit hört nun einmal niemand gerne«, sagte er leichthin. »Und ein Raum voller Wissenschaftler ist immer auch eine Schlangengrube. Lassen Sie die Bestien zischen!« Seit die Königin ihn zum Unterricht ins Schloss bat, hatte sich seine Schwermut merklich gebessert.

Mitten im kältesten Januar seit langem erhitzte dann ein neuer Skandal die Gemüter. Kristina bot Descartes ganz offiziell an, Präsident der Königlich Schwedischen Akademie zu werden, die sie schon seit längerem zu gründen plante. Nun liefen nicht nur die Wissenschaftler gegen Descartes Sturm, sondern auch die lutherische Geistlichkeit. Doch diesmal schienen die Schmähreden, die hämischen Kommentare und die feindseligen Blicke Descartes Segel nur zu blähen wie ein lange erwarteter Wind nach einer Flaute. Voller Eifer machte er sich daran, die Statuten für die Akademie zu entwerfen.

In diesen Tagen pfiff der Schneesturm durch die Gassen. Im Haus des Botschafters hallte dumpfes Husten durch die Gänge. Monsieur Chanut erkrankte an einer Lungenentzündung und schwebte einige Tage zwischen Leben und Tod.

Fräulein Ebba, aber auch Freinsheim kamen zu Besuch, außerdem Tervué, Gesenbek und andere Wissenschaftler. Selbst Axel Oxenstierna zeigte sich besorgt und ließ dem Botschafter Genesungswünsche ausrichten. Monsieur Chanut gelang das Kunststück, von allen ob Katholiken oder Protestanten gleichermaßen geschätzt zu werden. Nachts wachte Descartes am Bett seines Freundes und ging morgens unausgeschlafen und mit grauem Gesicht wieder an die Arbeit oder zum Unterricht ins Schloss. Es verwunderte kaum jemanden, als er ebenfalls erkrankte und Anfang Februar das Bett hüten musste. Zwei Tage schlief er wie ein Bewusstloser. In den wenigen Stunden, die er wach war, weigerte er sich zu essen oder zu trinken.

»Mir ist übel, Fräulein Elin«, flüsterte er. »Schaffen Sie das Essen aus meinem Blickfeld!«

Am dritten Tag waren alle im Hause Chanut so besorgt, dass Elin ins Schloss ging und die Königin bat, van Wullen ins Haus des Botschafters zu schicken. Zu ihrer Erleichterung ließ die Königin die Sekretäre warten und hörte sich Elins Anliegen an.

»Das klingt wirklich nicht gut«, murmelte sie, nachdem Elin Bericht erstattet hatte. »Natürlich muss van Wullen ihn untersuchen. Aber wie ich Monsieur Descartes kenne, wird er darauf bestehen, sein eigener Arzt zu sein.«

»Im Moment wird er kaum in der Lage sein, sich dagegen zu wehren«, antwortete Elin. Gerade wollte sie sich schon zum Gehen wenden, als Kristinas Stimme sie zurückhielt. »Ach, hast du übrigens schon die Neuigkeiten aus dem Haus de Vaincourt gehört?«

Elin erstarrte. Kristina blätterte in einem Buch und seufzte. »Der alte Marquis ist gestorben«, sagte sie. »Vor einem Monat bereits. Es tut mir sehr Leid um den Haudegen er war zwar nicht der netteste Mensch, aber sicher einer der besten Strategen, die ich kannte. Ich dachte, es interessiert dich vielleicht.«

»Sie irren sich, Kristina«, sagte Elin leise. »In erster Linie interessiert mich nicht meine Vergangenheit, sondern Herrn Descartes Zukunft.«

 

In dem Maß, in dem Monsieur Chanut genas, verschlimmerte sich Descartes Zustand. Nach der langen Bewusstlosigkeit war er nun hellwach und unruhig, sein Blick irrte umher. Elin tat dieser Anblick im Herzen weh. Innerhalb weniger Tage war er entsetzlich abgemagert und hatte sich von dem stolzen Philosophen in einen störrischen alten Mann verwandelt, der unendlich litt. Van Wullen, der mit Elin den Kranken besuchte, warf einen kurzen Blick auf ihn und runzelte die Stirn. Entschlossen stellte er seinen Koffer auf dem Tisch ab. Skalpelle und Rippenheber klirrten. Descarte setzte sich mühsam im Bett auf. Seine Augen waren fiebrig und gerötet.

»Kein Aderlass«, befahl er mit schwacher Stimme. »Schonen Sie französisches Blut!« Und zu Elin gewandt flüsterte er matt: »Wenn ich schon sterben muss, dann bitte ohne einen Arzt in meiner Nähe.« Van Wullen wurde blass, aber er ließ sich seine Wut nicht anmerken.

»Sie werden nicht sterben«, erwiderte Elin.

Descartes ließ sich zurück in die Kissen sinken und schloss die Augen. Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab.

»Ich möchte noch ein oder zwei Tage abwarten, um die Krankheit auszubrüten. Meist kommt die Krisis nach sechs Tagen und wenn ich sie überwunden habe, wird es besser.«

Aber es wurde nicht besser, im Gegenteil! Descartes Zustand verschlechterte sich in den nächsten Tagen rapide. Ein plötzliches Fieber schüttelte ihn so stark, dass Elin kaum wagte, ihn alleine zu lassen, um in ihren Aufzeichnungen und Büchern nach dem Grund dieser Krankheit zu forschen. Sie verlief ganz anders als die Lungenentzündung, die Monsieur Chanut inzwischen überwunden hatte. Der Philosoph klagte über Schwindel, sein Blick war so unstet, dass er nirgendwo mehr Halt fand. Erst am siebten Tag ließ er es zu, zur Ader gelassen zu werden, eine Behandlung, die Elin mit gemischten Gefühlen verfolgte. Monsieur Tervué erkundigte sich mehrfach nach Descartes Gesundheitszustand. Und auch die anderen Gelehrten, darunter der Mathematiker Björn Strat und sogar der lutherische Theologe Kasimir Bielke, machten Monsieur Chanut ihre Aufwartung. Elin beobachtete die Gelehrten mit Unbehagen. Wie eine Horde von Krähen schienen sie über dem Lager ihres Konkurrenten zu kreisen. Die Spannung, die über dem Haus lag, wurde immer unerträglicher. Streit wallte auf, kaum eine Stunde verging ohne Diskussionen und Dispute.

Elin zog sich so oft wie möglich aus dem Empfangszimmer zurück. Mit der Erlaubnis von Monsieur Chanut setzte sie sich in dessen Arbeitszimmer, wo sie manchmal nichts anderes tat, als den Kopf in die Hände zu stützen und die Augen zu schließen, bis ihre wirbelnden Gedanken ein wenig zur Ruhe kamen.

An einem dieser chaotischen Tage klopfte ein Bote an die Tür und übergab Madame Chanut einen Brief. Elin, die nach einer langen Nacht an Descartes Krankenbett gerade in einem Sessel ausruhte, blickte von ihrem Becher mit heißem Wein auf. Seit Henris Abreise hatte Madame Chanut sicher schon vier Briefe von der Familie de Vaincourt erhalten, aber Elin hatte nie zu fragen gewagt, was darin stand. Dieser hier war erstaunlich dick und Elin sackte schon bei seinem Anblick das Herz in den Bauch.

Diesmal öffnete Madame Chanut das Schreiben in Elins Gegenwart. Ein kleinerer Brief rutschte heraus, den Madame Chanut gerade noch auffangen konnte, bevor er zu Boden fiel. Mit gerunzelter Stirn las sie das größere Schreiben. Für Elin dehnten sich diese Minuten zu einer Ewigkeit. Sie wusste, dass sie heute fragen würde gleichgültig, ob die Nachricht von Henris Hochzeit ihr das Herz brach. Alles war besser als die Ungewissheit! Endlich hob Madame Chanut den Blick. Elin wusste nicht, ob es ein wissendes oder mitleidiges Lächeln war, das um die Lippen der Diplomatenfrau spielte.

»Für Sie, Elin!« Die Französin streckte ihr den kleineren Brief, der noch versiegelt war, entgegen.

Da war es das kalte Fieber. Es ergriff Elin von einem Moment zum anderen, Eis in ihrer Kehle, Frost in ihrem Genick. Statt den Brief anzunehmen, klammerte sie sich an den Weinbecher und schüttelte krampfhaft den Kopf.

»Nein, bitte«, brachte sie schließlich mit kläglicher Stimme heraus. »Ich kann nicht. Würden Sie ihn mir vorlesen?«

Madame Chanut zog eine Augenbraue hoch, doch dann öffnete sie das Schreiben und faltete es auseinander. In ihrem melodiösen Französisch begann sie zu lesen. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie den Sinn der Worte erhaschte, bevor sie den Satz ausgesprochen hatte:

 

»Meine liebe Tochter,

sicher hast Du von dem Schicksalsschlag gehört, der vor kurzem unsere Familie erschütterte. Längst sind noch nicht alle Angelegenheiten geordnet, aber wir blicken trotz aller Trauer vertrauensvoll in die Zukunft. Ich freue mich darauf, Dich bald in die Arme zu schließen und in unser Heim aufzunehmen.

Herzlichst,

Charlotte de Vaincourt«

 

 

Die Stille, die auf diese Worte folgte, dröhnte in Elins Ohren. Madame Chanut kniff die Augen zusammen und ließ den Blick zum Ende des Briefs schweifen.

»Oh ich sehe gerade: Henri hat auch noch eine Notiz hinzugefügt: Genügt das als Beweis, Küchenkönigin? «

Sie ließ das Blatt sinken und betrachtete Elin amüsiert.

»Und?«, fragte sie. »Genügt es?«

»Er hat nicht geheiratet«, flüsterte Elin.

»Nein, geheiratet hat er nicht«, bestätigte Madame Chanut. »Aber ich denke, es ist eindeutig, dass er es noch vorhat. Wie ich hörte, befindet er sich bereits auf dem Weg nach Stockholm.«

Elin schluckte und starrte gedankenverloren in ihren Weinbecher. Tausend Nächte, so schien es ihr, hatte sie davon geträumt, aber jetzt fühlte sie nur eine seltsame Erleichterung.

In der roten Flüssigkeit spiegelte sich ihr Gesicht. Krank sah es aus, und unendlich müde.

»Der Wein!«, rief sie plötzlich. Der Gedanke blitzte so abrupt auf, dass er Henri und den Brief für einen Moment beiseite wischte. Im nächsten Augenblick rannte sie an der verdutzten Madame Chanut vorbei zur Treppe. Descartes war aufgewacht und litt schreckliche Qualen. Er hatte sich erbrochen. Klumpen von schwarz verfärbtem Blut tränkten die Decke, schwarzer Speichel rann ihm aus dem Mund. Er atmete unregelmäßig und sein Blick irrte hektisch hin und her.

Johann van Wullen stand mit hängenden Schultern an seinem Bett. Ohne auf die Gebote der Höflichkeit zu achten, stürzte Elin zu ihm und zog ihn am Ärmel zum Fenster.

»Es ist der Wein«, flüsterte sie. »Er ist vergiftet! Gestern hat er welchen getrunken er wurde ihm in einem Becher gebracht, der unten zubereitet wurde und dort stand, wo alle Gäste ihn erreichen konnten. Vermutlich bekommt er das Gift schon seil einigen Tagen verabreicht.«

Der Leibarzt zog die Brauen zusammen, bis sie sich über seiner Nasenwurzel berührten.

»Was sagen Sie dazu?«, flüsterte sie. Van Wullen blinzelte nicht einmal, als er ihr die Antwort gab.

»Ich habe den Patienten aufgegeben«, sagte er sehr sachlich. »Seine Schmerzen kann ich versuchen zu lindern, ansonsten halte ich meine Hand von ihm fern.« Seine Stimme wurde leiser und bekam einen warnenden Unterton. »Und wenn Sie klug sind, Fräulein Elin, dann lassen Sie einen solchen ungeheuren Verdacht nicht verlautbaren. Eine Vergiftung lässt sich nicht beweisen.«

Fassungslos starrte Elin ihn an.

»Aber sehen Sie ihn sich doch an!«, beharrte sie. Der Arzt war blass geworden und sah mit einem Mal sehr erschöpft aus. Elin hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Es schnürte ihr die Kehle zu, auszusprechen, was ihr endlich klar wurde.

»Sie wissen es längst.«

»Manchmal weiß oder vermutet ein Arzt einiges, aber aus Gründen der Staatsräson muss er Stillschweigen bewahren. Vor allem, wenn es sich um bloße Vermutungen handelt.«

Van Wullen wandte sich brüsk ab, packte seine Instrumente ein und verließ das Zimmer. Elin blieb zurück gefangen im Chaos ihrer eigenen Geschichte und mit Monsieur Descartes Leben, das ihr durch die Finger rann. Sobald sie Descartes Leibburschen damit beauftragt hatte, neues Feuerholz und frische Tücher zu holen, kniete Elin sich neben das Bett und zwang den Philosophen sie anzuschauen.

»Monsieur Descartes! Verstehen Sie mich?«

Schwach nickte er.

»Gut. Hören Sie mir genau zu. Ich habe den Verdacht, dass jemand versucht Sie zu vergiften. Ab heute nehmen Sie nur noch den Wein zu sich, den ich Ihnen bringe. Und ebenso ist es mit dem Wasser, dem Brot und den anderen Speisen. Haben Sie verstanden?«

Descartes zog einen Mundwinkel hoch und schluckte schwer. Er musste mehrere Versuche machen, bevor er endlich seinen Satz herausbrachte: »Ich werde diesen Feind austreiben. Bringen Sie mir Wein, vermischt mit Tabak.«

Lars wunderte sich nicht, als Elin im Stall erschien und ihn um einen Gefallen bat. Der sonst so laute und harsche Stallmeister hörte sich ihren geflüsterten Verdacht an und nickte. »Einverstanden. Dann werde ich mich auf Mäusejagd begeben. Wo ist das Brot?«

Elin reichte ihm das befleckte Taschentuch, in dem sie das in Wein getunkte Brot aus Descartes Kammer aufbewahrte.

»Wasch dir die Hände, nachdem du das Brot angefasst hast«, ermahnte sie ihn. »Ich habe damit den Rest aus Descartes Weinbecher aufgesaugt.«

»Weiß die Königin es schon?«

»Noch nicht, aber ich gehe gleich jetzt ins Schloss, um mit ihr zu reden.«

Da Kristina an diesem Tag nicht zu sprechen war, beschloss Elin, stattdessen Freinsheim einzuweihen, und bat ihn, unter strengster Geheimhaltung die Königin zu informieren. Die Chanuts sagten allen Besuchern ab, nur Elin blieb in der Botschaft und wachte Tag und Nacht an Descartes Bett. Hier, in der Dunkelheit, in der sie nur die unregelmäßigen, gequälten Atemzüge des Kranken hörte, kam sie zum ersten Mal seit Monaten wirklich zur Ruhe. In Gedanken ließ sie jeden Besucher der letzten zehn Tage noch einmal Revue passieren. Tervué natürlich, mindestens sechs weitere Wissenschaftler, ausländische Gäste aus Tre Kronor, ja selbst Doktor van Wullen hätte Descartes unbemerkt ein Gift verabreichen können, obgleich Elin beim besten Willen nicht wusste, was ihm der Tod des Philosophen nützen könnte. Bei den Wissenschaftlern lag die Antwort dagegen auf der Hand. Descartes hatte sich seit seiner Ankunft in Stockholm viele Feinde gemacht.

Dann gab es noch den Hauskaplan und die Bediensteten jeder hätte sie bestechen können, das Gift zu verabreichen. Niedergeschlagen lehnte sich Elin in ihrem Sessel zurück und schloss die Augen. Seit Tagen hatte sie kaum geschlafen und nun glitt sie langsam in einen Dämmerschlaf hinüber. Henri hatte nicht geheiratet und hier, neben einem Kranken, in der größten Sorge, schlich sich unbemerkt die Freude darüber an, dass ihr Geliebter auf dem Weg nach Stockholm war.

 

Van Wullen hatte mit seiner Prognose Recht gehabt. Elin wusste es, noch bevor sie die Augen öffnete. Als sie am zehnten Tag von Descartes Erkrankung mit steifen Gliedmaßen im Sessel erwachte, war das rastlose Atmen verstummt. Stattdessen hörte Elin nur noch das Kratzen einer Feder.

»Gegen vier Uhr hat er Gott seine Seele zurückgegeben«, sagte van Wullen. Aschgrau im Gesicht saß er am Tisch neben dem Fenster, wo er einen Brief schrieb. »Ich wollte Sie nicht wecken.«

Obwohl Elin es insgeheim erwartet hatte, war der Schmerz über den Verlust heftig und unerwartet.

»Sie wissen, dass er nicht an einer Lungenentzündung gestorben ist«, flüsterte sie. »Sie müssen es bezeugen, damit der Mörder gefunden wird!«

Van Wullen legte die Feder nieder und knetete seine Hände, als würden sie schmerzen.

»Ich werde gar nichts bezeugen. Und nun lassen Sie mich meinen Brief an einen Freund in Holland zu Ende schreiben.« Beim Blick in Elins Gesicht seufzte er und tippte viel sagend auf das zur Hälfte beschriebene Papier. »Es kommt nicht darauf an, was wir wissen«, sagte er eindringlich. »Wer wissen will, wird zwischen den Zeilen lesen.«

 

Die Königin war blass und hatte verquollene Augen. Bei der Todesnachricht war sie in Tränen ausgebrochen. Nun betrachtete sie angewidert den Eimer, den Elin zu ihrer Unterredung mitgebracht hatte. Elin hob das Gitter, mit dem der Eimer abgedeckt war. Die Maus lag verendet am Boden ihre verkrampften Gliedmaßen zeigten, dass der Tod qualvoll gekommen war.

»Was soll ich nun mit dem Vieh?«, fragte Kristina.

»Sie hat das gefressen, was Monsieur Descartes am sechsten Tag seiner Krankheit zu sich genommen hat. Er wurde vergiftet.«

»Und das beweist du mit einer einzigen Maus? Nicht sehr wissenschaftlich.«

Elin wurde rot.

»Ich weiß«, gab sie zu. »Ich hatte Lars gebeten, mindestens zwei Mäuse zu fangen, um zu sehen, ob sie beide eingehen, aber die zweite ist leider entwischt.«

»Dann tut es mir Leid, Elin«, erwiderte Kristina eine Spur zu schnell. »Das reduziert deinen Beweis zu einer reinen Vermutung.«

»Aber der Auswurf hier …«

»Guter Gott, die Maus kann an allem Möglichen verreckt sein vielleicht war sie bereits krank. Dafür spräche, dass Lars schnell genug war sie zu fangen. Oder sie hat vor Schreck Krämpfe bekommen. Jemand könnte sie sogar im Stall unbemerkt erschlagen haben.«

»Dennoch Descartes Symptome sprachen nicht für eine Lungenentzündung. Und selbst wenn er erkältet gewesen ist, könnte jemand seine geschwächte Konstitution ausgenutzt haben, um ihm das Gift in mehreren Dosen zu verabreichen. Sie waren nicht da, Majestät aber seit seiner Erkrankung gaben sich die Gelehrten in der Botschaft seltsamerweise plötzlich die Klinke in die Hand.«

»Nur weil es möglicherweise ein Motiv gibt, heißt das noch lange nicht, dass es auch eine Tat geben muss.«

»Eben deshalb muss der Todesfall genauer untersucht werden«, beharrte Elin. »Ich habe bereits eine Liste der Gäste erstellt und bin zu dem Ergebnis gekommen, dass sowohl Monsieur Tervué als auch Herr Gesenbek …«

Kristina hob abwehrend die Hand. Sie war noch blasser geworden und stützte sich mit der anderen Hand schwer auf die Lehne des Stuhls, neben dem sie stand. »Doktor van Wullen hat ein offizielles Kommunique verfasst und darin bestätigt, dass Monsieur Descartes an einer Lungenentzündung verschieden ist«, sagte sie mit Nachdruck. »Das ist auch mein letztes Wort.«

Elin kam sich vor, als wäre sie soeben in vollem Lauf gegen eine Mauer geprallt. Benommen stand sie da und begriff nur langsam. In diesem Augenblick, als die Enttäuschung sie überschwemmte wie eine kalte Woge, fühlte sie sich auf Tre Kronor nicht länger zu Hause. Sie hob das Kinn und warf der Königin einen herausfordernden Blick zu. Es wunderte sie, wie ruhig ihre Stimme klang.

»Sie sprechen so mutig, Majestät, wenn es um Tugend und Freiheit und Gerechtigkeit geht um die Pflichten eines Fürsten gegenüber seinem Volk. Aber wo sind die mutigen Taten, wenn es darum geht, einen Tod zu rächen?«

»Ich handle damit durchaus zum Wohl meiner Untertanen«, erwiderte Kristin^ ebenso ruhig. »Ein Wissenschaftler kommt in meine Obhut und wird vergiftet. Begreifst du denn nicht, was das bedeuten würde?«

»Ich begreife sehr wohl.«

»Nein, du begreifst es ganz und gar nicht. Ich werde nicht zulassen, dass mein Hof in Europa als Mördergrube bekannt wird. Nicht nur, dass es einen Skandal gäbe, es würde auch politische Verstrickungen nach sich ziehen, deren Konsequenzen wir uns besser nicht vorstellen.«

»Sie schützen also den Ruf Ihrer Gelehrten zum Preis von Monsieur Descartes Leben und nennen es Pflicht.«

»Du bist nicht mein Richter!«, schrie die Königin sie mit einem Mal an.

Ihre blauen Augen glühten vor Zorn. Mit einer blitzschnellen Handbewegung griff sie nach dem Tintenfass auf dem Tisch. Es geschah so schnell, dass Elin nicht reagieren konnte und erschrocken stehen blieb. Das Fass verfehlte ihre Schulter nur knapp, zerschellte an der Holztäfelung der Tür und hinterließ eine schwarz blutende Wunde. Für ein paar Sekunden war Ruhe, dann richtete sich Kristina sehr gerade auf und biss sich auf die Lippen. Elin fühlte sich, als wäre gerade der letzte Faden, der sie beide noch verband, gerissen. Der Spiegel war zersplittert und mit ihm Elins Spiegelbild. Sie betrachtete Kristina und sah nur noch eine Fremde.

»Ich verbiete dir, über diese Angelegenheit zu sprechen«, sagte die Königin leise. »Schwöre es!«

Elin senkte den Kopf und dachte an Doktor van Wullens verschlüsselten Brief.

»Wenn ich das schwöre, kann ich unmöglich länger am Hof bleiben. Erlauben Sie mir, das Land zu verlassen.«

»Wo zur Hölle willst du hin?«

»Nach Frankreich. Zu Henri de Vaincourt.«

»Sieh an.« Jetzt war es die Königin, die ihre Betroffenheit kaum verbergen konnte. »Bedenke, er ist keine besonders gute Partie mehr, seit sein Vater ihn noch auf dem Sterbebett enterbt hat. Er kann von Glück sagen, dass ihm ein Onkel mütterlicherseits noch etwas hinterlassen hat.«

»Das ist mir gleichgültig, Majestät. Ich habe mich soeben dazu entschlossen, sein Heiratsangebot anzunehmen.«

»Elin, du bist mein Mündel und noch nicht einmal volljährig.«

»Ich werde schweigen, aber ich will das Land verlassen«, beharrte Elin. Die Königin erschien ihr mit einem Mal noch kleiner. Verletzlichkeit schimmerte durch die herrische Fassade. »Und was ist mit Italien? Eines Tages und vielleicht früher, als man denkt werde ich meine Rolle hier zu Ende gespielt haben und Schweden verlassen. Du hast mir versprochen, mich zu begleiten.«

Nun konnte sich Elin ihren Sarkasmus nicht verkneifen.

»Ich war jung, als ich das Versprechen gab.«

Kristina zog die Luft scharf durch die Nase ein und hob das Kinn. »Überlege es dir gut. Wenn du jetzt gehst, werden sich unsere Wege für immer trennen.«

Elin schluckte. Gegen ihren Willen stiegen ihr Tränen in die Augen. »Das weiß ich, Majestät.«

»Mein Gott«, sagte Kristina mit einer Stimme, die nun vor Verachtung und verletztem Stolz bebte. »Du bist tatsächlich eine gewöhnliche Frau geworden allzu gewöhnlich. Wie konnte ich nur jemals denken, du wärest mir ähnlich!« Sie sah Elin an, als wartete sie verzweifelt auf etwas eine Entschuldigung, einen Widerspruch vielleicht. Doch Elins Schweigen war Antwort genug. »Dann verschwinde!«, schrie Kristina. »Lass mich allein folge der Liebe, wenn du dich unbedingt unglücklich machen willst!«

Elin krampfte ihre Finger ineinander, um Kristina nicht zu zeigen, wie sehr ihre Hände zitterten.

»Wie Sie befehlen, Majestät. Aber vorher möchte ich noch den Wunsch geltend machen, dessen Erfüllung Sie mir versprochen haben, als ich an Ihrer Stelle verwundet wurde.«

»Was willst du?«

Elin holte tief Luft und nahm all ihren Mut zusammen.

»Meine Papiere«, sagte sie mit fester Stimme. »Alle Unterlagen, die in Kester Levens Besitz sind.«

 

Tag für Tag ging Elin in der Botschaft auf und ab, räumte ihre Bücher von einer Truhe in die nächste und konnte vor Ungeduld kaum schlafen. Auch jetzt war es wieder Lovisa, die bei ihr war, obwohl sie Elins Entscheidung, Henri zu heiraten, ebenso wenig billigte wie Kristina.

»Ach Kind«, seufzte sie nur. »Ich wünsche dir alles Glück der Welt aber ein wenig mehr Besonnenheit würde dir das Leben leichter machen. Was wirst du denn nur ohne mich machen?«

Meistens aber verbrachten sie die Nachmittage in der Botschaft ohne viele Worte. Nach und nach ließ Lovisa Elins persönliche Habe in die Botschaft bringen und bereitete die Reise vor. Elin hielt sich in diesen Wochen am liebsten in ihrer Kammer auf. Madame Chanut hatte ihr das Gemach gegeben, in dem auch Henri vor einigen Monaten gewohnt hatte, und Elin schmiegte sich nachts in die Kissen und stellte sich vor, wie es sein würde, Henri wieder umarmen zu können. Längst waren die Gespenster aus ihren Träumen verschwunden, dafür war es nun Descartes, der sie nicht zur Ruhe kommen ließ. In einem Brief an Hampus hatte sie den Verlauf der Krankheit beschrieben schließlich hatte sie Kristina geschworen, nicht über den Vorfall zu sprechen. Von Schreiben hatte die Königin dagegen nichts gesagt und Hampus war ihr Freund. Beinahe ebenso sehr wie um den Philosophen trauerte Elin um ihre Freundschaft zu Kristina. Insgeheim hoffte sie, dass die Königin ebenfalls schlaflos in ihrem Gemach lag und über ihren Streit nachdachte. Trotz des Zerwürfnisses und Monsieur Descartes Tod, der immer zwischen ihnen stehen würde, fehlte ihr Kristina unendlich.

Nach dem langen Winter brach das Eis erst Anfang April und verwandelte das Hafenwasser in eine Ebene aus glitzernden Eistrümmern. Elin erinnerte dieser Anblick an einen Spiegel, der in tausend Scherben zerbrochen war, in denen sie nicht mehr Kristina, sondern nur noch Bruchteile ihrer eigenen Vergangenheit sah. Schiff um Schiff lief im Hafen ein, aber Henri kam nicht. In ihren Träumen sah Elin ihn von Wegelagerern überfallen, ausgeraubt, ertrunken bei einem Schiffbruch oder schwer erkrankt. Sie wagte kaum mehr, zu Enhörning und Lars zu gehen, aus Angst, seine Ankunft zu verpassen. Statt einer Nachricht von Henri brachte ein Bote Ende April einen Brief von Hampus. Elin bekam Herzklopfen, als sie ihn entgegennahm. Rasch entschuldigte sie sich bei den Chanuts, mit denen sie eben beim Souper saß, und eilte in ihre Kammer. Sie hatte Angst, den Brief zu öffnen, aber schließlich fasste sie Mut. Hampus schöne, regelmäßige Schrift zu sehen, war ein wenig so, als würde ihr Freund bei ihr sein. Der Brief war in einem sehr höflichen Ton gehalten, aber Elin konnte zwischen den Zeilen immer noch seine Enttäuschung und seinen Kummer hindurchschimmern sehen. Umso mehr liebte sie Hampus für seine Größe, ihr so herzlich und aufrichtig zu gratulieren.

 

Ich wünsche Dir und Henri tausend Nächte voller Sterne und Tage voller Rosenduft, Und ich hoffe, Euch beide eines Tages wieder zu sehen wer weiß, wo sich unsere Wege kreuzen werden. Nur in Schweden, glaube ich, sicher nicht mehr

 

Elin war so in diese Worte vertieft, dass sie nicht hörte, wie jemand leise an ihre Tür klopfte. Langsam schwang die Tür auf. Elin sprang von ihrem Stuhl hoch.

Der Mann, der in der Tür stand, war sicher nicht der Henri, den sie vor bald einem halben Jahr das letzte Mal geküsst hatte, aber immerhin ein junger Mann, der ihm sehr ähnlich sah. Beinahe erschreckend erwachsen war er geworden. Um seinen Mund hatten sich Falten eingegraben, er war abgemagert und völlig erschöpft von der Reise. Regen hatte sein Haar durchnässt und tropfte auf seinen Kragen. Zögernd trat er in ihr Zimmer, aber Elin wagte nicht, ihm um den Hals zu fallen, so ernst war sein Blick. Er räusperte sich und rieb sich die Hände.

»Nun, der Ärmste unter den Reichen steht vor Ihnen, Mademoiselle. Enterbt bis auf ein halb zerfallenes Landgut, zwei Webereien und ein paar schäbige Hanffelder. Reich werden wir damit nicht.«

Das »wir« entfachte ein Lächeln auf Elins Gesicht. Ihr wurde warm jetzt wusste sie, was Henri so fremd wirken ließ: Von Wams und Mantel waren die kostbaren Goldborten verschwunden. Er atmete noch einmal tief durch und sprach weiter.

»Ein zukünftiger Marquis war dir nicht gut genug. Aber vielleicht gibst du dich mit einem einfachen Landadligen zufrieden. Ich jedenfalls kehre nicht ohne dich nach Frankreich zurück. Dafür war der Beweis zu teuer erkauft. Die Verlobung zu lösen war beinahe schlimmer als der Schuss ins Bein!«

Elin war mit zwei Schritten bei ihm und umarmte ihn. Seine Lippen waren rau und sein Kuss eiskalt von der nordischen Frühlingsluft. Trotzdem wärmte er Elin wie ein lang verschüttet geglaubtes Feuer.

 

Die Verlobung wurde nachts in Chanuts Botschaft gefeiert. Es duftete nach Helgas Marzipan und heißem Kräuterwein. Im Salon hatte Madame Chanut das beste Gedeck aufgelegt.

Draußen in den Gassen war es vollkommen still, die Mainacht war schwarz und undurchdringlich. Kristina hatte ihr Versprechen gehalten. Am Morgen hatte Herr Freinsheim Elin eine versiegelte Mappe mit Schriftstücken überreicht, dazu einen Brief mit der Aufforderung, ihn sogleich zu lesen. Darin gab die Königin Elin, ihrem Mündel, nun auch die offizielle Erlaubnis, sich zu verloben und Schweden zu verlassen. Elin war überrascht, dass Kristina sie »in absentia« nobilitiert hatte. Ohne den Schutz eines Titels werde ich mein Mündel nicht in eine ungewisse Zukunft ziehen lassen, hatte der Sekretär Bengt die Worte der Königin niedergeschrieben. Eine Baronesse kann ich aus ihr nicht machen, aber sie darf sich von nun an zu den Edelfrauen zählen und sich Fräulein von Asenban nennen. Elin stellte sich vor, wie Kristina mit ihrer nüchternen Stimme die Zeilen diktierte und dabei in ihrem Kabinett umherging in der Hand bereits ein anderes Schriftstück, mit dem sich ihr Auge und ihr Geist beschäftigten. Außerdem wird Frau Lovisa ob sie nun Schiffe mag oder nicht auf meinen Befehl hin Fräulein von Asenban begleiten und prüfen, ob mein Mündel gebührend empfangen wird und standesgemäß lebt. Als Gratifikation für ihre Treue und ihre geleisteten Dienste erhält Fräulein von Asenban zudem 8000 Riksdaler, die ihr in schweren Stunden, die sie zweifellos auf ihrem Weg erwarten, nützen mögen.

Seltsamerweise machte das Geldgeschenk Elin im ersten Moment traurig. Es war ein erkaufter Friede und Elin hätte es trotz allem lieber gesehen, wenn Kristina in die Botschaft gekommen wäre, um ihr ein letztes Mal die Hand zu geben. Noch mehr Überwindung, als Kristinas Brief zu lesen, hatte es sie gekostet, die Mappe mit den Dokumenten aufzuschlagen. Viel lag nicht darin mehrere Blätter mit Kritzeleien und ein Brief. Vermutlich hatte ihr Vater ihn nicht selbst geschrieben, sondern auf dem Feld einen Schreibkundigen dafür bezahlt. Elin beugte sich über den Brief und las ihn Zeile für Zeile genau durch. Und noch ein zweites und ein drittes Mal. Erst dann sah sie sich die verschmierten Blätter an. Mit ungelenker Hand hatte ihr Vater eine Gestalt gezeichnet, mit dem Stück eines verkohlten Astes vielleicht, irgendwo auf dem Feld. Eine Frau, mit langem, hellem Haar, das ihr bis auf die Hüfte fiel.

»Der erste Gast hat schon geklopft!«, rief Madame Chanut ihr zu.

Elin, die eben noch nachdenklich den Rosenkranz ihres Vaters betrachtet hatte, blickte auf. Es war Lars. Der alte Reitmeister hatte seine Uniform angelegt. Stolz und ernst wie ein Brautvater trat er vor und schloss Elin in die Arme. Es klopfte wieder und gleich darauf noch einmal. Vier Lastenträger schleppten ächzend Lovisas prall gefüllte Reisetruhen in den Raum. Die alte Kammerfrau war beim Gedanken an die Schifffahrt, die ihr bevorstand, bleich wie ein Gespenst, aber sie lächelte Elin tapfer zu und bat um einen Wein. Als Nächstes kam Helga und überreichte Elin eine schwedische Brautkrone. »Ich weiß, dass es bei einer französischen Hochzeit nicht der Brauch ist, eine Krone zu tragen«, erklärte sie. »Aber wenn du erst einmal in deinem neuen Land bist, wirst du froh sein, ein Stück Heimat mitgenommen zu haben.«

»Es wird Elin eine große Ehre sein, Ihre Krone auf unserer Hochzeit zu tragen«, sagte Henri mit einem Lächeln. Kaum hatten sie am Tisch Platz genommen, klopfte es wieder. Mäntel rauschten im Flur, fröhliches Lachen erklang dann betraten Magnus de la Gardie, seine Frau und Ebba den Raum gefolgt von Herrn Freinsheim. Madame Chanut schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ließ noch mehr Teller holen.

»Herr van Wullen konnte sich beim besten Willen nicht davonstehlen!«, rief Ebba mit einem verschmitzten Lächeln. »Aber er schickt dir Grüße und Glückwünsche.«

»Haben Sie sich etwa alle aus dem Schloss geschlichen?«, fragte Henri.

Magnus zwinkerte ihm zu. »Nun, wir sind eher schlafgewandelt. Morgen werden wir uns nicht mehr daran erinnern.«

Es wurde ein Fest, das Elins Herz noch lange wärmen würde. Seit Ewigkeiten war sie nicht mehr so fröhlich gewesen Magnus erzählte die Geschichte von Henris Unfall mit Enhörning in einer Weise, dass sogar Henri Tränen lachte. Die vergangenen zwei Jahre wurden wieder lebendig, zogen an Elin vorbei funkelnde Geschichten, die sich wie Perlen an einer Kette aneinander reihten. Böse und gute, traurige und lustige. Als die Mitternacht längst vorbei war und von Helgas Konfekt kein Krümel mehr auf der Silberplatte lag, stand Elin auf und erhob ihr Glas.

»Ich möchte auf zwei Frauen trinken. Eine davon kennt ihr sehr gut die Königin, der wir alle viel zu verdanken haben. Die andere kenne ich nicht, aber ich weiß zumindest ihren Namen. Es ist meine Mutter. Sie hieß Elisabeth Krieschen und war die Tochter eines Gerbers aus München.«

»Das ist nur drei Tagesreisen von meiner Heimatstadt Ulm entfernt!«, rief Freinsheim dazwischen.

Elin nickte. »Da mein Vater sie auf der Insel Usedom kennen lernte, ist es nicht verwunderlich, dass ich dort keine Spuren über sie und ihre Familie fand. Ob sie eine Hure war, weiß ich immer noch nicht. Tatsache ist jedoch, dass mein Vater und sie geheiratet haben in einem Feldlager. Meine Mutter war Katholikin. Ihr zuliebe ist mein Vater zum Katholizismus konvertiert heimlich, als Hochverräter an Schweden. Ich bin katholisch getauft worden ebenso heimlich, in einer zerstörten Kirche am Rand des Schlachtfelds.«

Die Stille dauerte nur einen Moment, dann scharrten die Weingläser über die Tafel und die Stuhlbeine über den Boden. Lars hob feierlich sein Glas.

»Auf unsere Königin und auf Elisabeth Krieschen!«

Henri nahm einen tiefen Schluck und griff nach Elins Hand. Doch Elin entzog sie ihm und räusperte sich.

»Und dann habe ich noch ein Anliegen«, sagte sie in die Runde. Sie griff zu ihrem Taschentuch und klappte es auseinander. Lovisa begann zu lächeln. Elin zwinkerte ihr zu und nahm das Geschenk für Henri heraus. Es fühlte sich so an wie an dem Tag, an dem Lovisa es ihr endlich gegeben hatte nur war es blanker, weil Elin es seitdem unzählige Male betrachtet und hin und her gewendet hatte.

»Ihr Riksdaler«, sagte sie zu Henri. »Mit bestem Dank zurück.«

Viel später am Abend, als die letzte Weinflasche geleert war und alle Geschichten mehrmals erzählt, erhoben sich ihre heimlichen Gäste und umarmten Elin nacheinander zum Abschied. Lars drückte sie so fest an sich, dass ihr die Luft wegblieb.

»Leb wohl, zukünftige Madame de Vaincourt«, brummte er und küsste sie auf die Stirn. »Falls du mich brauchst, um Lovisa zu fesseln, damit sie morgen mit dir aufs Schiff geht, weißt du ja, wo du mich findest.«

 

Fesseln mussten sie Lovisa nicht, aber sobald das Schiff in Sicht kam, gab Elin ihr die Hand, die Lovisa ergriff wie ein Ertrinkender das Seil.

»Ich muss verrückt sein«, murmelte Lovisa immer wieder vor sich hin.

Von weitem konnten sie sehen, wie ihre Ledertruhen und zwei silberbeschlagene Kisten an Bord verladen wurden. Enhörning tänzelte, als er in den Frachtraum unter Deck geführt wurde. Und während sich das Schiff, das sie über die Ostsee bringen würde, mit Passagieren und Handelsgütern füllte, wurde nicht weit von ihnen ein anderes Schiff entladen. Für die Krönungsfeierlichkeiten, die im Sommer stattfinden sollten, trafen bereits die ersten Lieferungen ein. Feuerwerk wurde an Land geschafft.

»Also los«, flüsterte Lovisa. »Lassen wir die Gräber endlich hinter uns!« Hand in Hand betraten sie und Elin das Schiff. Die Hofdame war blass und schwitzte. An Deck angekommen, klammerte sie sich hilfesuchend an die Reling. Henri gesellte sich zu ihnen und legte seine Arme um Elin. Vor ihnen erhob sich Tre Kronor der alte Drache aus Stein mit unzähligen Fensteraugen, in denen sich das Morgenlicht spiegelte. Irgendwo im Schloss wurde bereits am Triumphbogen für die Krönungsfeierlichkeiten gebaut.

Elin ließ ihren Blick über die Mauern schweifen und suchte nach dem Fenster, aus dem Kristina und sie oft auf den Hafen geschaut hatten. Sie war sich sicher, dass die Königin dort oben stand und zu ihr hinunterblickte. Noch einmal atmete sie tief durch, bevor sie Stockholm endgültig den Rücken kehrte und das Wasser betrachtete. Die Zukunft lag vor ihr wie eine mit glitzerndem Schnee bedeckte Ebene unberührt und voller Verheißungen neuer Wege, die es darunter zu entdecken galt. Neue Länder, neue Studien, neue Herausforderungen erwarteten sie. Sie würde dem lutherischen Glauben abschwören und in einer Kirche aus Granit heiraten. Gemeinsam mit Henri würde sie die Segeltuchwebereien seiner Familie ausbauen. Und irgendwann, in einem vergessenen Winkel, würde sie vielleicht eines Tages eine Scherbe des zerbrochenen Spiegels finden und darin Kristinas Lächeln sehen.