Tre Kronor

 

 

 

Das Leben im Schloss war weder golden noch einfach. Es steckte voller Stolperfallen und versteckter Regeln, von denen Elin nichts wusste bis zu dem Moment, in dem sie sie übertrat. Das neue Mieder, das ihr zwar auf den Leib geschneidert war, aber umso enger saß, war bei weitem nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Verbot, Wasser zu trinken. Wein und Bier, so rieten die Ärzte der Königin, seien gesünder als Wasser, das verunreinigt sein konnte. Selbst als Elin darum bat, Dünnbier trinken zu dürfen, wurde ihr diese Bitte verwehrt.

»Das ist etwas für arme Leute«, wies Tilda sie mit gutmütigem Spott zurecht. »Denkst du etwa, das, was die Königin trinkt, sei nicht gut genug für dich?« So blieb Elin nichts anderes übrig, als sich so oft wie möglich aus der Kammer zu schleichen. Über Arkadengänge und Treppen erreichte sie die Räume im Ostflügel des Schlosses, wo sie heimlich frisch gefallenen Schnee von einem Fenstersims kratzte und ihn auf der Zunge zergehen ließ. In diesen Augenblicken war die Sehnsucht nach Emilia nicht mehr ganz so schlimm. Der Wind und der frische Geschmack von Winter gaben ihr das Gefühl, wieder lebendig zu werden. Längst kam es ihr so vor, als würde sie das Leben nur noch durch Glasfenster beobachten. Die Nord- und Ostmauern fielen direkt zum Hafen ab so nah stand das Schloss am Wasser, dass es aussah, als könnte ein Kapitän, der mit seinem Schiff am Schloss vorbeifuhr, seine Hand über die Reling strecken und das Gemäuer berühren. Elin betrachtete die Eisangler und staunte über die Bürger und Adligen, die sich Kufen unter die Schuhe gebunden hatten und über den zugefrorenen See glitten. Ein aus Backsteinen erbauter Palast auf dem Festland faszinierte sie besonders nicht weit von ihm befand sich die Brücke zu Skeppsholm, der »Schiffsinsel«, auf der sich die Werft befand. Selbst jetzt im Winter brannten dort vereinzelt Feuer, über denen die Spanten für die Kriegsschiffe getrocknet und dabei in Form gebogen wurden. Und weit draußen auf dem Wasser lag auch noch Djurgärden, der »Tiergarten«, die bewaldete Jagdinsel der Königin.

Elins Welt dagegen war mit einem Mal zu einem winzigen Fleck zusammengeschrumpft. Immer wenn sie aus einem der vielen Fenster in die Tiefe blickte in die verwinkelten, schattigen Höfe des Schlosses, wurde ihr schwindlig. Doch im Inneren des Schlosses fürchtete sie sich ebenso zum Beispiel davor, die kostbaren Möbel zu berühren. Ständig war sie peinlich bemüht, genug Abstand zwischen ihrem Rock und den Wandteppichen zu halten. Zu allem Überfluss hatte Lovisa ihr einen Stoffwulst um die Hüfte gebunden, der »Weiberspeck« hieß und die Taille betonen sollte, aber Elin kam sich damit vor, als trüge sie unter ihrem schweren Rock riesige Taschen, mit denen sie durch keine Tür mehr passte. Manchmal blieb sie stehen und betrachtete aus sicherer Entfernung die Stickereien.

»Kind, du bist doch kein Geist!«, rief Lovisa, als sie Elin lautlos und eilig vorbeihuschen sah. »Meine Güte, du trampelst entweder wie ein Bauer oder schleichst wie ein Nebelschweif! Lauf anmutig!«

»Ich will nicht anmutig laufen, ich will endlich eine Arbeit.«

»Und widersprich nicht ständig.«

»Dann gib mir eine Aufgabe!«

»Du hast jede Menge Aufgaben: Du musst lernen, anmutig zu gehen, mit dem Besteck zu essen, zu sticken und dich zu benehmen. Vorher kommst du mir nicht einmal in die Nähe der Königin, geschweige denn an die Festtafel.«

»Ich will nicht an die Festtafel! Ich will etwas tun. Es gibt Küchen hier und Ställe.«

Lovisa zog misstrauisch die Stirn kraus.

»Wo wolltest du gerade hin? Doch nicht etwa in den Stall?«

Elin strich verlegen ihren verrutschten Ärmel zurecht. Es hatte keinen Sinn, Lovisa etwas vorzumachen.

»Zur Königin wollte ich«, gab sie zu. »Zum Audienzraum. Und wenn die Bauern und Geistlichen und Bürger ihre Bitten vorbringen, wollte ich sie fragen, ob ich bald eine Arbeit bekomme.«

Das erwartete Donnerwetter von Lovisa blieb aus. Stattdessen seufzte die Hofdame tief und sah auf einmal sehr faltig und müde aus.

»Ach Kind«, sagte sie leise. »Die Königin hat anderes zu tun, als sich um dich zu kümmern. Heute gibt sie keine Audienz.« Ihre Stimme wurde strenger. »Wenn sie befiehlt, dass du in der Küche Töpfe scheuerst, wirst du es tun. Bis dahin lernst du das, was alle Mädchen im Schloss lernen. Wenn du so versessen darauf bist, dich nützlich zu machen, geh ins Zimmer und mach deine Stickerei fertig.«

»Das ist eine Arbeit für gelangweilte Witwen!«

Lovisas Augen funkelten so gefährlich, dass Elin in Erwartung einer Ohrfeige den Kopf einzog. Aber Lovisa hatte sie noch nie geschlagen und auch jetzt fächelte sie sich nur mit einer zornigen Geste Luft zu. Ihre Löckchen wippten.

»Na schön«, sagte sie scharf. »Dann verschwinde ich hab genug von dir! Scher dich dorthin, wo du meinst, dass du hingehörst! Geh von mir aus direkt in den Stall und biete dem Pferdeknecht deine Dienste an.«

Mit diesen Worten raffte sie ihren schwarzen Rock und rauschte durch eine der Flügeltüren in das Zimmer, in dem die Hofdamen sich zum Nähen und Tratschen versammelt hatten. Im ersten Augenblick wollte Elin Lovisa hinterherlaufen und sie um Verzeihung bitten. Doch dieser Augenblick verging. Lovisa hatte sie tatsächlich gehen lassen! Langsam wandte Elin sich um und blickte auf den langen, leeren Gang. Zum ersten Mal gehörte ein Stück der endlosen Zeit, die sie ansonsten dafür verwendete, das zu tun, was man ihr sagte, nur ihr allein. Am liebsten wäre sie losgerannt, so aber, in den hohen Schuhen und mit dem schweren Rock, blieb ihr nichts anderes übrig, als sich gemessenen Schrittes fortzubewegen. Die Gemächer der Königin lagen im Ostflügel des Schlosses. Elin fasste sich ein Herz und machte sich auf den Weg.

Das Schloss war ein Labyrinth mit tausenden von Winkeln. Manche Türen und Gänge waren versperrt, die Gardisten, die sie bewachten, musterten Elin mit finsteren Gesichtern, bereit, die Hellebarden zu senken und sie zurückzuhalten, sollte sie versuchen, den Raum zu betreten. Elin lächelte in sich hinein. Manchmal hatte es doch Vorteile, im Gewand eines Edelfräuleins herumzulaufen. Eine Scheuermagd hätten sie sofort davongejagt. Sie betrachtete die aus Stein gemeißelten Fruchtgirlanden über den Türen. Der in die Form von Trauben und Birnen gehauene Sandstein war bunt bemalt. Aus anderen Winkeln blickten ihr Löwengesichter entgegen. Endlich erreichte sie den Ostflügel und blieb vor einem Wandteppich stehen. Mit golddurchwirktem Garn war darauf eine biblische Geschichte eingestickt, die sie von Lovisa kannte. Die Figuren von Ishmael und seiner Mutter Hager waren altertümlich dargestellt, aber so prächtig, dass Elin der Atem wegblieb. Rasch vergewisserte sie sich, dass niemand sie beobachtete, und streckte vorsichtig die Hand aus. Ihre Finger kribbelten, als sie behutsam die kostbaren Stickereien berührte. Es war ein Gefühl, als hätte ihr jemand ein Geschenk gemacht. Mutiger geworden, ließ sie ihre Finger über vergoldete Bilderrahmen und Türbeschläge wandern, erwiderte die düsteren Blicke der Ahnenbilder und berührte die Rüstungen, die wie Gespensterritter nur darauf zu warten schienen, die Lanze zu heben und anzugreifen. Am Fuß einer schmalen Treppe blieb Elin stehen. Das Gemälde, das hier hing, war anders als die Porträts und Tapisserien. Die Farben waren nicht dunkel und gedeckt sie leuchteten! Es war, als blickte sie durch ein Fenster mitten in den Frühling. Allerdings war es ein Frühling, wie Elin ihn noch nie erlebt hatte. Zartes Blau und goldenes Rosa vereinten sich zu purem Licht. Und mitten in dem blühenden Wald räkelte sich eine nackte Dame! Ihre Brüste waren unbedeckt einen Zweig mit saftig grünen Blättern hielt sie lässig und kokett so, dass ihre Scham verdeckt war. Putten mit winzigen Flügeln schwebten über den Bäumen oder tollten über das Gras. Andere junge Frauen, so bekleidet, dass sie kaum weniger schamlos wirkten als die Nackte, tanzten auf der Wiese. Mit einem nackten Mann! Elin ging noch näher an die Leinwand heran. Es duftete nach Öl und Harz und ein bisschen vielleicht auch nach den zarten Rosen, die den Wolken ihre Farbe liehen. War das tatsächlich ein Kuss, der dort hinten dargestellt war?

»Liederlich!«, ertönte eine tiefe Stimme hinter ihr. Elin fuhr erschrocken zurück und stolperte dabei über ihren Rocksaum. Eine Hand bewahrte sie gerade noch vor einem uneleganten Sturz.

Der Mann musste soeben die Treppe heraufgekommen sein. Heiß schoss Elin das Blut in die Wangen. Sie knickste verlegen und murmelte eine Entschuldigung. Der alte Mann sah sie streng an. Er trug einen spitzen Kinnbart und dunkle Gewänder, die verstaubt und altmodisch wirkten. Sein weißer Spitzenkragen war frisch gestärkt. Die goldenen Ketten, die schwer auf seine Brust fielen, mussten ein halbes Königreich wert sein.

»Entschuldige dich nicht, Mädchen. Es ist kein Wunder, dass diese italienischen Schamlosigkeiten die Jugend verführen. Nun, es ist immer verlockender, an die Liebe zu denken als an die Pflicht.« Seine scharfen, durchdringenden Augen, unter denen Tränensäcke hingen, wurden schmal. »Ich habe dich hier noch nie gesehen bist du die Tochter von Sekretarius Jörnsson?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Elin Asenban«, flüsterte sie. »Aus Uppsala.« Das strenge Gesicht wurde noch eine Spur härter.

»Ach richtig«, sagte er. »Das halbdeutsche Hurenkind, das Mitbringsel aus dem alten Schloss. Ich habe schon von dir gehört. Und was sucht jemand wie du bei den Arbeitsräumen?«

Das war der Ton, den sie von Gudmunds Hof nur zu gut kannte und trotzdem kam ihr der Satz vor wie eine Ohrfeige.

»Ich wollte nachfragen bei der Königin. Oder bei einem Hofmeister. Ob es Arbeit für mich gibt.«

Die buschigen Augenbrauen zogen sich nun noch enger zusammen.

»Dass du hier bist, heißt nicht, dass du zum Schloss gehörst und hier im administrativen Flügel herumlaufen darfst, wie es dir passt«, wies der alte Herr sie zurecht. »Das ist kein Kuhstall. Am Donnerstag ist der nächste offizielle Audienztag. Da kommen die Bauern, um der Königin ihr Leid zu klagen. Und auch die Hurenkinder und die anderen Mindergeborenen dürfen dort ihre Fragen an sie richten.«

Elin sah den Adligen entsetzt an. Seltsamerweise musste sie genau in diesem Moment an Lovisas Beschreibung des Stockholmer Südtores denken, über dem die Köpfe der Hingerichteten aufgespießt wurden und über Wochen hinweg verrotteten. Sie beeilte sich, ihren Blick zu senken. Der alte Herr wartete immer noch auf eine Antwort. Was würde Lovisa an ihrer Stelle antworten? Höflich bleiben! Nicht durchscheinen lassen, was man wirklich dachte.

»Sie haben Recht«, sagte Elin leise. »Hier, wo ich als Mindergeborene bezeichnet werde, habe ich ganz sicher nichts zu suchen. Wenn Sie so freundlich wären und mir sagen würden, wie ich diese Räume hier auf dem schnellsten Weg verlassen kann …«

»Oh, auch noch scharfzüngig. Nun, da kann ich dir helfen. Du gehst diese Treppe dort hinunter und dann noch ein paar Stufen mehr. Und ganz unten, in der Nähe der Vorratskeller, da wirst du den Ort finden, an dem du dich zu Hause fühlst.«

Wieder besann Elin sich auf alle Lektionen, die Lovisa ihr erteilt hatte, und rang sich ein steifes Lächeln ab.

»Ich danke vielmals für die liebenswürdige Auskunft. Ohne Sie hätte ich den Platz, der mir zusteht, sicher nicht gefunden. Ich wünsche einen angenehmen Tag.«

Obwohl ihre Knie zitterten, machte sie einen übertrieben tiefen Knicks und ging. Den Blick des alten Adligen spürte sie noch lange wie eine kalte Hand im Genick. Niedergeschlagen blieb sie an der Treppe stehen. Tränen brannten in ihren Augen. Jetzt erst bemerkte sie, dass sie ihre Hände zu Fäusten geballt hatte. Halt suchend berührte sie einen Wandteppich, auf dem ein Wald abgebildet war. Hurenkind konnte man sie nennen, ja, aber diese Berührung hier gehörte ihr nun ebenso gut wie den Adligen.

 

In der Furcht, weiteren adligen Herrschaften zu begegnen, lief sie die Treppe nach unten. Irgendwann würde sie einen Raum, einen Gang erkennen und wissen, wie sie wieder zu Lovisas Kammern zurückkehren konnte. Je weiter sie in die unteren Stockwerke des Schlosses kam, desto mehr Menschen begegneten ihr. Anstelle von Wandteppichen gab es hier nur nackte Ziegelwände und Gewölbe und statt Musik hörte sie barsche Rufe. Beinahe musste sie lächeln, als sie erkannte, wohin der Adlige sie geschickt hatte: zu den Küchen. Der vertraute Geruch nach Fisch und verbranntem Fett tröstete sie. Sie lehnte sich an eine Tür, lauschte den Geräuschen, dem Klappern und Lachen, den schnellen Schritten und dem Plätschern von Wasser und fühlte sich einen Augenblick lang geborgen. Fast war es so, als würde sie gleich Emilias Stimme hören, die sie mahnte, an die Arbeit zu gehen, bevor Greta zurückkam. Elin lächelte. Wenn Königin Kristina ihr keine Arbeit gab, konnte sie bis zum Audienztag genauso gut selbst nach einer Beschäftigung suchen.

Aber auch hier unten war sie nicht willkommen. Ihre Gegenwart irritierte die Diener, die Mägde knicksten verstört und wichen ihr aus. Elin schlich zur nächsten Tür und spähte vorsichtig in einen Raum. Ein Haufen von Schwanenfedern türmte sich auf dem Tisch. Eine Frau war emsig damit beschäftigt, die Federn auf einem Geflecht aus Eisendraht zu befestigen. Die Frau hatte graublondes, feines Haar und trug ein einfaches braunes Kleid. Leise sang sie ein Lied vor sich hin. Elin erkannte es sofort: »Herr Olof och Älvorna« Herr Olof und die Feen wie oft hatte Emilia es ihr vorgesungen! Die Frau griff zu einer weiteren Feder. Ihr Lied verstummte.

»Komm herein oder bleib draußen«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. In ihrer Stimme lag ein Lächeln. Elin machte einen vorsichtigen Schritt ins Zimmer. Auf dem gefliesten Boden schlugen die Absätze ihrer Schuhe laut auf. Zögernd umrundete sie den Tisch und setzte sich auf einen Stuhl. Die Frau tauchte den Kiel einer Schwanenfeder in eine Schale mit Harz und fixierte sie anschließend mit einem Bindfaden am Drahtgestell. Ab und zu hob sie den Metallflügel an und prüfte die andere Seite. Zwischendurch schickte sie einen kurzen Blick aus freundlichen, graublauen Augen zu Elin.

»So«, sagte sie schließlich. »Und nun den anderen Flügel! Möchtest du mir helfen?«

»Gerne! Aber so etwas habe ich noch nie gemacht.«

»Federn nach der Größe sortieren kannst du sicher. Die fingerlangen hierher und die Schwungfedern auf die linke Seite. Nimm den kleinen Korb dort hinten.«

»Wofür wird dieser Schwan denn gebaut?«

»Für das Julfest in zwei Wochen. Der Schwan muss anmutig und so echt aussehen, als würde er noch lebendig auf dem Silbertablett sitzen. Zwischen die Flügel wird der Schwanenbraten gelegt. Hast du schon mal Schwan gegessen?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Bis vor kurzem habe ich noch von Rüben und gegorenem Hering gelebt. Und mein Kleid ist auch nicht mein richtiges Kleid. Ich war Scheuermagd.«

»Was du nicht sagst«, sagte die Frau ungerührt. »Nun, ein Rübengericht wird es zum Wild auch geben. Ich bin Helga Lundell.« Ihr Lächeln wurde ein wenig breiter. »Und ich nehme an, du bist das Mädchen aus Uppsala. Willkommen im Schloss!« Elin hätte am liebsten geflucht, weil ihr die Schürze fehlte, um sich die Tränen abzuwischen, die ihr plötzlich über die Wangen rannen. In ihrer Verzweiflung zupfte sie das Taschentuch, das Lovisa ihr gegeben hatte, hervor. Zu spät fiel ihr ein, dass das kostbare, mit Fransen versehene Tuch nur zur Zierde in der Hand getragen werden und niemals zum Naseputzen gebraucht werden durfte. Helga hielt bestürzt in ihrer Arbeit inne und legte Elin die Hand auf den Arm.

»Was ist denn los, Mädchen? Geht es dir nicht gut?« Die freundliche Berührung war endgültig zu viel. Elin drückte das Taschentuch gegen die Augen und schluchzte. Ohne es zu wollen, sprudelte alles aus ihr heraus, was ihr auf der Seele lag: Lovisas ständige Schelte, der Spott der Kammerfrauen, das Gefühl, nirgendwo dazuzugehören, die Sehnsucht nach Emilia und die Demütigung durch diesen alten Adligen. Helga nickte und arbeitete ruhig weiter, bis Elin endlich die Worte und die Tränen ausgingen. Das Taschentuch war hinüber.

»Du bist Axel Oxenstierna in einem ungünstigen Moment über den Weg gelaufen«, sagte Helga schließlich. »Aber gräme dich nicht, sei lieber stolz darauf, wie klug du ihm geantwortet hast.« Sie zwinkerte Elin zu. »Anscheinend sind Frau Lovisas Lektionen, über die du dich so beklagst, doch nicht so unnütz gewesen.«

»Axel Oxenstierna? Der Reichskanzler?«

»Oh, erschrick nicht. Er ist kein Ungeheuer er ist nur streng und nicht gerade entzückt, katholische Ausländer am Hof zu haben. Unsere Königin ist so damit beschäftigt, ihre gelangweilten französischen Gäste zu zerstreuen, dass er einen Teil ihrer Arbeit macht.«

»Die Königin arbeitet?«

»Oh ja. Der ganze Flügel des Schlosses, in den du dich verirrt hast, ist nur für die Verwaltung des Landes da. Der Reichssaal wurde eigens dafür gebaut, die Vertreter der vier Stände zu Ratschlüssen und Audienzen zu empfangen. Königin Kristina ist eine kluge Frau klug genug, um zu wissen, dass man nichts, was gut getan werden soll, aus der eigenen Hand legen sollte. Und wenn, dann nur in die Hände von Menschen, die am richtigen Ort das Richtige tun.«

»Dann hat sie sich bei mir geirrt«, meinte Elin und wischte sich die Nase ab. »Ich komme mir vor wie ein Spielzeug, das sie mitgenommen hat nur um es dann zu vergessen.«

Helga Lundell lächelte wieder.

»Die Königin hat dich nicht vergessen.« Überrascht sah Elin ihr Gegenüber an, aber das freundliche, unbewegte Gesicht gab kein Geheimnis preis.

»Heute haben wir noch einiges zu tun«, fuhr Helga fort. »Du kannst dir bei mir gerne ein paar Öre verdienen. Wenn die Herrschaften von ihrer Schlittenfahrt zurückkommen, werden sie hungrig sein. Bringe mir die weißen Servietten dort vom Regal.«

Mit dem Küchendienst, den Elin zu verrichten gewohnt war, hatte Helgas Arbeit so wenig gemein wie das Ausmisten des Stalls mit der hohen Reitkunst. Hier ging es darum, die Nahrungsmittel zu einem Kunstwerk anzurichten. Elin polierte silberne Salzschälchen und lernte Servietten in der Form von fliegenden Tauben zu falten. Und bald saß sie mit glühenden Wangen vor dem Schwanengestell und klebte dem Tier Feder für Feder an die ausgestopfte Brust. Nach und nach nahm der Vogel Gestalt an. Harz verklebte Elins Finger und Helga reichte ihr ein großes Tuch. Es hatte bräunliche Flecken, die süß und fremd dufteten. Elin prüfte, ob die Rückseite sauber war, und band es sich wie eine Schürze um die Taille, um den kostbaren Stoff ihres Kleides zu schützen.

In diesen wenigen Stunden, in denen sie Splitter von duftendem Konfekt kosten durfte, lernte sie von Helga mehr über die Speisen, die Abfolge von Tellern und Gläsern, als sie je in ihrem Leben über irgendetwas gewusst hatte. Bald schallten Rufe durch die Gänge: »Die Herrschaften sind von der Jagd zurück!«, und ein wenig später: »Wo bleibt der Wein?«

Und dann ein weiterer, schriller Ruf, der Elin vor Schreck beinahe die silberne Konfektschale aus der Hand gleiten ließ.

»Elin!«

Lovisa war so blass, dass sie mit den weißen Haaren wie ein Gespenst aussah. »Im ganzen Schloss habe ich dich gesucht!« Mit zwei Schritten war sie bei Elin und zerrte sie einfach hinter sich her. »Und wie du aussiehst«, zeterte sie. »Sogar Harz hast du in den Haaren!«

»Lass mich los, Lovisa!«

»Den Teufel werde ich tun! Wenn du noch einmal wegläufst, sperre ich dich ein, verstanden?«

»Aber du hast mich doch selbst weggeschickt.«

»Aha, wir verstehen die Dinge jetzt nur noch so, wie wir sie verstehen wollen, ja? Glaub ja nicht, dass du damit durchkommst!« Grob zerrte sie Elin hinter sich die Treppen hoch. »Die Königin will dich morgen Früh in ihrer Kanzlei sehen.«

»Wirklich?«

»Freu dich nicht zu früh! Lieber Gott im Himmel, wie soll ich dir nur bis morgen Benehmen beibringen?«

Inzwischen lief Elin so schnell, dass sie Lovisa überholte. Im ersten Stock musste sie warten, bis die alte Hofdame ihr hinterhergeschnauft kam. Schon wollte sie um die Ecke weiterlaufen, als sie wie festgenagelt stehen blieb. Musik und Gelächter schallten über den Gang, die Flügeltüren zu einem Zimmer standen weit offen und davor, an einem der hohen Fenster, stand der junge Marquis mit zwei Höflingen und der blassen Madame Toulain. Im selben Moment, als Lovisa Elin erreichte, entdeckte er die beiden. Sein Lächeln kühlte sofort ab.

Er nahm Lovisas Gruß mit einem arroganten Nicken entgegen und verschränkte die Arme. Sein Blick wanderte von Elins verklebtem Haar über ihre Wange, auf der er etwas sehr Amüsantes zu entdecken schien.

»Mach deinen Knicks«, raunte ihr Lovisa zu. Elin machte den Mund auf, um zu erwidern, dass sie eher bis zum Ende ihrer Tage im Kerker sitzen würde, als etwas Unglaubliches geschah. Der Marquis machte eine elegante Handbewegung und zog mit seinem Fuß einen zierlichen Halbkreis. Das schmerzende Knie bereitete ihm Mühe, aber trotz des Stocks, auf den er sich stützte, erkannte man, dass es eine ironisch übertriebene Verbeugung darstellte. Zweimal klopfte er mit seinem Stock auf den Boden und rief im Ton eines Haushofmeisters: »Regardez la reine de la cuisine!«

Die verblüfften Gesichter der Höflinge lösten sich aus der Erstarrung. Schallendes Gelächter ergoss sich über Elin wie ein Trog voll schmutzigem Waschwasser. Finger deuteten auf ihren Rock und erst als sie an sich heruntersah, erkannte sie, dass sie immer noch die fleckige Schürze trug.

Der junge Marquis bog sich vor Lachen. Nur mühsam brachte er einen weiteren Satz heraus, der die Höflinge noch mehr entzückte. Sie klatschten und riefen »La reine! La reine avec le concombre!«

Madame Joulain war die Einzige, die nicht lachte. Sie sandte Elin einen mitleidigen Blick zu und rauschte an den Herren vorbei ins Musikzimmer. Nur zögernd folgte ihr die Hofgesellschaft. Zwei Diener schlossen die Flügeltüren.

»Nun, die Regeln der Höflichkeit musst du noch üben«, sagte Lovisa wütend.

»Ich? Er hat mich verspottet und gesagt, ich sei die Königin der Küche!«

»Nun, ganz Unrecht hat er damit wohl nicht, oder?« Mit einer unwirschen Bewegung riss Lovisa ihr die Schürze herunter, knüllte sie zusammen und wischte Elin damit etwas von der Wange. Wie gelähmt blieb Elin stehen, bis die Kammerfrau sie bei den Schultern nahm und zwang weiterzugehen. Erst nach einigen Schritten stutzte Lovisa und blieb stehen.

»Du hast verstanden, was er gesagt hat?«

»Nur diesen Satz.«

»Wer hat dir das beigebracht?«

»Niemand«, antwortete Elin kläglich. »Ich höre nur zu. Wenn ich etwas nicht verstehen soll, redest du immer auf Französisch.« Es war unglaublich, aber Lovisa war tatsächlich sprachlos. »Aber das andere habe ich nicht verstanden«, entschuldigte sich Elin. »Was hat er noch gesagt?«

»Das willst du nicht wissen.«

»Sei doch nicht so böse auf mich, Lovisa!«

»Ich bin nicht böse«, entgegnete Lovisa zu ihrem Erstaunen. »Du benimmst dich so, weil du es nicht besser weißt. Andere dagegen …«

Mit hektischen Fingern ordnete sie ihre Schläfenlocken und gewann ihre Fassung wieder zurück.

»Also gut, ich sage es dir. Er hat vorgeschlagen, man solle dir eine Rübenkrone schnitzen. Und als Zepter gebe man dir eine Gurke in die Hand, damit du standesgerecht über deinesgleichen herrschen kannst. Nun, den Tonfall brauche ich wohl nicht zu übersetzen.«

Keiner von Gretas Schlägen hatte je so geschmerzt. Elin biss sich so fest auf die Unterlippe, dass es wehtat. Sie musste sich mehrmals räuspern, um den Satz, den sie sagen wollte, herauszubringen.

»Ich möchte seine Sprache erlernen, Lovisa. Kannst du mir helfen? Dafür gebe ich dir den Riksdaler und die zwei Öre, die ich heute verdient habe.«

Die alte Kammerfrau sah sie mit offenem Mund an. Musik und Gelächter drangen durch die Tür. Nach einer Weile glätteten sich Lovisas zerknitterte Lippen zu einem Lächeln. Sie sah sich nach der geschlossenen Tür um.

»Das Verbeugen werde ich dir dennoch nicht ersparen können«, sagte sie leise. Mit einem Mal trat sie an Elin heran und nahm sie fest bei den Schultern. Auch Lovisa, stellte Elin fest, hatte Drachenaugen. »Behalte dein Geld und versprich mir dafür eins. Wenn ich dir genug Französisch beigebracht habe, dann zahlst du Monsieur Henri diesen Riksdaler, der ihm sein Leben wert war, Wort für Wort zurück.«