Kristinas Kuss

 

 

 

Ire Kronor, XXI. März 1649

 

Liebe Emilia,

wie sehr hoffe ich, dass es Dir besser geht und die Medizin von Doktor van Wullen Dir geholfen hat. Ich schicke Dir diesmal sieben Riksdaler. Von Erik Gyllenhielm hörte ich, dass Du nicht mehr in der Küche arbeitest und in ein Dorf außerhalb von Uppsala gezogen bist. Ich wünsche Dir das Beste und freue mich so sehr auf den Tag, an dem wir uns endlich wieder sehen! Stell Dir vor: Sobald die Kunstschätze aus Prag da sind, darf ich die Königin nach Uppsala begleiten. Alle warten sehnsüchtig auf das Schiff, das die Kunstwerke bringt. Im Schloss drücken sich die Lakaien ständig in der Nähe der Fenster herum, um einen Blick auf die ankommenden Schiffe werfen zu können. Seit sich herumgesprochen hat, wie großzügig die Königin den Friedensboten belohnt hat, ist hier jeder versessen darauf, ihr als Erster die Nachricht von dem Schiff aus Prag überbringen zu können. Selbst Johan Oxenstierna vergisst seit Tagen, mich verachtungsvoll zu übersehen, und belauert stattdessen mit offenem Mund und Gier in den Augen jedes ankommende Schiff. Er sieht aus wie eine fette Katze, die hungrig auf das Mauseloch starrt. Vor ein paar Wochen ist der Botschafter Adler Salvius aus Münster zurückgekehrt. Die Königin hat ihr Versprechen gehalten und ihn zur Belohnung für seine Dienste zum Reichsrat ernannt. Du kannst Dir sicher vorstellen, was für ein Skandal das war. Ich bin unendlich stolz auf sie eine Frau, die den Widerstand des alten Adels bricht! Ganz allein durch ihr Geschick, ihre Klugheit und ihre Hartnäckigkeit hat sie ein ganzes Heer kriegssüchtiger Männer zum Frieden gezwungen. Es gibt viel üble Nachrede gegen Adler Salvius, aber die Königin betont, dass sie sich auch weiterhin nicht mehr nur an Personen adliger Geburt oder an eine lange Ahnenreihe binden will. Die Generäle und Adligen, allen voran natürlich unser Kanzler, beschweren sich darüber, dass Schweden um des Friedens willen zu viele Zugeständnisse gemacht habe. Die hohen Herren beklagen den Verlust von vielen Provinzen, die sie nun nicht mehr zu ihrer Kriegsbeute zählen können. Als hätten sie noch nicht genug! Überall bauen sich diese Kriegsgewinnler ihre Paläste, vor allem auf der Ritterinsel. Die Königin kümmert ihr Gejammer zum Glück wenig. Gerade in diesen Tagen hat sie viel zu tun. Der Krieg hat den Staatsfinanzen sehr geschadet und Kristina muss ihre ganze Klugheit aufbringen, neue Pläne zu machen, wie sich die Wirtschaft wieder aufrichten lässt. Immer noch zahlen die Bauern Kriegssteuern und auch um das Handwerk ist es nicht gut bestellt.

Ich habe mich den Winter über viel mit der Astronomie beschäftigt, ich spreche Deutsch und Französisch, lese leidlich gut Latein und vertiefe mich immer weiter ins Studium der Medizin. Außerdem arbeite ich inzwischen in der Bibliothek des Schlosses. Monsieur Tervué kann mich nicht leiden und macht mir das Leben schwer, seit er erfahren hat, dass ich die philosophischen Schriften von Rene Descartes studiere. Er hält ihn für einen Atheisten, der auf die Königin einen schlechten Einfluss ausübt. Tervué wirft sich an die Königin heran, als gelte es, ihre Hand zu gewinnen. Überhaupt benehmen sich einige der Wissenschaftler wie Jagdhunde, die sich mit Klauen und Zähnen um das fetteste Stück Beute reißen. Ich sage dir, die Intrigen hier sind nicht weniger bösartig als Gretas Gezeter in der Küche. Erinnerst Du Dich noch, Emilia?

Seit dem Julfest habe ich mich zurückgezogen und kaum jemand anderen gesehen als ein paar schwangere Hofdamen, die geifernden Gelehrten und unzählige Papierbögen. Die Tintenflecke an meinen Fingern lassen mich aussehen, als wäre Gelehrtheit so etwas wie ein Fleckfieber. Immer noch tanze ich nicht, mir ist nach allem anderen als tanzen zumute. Kennst Du das, Emilia? Diese Traurigkeit, wenn man feststellt, dass man etwas verloren hat, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, es je zu besitzen? Ich habe endlich eingesehen, dass ich wohl nie erfahren werde, wer meine Mutter war. Kristina meint, es sei besser für mich, und nach dem, was Maria Eleonora ihr angetan hat, glaube ich es bei Tage auch.

Bei Nacht sieht es dagegen ganz anders aus. Und noch etwas drückt mir auf die Seele: Mein bester Freund ist abgereist und wird bald ins Ausland gehen. Ich hatte dir ja schon geschrieben, dass er mir im Scherz versprochen hat, um meine Hand anzuhalten. Nicht, dass ich das ernst nehmen würde, aber etwas macht mir dennoch Sorgen: Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, ob ich mir ein Leben mit ihm vorstellen könnte. Es ist seltsam ich bin sicher, ihn zu lieben, und trotzdem widerstrebt mir die Vorstellung, mich ihm nackt zu zeigen oder mit ihm das Bett zu teilen. Vielleicht ist etwas an mir widernatürlich? Seit Lovisa von Hampus leicht dahingesagten Worten erfahren hat, malt sie mir in den schrecklichsten Farben aus, wie ich als Frau eines armen Wanderarztes von Marktplatz zu Marktplatz ziehen werde, statt mit einem alten Kaufmann gemütlich in Stockholm zu residieren und meine Diener herumzuscheuchen. Mir ist elend zumute und ich fühle mich, als hätte ich gleich zwei Freunde auf einmal verloren. Ob das Leben wirklich nur aus Verlusten besteht, Emilia? Es ist verrückt: Je mehr ich lerne, je mehr ich von der menschlichen Maschine, von der Welt und vom Lauf der Sterne verstehe, desto undurchschaubarer wird mein Leben und

 

»Was machst du hier?«

Elin schrak so sehr zusammen, dass ihr Federkiel einen Tintenklecks auf Emilias Brief hinterließ. Die Büchse mit Streusand fiel um. Kristina lachte. »Vergiss nicht zu atmen«, bemerkte sie mit einem verschmitzten Lächeln. »Meine Güte, du bist vielleicht schreckhaft geworden! Fehlt nur noch, dass du mir auf der nächsten Jagd beim ersten Schuss durchgehst wie ein Pferd.«

»Seit wann schleichen Sie sich von hinten an einen Briefschreiber heran?«

»Seit es so viel zu entdecken gibt«, meinte Kristina spöttisch und deutete auf den Brief. »Lovisa gibt also immer noch nicht auf?«

»Sie führt sich schlimmer auf als damals der Kanzler bei Ihnen und Karl Gustav.«

Kristina lachte ihr etwas raues, herzliches Lachen, was Elin wie immer sofort wieder versöhnte. Dann schwenkte sie einen versiegelten Brief und strahlte Elin an.

»Monsieur Chanut sagte mir, dass er heute noch einen Brief an unseren Freund Descartes losschickt. Und ich möchte ihm dieses Schreiben hier mitgeben. Rate, was darin steht.«

Elin vergaß auf der Stelle ihren Kummer und sprang auf.

»Monsieur Descartes kommt zu Besuch auf Tre Kronor?«

»Zwingen kann ich ihn natürlich nicht«, sagte Kristina. Ihr siegesgewisses Lächeln verriet jedoch etwas ganz anderes. »Jedenfalls möchte ich, dass du Monsieur Chanut diesen Brief überbringst. Und zwar jetzt gleich.«

»Was werden Ihre Gelehrten dazu sagen, die seine Schriften als Teufelszeug bezeichnen?«

»Heulen und mit ihren Zähnen klappern werden sie«, meinte Kristina leichthin. Sie war schön geworden in diesem Winter und trug seit dem Friedensschluss den Kopf noch ein Stückchen höher. Aus ihren Bewegungen sprach nicht mehr so viel Fahrigkeit wie früher. Auf der Jagd hielt sie zehn Stunden oder länger im Sattel aus und spottete über Elin, die schon nach wenigen Stunden das Gefühl hatte, nicht mehr richtig sitzen zu können.

»Ich bringe ihn sofort in die Botschaft!«, rief Elin. Ihre Finger kribbelten vor Aufregung, als sie den kostbaren Brief entgegennahm. Beschwingt lief sie die lange Treppe hinunter, überquerte den Hof und verließ das Schloss. Sie wusste, dass sie einen Gardisten als Begleitung hätte mitnehmen müssen, aber sie genoss es, alleine unterwegs zu sein. In ihrem grauen Kleid fiel sie kaum auf und Monsieur Chanut würde sie nicht tadeln, wenn sie nicht im Festgewand erschien.

Obwohl es ein warmer März war, türmten sich in den Gassen immer noch die Schneehaufen. Elin sog den Geruch nach brennendem Feuerholz tief in die Lungen und beschleunigte ihre Schritte. Die Französische Botschaft residierte in einem Stadthaus, dem »Scharenbergska Huset«. Niemand würde vermuten, dass der Keller zu einer kleinen Kapelle umgebaut war, in der Monsieur Chanut der lutherischen Empörung zum Trotz immer noch die katholischen Messen lesen ließ. Bei ihrem ersten Besuch im Haus des Botschafters hatte Elin vor allem eine Madonnenfigur bewundert. Solche Abbilder waren bei den Lutheranern verpönt, ebenso andere Zeichen katholischer Frömmigkeit wie zum Beispiel Rosenkränze. Wie immer war auch heute in Monsieur Chanuts gastfreundlichem Haus viel los. Herr Tervué saß im Salon und diskutierte mit dem Hauskaplan. Elin erkannte auch den französischen Tanzlehrer der Königin, der ein Glas Wein in der Hand hielt. Madame Chanut begrüßte Elin und deutete mit einem nachlässigen Winken zur Treppe.

»Gehen Sie nur nach oben, Mademoiselle. Mein Mann ist in seinem Arbeitszimmer.«

Elin drehte sich um und rannte ganz undamenhaft die Treppe hinauf.

»Monsieur Chanut!«, rief sie. Endlich kam die letzte Stufe. Elin fegte um die Ecke und rannte gegen ein Hindernis. Schwappender Wein malte eine purpurrote Kaskade in die Luft. Instinktiv riss sie die Hand, die den Brief hielt, in die Höhe und sprang zur Seite. Mit einem staubigen Knall kam ein Buch auf dem Boden auf. Elin blickte auf eine Hand, von der roter Wein tropfte, und glaubte für einen Moment, wieder den Handschuh aus Blut zu sehen wie damals auf der Lichtung, nachdem sie vom Pfeil getroffen worden war. Und auch diesmal war es Henris Hand!

Der Franzose sah sie an, als wäre sie ein Gespenst. Der Becher, den Elin ihm aus der Hand gestoßen hatte, rollte gegen die Wand. Henri erschien ihr älter viel älter. Aus dem hageren Jungen war ein Mann geworden, der sie um fast einen Kopf überragte.

»Mademoiselle Elin?«, rief Chanut aus dem Arbeitsraum.

Elin räusperte sich.

»Ja, ich bin hier. Ich komme schon …«

»Ah, ich habe also richtig gehört«, tönte Chanuts Stimme durch den Flur. »Wer sonst würde die Treppe hochpoltern wie die Kavallerie.« Elin rührte sich nicht und auch Henri wirkte wie erstarrt. Erst nach einer Weile sank ihre Hand mit dem Brief nach unten. Stumm standen sie sich gegenüber. Elin spürte das Klopfen ihres Herzens bis in die Kehle. Langsam, ganz langsam erahnte sie ein Lächeln auf Henris Gesicht.

»Ihr Französisch hat sich verbessert, Mademoiselle«, sagte er leise.

»Ihres auch«, erwiderte sie prompt. »Zumindest, was Ihre Wortwahl mir gegenüber betrifft.«

Es hatte kein Tadel sein sollen, eher ein unbeholfener Scherz. Zu ihrer Überraschung reagierte Henri nicht gekränkt, sondern zog spöttisch einen Mundwinkel hoch.

»Gut, dass Sie mich daran erinnern! Ihre Rübenkrone habe ich noch im Gepäck.« Sein Lächeln wurde breiter. »Ich freue mich sehr, Sie gesund zu sehen.«

»Ich freue mich ebenfalls, Monsieur de Vaincourt«, antwortete sie. Die Nennung seines Namens vertrieb das Lächeln aus seinem Gesicht.

»Haben Sie meine Sendung erhalten?« Verdammt! Wie konnte sie so unhöflich sein und sich nicht für das Zaumzeug bedanken!

»Ja«, murmelte sie.

»Dann ist Ihr Dankesbrief wohl auf dem Weg nach Deutschland verloren gegangen.« Da war er wieder, der überhebliche Tonfall. Vor ihr stand Henri de Vaincourt, der Adlige, und Elin wusste beim besten Willen nicht, womit sie ihn gekränkt hatte. In diesem Augenblick stellte sie fest, wie mühelos ein alter Hass aufbrechen konnte. Es war einfacher, ihm feindlich gesinnt zu sein, als sich um ein neues Lächeln zu bemühen.

»Ich wüsste nicht, wofür ich Ihnen zu danken hätte«, erwiderte sie kühl. »Ich hoffe, der scharfe Zaum fehlt Ihnen nicht. Sie scheinen ja ein Talent dafür zu haben, tief vom hohen Ross zu fallen.«

Der Blick des Franzosen wurde noch finsterer.

»Offenbar sind Sie bestens über mein Unglück informiert. Vielen Dank, dass Sie mich so höhnisch daran erinnern, ein Krüppel zu sein«, sagte er. »Entschuldigen Sie mich.« Er zupfte an seinem weinbefleckten Ärmel und ging an ihr vorbei. Das heißt, er ging nicht, er versuchte zu gehen und dabei zu verbergen, dass sein rechtes Bein steif und ungelenk war.

Elin biss sich auf die Lippe. Es kam ihr vor, als hätte Henri ihr den Wein mitten ins Gesicht geschüttet.

»Ah, ich sehe, die jungen Leute haben sich schon getroffen«, erklang Chanuts muntere Stimme. Der Botschafter stand mit verschränkten Armen in der Tür, um seine Augen bildete sich ein Netz von Lachfältchen.

»Henri! Wollen Sie sich nicht mit Mademoiselle Elin in mein Kabinett setzen und ein wenig plaudern?«

»Bedaure«, erwiderte Henri. »Ich habe noch zu tun. Ein andermal gerne.«

Er nickte kurz und verschwand in ein anderes Zimmer. Betreten sah Elin ihm nach. Als hätte das Wortgefecht alte Wunden wieder aufgerissen, schmerzte plötzlich ihre Narbe am Rücken.

»Verzeihen Sie ihm, Mademoiselle«, sagte der Botschafter. »Er ist erst heute angekommen und noch müde von der Reise. Was haben Sie für mich? Einen Brief?«

»Für Monsieur Descartes«, sagte sie schnell. »Königin Kristina bittet Sie, ihn der Korrespondenz beizulegen.«

»Gut, gut. Das werde ich gerne tun. Kommen Sie doch herein, dann gebe ich Ihnen noch einige Dinge für die Königin mit.«

Zögernd betrat Elin das Schreibzimmer des Botschafters, das voll gestopft war mit Schriften und Büchern. Chanut tauchte unter den Schreibtisch und wühlte in einer Schublade. »Bleibt Monsieur de Vaincourt lange in Stockholm?«, fragte sie nach einer Weile.

»Solange er möchte«, tönte Chanuts Stimme dumpf hinter dem Möbelstück hervor. »Wir kennen seine Pläne noch nicht. Er hat uns gewissermaßen überrascht. Aber natürlich ist er als Freund der Familie jederzeit willkommen. Ah, hier ist es.« Mit rotem Gesicht tauchte er wieder auf und reichte Elin ein dünnes Buch. »Mit Dank zurück an die Königin. Wissen Sie, Henri hat eine schwere Zeit hinter sich, und kaum vom Schlachtfeld heimgekehrt, fand er sich in Erbschaftsstreitigkeiten verwickelt. Es ist keine schlechte Wahl für ihn, eine Reise zu machen.«

»Was ist ihm zugestoßen?«

»Oh, das wissen Sie nicht? Graf de Vaincourt hat ihn als Kadett mitgenommen, befahl ihm dann aber in der Schlacht, bei der Kavallerie in erster Reihe mitzureiten. Monsieur Henri geriet ins Kreuzfeuer und wurde vom Pferd geschossen.« Er seufzte. »Das geschieht nun einmal, wenn man einen jungen, in der Kriegskunst noch unerfahrenen Mann aufs Schlachtfeld schickt. Nun, alles andere sollte er Ihnen selbst erzählen. Grüßen Sie bitte die Königin von mir!«

»Das werde ich«, murmelte Elin. Leise schlich sie die Treppe hinunter und floh auf die Straße. Diesmal blickte Henri ihr nicht durch das Fenster nach.

Das Schiff mit der Kriegsbeute aus Prag kam unbemerkt in den frühen Morgenstunden an, als die Lakaien noch schliefen und Johan Oxenstierna mit Fieber im Bett lag. Erst gegen drei Uhr morgens hatte Elin ihr Buch zugeschlagen, sich an das Fenster gesetzt und den Hafen betrachtet. Als sie die Fackeln am Ufer entdeckte und aufgeregte Rufe hörte, sprang sie auf, holte ihren Mantel und lief zu den Kellern. In den Ziegelgewölben waren die Schauerleute schon dabei, mit Stoff umhüllte Gegenstände über Flaschenzüge von der Anlegestelle direkt in die Keller hinunterzulassen. Kurz darauf erschien Kristina mit aufgelöstem Haar im Gewölbe. Sie warf Elin ein strahlendes Lächeln zu, zerrte den Stoff vom nächstbesten Gegenstand und stieß einen entzückten Ruf aus. Ein schwerer Goldrahmen kam zum Vorschein. Und ein nackter, anmutiger Fuß, von Meisterhand gemalt.

Noch vor Sonnenaufgang wurde in der Kunstkammer des Schlosses Platz für die neuen Werke geschaffen. Ebba und Elin arbeiteten fast den ganzen Tag daran, die Tafelgemälde deutscher, italienischer und niederländischer Maler auf Staffeleien und Tischen zu drapieren. Mit kritischem Blick wachte David Beck über das Arrangement der Kunstwerke. Juwelen leuchteten in Schatullen. Elin staunte über das Silber und die Medaillen, die Majoliken und Skulpturen. Zur Sammlung aus dem Hradschin gehörte auch die prächtige Ulfilas-Bibel in gotischer Sprache.

Gegen Mittag wagten sich erstmals die Hofdamen und die Frauen der Reichsräte in die Kammer und erblassten beim Anblick der nackten Schönheiten, die Maler wie Tizian, Tintoretto und Veronese auf die Leinwand gebannt hatten. Obwohl sie sich insgeheim vor einem Wiedersehen fürchtete, hielt Elin verstohlen Ausschau nach Henri, aber der junge Graf begleitete Chanut und dessen Frau diesmal leider nicht.

An diesem Tag predigten die Geistlichen von allen Kanzeln der Stadt ihre Entrüstung über die schamlosen Kunstwerke, aber Kristina ließ sich nicht beeindrucken, sondern spottete nur über das »Höllenfeuer-Gezeter«. Der Gottesdienst in der Domkyrka erinnerte an den Vorabend des Jüngsten Gerichts. Elin langweilte sich unendlich bei der düsteren Predigt und wusste, dass es der Königin nicht anders ging. Endlich sprach der Pastor die letzten Worte und entließ die Kirchenbesucher. Elin konnte es kaum erwarten, das Gotteshaus zu verlassen. An der Treppe fing Ebba sie jedoch ab und nahm sie beiseite. »Komm heute Nacht in die Bilderkammer«, flüsterte sie mit einem verschwörerischen Unterton. »Sag niemandem etwas davon und zieh dein gutes Kleid an!«

Mit gemischten Gefühlen machte sich Elin in dieser Nacht auf den Weg. Ihre Schuhe trug sie in der Hand und schlich über den nachtkalten Boden der Flure. Als sie wenig später in der Bilderkammer angekommen war, glaubte sie eine fremde Welt zu betreten. Marzipanduft und der Geruch nach Ölfarbe und Firnisharz erfüllten den Raum. In Glaskaraffen glühte roter Wein. Noch nie hatte sie ein solches Meer an Kerzen gesehen, Wärme wehte ihr entgegen wie eine Sommerbrise. Kristina hatte ein Kleid aus Atlasseide an, das sie sonst nur auf der Ballettbühne trug.

»Willkommen!«, rief sie. »Heute Nacht gehören die Künste dieser Welt nur uns!« Mit einem energischen Wink scheuchte sie die Pagen aus dem Zimmer und verschloss die Tür. Den Schlüssel legte sie in eine der Juwelenkisten. Mit einem verschwörerischen Lächeln drehte sie sich um. »Kommt und seht euch die Bilder an! Ein wunderschönes Geschenk für eine erhabene Königin!«

»Ein Geschenk nennen Sie es?«, sagte Elin mit gutmütigem Spott. »Ich nenne es eher Raub.«

»Fürsten rauben nicht, meine kritische Elin«, wies Kristina sie lachend zurecht. »Nenne diese Kunstwerke einfach meine persönliche Gratifikation. Auch Glaubenskriege sind nun mal nur ein anderes Wort für Eroberungsfeldzüge. Und ich habe längst nicht so sehr geraubt, wie es meinen Ministern und dem Kanzler gefallen hätte.«

Sie gingen von Bild zu Bild, blieben vor jedem Kunstwerk stehen und bewunderten die Formen und die Farben, die Leiber der Götter und die biblischen Gestalten, die Landschaften und Stillleben. Noch nie hatte Elin so viele Farben auf einmal gesehen. »Um wirklich lebendig zu werden, brauchen sie das Licht des Südens«, flüsterte Kristina. »Wünschst du dir nicht manchmal dort zu sein, Elin? In Venedig vielleicht? In Rom oder in Florenz?« Elin wandte den Blick von einem Götterhain und sah die Königin an.

»Ja«, erwiderte sie. »Natürlich! Wer wünscht sich das nicht, mit Ausnahme von Lovisa vielleicht.«

»Wer weiß, was die Zukunft bringt«, sagte Kristina geheimnisvoll. »Heute jedenfalls sind wir im Süden! Heute bin ich nicht die Königin, nicht die Minerva des Nordens und nicht die Tochter des Löwen aus der Mitternacht. Heute bin ich nur Kristina! Und heute Nacht nennst du mich nicht Sie, sondern du

»Auf Kristina, die Sonne!«, sagte Ebba feierlich. Sie schritt zum großen Tisch und schenkte Wein in die Gläser ein. Elin nahm mit einem Lächeln eines davon und prostete Kristina zu. Der Wein schmeckte süß und herb zugleich, er legte sich wie Öl auf ihre Zunge und füllte ihre Nase mit dem herben Duft von Trauben und Gewürzen, die sie nicht kannte. Noch nie hatte sie so etwas Köstliches getrunken. Nach einer Weile begannen die Götter auf den Bildern zu lächeln. In dieser Nacht war das Leben am Hof so, wie Emilia es Elin vor fast zwei Jahren beschrieben hatte. Kristina und Ebba tanzten, sie schmückten sich mit den Prager Juwelen und tranken die Farben ebenso begierig wie den Wein. Weit nach Mitternacht streckte sich Ebba auf den Seidenkissen einer Sitzbank aus und schlief ein das Haar offen, sodass es bis zum Boden fiel, das leere Weinglas in der Hand. Kristina setzte sich neben sie und strich ihr behutsam über die Stirn. Elin saß auf dem Boden und betrachtete die beiden Frauen. Die Königin und ihre Hofdame wirkten wie ein Gemälde, eine Szene von großer Vertrautheit.

»Sie du liebst sie, nicht wahr?«

Überrascht blickte Kristina auf und lächelte.

»Natürlich«, erwiderte sie. »Sieh sie dir an wer sollte Belle nicht lieben?«

»Dann wird Fräulein Ebba auch nicht heiraten?«

»Woher soll ich das wissen? Ich kenne Beiles Pläne nicht.« Sie musterte Elin mit scharfem Blick. »Was willst du wirklich wissen? Heraus damit!«

»Ich es ist nur, Lovisa will mich verheiraten und ich will nicht. Ich weiß nicht, ob ich jemals heirate. Wenn, dann vielleicht Hampus aber ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Ich würde gerne so leben wie du. Aber du hast Fräulein Ebba geküsst und die Leute erzählen sich …«

»Dass ich Frauen liebe?« Kristina musste sich die Hand vor den Mund schlagen, um nicht laut loszulachen. »Oder hast du die dummen Gerüchte gehört, die erzählen, dass man mich im Ausland für einen Mann hält?«

In ihre Heiterkeit mischte sich nun Ärger. Wenn diese Spannung in der Luft lag, konnte die launische Königin auf alle Arten reagieren in Spott verfallen, einen Wutanfall bekommen oder ganz nüchtern auf die Frage antworten. Heute tat sie nichts von alledem. Stattdessen stand sie vorsichtig auf, um Ebba nicht zu wecken, und setzte sich neben Elin auf den blanken Boden.

»Mann oder Frau spielt das eine Rolle?«, sagte sie. »Bin ich etwas anderes, nur weil die anderen mich anders nennen?«

Im Licht der Kerzenflammen leuchteten Kristinas Augen in einem tiefen Blau. Ihr Lächeln war so schön wie das von Ebba. »Ich zeige dir etwas, Elin. Wirst du mir vertrauen?« Elin schwieg. Sie behielt es für sich, dass Kristina der einzige Mensch war, dem sie ganz und gar vertraute, und nickte nur stumm. »Dann schließe die Augen und gib dir die Antwort auf deine Frage selbst«, sagte Kristina sanft.

Elins Herz klopfte bis zum Hals. Die Augen zu schließen war eine schwierigere Aufgabe, als Enhörning zu reiten, und erforderte mehr Mut, als Oxenstierna und seinen Anhängern zu begegnen. Die Dunkelheit hüllte sie ein, nur dunkelrote Schemen leuchteten hinter ihren geschlossenen Lidern. Noch nie hatte sie sich so schutzlos hingegeben.

»Ich denke, wir sind alle Gottes Geschöpfe«, flüsterte Kristina. »Ob wir nun katholisch sind oder protestantisch, ob Mann oder Frau die Grenzen existieren nur, solange wir sie aufrechterhalten.« Elin spürte Kristinas Atem auf ihrem Mund und lächelte über den behutsamen Kuss. Die Lippen der Königin waren kühl vom Wein. Elin wunderte sich darüber, wie einfach es war. Es war ein Kuss. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und Elin gestand sich ein, dass sie die Königin liebte für all das, was sie war. Aber auch für all das, was sie nicht war und nie sein würde.

»Und?«, flüsterte Kristina ihr zu. »Bist du nun etwas anderes, als du warst? Wirst du dafür im Höllenfeuer schmoren?«

Elin öffnete die Augen. Mit einem Mal wurden die Mauern der Welt durchsichtig im Licht der rosenfarbenen Sonne.

»Es gibt Männer, die ebenso sehr Frau sind wie ihre Mütter«, sagte Kristina. »Und Frauen, die so männlich sind wie ihre Väter. Die Seele kennt kein Geschlecht. Ob du eines Tages heiratest oder nicht, ist allein deine Entscheidung. Niemand kann es dir befehlen. Und wenn du mich fragst, rate ich dir sogar davon ab ich bin überzeugt, dass jeder über kurz oder lang in einer Ehe unglücklich wird.« Elin spürte unendliche Erleichterung. Kristina streckte sich und betrachtete nachdenklich das Bild, das vor ihnen auf dem Boden stand. Im Licht der letzten Kerzen begann das Gemälde allmählich zu verlöschen. Schatten krochen über die gemalten Körper und sonnigen Landschaften.

»Ach Elin, dich werde ich am meisten vermissen, wenn ich nicht mehr hier bin«, seufzte Kristina.

»Sie du willst auf Reisen gehen?«

Kristina streckte die Hand nach Elins Haar aus und ließ eine Strähne durch ihre Finger gleiten.

»Ich spreche davon, Schweden für immer zu verlassen«, sagte sie leise. Elin hatte das Gefühl, dass die Flammen plötzlich Kälte abstrahlten.

»Schweden verlassen? Das kannst du nicht! Du bist die Königin!«

»Meine Güte, ich werde ja auch nicht sofort aufspringen und wegreiten! Nein, aber eines Tages möchte ich dieses Land verlassen. Nichts wünsche ich mir mehr!«

Elin kämpfte mit den Tränen. Sie würde allein zurückbleiben allein in Stockholm, mitten im Wolfsrudel der Adligen, das nur darauf wartete, sie zu zerreißen.

»Und deine Krone? Du wirst nächstes Jahr offiziell gekrönt!«

»Eine Krone kann man ablehnen oder sie später wieder ablegen. Zumindest habe ich jetzt endlich einen offiziellen Nachfolger«, gab Kristina zu bedenken. »Auch wenn der Rat und die Stände ihn nur zähneknirschend anerkannt haben. Karl wird ein guter König sein.« Sie lächelte und prostete Elin zu. Elin war nicht mehr nach Wein zumute.

»Und was wird aus mir? Lässt du mich zurück?«

»Ich kann nicht meinen ganzen Hofstaat mitnehmen.« Als sie Elins enttäuschtes Gesicht sah, lachte sie laut auf. Ebba regte sich auf ihrer Bank, wachte jedoch nicht auf. »Ach Elin Trollkind!«, fuhr Kristina leiser fort. »Sollte ich jemals wirklich in den Süden gehen, in das Land der Musik und des Tanzes dann nehme ich dich natürlich mit!« Elin hatte nicht gewusst, wie gut sich Erleichterung anfühlen konnte.

»Aber Italien das ist doch ein katholisches Land«, sagte sie nach einer Weile.

»Na und? Viele große Geister und bemerkenswerte Menschen sind Katholiken. Monsieur Descartes gehört dazu, Monsieur Tervué …« Sie lächelte. »… und auch Henri de Vaincourt.« Elin versuchte den Stich, den sie bei der Erwähnung von Henris Namen spürte, zu ignorieren.

»Aber du bist Lutheranerin«, beharrte sie. »Du hast für die Glaubensfreiheit der Protestanten gekämpft. Für die Schweden wäre es Verrat.«

»Dieselben Schweden hatten nichts dagegen, katholische Bündnispartner wie Frankreich zu haben. Katholiken kämpfen auf der Seite von Protestanten gegen Katholiken, wenn es um Gewinne geht ebenso wie Lutheraner gegen Lutheraner kämpfen würden.«

Elin schwieg. Der Wein hatte ihre Wahrnehmung getrübt und gaukelte ihr das Bild von Henri vor, der am Boden lag und aus einer Schusswunde blutete. Sein Gesicht war vor Schmerz verzerrt und Elin hatte Angst um sein Leben. Mühsam rief sie sich in Erinnerung, dass Henri nur wenige Gassen vom Schloss entfernt in seinem Bett lag und wohlauf war.

»Zum Teufel mit solchen Gedanken«, sagte Kristina. »Die Regeln machen die Menschen, nicht die Priester und ich bin sicher, dass wir dafür nicht ins Höllenfeuer kommen, wie unsere lutherischen Kanzelritter es behaupten. Glaubst du vielleicht daran, dass Gottes geschriebenes Wort alles ist, was zählt?«

Elin räusperte sich. Noch nie hatte sie mit jemandem über ihren Glauben gesprochen. Aber es schien das Selbstverständlichste der Welt zu sein, hier im Schutz der gemalten heidnischen Götter ihren ketzerischen Gedanken auszusprechen.

»Um es mit deinen Worten zu sagen: Ich denke, die Seele kennt keine Religion, die Seele kennt nur Gott. Und sobald ich weiß, dass Emilia gesund und glücklich ist, werde ich mit dir gehen, Kristina. Von mir aus auch ans Ende der Welt bis nach Terra Australis.«

Kristina lachte und drückte Elins Hand.

»Immer einen Schritt nach dem anderen«, sagte sie leise. »Zuerst einmal fahren wir nach Uppsala.«