Ketzerkind

 

 

 

Im Licht des Morgens verflog die Magie der Nacht und der Zauber eines ganz neuen Tages umfing Elin. Der Tag, an dem sie nicht mehr zweifelte. Irgendwann würde sie ins rosenfarbene Land reisen mit Kristina und Ebba. Vorerst aber bereitete sich Elin auf eine Reise vor, die im Augenblick weitaus aufregender war als der Gedanke an fremde Länder. Drei Wochen lang würde die Königin im alten Schloss in Uppsala residieren. Mehrere Unterredungen mit dem Bischof und viele öffentliche Audienzen standen ihr bevor. Seit Tagen wurde gepackt und vorbereitet.

»Was willst du denn noch alles mitnehmen?«, stöhnte Lovisa beim Anblick von Elins Bücherberg.

»Nur noch die Behälter mit den Arzneien.« Elin machte sich daran, die kostbaren Flaschen einzuwickeln und in der gepolsterten Truhe zu verstauen. Beim Gedanken daran, Emilia wieder zu sehen, sang ihr Herz. Lovisa seufzte.

»Ach, wenn Tilda nicht ausgerechnet jetzt ihr Kind bekäme, würde ich mit nach Uppsala fahren. Was um Himmels willen ist dieses stinkende Zeug hier?«

»Pulver aus zerriebenen Mumien. Es soll sogar gegen die Pest helfen. Wogegen es aber auf jeden Fall hilft, sind die Motten in den Kleidertruhen.«

Der Konvoi, der wenig später nach Uppsala aufbrach, bestand nur aus vierzig Gardisten und vier Karossen. Sobald das Gepäck sicher verstaut war, schwang sich Elin in den Sattel. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie einen humpelnden Mann, der zu einem hellgrauen Pferd ging. Ohne den Kopf zu wenden, erkannte sie ihn Henri. Als sie glaubte, dass er sie nicht beachtete, wagte sie einen vorsichtigen Blick. Der junge Graf zog sich mühsam auf sein Pferd und verzog dabei das Gesicht, als bereite ihm diese Anstrengung Schmerzen. Erst als er im Sattel saß, entspannten sich seine Züge und er sah sich um. Rasch senkte Elin den Blick und nestelte an ihrem Sattel. Endlich setzte sich der Konvoi in Bewegung. Elin ritt neben der königlichen Kutsche an der Spitze des Zuges. Die Karosse war mit Kristinas Symbol einer Sonne geschmückt. An einem Türbeschlag prangte auch das Zeichen ihres Vaters: der nordische Löwe, der einen Blitz in der Klaue hielt. Durch das Fenster konnte Elin Kristina direkt auf den Schoß sehen. Die Königin hatte keinen Blick für den Himmel, der heute einem taubenblauen Seidentuch glich, sondern war ganz in ein Buch vertieft. Bald ließen sie Stockholm hinter sich. Elin ritt in leichtem Trab, bis der Tross den Waldrand erreichte, dann überholte sie in zügigem Tempo die Gardisten vor der ersten Karosse. Scharen von Vögeln stoben aus dem Dickicht. Elin lächelte und fühlte sich, als würde sie auf dem Rücken des Pferdes selbst davonfliegen. Hinter ihr ertönte Hufschlag und sie warf einen Blick über die Schulter. Es überraschte sie kaum, Henri zu sehen. Geschickt lenkte er sein Pferd neben sie. Doch er grüßte sie nicht, wie es die Höflichkeit erfordert hätte. Wie auf ein geheimes Zeichen trieben sie ihre Pferde zu einem schnelleren Trab an und ritten nebeneinanderher. Die Rufe und das Rumpeln der Kutschräder hinter ihnen wurden immer leiser. Schließlich erreichten sie die nächste Wegbiegung und waren endgültig aus dem Sichtfeld der Gardisten verschwunden. Während sie weiterritten, musterten sie sich betont gleichgültig aus den Augenwinkeln. Elin konnte Henris Gesichtsausdruck nicht deuten, aber sie hatte mit einem Mal unbändige Lust, etwas zu tun, wofür Lovisa sie sicher rügen würde. Unmerklich wurde der Trab noch schneller. Dann, an einer großen Birke, gab sie Enhörning frei. Der Hengst spannte die Muskeln und stürmte los. Darauf hatte Henri offenbar nur gewartet. Das Rennen begann. Die Pferde streckten sich und sprangen wie Spiegelbilder über einen Haufen von Zweigen auf dem Weg. Elin genoss diesen Moment des Schwebens, bis Enhörnings Hufe wieder aufsetzten. Weiter ging die Jagd am Waldrand entlang. Elin trank die Luft und war glücklich. Vor ihr lag die Welt. Und als sie sich nach Henri umsah, fühlte sie sich noch leichter. Henri lachte! Sie hatten den Konvoi meilenweit hinter sich gelassen, als sie endlich langsamer wurden und ihre Pferde schließlich in den Schritt fallen ließen. Schaum tropfte von den Pferdemäulern auf den Boden, Schweiß glänzte auf den Flanken. Henri klopfte seinem Hengst den Hals.

»Enhörning ist immer noch ein guter Läufer, Mademoiselle.«

»Und Sie sind ein besserer Reiter geworden, Monsieur Henri.« Noch während sie diese unbedachten Worte sagte, hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Seine Fröhlichkeit verwehte wie der Rauch einer ausgeblasenen Kerze.

»Tja«, meinte er trocken. »Wer hätte gedacht, dass ich eines Tages besser reiten als laufen kann.«

»Es tut mir sehr Leid, dass Sie verwundet wurden«, sagte Elin. »In Monsieur Chanuts Haus wusste ich noch nichts von Ihrem Unglück. Es war nicht meine Absicht …«

Mit einer schroffen Geste winkte er ab.

»Danke, Mademoiselle«, sagte er heiser. »Es ist nicht nötig, jemandem, der am Boden liegt, auch noch höhnisch ins Gesicht zu treten.«

»Sie unterstellen mir, dass ich mich über Ihr Leid lustig mache? Da redet der Richtige, Monsieur Riksdaler!«

Henri fluchte, wendete sein Pferd und galoppierte den Weg zurück. Mit gemischten Gefühlen sah Elin ihm nach.

»Ist dir ein Troll über den Weg gelaufen?«, fragte Kristina, als sie wenig später Rast machten.

»So etwas Ähnliches«, murmelte Elin.

 

Am zweiten Tag der Reise kam ihnen eine Delegation des Bischofs entgegen, um die Kutschen zum Schloss zu begleiten. Ein junger Mann ritt direkt auf Elin zu und schwenkte seinen Hut.

»Einen Gruß von meinem Freund Hampus!«, rief er.

»Erik? Sind Sie Erik Gyllenhielm?«

Der Reiter dirigierte sein Pferd näher an Enhörning heran und ergriff Elins Hand. Galant beugte er sich über den Handschuh und grüßte sie mit einem angedeuteten Handkuss. »Hampus hat mir schon viel von Ihnen erzählt, Mademoiselle. Und dabei schamlos untertrieben.« Sein Blick schweifte anerkennend über ihr Gesicht und streifte ihr Dekolletee. »Sind Sie sicher, dass Sie einen Bleikopf wie meinen Freund heiraten wollen? Ich würde mich opfern, für ihn einzuspringen.«

Eriks Grinsen verdarb Elin auf der Stelle die Laune. Was hatte Hampus ihm erzählt?

»Hören Sie lieber auf, Gerüchte zu schüren«, erwiderte sie etwas zu barsch.

Je näher sie dem Schloss kamen, desto mulmiger wurde Elin zumute. Es war, als würde sie mit jedem Schritt, den sie auf Uppsala zuritt, ein wenig kleiner werden, als würden ihre Gewänder immer armseliger und schäbiger. Als sie das Tor zum Schlosshof passierten, war sie wieder die unscheinbare Scheuermagd und starrte mit klopfendem Herzen zu den Fenstern hoch. Es fühlte sich unwirklich an, die Treppe, die zum Eingang führte, zu betreten. Das Seltsamste jedoch war das Greisengesicht von Victor. Der Diener ging ihr kaum noch bis zur Schulter ein winziges, faltiges Männchen stand vor ihr.

»Victor!«, rief Elin. »Ich bin es! Oh, ich freue mich so, dich zu sehen! Wie geht es den anderen? Was macht Olof? Und Greta? Ist sie immer noch so garstig?«

Die trüben Augen sahen sie lange an, dann lächelte der alte Diener und verbeugte sich.

»Guten Tag, Fräulein Asenban. Danke, es geht allen gut. Wenn ich um Ihren Mantel bitten dürfte?«

Elin schluckte und schämte sich, dass sie den alten Diener in die Verlegenheit gebracht hatte, sie auf ihren neuen Platz verweisen zu müssen.

»Natürlich«, sagte sie kleinlaut. »Danke, Victor.«

Noch unwirklicher war es, die Treppe zu den oberen Stockwerken hinaufzugehen in die Gemächer, die mit ihren Gobelins und Holzvertäfelungen im Vergleich zum französischen Prunk von Tre Kronor altertümlich und rührend unmodern wirkten. Behutsam, als würde sie in ein verbotenes Zimmer eindringen, öffnete Elin eine Tür. Der Sessel, in dem Madame Joulain vor so langer Zeit gestickt hatte, sah ein wenig schäbig aus. Goldene Webfäden schimmerten durch den abgenutzten Stoff.

 

»Nein«, sagte Kristina schon zum dritten Mal. »Du reitest mit den Gardisten oder gar nicht.« Wie immer, wenn sie Briefe las, ging sie in ihrem Kabinett auf und ab. Hier in Uppsala knarrte der Holzboden noch mehr als auf Tre Kronor.

»Es sind nur zehn Meilen. Ich möchte nicht mit der halben Kavallerie in das Dorf reiten und die Leute scheu machen«, erwiderte Elin.

»Es ist mir egal, was du möchtest oder nicht. Ich möchte es nicht. Nur das zählt. Du denkst, nur weil du die Armbrust überlebt hast, bist du unverwundbar. Was sagt denn dein Freund Hampus dazu?«

»Ich habe ihn noch nicht getroffen, er kommt erst übermorgen von einer Reise zurück. Aber das spielt auch gar keine Rolle, ich will einfach …«

»Es treibt sich eine Menge Gesindel herum und eine ausgeraubte oder geschändete Hofdame ist das Letzte, was ich jetzt brauchen kann.«

Elin wollte etwas erwidern, doch die Königin scheuchte sie von ihrem Stuhl auf und schob sie unsanft zur Tür.

»Genug. Raus jetzt! Ich habe zu tun. Der Überseehandel organisiert sich nicht von allein.« Ihre Stimme wurde noch tiefer. »Und sollte ich hören, dass du ohne mindestens zwei Begleiter weggeritten bist, lasse ich dich zurückholen und du kannst bis zum Tag unserer Rückreise in deinem Gemach sitzen und sticken. Verstanden?«

»Ja, Majestät«, murmelte Elin. Sie machte einen wütenden Knicks und stürzte aus dem Raum. Auf dem Weg zu ihrem Gemach verfluchte sie Kristinas Dickköpfigkeit. In dem Zimmer, das man für sie hergerichtet hatte, nahm sie ihre Ledertasche und packte alles ein, was sie für Emilia mitgebracht hatte: zwei Kleider, die Medikamente, ein paar warme Handschuhe für den Winter und gute, feste Schuhe. Die Tasche war schwer, es war ein gutes Stück Arbeit, sie in den Stall zu schleppen. Mit geübten Griffen sattelte Elin Enhörning und schnallte das Gepäck hinter dem Sattel fest. Gerade überlegte sie, wie sie ungesehen vom Hof kommen konnte, als sie Henri bemerkte. Lässig lehnte er an der Stalltür.

»Was haben Sie vor?«

»Wonach sieht es denn aus?«, erwiderte Elin schnippisch.

Henri zog den rechten Mundwinkel hoch.

»Wenn ich ehrlich bin, könnte man den Eindruck bekommen, Sie würden dem Befehl der Königin nicht gehorchen.«

»Das geht Sie gar nichts an.«

»Möglicherweise doch. Zumindest, wenn es nach der Königin geht. Sie ließ mir gerade ausrichten, dass ich mich um Ihre Begleitung kümmern solle.«

Elin verkniff sich einen Fluch und funkelte ihn an.

»Beleidigt Sie die Vorstellung nicht, in ein schäbiges Dorf zureiten?«

»Sie haben sich sehr verändert, Mademoiselle.«

Elin antwortete ihm nicht, sondern führte Enhörning aus der Box. Vor dem Stall atmete sie die kalte Morgenluft ein und versuchte ihr kochendes Blut wieder zu beruhigen. Natürlich warteten bereits zwei Gardisten im Hof. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich geschlagen zu geben.

Der Weg zu Emilias Dorf war schwieriger zu finden, als sie gedacht hatte. Mehrmals mussten sie Bauern fragen, die mit Heukarren, Hühnerkäfigen und Ziegen auf dem Weg in die Stadt waren. Elins Aufregung übertrug sich auf Enhörning, der zweimal versuchte durchzugehen. Die Flaschen und Tiegel im Beutel waren offenbar aus ihren Stoffhüllen gerutscht, denn sie klapperten und klirrten bei jedem Schritt.

Endlich kam ein Dorf in Sicht eine Ansammlung von niedrigen Hütten aus rot gestrichenem Holz. Von den grasbewachsenen Dächern blickten Ziegen und Hühner auf die Reiter herab. Elin sprang von Enhörnings Rücken. »He, du!«, rief sie einem Bauern zu. »Emilia suche ich! Wo wohnt sie?«

Der Bauer starrte sie mit großen Augen an und deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Das Haus dahinten. Gleich beim Tümpel.« Einer der Gardisten nahm Enhörnings Zügel und wartete, bis Elin den Beutel vom Sattel genommen hatte.

Elin vergaß, dass eine Dame nicht rennen durfte, und achtete nicht darauf, dass der Saum ihres Kleides über nasses Gras und Schlamm schleifte. Von weitem sah sie eine Frau neben der Hütte stehen. Ihr rotes Haar hob sich von ihrem schwarzen Kleid ab wie ein Heiligenschein aus Kupfer.

»Emilia!« Die Frau fuhr herum. Vor Überraschung wäre Elin beinahe gestolpert. Im letzten Augenblick aber fing sie sich und blieb stehen.

»Wer sind Sie?«, fragte die fremde Frau.

»Elin. Elin Asenban.«

Die Frau war sichtlich erschrocken. Zu Elins Bestürzung eilte sie zu ihr, griff nach ihrer Hand und küsste sie.

»Sie sind es«, flüsterte die Frau. »Ich danke Ihnen so sehr! Ich bin Emilias Schwester Frida. Oh, dass Sie gekommen sind!«

Angst legte sich um Elins Brust wie eine Klammer.

»Wo ist Emilia?«

Die Kammer, die sie gleich darauf betraten, war niedrig und von Kerzenwärme erfüllt. Elin kniff die Augen zusammen und sah sich um. Tisch und Stühle waren an die Wand gerückt, um einer Kiste Platz zu machen. Nach und nach schälten sich im spärlichen Kerzenschein die Umrisse einer Gestalt aus dem Halbdunkel der Hütte. Eine Frau lag hier in einem Sarg, das Kinn trotzig vorgereckt. Die Wangen waren eingefallen, die Haut gelb wie Wachs. Fassungslos starrte Elin Emilia an einen fremden Leichnam mit verblichenen Sommersprossen und strengen Gesichtszügen. Das Würgen kam so plötzlich, dass sie beide Hände vor den Mund schlagen musste. Der Beutel entglitt ihr. Mit einem Klirren zerbrach eine Flasche, Sandelholzaroma verbreitete sich im Raum. Das Zimmer schien sich zu drehen. Gesichter drängten sich an der Tür und starrten sie an offene Münder, aufgerissene Augen, wie die verdammten Seelen auf einem Gelde, das die Hölle darstellte.

»Sie war krank«, sagte Frida leise. »Schon lange. Ohne Ihre Unterstützung wäre sie schon viel früher gestorben. Wir danken Ihnen sehr.«

»Sie ist trotz der Medizin gestorben? Und die Ratschläge, die ich ihr geschickt habe?«

Frida knetete verlegen ihre Hände und senkte den Blick.

»Von Medizin weiß ich nichts. Und auch nicht von Ratschlägen. Ich weiß nur von dem Geld.«

»Die Briefe! Sie hat doch meine Briefe gelesen!«

Erst als sie das Raunen hörte, wurde ihr bewusst, dass sie die letzten Worte herausgeschrien hatte. Die Fratzen am Fenster starrten sie nun drohend an. Unregelmäßige, eilige Schritte erklangen, dann erschien Henris besorgtes Gesicht in der Tür. Frida räusperte sich und deutete zum Tisch.

»Vielleicht finden Sie dort, was Sie suchen.«

Elin ging zum Tisch hinüber und vermied es, die strenge Gestalt im Sarg anzuschauen. Die schäbige Kassette, die sie mit zitternden Händen öffnete, roch nach altem Pergament. Da waren ihre Briefe. Dutzende. Versiegelt und unberührt.

»Sie hat sie gehütet wie einen Schatz«, sagte Frida.

»Bitte, darf ich allein mit ihr sein?«, bat Elin heiser. Sie nahm kaum wahr, dass die Dorfbewohner sich langsam entfernten. Henri trat leise in die Stube und blieb neben der Tür stehen. Elin war ihm dankbar dafür, dass er nichts sagte.

Scheu trat sie an den Sarg heran. Es kostete sie mehr Überwindung als alles, was sie bisher in ihrem Leben getan hatte, die Hand auszustrecken und die kalte Haut zu berühren.

Es war ähnlich wie in ihrem Fiebertraum nur viel erschreckender. Als ihre Fingerspitzen über die Hände strichen, fühlte Elin noch etwas. So behutsam, als würde Emilia ihre Bewegungen spüren, ließ sie ihre Fingerspitzen über eine seltsam ausgebeulte Stelle unter dem Schlüsselbein wandern. Die Geschwulst, die sie unter dem Totenhemd ertastete, war so groß wie eine knochige Männerfaust. Elin biss die Zähne zusammen. Erst als Henri neben sie trat und ihr die Hand auf den Arm legte, bemerkte sie, dass sie auf Schwedisch fluchte. »Du verdammte Närrin«, zischte sie Emilia zu. »Du hast es gewusst. Und du hast nichts getan! Du Feigling!« Aber die eingefallenen Lider der Toten regten sich nicht.

»Mademoiselle«, versuchte Henri sie sanft zu beruhigen.

»Lass mich in Ruhe!«, fuhr Elin ihn an.

Henri schluckte und zog die Hand zurück.

»Natürlich«, sagte er respektvoll und trat zur Tür, wo er stehen blieb und schwieg. Elin schniefte. Die Kerzen flackerten und ließen Emilia in einem Moment so aussehen, als ob sie lächelte. Gleich darauf verliehen sie ihr einen unglücklichen Ausdruck. Elin stand verloren in der Kammer. Sie wollte nicht gehen noch nicht. Einige lange Minuten ertrug sie es, dass die Briefe sie verhöhnten, dann drehte sie sich zum Ofen um und suchte nach dem Stapel mit dem Feuerholz. Es waren Handgriffe aus einer längst vergangenen Zeit, die sie immer noch beherrschte wie ein Schlafwandler seine Schritte. Sie schämte sich nicht, wieder Elin von den Königsgräbern zu sein, sondern entfachte gewissenhaft das Feuer im Ofen und schürte die Glut. Seltsamerweise störte es sie nicht einmal, dass Henri sie bei diesem Magddienst beobachtete. Sobald das Feuer brannte, setzte sie sich davor und brach das Siegel ihres ersten Briefes. Ihre Handschrift war noch unbeholfen und fahrig. Sie konnte kaum glauben, dass sie diese Worte selbst geschrieben hatte:

Liebe Emilia,

Ich hoffe, Dein Herz schmerzt nicht mehr.

Mir geht es gut.

Brief um Brief öffnete sie, las die Zeilen und verbrannte das Schriftstück. Mit jedem Schreiben wurde ihre Schrift gerader, die Worte zahlreicher.

Sie las die Rezepte und Ratschläge, betrachtete ihre Zeichnung eines Herzens, sie durchlebte noch einmal die Suche nach ihrer Mutter und staunte darüber, wie genau sie Karl Gustavs Ernennung zum Oberbefehlshaber in Deutschland beschrieben hatte. Es war der Brief einer Hofdame, verfasst mit Witz und Scharfsinn. Nur für Emilia war sie immer Elin aus Gamla Uppsala geblieben. Als sie vom letzten Brief aufblickte, war das Feuer bereits heruntergebrannt. Frida kam zu ihr und zündete neue Kerzen an. Henri stand immer noch in der Tür und hielt Wache.

»Setzen Sie sich doch zu mir«, bat Elin ihn. Zögernd löste er sich aus dem Dunkel und ging mit seinen unregelmäßigen Schritten zum Sarg.

»Sie konnten sie nicht retten«, sagte er leise.

»Ich weiß.« Elins Stimme klang bitter. »Ich kann niemanden retten.«

Er zog sich einen Stuhl heran und hielt mit Elin die Totenwache.

Im Morgengrauen kamen zwei Männer, um den Sarg zum Friedhof zu bringen. Elin blinzelte, als sie in die Helligkeit des Morgens trat, und erschrak. Im selben Moment hatte Kester Leven sie auch schon entdeckt. Der Sekretär des Bischofs wurde erst bleich, dann rot.

»Elin?«, fragte er.

»Für Sie Mademoiselle Asenban«, erwiderte sie eisig. »Was führt Sie hierher?«

»Ähnliches wie Sie«, sagte er. »Als ich noch Pfarrer in Gamla Uppsala war, hat sich Emilia mir oft anvertraut. Und nun war es ihr Wille, dass ich sie auf ihrem letzten Weg begleite.«

Elin konnte ihre Verblüffung kaum verbergen. Mit. einem Mal kam sie sich vor wie ein Eindringling. Leven dagegen, so wurde ihr klar, war offenbar Emilias Vertrauter gewesen. Frida und die Dorfbewohner begrüßten ihn unterwürfig. Vor Verwirrung wusste sie kaum, was sie sagen sollte. Das Gefühl von Verrat schmerzte mehr als die Trauer. Kester Leven blickte zu Henri hinüber und runzelte die Stirn.

»Ich kann nicht erlauben, dass ein Herr katholischen Glaubens an der Beerdigung teilnimmt.«

»Das hat er nicht vor«, erwiderte Elin.

Der Geistliche musterte sie mit einem Gesichtsausdruck, den sie schwer deuten konnte.

»Ich kann auch nicht erlauben, dass Sie bei der Beerdigung zugegen sind.«

»Wie bitte?«, zischte sie. »Sie wagen es, einer Hofdame der Königin den Zutritt zur Beerdigung einer Verwandten zu verwehren?«

Levens Lächeln war schmal wie eine Messerschneide.

»Eine ehemalige Nachbarin, Mademoiselle, keine Verwandte.«

»Darf ich fragen, was der Grund für Ihre Verweigerung ist?«

»Emilias Wunsch«, sagte er schlicht.

Frida trat vor und legte Elin die Hand auf den Arm.

»Es stimmt«, bestätigte sie leise. »Emilia hat darum gebeten, dass nur Herr Leven und ich sie beerdigen. Nicht einmal ihre Kinder wollte sie am Grab haben. Bitte nehmen Sie es uns und ihr nicht übel.«

»Das haben Sie ihr eingeredet, nicht wahr?«, fuhr Elin Leven an. »Warum?«

Aber Leven verschloss sich wie eine Muschel bei der Berührung eines Feindes.

»Wenden Sie sich mit der Beschwerde an den Bischof«, sagte er nur und ließ sie einfach stehen.

 

Auf dem Rückweg brütete Henri vor sich hin. Schweigend ritten er und Elin nebeneinanderher, bis die ersten Häuser von Uppsala in Sicht kamen. Immer noch fühlte sich Elin wie betäubt. Kester Leven und Emilia, flüsterte es ständig in ihrem Kopf. Beim Schloss angekommen eilte sie direkt zum Arbeitskabinett der Königin. Die Königin war mit neuen Plänen für Seidenfabriken beschäftigt und grübelte über Bauskizzen und Berechnungen. Sie war nicht begeistert, dass Elin sie störte, aber als sie ihr Gesicht sah, schickte sie die Sekretäre aus dem Raum und hörte sich die Geschichte an.

»Es tut mir aufrichtig Leid, dass Emilia gestorben ist«, sagte sie schließlich. »Aber bei Kester Leven kann ich dir nicht helfen.«

»Aber Kristina! Er hat mich von der Beerdigung fortgeschickt! Das hätte Emilia nie gewollt!«

Kristina winkte ab.

»Wer weiß schon, was Emilia wollte«, sagte sie sanft. »Bedenke, sie war eine kranke Frau. Bestimmt war sie sogar ein wenig verwirrt.«

»Vielleicht hat es etwas mit mir zu tun? Möglicherweise wusste Emilia doch mehr über meine Familie und hat es Leven erzählt. Und er hat ihr daraufhin geraten, mich von der Beerdigung auszuschließen. Und dann die Unterlagen über meine Familie, die bei einem Brand vernichtet wurden. Langsam habe ich den Verdacht, dass es kein Zufall …«

Kristina funkelte sie über den Tisch hinweg an.

»Gib endlich Ruhe damit, Elin. Ich werde dem Bischof eine Bitte um Stellungnahme zukommen lassen. Mehr kann ich nicht tun.«

Niedergeschlagen verließ Elin das Arbeitszimmer. Zu ihrer Überraschung wartete Henri am Fuß der Treppe.

»Gehen Sie ein Stück mit mir spazieren«, sagte er leise. »Ich muss Sie etwas fragen, was für Sie von höchster Wichtigkeit sein könnte.« Bevor sie ihm eine Antwort geben konnte, hatte er sich umgedreht und humpelte die Treppe hinunter. Schweigend gingen sie an Victor vorbei und nahmen den Weg über den Hof.

»Ihre Königin wird Ihnen nicht helfen, habe ich Recht?«, fragte er schließlich.

»Das dürfte Sie wohl kaum interessieren.«

Henri blieb stehen. Elin bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.

»Wenn Sie aufhören würden, sich mir gegenüber wie eine Küchenmagd zu benehmen, würden Sie uns beiden die Konversation erleichtern«, zischte er.

»Ach, neulich sagten Sie noch, ich hätte mich verändert.«

Sein Blick verdüsterte sich.

»Vielleicht bin ich es, der sich viel mehr verändert hat. Das Schlachtfeld zeigt vieles in einem neuen Licht.« Nachdenklich betrachtete er ihr Gesicht. Elin widerstand der Versuchung, ihm eine scharfe Antwort zu geben.

»Kättare«, sagte er plötzlich. Elin zuckte bei dem schwedischen Wort aus seinem Mund zusammen.

»Das bedeutet Ketzer«, sagte sie. »Woher haben Sie das?«

»Als dieser Pfarrer ins Dorf kam, hat er mit den Dorfbewohnern gesprochen. Dabei fiel Ihr Name und dann sagte er etwas zu einem seiner Begleiter. Ich verstehe noch nicht genug Schwedisch, aber ich denke, den Satz habe ich mir richtig gemerkt: Denna papistunge har inget pä den här begravningen att göra!«

Fassungslos starrte Elin ihn an.

»Das Papistenkind hat bei der Beerdigung nichts verloren«, flüsterte sie. »Papist das ist das Schimpfwort für einen Katholiken. Warum nennt er mich so?«

»Kurz bevor wir fortritten, gab die rothaarige Frau demselben Bediensteten einige Papiere.«

Elin hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren.

»Es ist wichtig für Sie, etwas über Ihre Verwandten und diesen Geistlichen herauszufinden, nicht wahr?«, bohrte Henri weiter. Elin biss sich auf die Lippe und nickte. Einen Moment zögerte sie, dann begann sie zu erzählen. Sie berichtete von den unzähligen Nachforschungen und den Briefen, von dem Brand im Pfarrhaus und ihrer zerstörten Hoffnung, ihre Mutter zu finden. Als sie fertig war, nickte Henri. »Wie steht es mit den Leuten, bei denen Sie gelebt haben?«

»Ein Freund hat dort bereits nachgefragt. Sie wissen von nichts.«

Henri zupfte nachdenklich an seinem Kragen.

»Eins habe ich im vergangenen Jahr gelernt«, sagte er nach einer Weile. »Manchmal kommt es nicht darauf an, was man fragt, sondern wie man seine Frage formuliert.«

Er schenkte Elin ein verhaltenes Lächeln, verbeugte sich und ging davon.

 

Beim Abendessen fühlte sich Elin so unbehaglich dabei, von Olof bedient zu werden, dass sie den Zettel, den ihr jemand in die Serviette gesteckt hatte, beinahe übersehen hätte. Überrascht sah sie sich um und traf Erik Gyllenhielms Blick. Verschwörerisch grinste er ihr zu. Elin entfaltete den Zettel vorsichtig unter dem Tisch und las:

 

Monsieur de Vaincourt und ich erwarten Sie heute Nacht an der Stelle, an der wir nach Fräulein Spanes Medaillon gesucht haben. Elf Uhr. Tragen Sie Handschuhe und Schmuck.

Erik zog verschmitzt eine Braue hoch und beugte sich wieder über seinen Teller. Elin zählte die Stunden, bis sie sich endlich davonstehlen konnte. Der Nachtwind war selbst für eine Sommernacht sehr warm und die dünnen Seidenhandschuhe fühlten sich ungewohnt an. An der Stelle, an der sie vor fast zwei Jahren Schnee für die Küche geholt hatte, erkannte sie die Umrisse zweier Pferde.

»Ich hoffe, Sie können auch im Damensattel reiten«, flüsterte Henri ihr zu.

»Was haben Sie vor?«

Sein Lachen verwehte in der Nacht.

»Seien Sie würdevoll«, sagte er nur. »Alles andere erledigen wir.«

Es war gar nicht so einfach, auf der prächtigen Paradestute im Damensitz zu reiten. Nicht weit vom Schloss entfernt hörten sie Hufschläge. Elin erschrak, als sie die zehn schwer bewaffneten Soldaten sah, die ihnen entgegengaloppierten. Angeführt wurden sie von Erik Gyllenhielm! Und da war noch ein weiterer Reiter. Elin fuhr ein freudiger Schauer in den Magen.

»Hampus! Seit wann bist du wieder da?«

»Seit ein paar Stunden erst. Und wenn Erik mich nicht sofort von der Kutsche gezerrt hätte, hätte ich nichts lieber getan, als dich sofort zu begrüßen!«

»Was habt ihr vor?«

»Wir sind eine Delegation«, sagte Hampus geheimnisvoll.

Den Weg nach Gamla Uppsala legten sie in gestrecktem Galopp zurück. Die Pferde schnaubten bereits, als die Hügel der Königsgräber in Sicht kamen. Zu Elins Entsetzen hob einer der Soldaten seine Trompete an die Lippen und blies eine Fanfare. Das winzige Dorf erwachte auf der Stelle. Menschen im Nachtgewand erschienen in den Türen und schrien vor Schreck auf.

»Die Königin!«, rief jemand. »Die Königin ist da!«

Bauer Gudmund rannte als einer der Letzten auf den Hof. Elins Hände krampften sich um die Zügel. Hampus sprang vom Pferd und trat vor. Jetzt erst, im Fackelschein, sah Elin, dass er einen goldbestickten Mantel trug er gehörte Henri! Mit wichtiger Miene entrollte er ein offiziell aussehendes Schriftstück in seiner eigenen Handschrift.

»Hampus Lundell«, stellte er sich vor. »Sekretarius für besondere Angelegenheiten Ihrer Majestät, Königin Kristina von Schweden.« Elin schnappte unwillkürlich nach Luft. »Mit Wirkung des heutigen Beschlusses hat der königliche Rat einen Richtspruch gefällt. Isak Gudmund! Tritt vor!«

Gudmund stand da wie vom Blitz getroffen. Die Nachbarn wichen vor ihm zurück, als hätte er die Pest. Nur seine Frau blieb bei ihm stehen und drückte sich ängstlich an seinen Rücken.

»Hier«, sagte Gudmund heiser. Hampus nickte mit strenger Miene.

»Isak Gudmund wurde für schuldig befunden, falsche Aussagen über Gräfin de la Feinte getätigt zu haben.« Bei diesen Worten deutete er auf Elin. Alle Blicke wandten sich ihr zu. »Widerruft er die Falschaussage nicht, habe ich den Befehl, ihn zu verhaften.« Die Soldaten schauten grimmig. »Elin?«, flüsterte Frau Gudmund entsetzt. »Unsere Elin eine Gräfin?«

»Keiner wage es, die Gräfin despektierlich anzusprechen«, wies Hampus sie zurecht. Henri sprang vom Pferd und machte eine tiefe Verbeugung vor Elin.

»Erlauben Sie mir, Ihnen vom Pferd zu helfen, Madame de la Feinte«, sagte er laut auf Französisch. Elin schluckte und ließ es zu, dass Henri sie vom Pferd hob. Ihre Schuhe sanken im Schlamm vor dem Hof ein. Sofort wurden Bretter herbeigeschafft und ein Holzweg ausgelegt.

»Ich möchte allein mit den Gudmunds sprechen«, sagte Elin leise. Gudmunds Frau rannte ins Haus, Truhendeckel klapperten. Henri reichte Elin den Arm. An seiner Seite schritt sie zum Haus, das so viele Jahre ihre Heimat gewesen war. Beim Anblick der rauchgeschwärzten Kate und dem Geruch nach gärendem Sauerhering schnürte es ihr die Kehle zu. So klein und schäbig war der Hof, so verwahrlost!

»Wo ist Madda?«, fragte sie.

Frau Gudmund senkte den Kopf.

»Verstorben, Gräfin de de …«

»Lasst es gut sein«, sagte Elin. Mit einem Mal taten ihr die Bauern Leid. Sie schämte sich für diese Maskerade, schämte sich dafür, den armen Teufeln Angst einzujagen. Hampus ergriff das Wort.

»Die Anklage …«

»Hampus«, unterbrach sie ihn. »Lass mich selbst sprechen.«

Sie ging zu Frau Gudmund und betrachtete ihr graues Gesicht.

»Sagen Sie mir, was Sie über meine Eltern wissen«, bat sie und fügte auf gut Glück hinzu: »Ich weiß von Emilias Geheimnis und von Kester Leven. Ihnen wird nichts geschehen und das Vergangene ist vergessen. Aber sagen Sie mir die Wahrheit.«

Frau Gudmund ließ den Blick zu den glänzenden Waffen der Soldaten vor der Tür huschen und schnappte nach Luft.

»Wir mussten es schwören …«, flüsterte sie.

»Wem haben Sie geschworen?«

Frau Gudmund schluckte.

»Deiner seligen Tante«, sagte Herr Gudmund. »Sie fürchtete sich so, dass es herauskäme und sie verhaftet würde. Sie würden sein Andenken schänden und …« Sie verstummten und sahen sich an. Elins Herz schlug bis zum Hals.

»Warum verhaftet?«, fragte sie ruhig. Die Gudmunds zögerten. Schließlich drehte sich Frau Gudmund um und ging hinaus. Spinnweben klebten an ihren Fingern, als sie wenig später zurückkam. Ihre Hand zitterte, während sie Elin eine Kette aus geschliffenen Halbedelsteinen reichte. Es war ein Rosenkranz.

»Der hat ihm gehört«, sagte Frau Gudmund. »Wir wollten ihn vernichten, aber er ist zu wertvoll.«

Elin starrte immer noch die Kette an. Schwer wie ein Mühlstein lag sie in ihrer Hand. Frau Gudmund leckte sich wohl schon zum hundertsten Mal über die Lippen. Tränen standen in ihren Augen.

»Emilia hatte ein Schriftstück an sich genommen. Nach dem Tod deiner Ihrer Tante. Das ist alles, was wir wissen.«

»Wirklich alles?«

Die Gudmunds nickten wie Kinder, die froh waren, den Schlägen entronnen zu sein. Es kostete Elin viel Beherrschung, sich umzudrehen und die Hütte würdevoll zu verlassen. Der Rosenkranz hatte sich in ihrem festen Griff erwärmt und glühte in ihrer Hand. Hampus sprang herbei und begleitete sie zu ihrem Pferd. Mit unbewegtem Gesicht sah Henri zu, wie der Student ihr tröstend den Arm um die Schulter legte und wie Elin die Umarmung ihres Freundes erwiderte, bevor sie auf das Pferd stieg.

 

Kristina starrte sie an, als hätte sie verkündet, dass sie Kester Leven heiraten wolle.

»Bist du sicher?«, rief sie.

»Nein«, antwortete Elin. »Aber es sieht ganz danach aus, als wäre mein Vater in Deutschland heimlich konvertiert. Wenn meine Vermutung richtig ist, starb er als Katholik. Seine Schwester hat versucht, es zu verheimlichen. Emilia war die Einzige, die davon wusste.«

Kristina holte Luft und stützte sich auf dem Schreibtisch auf.

»Der Rosenkranz beweist gar nichts. Er kann auch Kriegsbeute sein. Für einen einfachen Soldaten ist er einiges wert.«

»Warum hat er ihn dann nicht zu Geld gemacht?«

»Er könnte auch deiner Mutter gehört haben. Es ist gut möglich, dass sie katholisch war.«

»Und warum hüten die Gudmunds das Geheimnis um meinen Vater um jeden Preis? Was ist mit dem Dokument?«

»Weißt du, was es bedeutet, wenn ein schwedischer Bürger katholisch wird?«, sagte Kristina. »Hochverrat. Wäre dein Vater nicht gestorben, hätte man ihn in Stockholm hingerichtet. Bei der Religion verstehen unsere hohen Herren keinen Spaß. Und wie bringst du jetzt Kester Leven ins Spiel?«

»Er nannte mich Papistenkind. Das könnte bedeuten, dass ich ebenfalls katholisch getauft wurde. Wie meine Eltern. Emilia hat das Geheimnis bewahrt sie war die Freundin meiner Tante. Ich bin überzeugt, dass sie sich vor ihrem Tod Kester Leven anvertraut hat. Er hat jetzt alle Unterlagen.«

Kristina stöhnte und vergrub ihre kräftigen Finger in ihrem Haar. »Guter Gott«, sagte sie.

»Was werden Sie tun, Kristina?«

Die Königin zog überrascht die Brauen hoch.

»Tun? Gar nichts. Sollen wir das zu einem Skandal hochspielen? Soll ich einen Bediensteten des Bischofs beschuldigen, Dokumente zu unterschlagen? Emilia hat sie ihm gegeben, alles andere zählt nicht.«

»Aber es sind meine Dokumente, was auch immer darin steht! Es geht um meine Eltern!«

»Deine Eltern sind unwichtig«, sagte Kristina hart. »Es geht um dich. Wenn ich Kester Leven richtig einschätze, wird er Emilias Geheimnis hüten er mag eitel und dünkelhaft sein, aber er ist mit Herz und Seele Geistlicher und hat hohe moralische Prinzipien. Und du bist heute eine Lutheranerin wie wir alle, gleichgültig, wie deine Eltern dich auf dem Schlachtfeld getauft haben mögen.«

»Aber Kristina!«

»Leven untersteht direkt dem Bischof. Ich kann ihm nicht befehlen, seine Schubladen vor uns auszuleeren.«

Als sie sah, wie Elin mit den Tränen kämpfte, wurde ihr Gesicht ein wenig weicher.

»Versteh mich doch, Elin«, bat sie sanft. »Ich werde versuchen, etwas darüber in Erfahrung zu bringen, das verspreche ich dir. Aber der direkte Weg ist zu gefährlich. Nehmen wir an, jemand zettelt eine Intrige gegen dich an und behauptet, du seist schon immer katholisch gewesen und hättest dich bei Hof eingeschlichen, um deinen Glauben zu verbreiten. Oder du seist eine Spionin der Papisten. Nehmen wir an, die Gudmunds lassen sich bestechen, jeden Eid zu schwören, dass deine Feinde die Wahrheit sprechen. Dann könnte selbst ich dich nicht davor schützen, dass dein Kopf eines Tages am Südtor aufgespießt wird.«

Elin fröstelte. Kristina hatte Recht. Trotzdem brannten Wut und Enttäuschung in ihrer Brust. Die Königin griff zur Feder ein Zeichen dafür, dass die Unterredung für sie beendet war. »Und nun zu eurer Delegation«, sagte sie. »Solche Dinge dulde ich auf gar keinen Fall. Du wirst die Gudmunds mit einem angemessenen Betrag aus deinem Privatvermögen großzügig für den Schreck entschädigen. Und Henri de Vaincourt und seine Freunde will ich auf Tre Kronor nicht mehr sehen.«

 

Elin verabschiedete sich in den frühen Morgenstunden vor der Rückkehr nach Stockholm von Hampus. Er nahm sie in den Arm, drückte ihre Hand. Sie sprachen nicht viel und zur Enttäuschung über Kristinas Reaktion gesellte sich das Gefühl der Einsamkeit. Wer wusste schon, wann sie ihren Freund wieder sehen würde?

»Schreib mir aus Leyden«, bat sie.

Hampus lächelte. »Sooft ich kann.« Er machte eine scherzhafte Verbeugung. »Auf bald, Gräfin de la Feinte.«

Die Albträume kehrten zurück und verfolgten sie noch, als sie längst wieder in Stockholm war. Nachts hielt sie den Rosenkranz in der Hand, als könnte der kleine Goldjesus am Kreuz ihr die Zweifel nehmen.

Ein glühender Sommer hatte sich über das Land gesenkt, Helga stellte aus den säuerlichen, gelben Multbeeren aus dem Nordland eine köstliche Konfektfüllung her, aber Elin hatte jeden Appetit verloren. Lovisa wunderte sich kaum über Elins Niedergeschlagenheit, als sie von Emilias Tod, dem Abschied von Hampus und Henris Hausverbot im Schloss erfuhr. Kristina hielt es offenbar für das Beste, Elin mit Arbeit abzulenken. Schon bei Tagesanbruch stellte Elin Listen auf, prüfte die Berechnungen für neue Regale und katalogisierte Bücher.

Sooft sie konnte, besuchte sie Monsieur Chanut in der Hoffnung, Henri zu sehen. Mürrisch saß er im Haus des Botschafters, vergrub sich in seinen Büchern über Sternkunde und trank zu viel Wein. Als hätte Uppsala nicht existiert, verwandelte er sich wieder in den arroganten Grafensohn, der sich mit Elin bissige Wortgefechte lieferte. Nur auf ihre Herkunft sprach er sie nicht länger spöttisch an.

»Sind Sie wütend, weil Sie wegen mir Hausverbot im Schloss haben?«, fragte Elin ihn einmal.

Henri zeigte sein arrogantes Lächeln.

»Sollte ich das sein? Für einen Lahmen wie mich ist der Weg zum Schloss ohnehin zu beschwerlich.«

Elin konnte offenbar nichts Richtiges sagen. Umso einfacher war es, die Wut auf Henri wieder aufflackern zu lassen.

Und manchmal war sie sogar froh darum, sich mit ihm streiten zu können, auch wenn sie ihm viel lieber ihre Zweifel anvertraut hätte. Das Band, das in Emilias Haus zwischen ihnen bestanden hatte, schien wieder gerissen zu sein. Trotzdem ertappte sich Elin dabei, wie sie öfter als nötig bei Monsieur Chanut zu Gast war. Manchmal blieb sie im Empfangszimmer sitzen, während der Hauskaplan im Keller die katholische Messe las über ein Buch gebeugt lauschte sie und stellte sich vor, mit den Katholiken zu beten. Mit scheuer Faszination betrachtete sie die geweihten Gegenstände, die Kelche, die Madonnenbilder und die goldene Monstranz.

Mitten in diesen angespannten Wochen kam die Nachricht aus Holland. Monsieur Descartes hatte zugesagt, nach Stockholm zu kommen und die Königin zu unterrichten. Trotz aller Sorgen gab diese Mitteilung Elin für kurze Zeit ihre gute Laune zurück.

An einem Augusttag, der vor Farben glühte, nahm sie sich ein Herz und klopfte an Henris Kammertür.

Der junge Graf hatte sich auf seinem Bett ausgestreckt, überall lagen Bücher herum. Ein halbvolles Weinglas stand auf dem Nachttisch. Für einen Augenblick leuchtete Henris Gesicht auf, als er Elin erblickte, dann aber verschwand sein Lächeln und ließ Elin umso einsamer zurück.

»Machen Sie doch das Fenster auf, Henri!«, sagte sie ärgerlich. »Draußen ist ein Sommer, wie Sie ihn sicher noch nie gesehen haben.«

»Das mag für Sie etwas Besonderes sein, aber kein schwedischer Sommer kann sich mit einem in Frankreich vergleichen.«

»Wenn es so ist, wundere ich mich, warum Sie hier sind.«

»Weil es für mich keinen Unterschied macht. Verliebte sehen überall die Sonne und für die Hoffnungslosen ist es überall Nacht.« Mürrisch griff er nach dem Weinglas und leerte es in einem Zug.

Elin verschränkte die Arme. Sie wusste wieder einmal nicht, ob sie ihn schlagen oder umarmen wollte.

»Solche pathetischen Worte, Monsieur Henri«, spottete sie. »Wissen Sie, Sie sind unterhaltsamer, wenn Sie reiten statt zu sprechen. Deshalb wollte ich Sie fragen, ob Sie mich auf einen Ausritt begleiten wollen.« Jetzt schlug ihr Herz bis zum Hals. Henris Augen schienen zu glühen.

»Ach, kaum sind die Kavaliere aus dem Haus, ist der Krüppel wieder gut genug.«

Das beantwortete Elins Frage. Sie hatte eindeutig Lust, ihn zu schlagen.

»Warum sind Sie so verletzend?«

Seine Antwort war scharf.

»Warum spielen Sie mit den Menschen?« Er stellte das Weinglas so hart auf dem Nachttisch ab, dass Elin fürchtete, es würde zerbrechen. »Erik hat mir von Ihrer Verlobung mit Hampus erzählt. Was würde Ihr Verlobter dazu sagen, dass Sie mit anderen Männern ausreifen?«

»Wenn Erik so etwas behauptet, ist er ein Großmaul. Ich habe niemandem versprochen, ihn zu heiraten! Sie scheinen es noch nicht bemerkt zu haben, Monsieur Henri aber es existiert auf der Welt so etwas wie Freundschaft. Andererseits wundert es mich nicht, dass Sie diese Regung nur sehr selten antreffen.«

»Für Sie ist es einfach, über andere Menschen zu richten«, sagte er heiser. »Sie haben noch ein Leben. Meines ist vorbei. Wer will schon einen Krüppel?« Er räusperte sich. Der Wein vernebelte seinen Blick. »Sie doch sicher nicht, Mademoiselle.«

Der scharfe Spott in seiner Stimme fachte Elins Wut noch mehr an.

»Bilden Sie sich nur nichts auf Ihr Elend ein«, zischte sie ihm zu. »Jeder trägt seine Wunden. Sie sind weiß Gott überhaupt nichts Besonderes, Henri.«

Der Weinduft musste ihr zu Kopf gestiegen sein, anders konnte sie es sich kaum erklären, wozu sie sich nun im Zorn hinreißen ließ. Henri errötete, als er sah, wie sie zu der Schnürung ihres Mieders griff. Mit wütenden Bewegungen löste sie Band um Band, setzte sich zu ihm an den Bettrand und wandte ihm den Rücken zu. Dann zerrte sie das Mieder auf und streifte sich entschlossen das leinerne Unterkleid über die Schultern. Ihre Narbe pochte, als würde Henris Blick sie erwärmen. Sie wusste, was er sah. Mithilfe eines zweiten Spiegels hatte sie die Narbe schon oft betrachtet eine rote, verzerrte Sonne. Nie hätte sie Hampus einen Blick darauf werfen lassen und selbst bei Lovisa schämte sie sich, so viel Hässlichkeit zu zeigen, aber hier, in Henris Gegenwart, fühlte es sich seltsamerweise richtig an. Das erschreckte sie noch mehr als ihre Kühnheit. Henri schwieg, während ihr Herz so heftig schlug, dass die Narbe pulsierte und wieder zu schmerzen begann. Elin schämte sich unendlich. »Entschuldigen Sie«, flüsterte sie. »Ich benehme mich wie ein Barbar. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.« Gerade wollte sie das Hemd wieder über ihre Schulter streifen, als eine Berührung sie innehalten ließ. Ein leichter Atemhauch strich über ihre Haut und ließ sie frösteln. So behutsam, als könnte jede Berührung sie verletzen, küsste Henri erst ihre Narbe und dann ihren Nacken. Elin wagte kaum zu atmen, als er die Arme von hinten um sie legte. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, ließ sich ganz in diese Umarmung fallen. Sie schwiegen lange, als hätten sie Angst, ein einziges Wort könne diese Nähe zerstören. Schließlich zog Elin ihr Unterkleid wieder über die Schultern, drehte sich um und sah Henri ins Gesicht. In seinen Augen fand sie Schmerz. Er betrachtete Elin wie eine Kostbarkeit, die er nie besitzen würde. Trotz des bitteren Zugs um seinen Mund waren seine Lippen unendlich schön. Vorsichtig strich sie ihm das schwarze Haar aus der Stirn. Ihre Finger schienen auf einmal alles viel intensiver zu fühlen. Schließlich beugte sie sich zu ihm und küsste ihn. Und selbst wenn er sie dafür verspotten würde in diesem Augenblick war es unwichtig, wichtig war nur diese Sehnsucht, seine Lippen zu berühren.

Es fühlte sich ganz anders an als Kristinas Kuss oder Hampus Umarmung. Das hier war Sehnsucht und gleichzeitig das Gefühl, das Ersehnte endlich gefunden zu haben. Henri zog sie an sich und erwiderte ihren Kuss wie ein Ertrinkender. Als sie sich nach einer Ewigkeit voneinander lösten, verwirrt, mit pochenden Lippen und rasenden Herzen, lächelten sie sich verlegen an.

Erst als die Tür zuklappte, fuhren sie ertappt auseinander.

Als Elin auf Tre Kronor ankam, wartete bereits Lovisa auf sie. Ihr Gesicht war vor Zorn verzerrt. Ohne ein weiteres Wort packte sie Elin grob am Arm und stieß sie in das nächstbeste Zimmer.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?« Elin antwortete nicht, sondern senkte nur den Kopf. Sie brauchte nicht zu fragen, wovon Lovisa sprach. Die Hofdame wetterte ohnehin schon los.

»Monsieur Tervué war bei den Chanuts zu Besuch und hat dich gesehen! So gut wie nackt auf Monsieur Henris Bett! Bist du noch zu retten? Ist dir klar, dass du deine Zukunft ruinierst?«

»Ich war nicht nackt«, murmelte Elin. »Es war nur …«

»Schweig!« Lovisa rang die Hände. »Und noch dazu mit einem Katholiken. Herr Nilsson wird dich nicht einmal mehr mit der Schmiedezange anfassen. Ganz zu schweigen von …«

»Ich lege keinen Wert auf Herrn Nilsson.«

Die Ohrfeige traf sie so unerwartet, dass Elin erschrocken zurücktaumelte. Entsetzt tastete sie nach ihrer brennenden Wange. Lovisa hatte sich umgewandt.

»Das Traurige ist nicht, dass du ein Hurenkind bist«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Das Traurige ist, dass du dich wie ein solches benimmst.«

Der Abend an der Festtafel verlief für Elin wie ein Besuch am Pranger. Ebbas mitleidiger Blick war die harmloseste Reaktion. Monsieur Tervué verließ demonstrativ den Tisch. Die Gerüchteküche kochte offenbar gut. Vor allem die adligen Mädchen, inzwischen fast alle anständig verheiratet, schienen nur auf die Gelegenheit gewartet zu haben, das Feuer zu eröffnen. Kristina ließ sich nichts anmerken, sie plauderte mit Ebba und Elin, obwohl Elin der scharfe Unterton nicht entging. Auf Silberplatten wurden rote Flusskrebse serviert. Mit brennenden Wangen beugte sich Elin über ihren Teller und bemühte sich, das Getuschel hinter den Fächern zu überhören. »Hure«, zischte es über den Tisch. Ungerührt griff die Königin zu ihrem Weinglas. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben«, raunte sie Elin zu.

Natürlich war es nicht das letzte Wort, das in dieser Sache gesprochen wurde. Am nächsten Tag zitierte Kristina Elin in ihre Kanzlei.

»Du kannst dir hier einiges erlauben, aber kein unzüchtiges Verhalten. Ich lege Wert auf Tugend und Anstand.«

»Warum werde ich behandelt wie eine Verbrecherin? Wenn Monsieur Tervué sich als Moralapostel aufspielen will, müsste man auch über Henri tuscheln. Wir waren immerhin zu zweit.«

»Stellst du dich so dumm? Du bist eine Frau. Und du hast dein Mieder aufgeschnürt und ihn geküsst.«

»Was ist dabei, jemanden zu küssen? Ausgerechnet Sie machen mir Vorwürfe!«

Kristinas Mundwinkel zitterten, dann konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Seufzend schüttelte sie den Kopf.

»Die Liebe, Elin. In deinem Fall ist es nur die Verbindung von Sommerluft und deiner Jugend. Aber ich verstehe dich besser, als du denkst. Als ich siebzehn war, habe ich Karl Gustav leidenschaftlich geliebt trotzdem glaube ich nicht, dass Henri die richtige Wahl für solche Eskapaden ist. Was ist mit deinem Hampus?«

»Er ist ein Freund! Wie oft muss ich das denn noch wiederholen? Und was ist mit den Grenzen, von denen Sie mir erzählt haben? Wir schaffen sie uns selbst.«

Plötzlich sah die Königin müde aus.

»Ach, Elin. An den Wänden alter Konventionen wirst du dir nur den Kopf einrennen. Lerne nach den Regeln zu spielen, bevor du sie brichst.«

»Aber …«

»Ich werde die Gerüchte dementieren und Monsieur Tervue bitten, über den Vorfall zu schweigen. Dann muss ich darauf bestehen, dass du Monsieur Henri nicht mehr triffst. Du wirst sehen, das Gefühl verfliegt, der Rausch geht vorbei. Und ich brauche dich hier in der Bibliothek.«

Elin dachte an Henri und schluckte schwer. Das war nicht die Kristina, die ihr nahe stand unmerklich hatte sich etwas zwischen sie geschoben. Es war nicht dicker als ein Theatervorhang, dennoch fühlte sich Elin ausgegrenzt und allein.

»Hast du verstanden?«

»Ja, Majestät«, sagte sie leise.

Die Wogen glätteten sich nur langsam. Während draußen die Sonne schien, erledigte Elin ihre Arbeit in der Bibliothek und lernte verbissener denn je. Nachts träumte sie von Henri, sehnte sich so sehr nach ihm, dass es schmerzte, und fragte sich, ob er auch an sie dachte. Eines Tages, als sie Enhörning für einen Ausritt mit Lars sattelte, trat ein Stallknecht neben sie. »Schauen Sie in das Geheimfach Ihres Sattels«, flüsterte er. Elin klappte das Leder zurück. Ein ganzer Schmetterlingsschwarm erhob sich in ihrem Bauch, als sie einen Brief fand. Er war von Henri.

Wie vereinbart, hatte sich Elin nach Mitternacht aus dem Schloss geschlichen. Es war nicht schwer gewesen, durch die Gewölbekeller über den Bootsanleger nach draußen zu gelangen. Eine glühende Sommernacht ließ den Mälarsee leuchten. Elin war sogar noch aufgeregter als damals, als sie den Brief an Adler Salvius überbringen sollte. Sie lief durch die Gassen zum Hinterhof in der Skomakargatan. Dort hatte sie einen Diener erwartet, aber die Gestalt im Mauerschatten war Henri! Als er Elin entdeckte, ging in seinem Gesicht die Sonne auf. Er ließ die Zügel der beiden Pferde los und umarmte Elin so fest, dass ihr die Luft wegblieb. Ohne ein Wort zu wechseln stiegen sie auf die Pferde, passierten die Wachen an der Brücke, die Henri offenbar gut dafür bezahlt hatte, das Tor zu öffnen, und galoppierten bald darauf in den mitternächtlichen Wald. Elin kamen all die Feenmärchen in den Sinn, die Emilia ihr einst erzählt hatte. Ein wenig fühlte sie sich selbst wie eine Fee, als sie neben Henri hergaloppierte, während Tre Kronor längst hinter dunklen Vorhängen schlief. An einer Lichtung brachten sie ihre Pferde zum Stehen, stiegen ab und ließen sich auf das Gras sinken. Farne leuchteten in der hellen nordischen Nacht. Eine Weile saßen sie einfach nur da, betrachteten die Waldschatten und lauschten auf das Knacken im Unterholz. Dann fanden sich ihre Hände und sie rückten so nah zusammen, dass sie den Herzschlag des anderen spürten. Es war einfacher zu küssen als zu sprechen, und so schwiegen sie. Jeder Streit war vergessen.

»Ich habe dich so oft beobachtet«, flüsterte er ihr zu viel später, als sie durch den Wald zurück zu den Pferden gingen, die Finger ineinander verflochten. »Damals, als du reiten gelernt hast. Erinnerst du dich? Das Pferd hat dich an diesem einen Nachmittag mindestens zwanzigmal abgeworfen und du bist immer wieder aufgestiegen. Ich habe dich für deine Hartnäckigkeit und deinen Mut gehasst. Aber heute …« Er lächelte ihr zu und küsste sie, als würden sie sich nach diesem heimlichen Ausritt nie wieder sehen.

Aber sie sahen sich wieder. Elin verlebte die Tage wie eine Schlafwandlerin die Nächte. Sie lernte mit Feuereifer und machte ihre Arbeit in der Bibliothek so gut, dass die Gelehrten sie lobten und die Gerüchte langsam in Vergessenheit gerieten. Nachts aber verwandelte sie sich in eine andere Elin, eine Elin, die leuchtete wie ein Sommerfeuer und die keinen Schlaf brauchte. Und während die anderen Mädchen, wie es Brauch war, für die Mittsommernacht neun verschiedene Blumen sammelten und sie unter das Kissen legten, um von ihrem zukünftigen Ehemann zu träumen, träumte Elin mit offenen Augen von Henri und schlich sich wie ein Dieb aus dem Schloss.

Während dieser nächtlichen Ausritte ließen sie sich in einem Meer von Farnblättern treiben und küssten sich, bis ihre Lippen pochten. Nach und nach fanden sie zwischen ihren Umarmungen ihre Sprache wieder und Elin lernte den Henri kennen, der ihr bis zu dem Tag in Chanuts Haus nur selten begegnet war.

»Mein Land unterscheidet sich gar nicht so sehr von Schweden«, erzählte er flüsternd. Elin lag auf der Wiese. Henris Hände spielten mit ihrem Haar und unter ihrer Wange fühlte sie sein Herz schlagen. Bei Henri hatte sie nie Angst davor, die Augen zu schließen. »Es ist nicht so warm wie Italien, aber die Farben über dem Meer sind wunderschön! Unsere Kirchen sind aus Granit gemacht wie die Klippen auf Södermalm hier. Es ist ein raues Land mit rauen Leuten.«

»So rau wie dein Vater?«, murmelte Elin.

Henri schwieg lange, bevor er antwortete.

»Nicht alle sind wie er«, sagte er schließlich leise. »Meine Mutter ist anders sie hat ein großes Herz. Mein Vater dagegen ist ein Soldat, den der Krieg viel zu hart gemacht hat. Und er ist dünkelhaft, weil er ehrgeizig ist und dennoch seine politischen Ziele nicht erreichen konnte. Am Hof hat er sich durch seinen Ehrgeiz viele Feinde gemacht. Es wird nicht mehr lange dauern, bis er Paris verlassen muss. Außerdem kann er sich die Hochzeit mich meiner Mutter nie verzeihen.«

»Warum?«

»Ihr Erbe hat ihm nicht das Geld gebracht, das er sich erhoffte. Er ist der Meinung, unter seinem Stand geheiratet zu haben. Jeden Tag lässt er sie spüren, dass sie eine schlechte Wahl war.« Er machte eine Pause. »Uns alle lässt er es spüren.«

»Ist er denn so arm?«

Henri seufzte.

»Arm unter den Reichen. Er hat viel in einem Erbschaftsstreit mit meinem Onkel verloren. Meine Familie besitzt nur noch ein kleines Schloss in der Bretagne, einige Landgüter und Tuchwebereien, außerdem Äcker, auf denen Flachs und Hanf angebaut wird. Die Tücher für die Segelschiffe bringen gutes Geld.«

»Nur ein kleines Schloss«, spottete Elin. »Und du bist nur ein armer Edelmann, der sich über Flachsanbau Gedanken macht.«

»Besser als über den Krieg nachzudenken«, gab Henri zurück. Er richtete sich halb auf und fuhr mit den Fingern die Linie ihres Wangenbogens nach. Sie liebte diesen Ausdruck von Verletzlichkeit in seinem Gesicht. »Als ich auf dem Schlachtfeld war, habe ich nicht besonders viel Mut bewiesen. Ich dachte immer, wir wären edel von Geburt, so hatte mein Vater es mich gelehrt. Aber als ich verwundet war ließ mein Vater mich liegen. Versorgt hat mich ein Soldat. Ich glaube, dort habe ich begriffen, dass die Welt nicht aus hohen und niederen Menschen besteht. Sie besteht aus Kriegern und Bürgern. Und die Krieger zogen nach der Schlacht plündernd und zerstörend durch Bayern Schweden und Franzosen, Adlige und Söldner, es machte keinen Unterschied.« Er räusperte sich und sah zu den Pferden hinüber. »Mein Vater nennt mich Memme, weil ich ein Krüppel bin und mich nicht zu einer militärischen Karriere berufen fühle.«

Elin dachte an den Schmerz ihrer Verletzung durch den Bolzen der Armbrust und schauderte. Sie nahm Henris Hand und drückte sie an ihre Lippen. »Ich halte dich für einen klugen Mann«, sagte sie. In solchen Augenblicken, in denen sie Henri besonders liebte, wurde ihr bewusst, dass die Tage bereits kühler wurden und schon bald die letzten Schiffe Kurs auf die Ostsee nehmen würden.

»Was wirst du am meisten vermissen, wenn du wieder in Frankreich bist?«, fragte sie. Henri lachte.

»Nichts. Weil ich nicht nach Frankreich zurückgehe.«

»Du kannst nicht ewig in Schweden bleiben.«

»Mich ruft nichts zurück«, erwiderte Henri. »Was soll ich in einem Haus, in dem ich Feigling genannt werde?«

Seine Stimme bekam einen bitteren Klang. »Ich kann es nicht verstehen so sehr habe ich versucht, ihm zu gefallen. Ich führte mich auf wie er, ich prügelte mich und zog mit den anderen Kavalieren herum, aber es gelang mir nie, so zu sein wie er. Ich weiß nicht, warum er mich so sehr hasst.«

»Weil du Henri bist«, sagte Elin. »Er hasst dich für all das, was ich an dir liebe.«

 

Der Herbst kam in diesem Jahr früh und war golden. Voller Ungeduld wartete Kristina auf die Ankunft von Herrn Descartes. Immer noch war sie damit beschäftigt, den Frieden durchzusetzen, der zwar auf dem Papier bestand, aber weitere Verhandlungen erforderte. Marodierende Söldnerhorden zogen durch die deutschen Städte, der Krieg hatte die Staatsfinanzen geschwächt und die Königin musste nun in ihrem eigenen Land Ordnung schaffen. Dafür beorderte sie deutsche Handwerker nach Schweden, verbesserte die Verwaltung und Infrastruktur ihres Landes und verbot endgültig jegliche Hexenverfolgung. Inzwischen plante sie auch die Errichtung einer wissenschaftlichen Akademie auf Tre Kronor. Zu Elins Kummer diskutierte sie darüber am liebsten mit Monsieur Tervué. Seltsamerweise bestand zwischen ihr und der Königin seit dem Gespräch über Henri immer noch eine unterschwellige Spannung, die sich Elin nicht erklären konnte. Bisher hatte Kristina nichts über Kester Levens Papiere in Erfahrung bringen können und vertröstete sie stets aufs Neue.

Es war Anfang September, als Henri zum ersten Mal wieder das Schloss betreten durfte und zu den Jagden eingeladen wurde. Elin und Henri achteten darauf, sich ihre Vertrautheit nicht anmerken zu lassen, und verfielen in ihre alte Gewohnheit, sich spöttische Sätze zuzuwerfen. Es war erstaunlich einfach und Elin erkannte mit Verwunderung, wie haarfein die Linie zwischen Liebe und Hass war. So mühelos beherrschte Henri es, in die Rolle von Monsieur de Vaincourt zu wechseln, dass es Elin manchmal nicht geheuer war. Nur Freinsheim lächelte wissend, wenn sie in der Bibliothek Schach spielten, und gab vor, nicht zu bemerken, wie sich verstohlen ihre Hände berührten, wenn eine der Spielfiguren zu Boden fiel. Tervué beobachtete Elin in diesen Wochen ebenso genau wie Lovisa. Elin wusste, dass sie mit dem Feuer spielte, und immer wieder sagte ihr eine gemeine Stimme, die der von Kristina erschreckend ähnlich war, dass ein Graf, mochte er auch ein Armer unter den Reichen sein, niemals eine Reiche unter den Armen lieben konnte.