Der rote Handschuh

 

 

 

Das Jahr 1648 begann mit einem Wintersturm. Man wollte Unglückszeichen am Himmel gesehen haben und berief sich auf die düsteren Prophezeiungen von Sterndeutern. Blass und übernächtigt erschien die Königin morgens um fünf in ihrem Arbeitskabinett und brütete über ihren Dokumenten. Immer noch war keine Nachricht von Adler Salvius eingetroffen. Kristina trieb die Friedensverhandlungen unermüdlich voran. Sie hielt ihr Versprechen und schenkte Elin zum Dank für ihren Dienst eine hübsche Geldkassette aus Ebenholz und dazu zwanzig Riksdaler. Was Elin jedoch weit mehr freute als das Geld, das sie baldmöglichst Emilia schicken wollte, war die Befreiung von ihren Mädchendiensten und der Unterricht, den sie stattdessen erhielt. Jeden Morgen stand sie leise auf und schlich zur Waschschüssel, um die anderen Mädchen nicht zu wecken. Längst wunderten sich die Lakaien und Gardisten nicht mehr, wenn sie Elin vor der königlichen Bibliothek warten sahen. Um halb sechs Uhr morgens begann der Hauslehrer mit dem ersten Unterricht. Manchmal, wenn die Arbeit ihr eine Pause bot, kam sogar Kristina mitten am Tag in die Bibliothek, lauschte Elins Lektionen oder wies den Lehrer zurecht. Nach und nach entschlüsselte Elin das Mysterium der Schrift. Die Bücher verwandelten sich in Berge von Wissen, die sie allerdings nur mühsam Buchstabe für Buchstabe erklimmen konnte.

In ihren Träumen wurde Elin von dem Mann mit dem Federhut heimgesucht und aus dem Schlaf geschreckt. In diesen Stunden lauschte sie dem pfeifenden Atmen der anderen Mädchen und wagte nicht, zum Fenster zu gehen. Längst waren die Wunden an ihren Händen verheilt, doch der Gedanke an den Mann, der immer noch nicht gefunden worden war, jagte ihr Angst ein. Möglicherweise lebte er am Hof und stand in den Diensten eines Adligen. Verstohlen begann Elin damit, die Menschen im Schloss besonders aufmerksam zu beobachten. Oxenstierna mit seiner ruhigen Art und seinem brütenden Groll erschien ihr ebenso verdächtig wie die anderen Mitglieder des Rats mit Ausnahme von Magnus und dem Reichsadmiral Karl Karlsson Gyllenhielm, die der Partei der Königstreuen angehörten.

Wenn die Königin im großen Audienzsaal Vertreter der Stände empfing, stand Elin neben der Tür in der Nähe der Gardisten und ließ ihren Blick über die Gesichter wandern. Unter dem gewaltigen Thronhimmel am Ende des Raums sah Kristina winzig aus, ihre Stimme aber war laut und bestimmt. Elin staunte über die Fähigkeit der Königin, auf alle Fragen mit dem gleichen Ernst einzugehen, die Bauern zu besänftigen, die Bürger zu ermutigen, die Adligen nicht zu verärgern und ihnen dennoch keine Zusagen zu machen. Als eine ganze Delegation von Geistlichen und Adligen erschien und sich lauthals darüber beschwerte, dass der französische Botschafter im Keller seines Hauses katholische Messen abhalten ließ, die auch die anderen Ausländer aus der Stadt besuchten, schaffte Kristina es, die Situation nicht eskalieren zu lassen, sondern alle Parteien zu besänftigen. Weniger Glück hatte sie bei der Verleumdungskampagne gegen Adler Salvius, der von den Adligen als gewinnsüchtiger Bauernsohn geschmäht wurde. Als Kristina in einer Ratssitzung bemerkte, Salvius würde im Reichsrat gute Dienste leisten, bekam der sonst so ruhige Oxenstierna einen Wutanfall, der bis vor die Türen des Versammlungssaals zu hören war. Nach solchen Sitzungen zog sich die Königin erschöpft in die Bibliothek zurück und las schweigend in einem Buch, während Herr Freinsheim Elin unterrichtete.

Herr Freinsheim war der liebenswürdigste Herr, den Elin je kennen gelernt hatte. Der protestantische Bibliothekar hatte eine angenehm ruhige Stimme. Ursprünglich stammte er aus Ulm und hatte lange an der Universität in Uppsala unterrichtet. Sein Humor war nicht so scharf und spottend wie der von Kristina. In seiner Gegenwart lernte Elin, wie schnell die Zeit verfliegen konnte.

Für die französischen Gäste dagegen wurde die Zeit am Hof immer länger. Der Winter begann sie zu zermürben. Die Kavaliere verlegten sich darauf, im Schloss Scherze zu treiben oder Streit anzuzetteln. Elin hatte rasch gelernt, ihnen aus dem Weg zu gehen. Inzwischen kannte sie das Schloss so gut, dass sie innerhalb von Sekunden unsichtbar werden konnte. Nur während ihrer Reitstunden sah sie Henri ab und zu aus dem Fenster schauen, aber sie hatte beschlossen, ihn zu ignorieren, was ihr nach einer Weile auch gut gelang. Spelaren tanzte inzwischen unter ihr wie eine gespannte Bogensehne und Lars nahm sie zu Ausritten an die Ufer des Mälarsees mit.

Schnee stob, wenn das schwere Pferd in großen Sprüngen hinter dem viel schnelleren Ross des Reitlehrers hergaloppierte.

»Nicht übel, Scheuerfräulein«, sagte Lars eines Tages nach der Reitstunde. »Wenn du Glück hast, nimmt die Königin dich nächste Woche auf die Schlittenjagd mit.«

Elin strahlte und klopfte Spelarens Hals.

»Darf ich dann Enhörning reiten? Nur für diesen einen Tag! Dann muss ich nicht hinter den anderen herhinken.«

»Gib es endlich auf«, murrte er. »Wie oft soll ich es dir noch sagen: Enhörning bekommst du in tausend kalten Wintern nicht. Er erscheint sanft wie ein Lämmchen, aber wenn er freies Land sieht, verwandelt er sich in ein Schlachtross.« Elin kannte den gereizten Tonfall ihres Reitlehrers nur zu gut, um noch weiter auf ihrem Wunsch zu beharren.

Mit glühenden Wangen kehrte sie in die Bibliothek zurück, wo Freinsheim sie schon erwartete. Der Lehrer schüttelte lächelnd den Kopf und zog ein langes Pferdehaar von ihrem Ärmel.

»Du bist spät«, sagte er mit sachtem Tadel. Atemlos entschuldigte sich Elin und nahm am Tisch Platz. Zu ihrer Überraschung klatschte Freinsheim zweimal in die Hände und hob die Stimme.

»Und Sie, Monsieur Henri, werden bestimmt bereits im Palast Makalös erwartet.«

Elin fuhr herum und erstarrte. Henri de Vaincourt wandte nur zögernd den Blick von einer Sternkarte, die er eingehend betrachtet hatte, und lächelte Freinsheim verlegen an. Er war so versunken darin gewesen, die Planeten und Sterne zu studieren, dass er sich jetzt offenbar nur langsam daran erinnerte, wo er sich befand. Elin irritierte sein Anblick die Person, die sie hier sah, war kein hochmütiger Edelmann, sondern ein junger Mann mit traurigen Augen.

»Sicher, Monsieur Freinsheim«, entgegnete er mit sanfter Stimme. Dann wandte er sich Elin zu. »Sieh an. Die Küchenkönigin lernt in den Buchstaben herumzurühren.«

Von einer Sekunde auf die andere schoss Elin das Blut in die Wangen. Sie widerstand der Versuchung, das Tintenfass zu nehmen und es Henri ins Gesicht zu werfen.

»Wenn ich die Buchstaben nur halb so gut beherrsche wie andere Leute ihr Pferd, dann bin ich wirklich eine Königin«, entgegnete sie. »Die Königin der Schriften.«

Henris Lächeln verschwand. Sie freute sich, dass sie ihn mit ihrer Bemerkung getroffen hatte.

»Interessant, dass Sie es ansprechen, Mademoiselle«, sagte Henri. »Ich hörte, Sie begleiten uns mit Ihrem altersschwachen Wallach zum Schlittenturnier. Es wird Ihnen sicher ein Vergnügen sein, den Schweif meines Pferdes zu bewundern vorausgesetzt, Sie erkennen ihn auf die große Entfernung.«

Sein Lächeln flammte wieder auf, als er ihr empörtes Gesicht sah. Nun, so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben.

»Das letzte Mal sah ich nicht nur den Schweif Ihres Pferdes, sondern darunter auch Ihr Gesicht. Eine eigenwillige Methode, Schnee zu essen.« Freinsheim legte seine Hand auf Elins Schulter.

»Genug jetzt«, sagte er freundlich. »Auch Feindschaften wollen behutsam gepflegt sein. Wollen Sie sich nicht die Hände reichen und Ihre Differenzen lieber auf einem Schachbrett austragen?«

»Feindschaft, Monsieur Freinsheim?«, erwiderte Henri. »Eine Küchenmagd kann nicht mein Feind sein. Auch dann nicht, wenn sie wie ein Äffchen Kunststücke wie das Lesen und das Reiten lernt.«

Er verbeugte sich und ging mit raschen Schritten aus dem Saal.

»Nein, nein, nein, Elin«, sagte der Bibliothekar. »Bücher sind zwar Waffen, aber dennoch nicht zum Werfen da.« Sacht wand er ihr das Buch, das sie fest umklammert hatte, aus der Hand.

»Den Globus sollte man ihm an den Kopf werfen. Was bildet der sich ein!«, erboste sich Elin. »Er ist so eitel! Und widerlich, arrogant und …«

»… vor allem noch sehr jung. Er hat es nicht leicht, glaube mir.«

»Was hat er denn schon für Sorgen? Ob er einen Goldknopf mehr oder weniger am Wams hat?«

Freinsheim lächelte wohlwollend.

»Nimm die jungen Männer nicht zu ernst, Elin. Sie sind viel zu stolz und dazu hitzköpfig wie junge Pferde und du bist auch nicht viel besser.«

»Immer noch besser als er!«

Der Bibliothekar runzelte die Stirn.

»Keine Adlige zu sein, heißt nicht, ein besserer Mensch zu sein«, wies er sie ernst zurecht. Elin machte den Mund zu und schwieg. Verbissener denn je vertiefte sie sich an diesem Tag in das Studium der Buchstaben, die sich anstellten wie eine Schafherde, die auseinander stob, sobald Elin sie zu fangen versuchte. Selbst nachdem Freinsheim gegangen war, blieb sie noch mehrere Stunden über ihren Büchern sitzen. Jedes Mal, wenn sie zur Kerze blickte, schien jemand ein großes Stück davon abgeschnitten zu haben. Schließlich, als ihre Augen schon brannten, griff sie zum Federkiel und nahm ein Stück Pergament. Behutsam tunkte sie den angespitzten Kiel in die Tinte, setzte die Spitze auf das Blatt und schrieb.

Liebe Emilia,

Das Schreiben wollte auch nach den Wochen der Übung nicht so recht gelingen. Ihr Federkiel spreizte sich unter dem Druck ihrer ungelenken Schreibhand.

Ich hoffe, Dein Herz schmerzt nicht mehr.

Mir

Erschöpft hielt sie inne und blickte zweifelnd ihr Gekritzel an. Es sah aus, als wäre eine betrunkene Spinne erst in die Tinte gefallen und dann über das Blatt gehumpelt. Wie gerne hätte sie Emilia all das geschrieben, was ihr auf dem Herzen lag tausend Momente, Ereignisse, Gespräche, tausend Zweifel und Sorgen, die sie nachts nicht schlafen ließen. Stattdessen setzte sie den Kiel wieder an und beendete das Schreiben: geht es gut.

Der Raum schwankte, die schattigen Gespenster feixten im zitternden Kerzenlicht. Elin rieb sich die Augen und starrte auf die Landkarte der neuen Welt, die an der Wand hing. Da waren sie die Americas, die Africas, das Kap der Stürme und Terra Australis. Länder und Kontinente, die sie nie sehen würde. Müde stand Elin auf und schlich aus der Bibliothek.

In der Nähe der königlichen Gemächer blieb sie verwundert stehen. Ihre Nase kitzelte. Es roch nach verbranntem Holz? Sie lief die Treppe hinauf und erschrak. Rauch quoll unter einer Türritze hervor. So schnell, dass sie beinahe gestürzt wäre, rannte Elin die Treppe wieder hinunter und hämmerte an die Türen der Gemächer.

Wenig später war das Schloss in heller Aufruhr. Lakaien, Gardisten und Reitknechte wimmelten durcheinander. Aus Küchen und Ställen wurden Eimer herbeigeschafft. Die Küchenmädchen wurden aus dem Schlaf gerissen und kamen herbeigerannt, um beim Löschen zu helfen. In dem Chaos dauerte es eine ganze Weile, bis man eine Löschkolonne gebildet hatte, die sich lückenlos bis zum Brunnen erstreckte. Eimer um Eimer wurde hochgeholt. Inzwischen schlugen die Flammen aus mehreren Räumen im Verwaltungstrakt und den Gemächern der Königin. Elin stand mitten auf der Treppe. Ihre Arme waren längst lahm. Es war sicher schon der fünfzigste Eimer, den sie weiterreichte. Zu ihrer Erleichterung entdeckte sie am Fuße der Treppe Kristina unversehrt, immer noch in ihrer Tageskleidung. »Lasst die verdammten Wandteppiche!«, schrie sie mit rauer Stimme. »Rettet die Akten!«

»Geben Sie her, Mademoiselle!« Der volle Eimer wurde Elin aus der Hand gerissen. Erst als der junge Mann im Studentenrock ihr flüchtig zulächelte, wusste sie, woher sie seine Stimme kannte. Es schien Jahre her zu sein, dass sie in Uppsala Schnee für die Küche geholt hatte.

»Hampus? Was machst du denn hier?«

Irritiert runzelte er die Stirn. Elin wurde klar, dass er sie mit ihrem rußverschmierten Gesicht nicht erkennen konnte.

»Arbeiten. Und studieren. Mademoiselle, der Eimer!«

Erst gegen Morgen war der Brand gelöscht. Zurück blieben Haufen von versengten, durchnässten Teppichen und verkohlten Tischen und Stühlen. Jeder, der mit anfassen konnte, half dabei, die Trümmer in den Hof zu schleppen. Die wenigen Gardinen, die durch das Löschwasser vom Feuer verschont geblieben waren, hingen starr gefroren in den verwaisten Räumen.

»Auch hier sind keine Akten beschädigt worden«, stellte Ebba Sparre fest. Ihre Hände waren schwarz von Ruß. An der Stelle, an der sie sich eine Locke hinter das Ohr gestrichen hatte, prangte ein dunkler Streifen wie eine kunstvolle Verzierung. »Ich wusste es«, flüsterte sie immer wieder. »Die Gespenster haben das Unglück angekündigt.«

»Dann kannst du jetzt ja wieder ruhig schlafen«, sagte die Königin. »Das Unglück ist passiert.« Obwohl sie beherzt klang, sprach ihr Körper eine andere Sprache. Mehrmals fielen ihr Gegenstände aus den Händen und als Elin herbeisprang, um sie aufzuheben, scheuchte die Königin sie unwillig weg. »Belle, sei so gut und hole ein paar Diener«, wandte sie sich schließlich an Ebba. »Sie sollen zusehen, dass der Kamin wieder in Gang kommt, bevor uns die Wände durchfrieren.« Kaum hatte die Hofdame den Raum verlassen, wurde Kristina aschfahl und schwankte. Elin konnte sie gerade noch stützen.

»Hast du die Fenster gesehen, Mädchen?«, flüsterte sie. Elin nickte.

»Sie waren alle weit geöffnet. Jemand wollte das Feuer nähren.« Kristina lächelte matt und stützte sich schwer auf das verkohlte Fensterbrett. »Beneidest du mich immer noch um mein Los als Königskind?«

»Wer will Sie töten?«

»Wer will es nicht? Meine eigenen Adligen, die um ihre Lehen und Privilegien fürchten und das Königtum am liebsten abschaffen würden? Oder vielleicht Geistliche, die nicht dulden, dass Katholiken an meinem Hof sind? Bürger oder Bauern? Möglicherweise war es sogar ein Agent der polnischen Wasa, die nur darauf lauern, dass Schwedens Thron verwaist ist. Dann könnten sie ihre eigenen Erbansprüche geltend machen.«

»Der Thron ist nicht verwaist«, sagte Elin. »Sie leben.«

»Fragt sich nur, wie lange noch«, erwiderte die Königin in ihrer trockenen, harschen Art. Nachdenklich starrte Elin auf das verschmierte Fensterglas. Erst jetzt erkannte sie, dass sich ein Handabdruck darauf abzeichnete der Ruß machte die Fingerspuren sichtbar.

»Bauern waren es sicher nicht«, sagte sie leise. »Der Mann vor Jüterbocks Haus war besser gekleidet.« Kristina musste nah herangehen, um mit ihren kurzsichtigen Augen die Fingerabdrücke zu erkennen, auf die Elin deutete.

»Als ich ihn sah, hielt er den kleinen Finger betont abgespreizt«, erklärte Elin. »Und ich habe beobachtet, dass ein Mensch, der auf eine Wand schreibt, seine Hand auf Augenhöhe hält. Wenn der Attentäter beim Öffnen des Fensters ebenso gehandelt hat, würde auch die Größe passen.«

 

Nach dem Brandanschlag wurde die Königin krank und litt an Schüttelfrost und Fieber. Fräulein Ebba wachte an ihrem Bett, um ihr die Stirn abzuwischen, wenn die Fieberträume sie unruhig schlafen ließen. Gerüchte trieben durch das Schloss. Die Königin liege im Sterben, hieß es. Als Kristinas Kammerdiener Johan Holm erschien und Elin zur Königin bat, war sie überzeugt davon, dass es zu Ende ging. Da ihre Privatgemächer ausgebrannt waren, hatte man die Königin in einem anderen Flügel des Schlosses untergebracht. Elin erwartete, eine Atmosphäre behutsamer Stille vorzufinden, stattdessen erklang von weitem eine laute Stimme. Mit betretenem Gesicht blieb Holm stehen und bat Elin mit einer höflichen Geste, sich zu gedulden. Die Gardisten lauschten gespannt.

»Nie werde ich meine Unterschrift unter diesen Beschluss setzen!«, donnerte die Stimme des Kanzlers Oxenstierna. »Solange ich lebe, werden die Reichsräte und der Reichstag ihn nicht als Thronerben anerkennen!«

»Karl Gustav ist die beste Wahl!«, gab die Königin zurück. Das klang nicht wie die Stimme einer schwachen Kranken.

»Es war schwer genug, den Rat davon zu überzeugen, dass dieser Pfalzgrafensohn Ihr Gemahl werden soll«, rief der Kanzler. »Dann allerdings sagten Sie, Sie würden keinen Mann unter Ihrem Stand heiraten, also soll Karl Gustav nun zum Oberbefehlshaber der schwedischen Truppen in Deutschland ernannt werden. Sogar dieser Wunsch wurde vom Rat respektiert. Aber Karl Gustav will nicht nach Deutschland. Er will Sie endlich heiraten!«

»Eine tote Braut nützt weder ihm noch Schweden«, erwiderte Kristina. »Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Erst das Attentat in der Kirche vor einigen Monaten nun der Brandanschlag. Begreifen Sie denn nicht, dass Schweden für den Fall meines Todes einen Nachfolger braucht?«

Oxenstierna senkte die Stimme.

»Einen Erben braucht Schweden.«

»Nicht von mir!«, schrie Kristina. »Niemals werde ich heiraten! Nie!«

In der Pause, die entstand, kam es Elin so vor, als würde die Zeit stehen bleiben.

»Nun, Kristina«, sagte der Kanzler schließlich. »Sie sind jung. Das Privileg der Jugend ist es, dass sie sprunghaft sein darf und ihre Meinungen immer wieder ändern kann.«

Elin überraschte der väterliche Tonfall des Kanzlers. Ein Scharren war zu hören und sie drückte sich in die Ecke. Mit großen Schritten verließ der Kanzler das Gemach der Königin. Wie immer trug er seine schwarzen Gewänder und den weißen Männerkragen. Aus seinen Bewegungen sprach Resignation. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie alt doch der eiserne Kanzler war.

Wenig später winkte ihr der Kammerdiener, in das Schlafzimmer der Königin zu kommen. Dort lag Kristina in einem riesigen Bett. Auf den Bettvorhängen waren in regelmäßigen Abständen goldene Kronen aufgestickt. Die Königin war blass, schwarze Schatten lagen unter ihren Augen. Ihre Nase ragte wie ein Habichtschnabel aus ihrem Gesicht. Sobald sie Elin sah, setzte sie sich auf und schickte mit einem Wink den Kammerdiener weg.

»Elin. Was machst du nur für ein Gesicht! Komm her und gib mir deine Hand!« Alle Kraft war aus ihrer Stimme gewichen. Elin umfasste die kalte, feuchte Hand.

»Ich habe ein Geschenk für dich«, flüsterte Kristina. »Du findest es auf dem Tisch.« Elin drehte sich um und entdeckte ein schmales Buch. »Trost der Philosophie«, las sie auf dem Titel. Behutsam zog Kristina Elin zu sich hinunter, bis sie ihr ins Ohr flüstern konnte.

»Schlag es auf und suche zwei verbundene Seiten! Zwischen ihnen findest du einen Brief. Hebe ihn auf und verstecke ihn gut und wenn ich sterben sollte, dann bringe ihn unverzüglich zu Karl Gustav. Hörst du? Zu keinem anderen!«

»Sie werden nicht sterben!«

Die Königin lächelte schwach.

»Ich habe es nicht vor, aber man muss stets für alle Fälle gerüstet sein.«

»Sie müssen den Mann finden, der Ihre Gemächer in Brand gesteckt hat.«

Kristinas Lachen ging in ein Husten über.

»Natürlich suchen wir ihn. Aber soll ich alle Männer, die einen Federhut tragen, verhaften lassen?«

»Nein«, antwortete Elin. »Aber er wird sich dort aufhalten, wo er glaubt, dass Sie sind.«

Kristina zog die Brauen zusammen.

»Ich höre«, sagte sie leise.

»Inzwischen weiß jeder im Schloss, dass in wenigen Tagen das Schlittenturnier für die Damen stattfindet und dass die Kavaliere am Mälarsee zur Jagd gehen werden. Lars sagte mir, Sie reiten immer auf der Jagd mit.«

»Diesmal nicht. Magnus und Karl Gustav werden meine Gäste begleiten.«

»Vielleicht wäre es klug, wenn Sie verlautbaren ließen, dass Sie doch an der Jagd teilnehmen. Dann könnte ich Ausschau nach ihm halten.«

»Wer sagt, dass du an der Jagd teilnehmen darfst!«, fuhr Kristina sie an. »Du kannst noch nicht gleichzeitig auf dein Pferd und auf die anderen Reiter achten. Wozu habe ich Gardisten und Vertraute?«

»Aber ich bin die Einzige, die dem Mann schon einmal begegnet ist. Auch wenn ich sein Gesicht nicht gesehen habe, würde ich ihn erkennen da bin ich ganz sicher!«

»Meine Soldaten sind durchaus in der Lage, verdächtige Personen zu erkennen. Dazu brauche ich verdammt noch mal kein kleines Mädchen.«

»Aber …«

»Kein Aber! Du bleibst im Schloss.« Elin drängte die Tränen der Enttäuschung zurück. Die Königin schloss die Augen. Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet. Sie entzog Elin ihre Hand und krümmte sich zusammen.

»Sag meinem Diener, er soll Doktor van Wullen holen«, sagte sie nach einer Weile leise.

Der Leibarzt der Königin, der gleich darauf erschien, trug eine Perücke, die ihm bis über die Schultern fiel. Unter dem Arm hielt er einen lederbespannten rechteckigen Kasten. Mit schnellem Schritt ging er zum Bett der Königin und beugte sich über sie. Elin blieb neben der Tür stehen, das Buch mit dem kostbaren Brief an sich gepresst. Mit einem Murmeln antwortete die Königin dem Leibarzt auf seine Fragen.

»Schmerzen«, flüsterte sie. »Hier.« Van Wullen nickte.

»Wie immer das linke Hypochondrium«, sagte er streng. »Sie leiden an zu viel gelber Galle, die sich mit schwarzer Galle vermengt. Ihr Magen ist geschädigt. Und wenn ich mich nicht irre, sehe ich auch schon die Ursache, Majestät.« Mit diesen Worten beugte er sich über das Tischchen neben Kristinas Bett und hob einen weißen Krug hoch. Angewidert roch er daran und schüttelte den Kopf.

»Schon wieder Wasser, Majestät. Ich sagte Ihnen bereits, dass es Ihr Blut verdirbt. Mit ihm dringen schädliche Stoffe in Ihren Körper und verunreinigen die Körpersäfte. Haben Sie denn nicht den gepfefferten Branntwein getrunken, den ich Ihnen bringen ließ?«

Die Königin schüttelte den Kopf. Jetzt wurde van Wullen ernsthaft wütend. Mit einer akkuraten Bewegung klappte er den kleinen Kasten auf. Schimmernde Zangen, Nadeln und Skalpelle kamen zum Vorschein. Van Wullen suchte das Aderlassbesteck heraus.

»Das schlechte Blut muss abfließen.«

Von einem weiteren Tisch holte er eine Schüssel und entnahm dem Kästchen ein Lederband, das er der Königin um den Oberarm schlang. Behutsam schob er die Schüssel unter den Ellenbogen. Schlaff hing Kristinas Arm über den Bettrand nach unten. Mit einem routinierten Griff ertastete der Arzt eine Stelle in der Armbeuge. Die Lider der Königin zuckten nicht einmal, als das Skalpell in ihre Haut fuhr. Blut begann zu fließen und sammelte sich in der Schale.

»Sie sollten keinen Besuch mehr empfangen«, sagte der Arzt. »Es strengt Sie zu sehr an. Auch so wird es lange dauern, bis Sie sich erholt haben.«

»Sie irren sich«, antwortete Kristina mit geschlossenen Augen. »Ich werde an der Jagd teilnehmen!«

Im Innenhof des Schlosses ging es zu wie auf einem Marktplatz. Mit offenem Mund betrachtete Elin den prachtvollen Schlitten der Familie Oxenstierna. Der Reichskanzler und sein Vetter, der Schatzkanzler Gabriel Oxenstierna, waren in altehrwürdigem Ornat erschienen und boten ihren Damen die Plätze in zwei mit rotem Leder bespannten Schlitten an. Adelsherren aus dem Reichsrat waren mit ihren Töchtern und Frauen ebenso vertreten wie deren Söhne auf Streitrössern, die nicht minder jung und aufbrausend waren wie ihre Herren.

Die halbe Nacht lang war Elin immer und immer wieder ihren Plan durchgegangen, doch immer noch schnürte die Angst ihr die Kehle zu. Der Reitmantel einer Hofdame, den sie ohne Lovisas Erlaubnis aus einer der Kleidertruhen entwendet hatte, zog schwer an ihren Schultern. Hoffentlich hatte sie an alles gedacht! Freinsheim glaubte, sie müsse Lovisa helfen, Lovisa hatte sie gesagt, sie sei in der Bibliothek, und Fräulein Ebba, die heute bei der Königin blieb, hatte sie weisgemacht, sie halte sich bei Helga auf. Und Helga würde sagen, Elin sei morgens in der Küche gewesen, wenn jemand fragen würde. Jetzt durfte nur Lars sie nicht entdecken! Verstohlen zog Elin den Hut tiefer in die Stirn. Ihr helles Haar war gut verborgen, ein Tuch aus dunkler Seide ließ es noch weniger auffallen.

Hufgeklapper brach sich an den hohen Wänden. Endlich entdeckte sie einen von den Reitknechten und winkte ihn heran.

»Wo bleibt das Pferd?«, rief sie ihm zu. »Die Königin wartet!«

Der Bursche erschrak. »Die Königin? Aber reitet sie denn nicht ihren Ardenner?«

Elin musste sich überwinden, ihrer Stimme einen scharfen Klang zu geben.

»Seht ihr ihn hier irgendwo? Nein, sie hat Graf Magnus ausdrücklich um Enhörning gebeten. Also?«

Würdevoll richtete sie sich auf. Der Reitknecht runzelte die Stirn. »Gut«, sprach sie in gereiztem Ton. »Nenne mir deinen Namen, damit ich weiß, was ich Reitmeister Lars Melkebron sage, wenn er fragt, warum er Enhörning persönlich satteln muss.«

Es war beinahe zum Lachen, wie gut ihre Täuschung funktionierte. Der Bedienstete wurde knallrot.

»Ich hole das Pferd«, stammelte er.

»Beeile dich!«, rief sie ihm hinterher. »Und nimm den Männersattel!«

Rasch trat sie in den Schatten eines Arkadengangs zurück und wartete. Ihr Mund war trocken vor Aufregung, aber sie erwiderte das Lächeln eines jungen Adligen, der sie wohlwollend musterte. Gleich darauf warf sie ihm einen zweiten verstohlenen Blick zu. Nein, er war sicher nicht der Mann mit dem Federhut. Wenn nur niemand sie erkannte, bis sie das Schloss verlassen hatte! Um sich die Zeit zu vertreiben, betrachtete sie die Schlitten. Über vierzig waren es schmale, bunt bemalte Holzschlitten, vor die je ein Pferd gespannt war. In den meisten Gefährten fand nur eine Person Platz. Hölzerne Meerespferde, aber auch geschnitzte Schwäne, Meerjungfrauen und Hirsche schmückten die Schlitten. An den Seiten waren die Wappen der schwedischen Adelshäuser aufgemalt. Die Gesellschaft, die sich im Hof versammelt hatte, war nicht weniger bunt. Graf Per Brahe, der Hofmarschall, hatte ein weißes Pferd vor seinen Schlitten gespannt und trug passend dazu einen mit weißem Pelz verbrämten Mantel. Zobelpelz und Fuchsfell glänzten im Fackelschein. Endlich wurden auch die Reitpferde der Damen in den Hof geführt. Es waren nicht viele Damen, die reitend an der Jagd teilnehmen würden. Elin zerknüllte vor Aufregung ihre Handschuhe. Endlich da war ihr Pferd! Enhörning reckte den Hals und spitzte die Ohren. Der Reitknecht, der ihn führte, war völlig außer Atem. Im vorderen Teil des Hofes knallten die ersten Peitschen, Schlitten setzten sich in Bewegung. Als der Festzug den Hof verließ und zum Westtor fuhr, erhoben sich hinter den Fensterscheiben unzählige Arme und winkten dem Tross hinterher. Elin eilte zu dem Reitknecht und griff nach Enhörnings Zügeln.

»Aber wo ist ich dachte, die Königin?«, stammelte der Bedienstete.

»Sie ist eben zu Herrn Brahes Schlitten gegangen«, zischte Elin ihm zu. »Vorher sagte sie noch etwas wie: Wenn ich den Burschen erwische, der mein Pferd nicht bereitgestellt hat, werde ich seinen Kopf über dem Südtor aufspießen lassen. Ich führe das Pferd zu ihr oder willst du, dass sie dich sieht und weiß, wer für die Verspätung verantwortlich ist?«

Der Junge überließ ihr die Zügel, als hätte er sich daran verbrannt. Elin spürte seinen verängstigten Blick noch, als sie den Hof schon halb überquert hatte. Enhörning folgte brav dem Zug des Zügels, bis sie ihn an der Arkadentreppe zum Stehen brachte. Sie musste drei Stufen hochsteigen, um den Steigbügel zu erreichen. Das Pferd trappelte auf der Stelle. Elin erschrak, doch dann nahm sie allen Mut zusammen, fasste die Zügel und stieg auf.

 

In den Werkstätten, an denen sie vorüberritten, brannten Kerzen, die die Finsternis des Morgens vertreiben sollten. Enhörning bewegte sich geschmeidig wie eine Katze. Überrascht stellte Elin fest, dass das Streitross viel leichter zu reiten war als der plumpe Spelaren. Ihre Sicherheit wuchs und sie holte in federndem Trab zu dem Tross auf. An jedem Fenster erschienen Gesichter und bestaunten das Schauspiel auf der Straße. Kinder folgten dem Konvoi und kreischten begeistert, zwischen den Beinen Stöcke oder Besen, die in ihrer Vorstellung zu feurigen Reittieren wurden. »Die da die reitet wie ein Mann!«, rief ein kleiner Junge. Elin winkte dem Kind zu und lächelte.

Zahlreiche Hufspuren am Ufer des Mälarsees zeigten, wo vor einigen Stunden die Diener bereits vorausgeritten waren, um den Turnierplatz herzurichten. Fackeln und Laternen erhellten den Teil des Sees, auf den sie nun abbogen. Weit hinaus ging es, mitten auf die Eisfläche. Das kratzende Geräusch der Kufen würde die Barsche und Hechte aufschrecken, die tief unten im Schlamm schliefen. Elin fröstelte es bei der Vorstellung, samt ihrem Pferd im eisigen Wasser zu versinken. Wie Irrlichter vergessener Seelen leuchteten die Fackeln und tauchten den Turnierplatz in diffuses Licht.

Diener hatten bereits Ringe an Stangen aufgehängt, die es in vollem Galopp vom Schlitten aus mit Lanzen herunterzuhangeln galt. Elin ritt an jedem Schlitten vorbei, musterte den Kutscher, die Adligen, betrachtete jeden Handschuh, jeden Mann, der ihr von der Statur her bekannt vorkam. Sie erntete viele erstaunte Blicke und hörte Damen tuscheln einen Verdächtigen fand sie jedoch nicht. Schließlich wandte sie sich von den Schlitten ab und sah sich nach der Jagdgesellschaft um. Enhörning riss den Kopf hoch, als hätte er ihren Schreck gespürt.

Henri de Vaincourt saß auf einem weißen Koloss von einem Pferd, dessen Brust so breit wie eine Truhe war. Elin zwang sich zu einem freundlichen Gruß. Henris Blick glitt fassungslos über Enhörning.

Das Lächeln, das Henris Vater ihr schenkte, glich einem Zähnefletschen. Heute hatte der alte Mann nichts Feines an sich er sah aus wie ein Haudegen auf dem Schlachtfeld.

»Ah, Mademoiselle! Wie ich sehe, begleiten Sie uns heute auf dem Ausritt in die Wälder, statt an den Spielen teilzunehmen?«

Enhörning spürte ihre Nervosität und begann zu tänzeln.

»Schlittenfahrten sind nichts für mich«, erwiderte Elin.

»Ich bezweifle, dass Streitrösser eine bessere Wahl sind«, gab der Marquis zurück. Er warf seinem Sohn einen stechenden Blick zu. Elin fasste die Zügel fester und rang sich ein nervöses Lächeln ab. Ein Horn erscholl, die Reiter verabschiedeten sich von der Schlittengesellschaft und sammelten sich am Ufer des Sees. Vogelflinten wurden geprüft. Elin lenkte Enhörning zu der Gruppe. Ihre Sinne waren bis aufs Äußerste gespannt. Drei weitere Frauen im Damensattel fanden sich ein und schüttelten die Köpfe über Elins Sattel.

»Wie kommt es, dass mein Sohn nicht mit einem Pferd fertig wird, das sogar eine Bauernmagd reiten kann?«, zischte der Marquis dem jungen Grafen zu. »Warum sitzt du heute nicht auf dem Gaul?«

»Wie Sie wissen, Vater, musste ich Mutter versprechen, dieses Pferd nicht mehr zu reiten.«

Die Stimme des alten Vaincourt vibrierte vor Verachtung.

»Memme«, stauchte er seinen Sohn zusammen. »Soldaten fragen nicht nach ihren Müttern, wenn es um Pferde oder Waffen geht. Ein Weib bist du! Nun, das Schlachtfeld wird dich bald lehren, als Feigling zu sterben oder als Mann zu leben.«

Elin schämte sich, Zeuge einer solchen Demütigung zu werden. Irgendwie tat ihr Henri sogar ein wenig Leid. Rasch trieb sie Enhörning an und schloss zu den vorderen Reitern auf. Auch hier war niemand, der dem Mann mit dem Federhut ähnelte. Wieder ertönte das Horn. Die Reiter johlten und gaben das Zeichen zum Galopp. Enhörning legte die Ohren an und schoss davon. Elin hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit, was für große Sätze das Pferd machte. Der Schreck dauerte nur kurz, dann hatte sie mit einem Mal das Gefühl, auf Wolken zu reiten.

Unter ihr flog der Boden dahin. Sie überholte die anderen Reiter, die ihr zuriefen, ihr Pferd zu zügeln. Die Wälder am Mälar trugen Schleier aus Reif die sanfte Morgensonne tauchte sie in märchenhaftes Licht. Elin atmete die Winterluft ein und war glücklich. Erst als unmittelbar hinter ihr regelmäßige Hufschläge erklangen, blickte sie sich um. Es war Henri de Vaincourt.

Verbissen trieb er seinen Schimmel an. Elin drückte Enhörning die Fersen in die Flanken. Der Hengst spannte sich und brach zur Seite aus! Plötzlich verlor sie das Gleichgewicht und wäre beinahe vom Pferderücken gestürzt. Höhnisch winkte ihr der peitschende Schweif von Henris Schimmel zu. Der Graf blickte über die Schulter und grinste. Auf der Stelle vergaß Elin den Mann mit dem Federhut, sie vergaß jede von Lars Lektionen und riss Enhörning herum. Die Wut durchströmte sie so jäh und heftig, dass ihre Wangen heiß zu glühen begannen.

Überrumpelt von ihrem scharfen Befehl legte Enhörning die Ohren an und verwandelte sich in einen Pfeil. In weniger als zehn Atemzügen hatte sie Henri eingeholt. Ihre Blicke trafen sich. Nase an Nase preschten die Pferde in gestrecktem Galopp durch den Schnee. Hinter ihnen gellten warnende Rufe, aber Elin und Henri hatten längst den Pakt geschlossen. Schulter an Schulter ritten sie ein halsbrecherisches Rennen. Nur aus den Augenwinkeln erkannte Elin das Flattern eines Rebhuhns. Ihr Hengst brach so abrupt aus, dass die Zügel schmerzhaft durch ihre Hände ruckten. Das Pferd entglitt ihr wie ein glitschiges Seil.

Einige Sekunden lang hatte sie das Gefühl, dass sie von einem unendlich hohen Turm fallen würde, dann stürmte der Hengst wieder los. Henri verging das siegesgewisse Grinsen, als er das Streitross, das er eben überholt hatte, wieder herandonnern sah. Mit vorgestrecktem Kopf raste Enhörning an dem Schimmel vorbei und riss mit einer beiläufigen Kopfbewegung Elin die Zügel aus der Hand. Sie klammerte sich an der Mähne fest.

»Hol den Zügel!«, rief ihr Henri zu. »Der Zügel, rechts! Er hat sich am Steigbügel verfangen!« Längst konnte Elin nichts mehr sehen. Mühsam ertastete sie den Zügel und nahm ihn auf. Auf einmal bockte Enhörning mitten im Lauf. Ein Schlag warf Elin zur Seite dann dehnte sich die Zeit zur Ewigkeit. Als stünde sie neben sich, sah sie sich aus dem Sattel fliegen. Ein peitschender Schweif streifte ihre Stirn. Dann zuckte nur noch Schmerz durch die Dunkelheit.

 

»Mademoiselle? Mademoiselle!« Die bange, bebende Stimme kam aus weiter Ferne. War sie in der Bibliothek? Nein, an ihrer Lippe klebte bitterer Schnee. Benommen blinzelte sie und blickte in ein verängstigtes Gesicht. Der junge Mann hatte eine fein geformte Nase und eine schön geschwungene Oberlippe. Sein eisiger Atem zerschellte an ihrer Wange. »Das wollte ich nicht!«, flüsterte er ihr zu. »Es tut mir so Leid!« Unendlich behutsam strich ihr eine sanfte Hand über die Wange eine Berührung, die sie lächeln ließ. Erleichterung erhellte das Gesicht. Erst jetzt fiel Elin wieder ein, woher sie den Jungen kannte. Es war Henri. Seltsamerweise fiel ihr kein schnippischer Satz ein und auch die Wut war verschwunden. Henris Reittier stand nicht weit von ihr, der Zügel schleifte im Schnee. Enhörning war fort.

»Es geht schon«, erwiderte sie. Das war gelogen. Ihr linker Arm fühlte sich seltsam taub an. Hufschlag ertönte, dann entsetzte Schreie. Die Schnauze eines Jagdhunds fuhr ihr über die rechte Hand. Sie blinzelte und ließ es zu, dass ihr für einige Sekunden die Wirklichkeit entglitt. Von fern hörte sie scharfe Streitworte, die sie nicht verstand. Als sie wieder mühsam in die Welt des Schnees zurückfand, stellte sie verwundert fest, dass es der alte Vaincourt und Henri waren, die sich gerade stritten.

»Lassen Sie mich in Ruhe, Vater! Gehen Sie zur Seite! Sie sehen doch, dass ich ihr helfen muss!« Mit einer Behutsamkeit, die Elin ihm nie zugetraut hätte, legte Henri den Arm um sie und bettete ihren Kopf an seine Schulter. Sie wollte protestieren, stattdessen rutschte ihr Kopf kraftlos zur Seite. Die Brokatborte kratzte an ihrer Braue. Ein vergoldeter Knopf klickte gegen ihren Eckzahn. Plötzlich hielt Henri abrupt in der Bewegung inne. An ihrer Wange spürte sie, wie schnell sein Herz schlug.

»Was ist?«, flüsterte sie. Langsam zog er die Hand unter ihrer Schulter hervor. Blut bedeckte seine Finger. Ein roter, glänzender Handschuh nur der kleine Finger war nicht in Elins Blut getaucht. Schlagartig wurde ihr übel. Sie musste den Kopf abwenden. Doch das, was sie stattdessen sah, war noch viel schlimmer: Im Schnee lag der zerbrochene Pfeil einer Armbrust. Rasch blickte sie weg und fand Henris Augen. In diesem Moment, der eine Ewigkeit dauerte, machte die Angst sie beide völlig gleich. Sie waren nicht mehr Graf und Scheuermagd, sondern nur Henri und Elin. Doch dann kam der Schmerz und Elin stöhnte auf. Henri schrie nach den Gardisten und zerrte sich den Mantel von den Schultern. Mit flinken Händen ballte er den Stoff zu einem Bündel und drückte ihn gegen die Wunde. »Haben Sie keine Angst, Mademoiselle.« Trotz der tödlichen Kälte, die sich von der Wunde her ausbreitete, klammerte sie sich an der Wirklichkeit fest und versuchte, nicht wieder das Bewusstsein zu verlieren. Ein Gardist beugte sich über sie.

»Der Attentäter!«, flüsterte sie ihm zu. »Sucht den Mörder! Er hat an der rechten Hand nur vier Finger!«

 

Als Elin das nächste Mal die Augen aufschlug, war es nicht mehr Henris Hand, die sie umklammert hielt, sondern Kristinas. Es musste viel Zeit vergangen sein, denn die Königin sah wieder gesund und kräftig aus.

»Wir haben ihn, Elin«, sagte sie leise. »Meine Gardisten haben ihn noch am selben Tag gefunden. Und seinen Auftraggeber auch. Wie wir vermutet haben, war es ein Adliger aus dem Schloss, der mit meiner Politik nicht einverstanden ist zumindest gehörte er weder zum Rat, noch saß er im Reichstag.«

Elin versuchte zu nicken, aber es wollte ihr nicht gelingen. Die verbundene Wunde an ihrem Rücken pochte dumpf.

»Er lag am Rand des Reitwegs auf der Lauer. Du hast Glück gehabt, dass Enhörning dich abgeworfen hat. Sonst hätte dich der Pfeil direkt ins Herz getroffen.« Die Königin musste sich über Elin beugen, um ihr Flüstern zu verstehen.

»Warum hat er auf mich geschossen? Hat er mich wieder erkannt?«

»Nicht dich mich!«, sagte Kristina. »Er wusste, dass die Königin am Ausritt teilnehmen wollte. Dann sah er eine Dame, die im Männersitz auf einem Streitross reitet mit Federhut. Er dachte, du wärest ich. Nun, du siehst, dass Soldaten- und Königskinder oft das gleiche Schicksal teilen.«

Sie lachte verschmitzt und beugte sich noch weiter zu Elin. »Ab heute sind wir Schwestern! Und wer seine königliche Schwester mit dem eigenen Leib schützt, hat natürlich einen Wunsch frei.«

»Den Wunsch hebe ich mir auf, Majestät«, flüsterte Elin.

»Nicht Majestät«, sagte die Königin. »Wenn wir allein sind, bin ich Kristina.« Mit einem Lächeln setzte sie hinzu: »Trotzdem wirst du der Strafe für deinen Ungehorsam nicht entgehen.«

Suchend sah Elin sich um. Seltsam, die Tür nahm sie nur verschwommen wahr.

»Monsieur Henri?«, fragte sie. »Kann ich ihn sehen?«

»Später vielleicht. Er lässt dir Grüße bestellen und wünscht dir gute Genesung.«

Die Wunde entzündete sich. Die Tage wurden zu einer endlosen Abfolge von wirren, schmerzdurchleuchteten Träumen. Die Gesichter an ihrem Bett wechselten wie Tänzer bei einem Menuett: Lovisa, Ebba, Doktor van Wullen und Kristina. Einmal bildete sie sich sogar ein, Madame Joulain und die Gräfin zu sehen. Manchmal, wenn Elin die Augen aufschlug, war es Tag, einen Wimpernschlag später Nacht und die Frau mit dem weißblonden Haar beugte sich über ihr Bett. Die leeren Augen eines Totenkopfs sahen Elin an doch sie war zu schwach, um zu schreien. Sorgsame Hände wischten ihr mit nach Lavendel duftenden Tüchern den Fieberschweiß ab. Immer wieder sah sie Henri den anderen Henri. In ihren Träumen war er nicht hochmütig, sondern strich ihr sanft über die Wange. »Keine Angst, Mademoiselle«, flüsterte er.

»Mademoiselle Schneefee!« Die Stimme gehörte nicht Emilia. Aber Emilia war es, die neben ihr lag, nach Luft schnappend und die Hand auf ihr Herz gelegt. Doch als Elin nach ihrem Arm tastete, um sie zu trösten, fühlte sich ihre Haut kalt und rau wie ein klammes Laken an. Mühsam kämpfte sich Elin ins Bewusstsein zurück und blinzelte benommen ins Tageslicht. Die Gleichgültigkeit, die wie eine Decke aus Ziegelsteinen auf ihr gelastet hatte, war von ihr gewichen. Sie schlug die Augen auf, doch statt Henri, den sie erwartet hatte, saß Hampus an ihrem Bett. Der Student schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Guten Morgen! Du bist es ja doch. Ohne einen Eimer in der Hand hätte ich dich beinahe nicht erkannt. Muss ich jetzt Sie zu dir sagen?«

»Hampus«, flüsterte sie. »Was machst du im Schlafgemach einer Frau?«

»Studieren. Bei Doktor van Wullen. Aber auch wenn er mich nicht an dein Bett gelassen hätte, wäre ich hier meine Tante, Helga, hat mir alles Mögliche angedroht, wenn wir dich nicht wieder gesund machen. Spürst du deinen Arm? Versuche ihn zu heben, geht es?«

Es tat weh, den Arm zu bewegen und der Ellenbogen war steif, aber Elin nickte matt.

»Ich muss aufstehen«, flüsterte sie. »Emilia Sie stirbt! Ich muss …«

»Langsam, Elin. Du musst gar nichts.«

»Hampus du musst mir helfen! Wenn du wieder in Uppsala bist, geh bitte zu Emilia!«

»Ach, du meinst diese finnische Magd mit den roten Haaren? Als ich vor zehn Tagen aus Uppsala abgereist bin, habe ich Sie am Hofbrunnen gesehen. Sie sah nicht so aus, als würde sie bald vor den Herrn treten.« Erleichtert schlief Elin wieder ein.

Es musste Tage später sein, als sie sich das erste Mal aufsetzte. Besorgt beobachtete Fräulein Ebba, wie Lovisa Elin unbarmherzig in eine sitzende Position schob und ihr half, die Beine aus dem Bett zu heben. Kristina stand mit verschränkten Armen neben der Tür.

»Was denn, so schwach?«, spottete sie und lächelte verschmitzt. »Ich habe die Köpfe der Verräter im Schlosshof aufspießen lassen, willst du sie nicht sehen?«

»Regen Sie das Mädchen nicht mit solchen Schauergeschichten auf, Majestät«, tadelte Lovisa die Königin.

»Es wird noch viel schauriger, wenn sie einen Blick aus dem Fenster wagt«, erwiderte Kristina ungerührt. »Aber so wie sie aussieht, schafft sie es nicht einmal bis zum Tisch.«

Elin biss die Zähne zusammen und schaute zum Glasfenster. Draußen schien die Sonne! Auf Lovisa gestützt machte sie einen ersten Schritt und dann noch einen weiteren. Das Zimmer schwankte, aber sie tappte weiter, bis ihre Finger das Fensterbrett berührten. Im nächsten Augenblick war schon Kristina an ihrer Seite und legte den Arm um ihre Taille, damit sie nicht in den Knien einknickte. Ihr Griff war kräftig und bestimmt. Die Berührung tat gut und fühlte sich vertraut und warm an. Sie sahen sich an. Kristina lächelte.

»Sieh nach unten und erschauere vor Furcht«, raunte sie Elin ins Ohr. »Das ist die Strafe für deinen Ungehorsam.« Unten im Schlosshof stand Lars. Ein Lächeln erlaubte er sich bei Elins Anblick natürlich nicht, aber immerhin erwiderte er ihr Winken. Bei der Handbewegung warf Enhörning den Kopf hoch. »Du hast dir das Pferd ohne Erlaubnis aus dem Stall geholt«, sagte Kristina. »Nun reite es gefälligst auch!«