Gespenster

 

 

 

Der Gang war so zugig, dass die Flammen der Kerzen in den bronzenen Wandhalterungen bedrohlich flackerten. Hinter den Fenstern war es noch schwärzeste Nacht. Mit fünf schweigsamen Gestalten wartete Elin vor der mächtigen Flügeltür. Sie wurde von zwei Gardisten bewacht, die genauso müde aussahen wie die Gesellschaft, die sich beim Arbeitskabinett der Königin eingefunden hatte. Drei der Herren mussten Sekretäre sein, denn sie trugen Akten unter dem Arm und hatten Tintenflecken an den Händen. Einer konnte sich ein Gähnen nicht verkneifen und steckte die anderen damit an. Stühle oder Bänke gab es keine. Es war noch nicht einmal fünf Uhr morgens und Elin fragte sich, ob sie hier wohl warten mussten, bis die Königin erwachte. Das würde sicher nicht vor neun oder zehn Uhr geschehen. Verstohlen musterte sie den jüngeren der beiden Gardisten. Er war höchstens fünf Jahre älter als sie und wenn sie nicht hinsah, konnte sie aus den Augenwinkeln erkennen, dass er sie ebenfalls betrachtete. Sie konnte sich vorstellen, was er sah: ein Edelfräulein, hergerichtet wie ein Paradepferd. Unbarmherzig hatte Lovisa heute an ihren Haaren gezerrt, um das Harz zu entfernen. Dann wurde ihr Haar in drei Partien geteilt, am Hinterkopf zu einem flachen Dutt hochgesteckt, den Lovisa als »Chignon« bezeichnete. Rechts und links von der Schläfe fiel Elins Haar nun in gedrehten Locken herab und kitzelte ihre Wangen. Eine Stelle an ihrem Ohr, an der Lovisa sie mit einem heißen Metallstab versengt hatte, war rot und pochte.

Die Gemächer der Königin lagen direkt neben den Verwaltungsräumen. Unten, am Fuß der Treppe, leuchtete wie ein verheißungsvoller Sonnenstrahl das Bild der nackten Schönheiten. Als die Tür endlich geöffnet wurde, war Elin so sehr in den rosenfarbenen Frühlingswald vertieft, dass sie erst gar nicht bemerkte, wie die frierenden Gestalten zum Leben erwachten. Gehorsam nahm sie Aufstellung und folgte den Sekretären durch die Tür.

Das Arbeitskabinett der Königin unterschied sich kaum von dem Raum in Uppsala, nur dass dieser hier größer war und mehreren Schreibern Platz bot. Die Seitentüren, die in weitere Gemächer führten vielleicht sogar direkt in die Privatgemächer der Königin waren geschlossen. Kristina stand in ein Dokument vertieft neben ihrem Schreibtisch und hob kaum den Kopf, als die Eintretenden ihr mit einer tiefen Verbeugung ihre Aufwartung machten. Elin musste zweimal hinsehen, um sich zu überzeugen, wirklich die Königin vor sich zu haben. Sie wirkte noch kleiner, als Elin sie in Erinnerung hatte, und sah aus wie eine nachlässig gekleidete Bürgerin. Ihre Haare waren offensichtlich in großer Hast hochgesteckt worden. Eine goldbraune Strähne hatte sich gelöst und fiel ihr auf die Schulter.

»Ach, das Fräulein Elin ist auch da.« Die Königin schenkte ihr ein Lächeln. »Und aufgezäumt hat man sie ebenfalls. Na, wie gefällt es dir im Kreise meiner Frauen?«

Zehn Augenpaare starrten Elin neugierig an. Beinahe hätte Elin die Frage ebenso unbefangen beantwortet, wie sie ihr gestellt worden war, aber dann fiel ihr ein, was Lovisa ihr eingebläut hatte: Rede vor unserer Königin nicht zu offen und beachte die Gebote der höflichen Konversation.

»Gut, Ihre Majestät«, antwortete sie. Die Königin hatte sich bereits wieder in ihren Brief vertieft. An ihrem rechten Ärmel prangte ein frischer Tintenfleck.

»Aha. Und die Kandare haben sie dir auch schon zwischen die Zähne gezwängt«, stellte sie fest. »Wo ist meine rebellische Scheuermagd geblieben?« Elin erschrak über den Tadel in Kristinas Stimme. »Setz dich dort neben das Fenster«, befahl die Königin barsch. »Ich werde mich später mit dir befassen.« Elin knickste mit hochrotem Kopf und ging, von den Höflingen misstrauisch beäugt, zu einem geschnitzten Stuhl mit einer durchgesessenen Sitzfläche. Dort verbrachte sie die Zeit damit, der Königin dabei zuzusehen, wie sie ihren Sekretären Briefe diktierte und mit gerunzelter Stirn Akten und einzelne Schriftstücke studierte. Es ging um die Friedensverhandlungen in Deutschland, konnte Elin heraushören. Osnabrück und Münster spielten eine wichtige Rolle. Elin nutzte die Zeit, um sich die Königin genau anzusehen. Um die Akten zu lesen, beugte sich Kristina tief über das Papier und kniff die Augen zusammen so als würde sie auf die Ferne nicht gut sehen. In den wenigen Augenblicken, in denen sie saß und nicht im Kabinett auf und ab ging, fiel ihre schiefe Schulter besonders auf. Und als sie einmal neben Elin am Fenster stehen blieb, ragte unter dem Rocksaum die Spitze eines flachen Männerschuhs aus schwarzem Leder hervor. Elin konnte sich immer weniger einen Reim auf die junge Königin machen. Frau Gudmund hatte oft gezetert, dass Kristina verschwendungs- und vergnügungssüchtig sei und das Geld mit vollen Händen für Tanz und französischen Pomp ausgebe. Diese konzentrierte Frau in ihrem schlichten Kleid passte allerdings so gar nicht zu der Beschreibung so wenig wie Emilias Vorstellungen von einem Leben bei Hofe. Als die Königin schließlich die letzte Akte zuklappte, war es im Kabinett schon hell geworden. Mehrere Stunden waren vergangen und Elin hatte sich keinen Augenblick gelangweilt. Aber wenn sie gedacht hatte, dass sich die Königin nun endlich ihr zuwenden würde, hatte sie sich getäuscht. Stattdessen schwang die Flügeltür auf und Axel Oxenstierna trat ein. Die Lehne drückte gegen Elins Rücken, so sehr wünschte sie sich, einfach in der Wand zu verschwinden. Der Kanzler warf ihr jedoch nur einen mürrischen Seitenblick zu und wünschte dann der Königin einen Guten Morgen. Bis auf einen Schreiber verließen alle Sekretäre den Raum. Schon wollte Elin sich ebenfalls erheben, als eine knappe Geste der Königin sie auf ihren Stuhl zurückbefahl. Mit angehaltenem Atem beobachtete sie den Kanzler und die Königin dabei, wie sie noch einmal die Beschlüsse des Tages durchgingen. Ihre Vertrautheit ließ auf eine lange Bekanntschaft schließen. Königin Kristinas Stimme war bestimmt, aber respektvoll, als sie mit dem alten Kanzler sprach. Dennoch schienen ihre Ausführungen nicht seine Zustimmung zu finden.

»Mit den Friedensverhandlungen in Westfalen sollten Sie nichts überstürzen«, sagte er. »Es gibt dringendere Dinge, die Ihrer Aufmerksamkeit bedürfen.«

Kristinas Stirn umwölkte sich, obwohl sie ihre Freundlichkeit behielt und ein Lächeln auf ihrem Gesicht erschien.

»Grundsätzlich stimme ich mit Ihnen überein«, antwortete sie. »Allerdings sehe ich es als meine Pflicht an, den Krieg, an dem mein Vater sich im Namen von Schweden beteiligt hat, auch im Namen von Schweden wieder zu beenden.«

»Meiner Meinung nach wäre es wichtiger, wenn Sie zuerst die internen Angelegenheiten regeln, die Schweden mehr betreffen als ein Krieg in Europa.«

»Wie könnte mich der Krieg weniger betreffen als meine Privatangelegenheiten? Auf den Schlachtfeldern sterben täglich schwedische Männer«, erwiderte sie scharf. »Ganz zu schweigen von der Bevölkerung in den deutschen Städten und Dörfern, die entweder in alle Winde zerstreut oder so verarmt ist, dass die Menschen vor Hunger angeblich schon Gras essen. Soll Schweden etwa über entvölkerte Landstriche herrschen? Es ist meine Pflicht, die Brände zu löschen, die schon beinahe dreißig Jahre wüten.«

In der Pause, die folgte, glaubte Elin die Luft knistern zu hören wie vor einem Gewitter. Die Hand des Sekretärs verharrte in der Bewegung. Ein Tintentropfen löste sich von dem angespitzten Federkiel und zerplatzte auf der polierten Tischplatte.

»Mit der Frage Ihrer Heirat sind Sie weniger ungeduldig«, wandte der Kanzler mit seiner ruhigen Stimme ein. »Sie ist keine Privatangelegenheit, das wissen Sie selbst besser als ich. Das Fortbestehen der Dynastie hängt davon ab. Sie müssen sich jetzt endlich für einen Hochzeitstermin entscheiden, Kristina.«

»Eine Heirat will wohl überlegt sein«, erwiderte die Königin liebenswürdig.

»Wie viele Jahre wollen Sie noch überlegen? Sie sind öffentlich verlobt und haben Ihrem Vetter Ihr Versprechen gegeben. Ich habe Ihre Wahl nicht gebilligt, aber gut, auch Sie folgen Ihrem Herzen. Mehrmals hat Karl Gustav Sie schon um eine persönliche Unterredung in der Heiratsfrage ersucht, und Sie? Sie beschäftigen sich mit französischer Lebensart. Wie lange wollen Sie Ihren Bräutigam noch warten lassen?«

»Auf eine große Ehre kann man nicht lange genug warten.« Kristinas versöhnliches Lächeln konnte kaum über den gereizten Unterton in ihrer Stimme hinwegtäuschen. Axel Oxenstierna seufzte, als wäre er ein resignierter, strenger Vater und die Königin seine trotzige Tochter.

»Manchmal verstehe ich nicht, was in Ihrem Kopf vorgeht, Kristina. Aber da wir gerade bei offenen Worten sind: Mir ist das Gerücht zu Ohren gekommen, Sie hätten dem Bürgerlichen Adler Salvius einen Sitz im Reichsrat versprochen, wenn er mit seinen Verhandlungen in Deutschland zu einem baldigen Friedensschluss beitragen würde?«

»Wer hat Ihnen das zugetragen?«

»Böse Zungen, die, wie ich doch sehr hoffe, etwas Falsches erzählen.«

Die Königin seufzte. Elin hatte das Gefühl, Zeugin eines Kampfes zu werden, in dem Worte wie Degen geschwungen wurden. Mit einem Lächeln im Gesicht trugen hier zwei Gegner ein Scheingefecht aus und erkundeten für den Ernstfall die Schwächen des anderen. Selbst Elin, die nicht wusste, wer Adler Salvius war, begriff, dass Axel Oxenstierna mit seiner Erwähnung einen warnenden Schlag gegen die Königin geführt hatte.

»Bisher habe ich ihm noch gar nichts versprochen«, antwortete Kristina. »Und ich schätze die Arbeit Ihres Sohnes sehr und versichere Ihnen, dass seine Dienste als Unterhändler in Deutschland nicht weniger geschätzt werden als die seines Kollegen Salvius. Dennoch halte ich Salvius für einen begabten Mann.«

»Ich hoffe, diese Überlegung ist nicht Ihr Ernst«, entgegnete der Reichkanzler steif. »Er ist ein Emporkömmling, ein Bauernsohn, vergessen Sie das nicht. Seit jeher müssen die fünf höchsten Ämter des Reiches von schwedischen Adelsherren bekleidet werden. Ebenso ist es mit den Vertretern des Reichsrats. Ihr seliger Vater wusste das. Vergessen auch Sie es nicht.«

»Weder meine noch Salvius Vorfahren sitzen hier am Tisch«, sagte Kristina mit gutmütigem Spott. »Ich verlasse mich lieber auf die Verdienste und Fähigkeiten der Lebenden als auf deren Ahnenreihe. Jeder mag dort sitzen, wo er seine Fähigkeiten am besten zum Wohl für sein Land einsetzen kann.«

»So wie der junge de la Gardie?« Nun war es am Reichskanzler zu spotten. »Seine Verschwendungssucht, die er in Paris an den Tag legte, kostete Schweden ein Vermögen.«

Die Königin lachte.

»Ich gebe Ihnen völlig Recht. Aber wie Sie wissen, schätze ich Großmut und Freigebigkeit. Und ich bin der Meinung, dass Magnus genau diese Gaben zu unserem Nutzen eingesetzt hat, um das Verhältnis zu unserem Bündnispartner Frankreich zu stärken. Manchmal scheint ein Aufwand verschwenderisch zu sein, tatsächlich erweist er sich auf lange Sicht aber als Sparsamkeit. Vertrauen Sie mir, mein Kanzler!«

»Oh, ich vertraue Ihnen, meine Königin«, erwiderte der alte Adlige ruhig. »Sicher können Sie mich überzeugen, dass Frankreich nicht vorhat, lediglich bis zum letzten Schweden zu kämpfen. Ebenso wie ich sicher bin, dass Sie mich von den besonderen Fähigkeiten dieses Bauernkindes hier überzeugen können und davon, dass es einen Platz in der königlichen Kanzlei verdient.«

Bei diesen Worten sah er Elin nicht an, trotzdem duckte sie sich unwillkürlich. Schon seit einigen Minuten hatte sie das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

»Ach ja, das Fräulein Elin meinen Sie.« Kristina nickte. »Ich habe sie hergebeten, ja. Aber nicht als Secretarius, wenn Sie das befürchten. Ich wollte sie anweisen, heute Nachmittag mit dem Reitunterricht zu beginnen.« Sie lächelte Axel Oxenstierna an und machte eine kunstvolle Pause. »Nach dem Julfest wird sie uns auf die Jagd begleiten.«

Wenn sie gesagt hätte, sie wollte Elin eine Krone schmieden lassen, hätte sie keinen besseren Effekt erzielen können. Oxenstierna wurde erst blass, dann rot wie ein Flusskrebs im Kochtopf. Dennoch ließ er sich nicht zu einem Zornesausbruch verleiten. Elin fühlte sich in diesem Augenblick, als wäre der Stoff ihres Rocks, in den sie ihre Finger vergraben hatte, glühend heiß. Auf die Jagd! Die Jagd war das Privileg der Adligen. Aber Königin Kristinas Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie nicht vorhatte, Elin als Treiber mitzunehmen.

»Wie Sie meinen«, sagte der Kanzler eisig. »Hoffen wir, dass das Mädchen sich nicht das Genick bricht. Sie wissen ja: Je höher das Pferd, desto tiefer der Fall.«

Ohne Elin eines Blickes zu würdigen, verabschiedete er sich und verließ den Raum. Noch lange hörte man seinen festen Schritt auf der Treppe. Die Königin ging um den Tisch herum und nahm langsam wieder Platz.

»Sie können gehen, Bengt«, befahl sie dem Sekretär. Sofort legte er die Feder beiseite und suchte seine Unterlagen zusammen. Erst als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, wich die Spannung aus dem Rücken der Königin und sie sank auf dem Stuhl zusammen eine erschöpfte junge Frau. Zum ersten Mal seit Stunden sah sie Elin an und schenkte ihr ein schwaches Lächeln.

»Du hast es gehört«, sagte sie sanft. »Du wirst reiten lernen. Dein Lehrer wird Lars Melkebron sein. Er steht bei der Familie de la Gardie in Diensten.« Erwartungsvoll sah sie Elin an. »Freust du dich nicht auf die Jagd?«

Elin räusperte sich. »Oh doch. Es ist eine große Ehre …«

»Ach, hör auf damit!«, fuhr die Königin sie an. Sie sprang vom Stuhl auf und verschränkte die Arme. »Ist es so leicht, dich abzurichten wie ein Hündchen? Wer hat dir das eingebläut? Diese alte Krähe Lovisa? Sag mir ehrlich, was du denkst, oder sag gar nichts. Dir geht es nicht gut, das sieht ein Blinder! Und was soll dieses alberne Kleid? Meine Damen finden offenbar Gefallen daran, dich in ein Püppchen zu verwandeln.«

Elin schnappte nach Luft. Mit klopfendem Herzen stand sie langsam auf. So, auf gleicher Augenhöhe mit der Königin, fühlte sie sich etwas besser. Nun war es auch viel einfacher, dem Befehl zu gehorchen. Kristina wollte die Wahrheit hören? Das konnte sie haben! »Es stimmt, Majestät«, begann sie. »Ich fühle mich wie ein verkleidetes Schoßtier und ich ersticke in diesen Räumen, wo ich nicht arbeiten und noch nicht einmal Wasser trinken darf.« Zum ersten Mal an diesem Morgen hatte sie das Gefühl, wieder atmen zu können. Überrascht sah die Königin sie an. Elin wurde noch mutiger. »Aber offenbar ist Lovisa nicht die Einzige, die mich wie ein Spielzeug behandelt. Sie haben mich nur herkommen lassen, weil es den Kanzler ärgert, mich hier zu sehen, nicht wahr?« Sie schluckte und fuhr fort. »Wahrscheinlich wollen Sie mich nur deshalb auf die Jagd mitnehmen, um Herrn Oxenstierna zur Weißglut zu treiben.«

Königin Kristina brach in ein herzliches Lachen aus. Ihre Augen blitzten.

»Ich gestehe«, sagte sie. »Ja. Helga hat mir von der Begebenheit vor dem Bacchanal der Venus berichtet und ich konnte mir einfach nicht verkneifen zu sehen, was mein eiserner Kanzler sagt, wenn er mein neues Mündel hier sieht. Nun, ich hatte mit meiner Vermutung Recht.« Sie wirkte plötzlich wie ein ganz gewöhnliches Mädchen, das einen Streich ausgeheckt hatte. »Ich habe dich an geschickter Stelle platziert so wie das Bild am Fuß der Treppe. Er hasst meine Gemälde. Besonders das Bild der Venus, das du betrachtet hast. Man stelle sich vor mitten im streng lutherischen Schloss eine heidnische Liebesgöttin, nackt aus dem Meer entstiegen!« Ihr Lächeln wurde breiter. »Mit dieser Vermutung hattest du also Recht aber niemals mit deiner Unterstellung, ich würde noch mit Puppen spielen.« Mit energischen Schritten kam sie auf Elin zu und blieb nur eine Armeslänge entfernt abrupt vor ihr stehen. Auge in Auge standen sie sich am Fenster gegenüber: Elin, die Scheuermagd, herausgeputzt wie eine Prinzessin und Kristina, die Königin von Schweden, mit tintenbeschmutztem Ärmel und zerzaustem Haar. In ihren Augen spiegelten sich die Wolken eines strahlend blauen Winterhimmels.

»Wer bist du, Elin?«

»Das wissen Sie genau«, murmelte Elin gekränkt.

»Allerdings. Und wer bin ich?«

»Die Königin.«

»Die Königin der Schweden, Goten und Vandalen, Großfürstin von Finnland, Herzogin von Estland und Herrin von Ingermanland. Ich spiele nicht mit Menschen, ich setze sie ein es ist meine Pflicht, meine Aufgabe zu ihrem Wohl so gut wie nur möglich zu erfüllen. Könige sollen herrschen. Allen anderen ziemt es, ihre Befehle auszuführen und zu gehorchen. Und dich brauche ich für einen besonderen Auftrag.«

Elin hielt dem Blick der Königin stand, obwohl sich ihre Beine plötzlich anfühlten, als würden sie sie nicht mehr lange tragen.

»Sie können darauf vertrauen, dass ich mein Bestes geben werde«, sagte sie steif.

»Ich kann niemandem vertrauen«, erwiderte Kristina. »Liebst du dein Land, Elin?«

»Natürlich, Majestät.«

»Ich liebe es auch. Du ahnst nicht, wie sehr. Und du ahnst nicht, wie schwer es ist, es zu regieren. Von allen Seiten zerren die Vertreter der Stände an mir die Adligen ebenso wie die Bürger, die Geistlichen und die Bauern. Es ist, als würde man versuchen, gleichzeitig vier Pferde zu zügeln, von denen dich jedes in eine andere Richtung schleifen will.«

Bei den letzten Worten war ihre Stimme lauter geworden, doch plötzlich schien sich die Königin wieder daran zu erinnern, wen sie vor sich hatte. Brüsk wandte sie sich ab, sah aus dem Fenster und seufzte tief. Elin knetete ihre Finger.

»Majestät«, sagte sie leise. »Darf ich eine Frage stellen?«

»Frag!«

»Axel Oxenstiernas Sohn führt im Namen von Schweden die Friedensverhandlungen in Deutschland an?«

Kristina nickte, ohne sich Elin zuzuwenden.

»Johan Oxenstierna ist der echte Sohn seines Vaters bis auf die Tatsache, dass ihm dessen politisches Geschick fehlt. Aber ich habe kaum eine Wahl.«

»Und Adler Salvius gehört ebenfalls zu den Gesandten?«

»Ihn habe ich Johan an die Seite gestellt er gehört zu meinen Königstreuen. Es ist schwer, gegen die Oxenstiernianer zu bestehen. Immerhin hat der Kanzler die Mehrheit des Reichsrats und des Landes hinter sich.«

»Oxenstierna und der Rat wollen den Krieg nicht beenden, nicht wahr?«

»Ich liebe den Frieden so sehr, wie mein Vater den Krieg liebte. Aber es gibt andere Menschen in Stockholm, die kein Interesse daran haben, das Elend auf den Schlachtfeldern zu beenden, kriegslüsterne Männer, die schon meinem Vater treu dienten und die nun um ihre Kriegsbeute fürchten. Sie sind unmäßig wie Raubtiere und wollen so viele Gebiete wie möglich verschlingen. Mein Kanzler ist ein brillanter Staatsmann, aber er wird den Teufel tun, mir nach so vielen Jahrzehnten der Macht die Zügel freiwillig zu überlassen.«

»Werden Sie Adler Salvius den Sitz im Reichsrat geben?«

Nun wirbelte Kristina herum und starrte Elin an.

»Was erzähle ich dir nur?«, sagte sie ärgerlich. »Der Krieg ist nicht dein Geschäft und die Friedensverhandlungen schon gar nicht. Es steht dir außerdem überhaupt nicht zu, mir solche Fragen zu stellen.«

»Dieser Krieg betrifft mich durchaus«, widersprach Elin leise. »Er hat meinen Vater und meine Mutter das Leben gekostet. Ich kenne niemanden, der im Krieg nicht einen Sohn oder einen Vater verloren hat. Wenn der Bürgerliche Adler Salvius Ihnen als Königstreuer dienen kann, dann kann ich es auch. Oder denken Sie, ein Hurenkind sei nicht gut genug?«

Die traurige Königin sah sie an und lächelte. Elin erschrak, als Kristina zu ihr trat und ihr die Hände auf die Schultern legte. Ihre Finger waren kräftig wie die eines Stallburschen.

»Überlege gut, was du mir versprichst. Weißt du, wie viel es dich kosten kann, nicht nur ein Handlanger, sondern eine echte Königstreue zu sein? Ich hätte sogar eine Aufgabe für dich, aber dennoch lasse ich dir die Wahl. Du kannst bei Lovisa bleiben und ein Hoffräulein werden. Und wenn du schön sticken, tanzen und plaudern gelernt hast, wird Lovisa einen Ehemann für dich finden, der dich gut versorgt.«

»Ich werde kein Hoffräulein, das wissen Sie genau. Ich bin nicht hier, um zu sticken.«

»Dann schwöre«, sagte die Königin ernst. »Schwöre bei Gott und beim Grab deiner Eltern, dass du schweigst und dass du tust, worum ich dich bitte.«

Elin dachte an ihren Vater und an Emilias Mann und hob das Kinn.

»Ich schwöre«, sagte sie mit fester Stimme.

Kristina ließ ihre Schultern los und trat zurück. Ein anerkennendes Lächeln glitt über ihr Gesicht.

»Ich hoffe, du wirst deinen Schwur nicht bereuen.« Sie drehte sich um und schritt zum Schreibtisch zurück. Ihr schwerer Rock schwang wie eine Glocke. Papier raschelte, als sie einen Brief öffnete und zu lesen begann.

»Geh!«, sagte sie, ohne sich noch einmal nach Elin umzusehen. »Dein Auftrag wird vielleicht verlangen, dass du gut reiten kannst. Fräulein Ebba wird dich heute Nachmittag zum Palast Makalös mitnehmen. Und richte Lovisa einen schönen Gruß von mir aus. Der ganze überflüssige Putz wird dir auf dem Pferd nur hinderlich sein. Sie soll dir ein bequemes Kleid mit möglichst weitem Rock geben und dein Mieder nicht so fest schnüren. Du bist schließlich keine Presswurst.«

 

Beleidigt war Lovisa mit wehenden Röcken davongesegelt, um nach passender Reitkleidung für Elin zu suchen. Elin hatte sich indessen mit ihrer Stickerei ans Fenster gesetzt und tat so, als würde sie die gekicherten Kommentare der Mädchen im Nebenraum nicht hören. Sie zählte die Sekunden. Vor Ungeduld stach sie sich schon zum vierten Mal in den Finger. Tildas Stimme war nicht zu überhören. Wie immer konnte das dchen ihre scharfe Zunge nicht im Zaum halten. Und heute hatte sie Unterstützung von Linnea, der Tochter des Hofzahlmeisters, die erst seit kurzem im Schloss lebte.

»Jetzt soll sie auch noch reiten, meine Güte!«, tuschelte Tilda. »Meint ihr, die Königin wird ihr auch noch befehlen, Hosen zu tragen?«

»Nun, das würde ihr jedenfalls besser stehen als der Samtrock.« Das war Linneas Stimme. »Wenn sie meint, dass niemand hinschaut, läuft sie wie ein Stallknecht. Vielleicht macht sie auf dem Pferd eine bessere Figur.«

»Bist du sicher? Wenn sie so reitet wie die Königin?«

Wieder ein Prusten. Das Getuschel wurde leiser und schärfer.

»Die Königin reitet wie ein Mann.«

»Vielleicht ist sie ja ein Mann?«, sagte Tilda. Empörungsrufe der anderen Mädchen wurden laut.

»Du Schandmaul!«

»Das ist doch nicht dein Ernst!«

»Doch! Im Ausland werden solche Vermutungen angestellt. Der Diener des englischen Gesandten hat es mir verraten. Wegen ihrer tiefen Stimme. Und seid mal ehrlich, denkt euch die Röcke weg könnte sie nicht ein Mann sein?«

Elin schüttelte den Kopf. Wie konnte jemand die Königin für einen Mann halten?

»Wie soll das gehen meint ihr, sie stopft sich Äpfel ins Dekolletee?«

»Nun stell dich nicht dümmer, als du bist! Diese zwei Äpfelchen hier verdankt Linnea allein Frau Lovisas Näh- und Polsterkunst.«

Ein Quieken und ein Klatschen ertönte, als hätte Linnea eine vorwitzige Hand weggeschlagen.

»Ach, hört auf!«, zischte ein anderes Mädchen. »Und lasst das niemanden hören! Das sind doch Lügen!«

»Nun, in jeder Lüge steckt ein Körnchen Wahrheit. Vielleicht gründet sich der Verdacht auf der Vermutung, dass die Königin liebt wie ein Mann?«

»Hast du ihr schon einmal unter den Rock geschaut?«

»Ich nicht, aber Fräulein Ebba bestimmt!«, gab Tilda zurück. »Linnea hat gesehen, wie Kristina das Fräulein geküsst hat! Und warum sollte die Königin sonst mit der Heirat so lange zögern? Wer weiß, was der Bräutigam in der Hochzeitsnacht unter dem Rock finden würde?« Das Kichern wurde lauter und erlosch so abrupt, als hätte jemand die Flamme einer Kerze mit einem eiskalten Hauch ausgeblasen. Einen Augenblick herrschte betretene Stille, dann hörte Elin das Poltern eines umgekippten Stuhls und ein erschrockenes »Oh!«.

»So, hat es euch endlich die Sprache verschlagen?« Lovisas Stimme klang wie ein Donnerschlag. Vor Schreck stach sich Elin noch einmal in den Finger. »Tilda! Linnea! Raus hier! Geht in die Kammer, bis ich euch hole.«

»Oh, Frau Lovisa, verzeihen Sie«, schluchzte die dürre Linnea. »Wir haben nur gescherzt …«

»Das sind keine Scherze, sondern dumme Lügen! Und die werden euch eines Tages noch den Kopf kosten. Wisst ihr, was man im russischen Zarenreich mit solchen Lügnerinnen macht? Man gräbt sie nackt bis zum Kopf in die Erde ein und lässt sie erfrieren. Und Königin Kristina wird weitaus erfindungsreicher sein, wenn sie hört, wie ihr dummen Gänse sie verleumdet.«

Elin hörte entsetztes Stöhnen und unterdrücktes Schluchzen, dann stürzten die zwei Mädchen mit verweinten Gesichtern und hochroten Köpfen durch die Seitentür in das Durchgangszimmer, in dem Elin saß, und verschwanden durch die Tür. Lovisa gönnte Elin keinen Blick, als sie die Kammer betrat. Auf dem Arm trug sie ein Gewand aus festem, grauem Stoff.

»Zu fest geschnürt, ja?«, murmelte sie und winkte Elin zu sich. Mit wenigen Handgriffen hatte sie die Schleifen an Elins Mieder geöffnet und begann die Schnüre zu lockern. Es war ein seltsames Gefühl, die Hände der Kammerfrau auf dem Rücken zu spüren. Trotz ihres Ärgers waren ihre Griffe nicht schmerzhaft, sondern sanft und flink. Erleichtert atmete Elin tief ein. Wenig später hatte sie sich von einer Puppe in einen Menschen zurückverwandelt. Statt der hohen Schuhe trug sie flache Halbschuhe aus schwarzem Leder ähnlich denen der Königin und ein etwas zu weites, graues Gewand aus robustem Stoff. Lovisa zupfte mit kritischem Gesicht die Rockfalten zurecht und seufzte.

»Gewöhnlich siehst du jetzt aus«, seufzte sie. »Ein Jammer bei einem so hübschen Mädchen!« Endlich schenkte sie Elin ein flüchtiges Lächeln und kniff sie leicht in die Wange.

 

»Wie apart sie aussieht!«, rief Fräulein Ebba schon von weitem. »Ich dachte, du hättest grüne Augen, aber wenn du ein graues Kleid trägst, sind auch deine Augen grau wie heller Satin!« Die Gruppe von Höflingen, die Ebba begleitete wie ein Schwarm Motten das Licht, musterte nach dem Kompliment interessiert Elins Gesicht, als gäbe es einen Schatz zu entdecken, den sie dort nie vermutet hätten.

»Ich danke Ihnen«, murmelte Elin. Neben Ebba, die ein safrangelbes Gewand trug, fühlte sie sich wie ein Küchenkäfer neben einem Schmetterling. »Kommt«, befahl Ebba. »Wir nehmen den kürzesten Weg zum Bootssteg!«

Elin hatte erwartet, wieder in einen großen Schlitten steigen zu müssen, der sie über die Brücke bringen würde, stattdessen führte der Weg noch tiefer ins Schlossinnere, mehrere Treppen hinunter in Richtung der Vorratskeller. Durch Gänge, die immer roher wurden erst Ziegelgewölbe, wo Brennholz gelagert wurde, dann grob behauener Sandstein –, kamen sie durch mehrere Tore und Türen, bis ihnen eisige Luft entgegenwehte. Ein direkter Gang aus dem Schloss! Elin sperrte den Mund auf und blickte an der steilen Burgmauer hoch, die sich, so schien es ihr, bis in den Himmel erhob. Es musste die Ostfassade sein, denn man konnte von hier aus auf die Schiffsinsel mit der Werft schauen. Das Hafenwasser vor ihnen war gefroren. Im Sommer musste hier ein Landungssteg für Ruder- oder Transportboote sein, jetzt aber standen kleine Holzschlitten bereit, um die Gesellschaft über das Eis zum Festland zu bringen. Die Pferde vor den Schlitten scharrten im Schnee, der die Eisfläche bedeckte. Schon beim Anblick der Tiere bekam Elin Herzklopfen. Ein Auftrag der Königin! Und sie sollte dafür reiten lernen. Der nächste Gedanke jagte Elin einen Schauer über den Rücken. Ob die Königin sie nach Deutschland schicken würde?

Ebba winkte Elin zu sich und ließ sie in ihrem Schlitten Platz nehmen. Das Gefährt war nicht viel mehr als eine offene Holzschale mit Kufen. Geschnitzte Meerespferde flankierten die Seiten. Mit einem scharfen Ruck setzte es sich in Bewegung. Die Lakaien froren in ihren Prachtlivreen und trieben die Pferde zu einem raschen Trab an. Das schleifende Geräusch der Kufen und das Schnauben der Pferde vermischten sich zu einem Winterlied, das Elins Seele wärmte. Fräulein Ebba hatte von der Kälte rote Wangen, was ihr sehr gut stand. Mit einer eleganten Bewegung streifte sie ihren Handschuh ab und holte einen Beutel aus bestickter Atlasseide unter ihrem Mantel hervor.

»Ich habe mich immer noch nicht bedankt, Elin«, sagte sie. Der Wind spielte mit ihren Worten und trug sie davon. Ebba rückte näher an Elin heran, eine Nähe, die ungewohnt und aufregend war, und drückte ihr den Beutel in die Hand.

»Das ist für dich. Bewahre es gut, es bringt Glück und schützt vor bösen Geistern!«

»Böse Geister?«

Ebbas Lächeln verblasste zu einer angespannten Sichel. Ihre schönen Augen waren voller Furcht.

»Im Schlossgarten und im Park, ja. Der Oberhofmeister hat sie gesehen und die Nichte des Schatzkanzlers ebenfalls. Das arme Mädchen ist so erschrocken, dass sie eine ganze Woche lang an Fieber und Krämpfen litt.« Sie seufzte und blickte gedankenverloren auf das Eis. »Ich fürchte mich vor ihnen. Schon seit Wochen habe ich das Gefühl, dass ein schreckliches Unglück über dem Schloss liegt. Die Gespenster sind Unglücksboten.« Ihre Stimme wurde leiser, bis sie sich beinahe im Wind verlor. »Auch vor dem Tod meines Vaters gab es Unglückszeichen Raben und riesige Schwärme von Dohlen, die sich gegenseitig die Augen aushackten.« Elin schauderte und verkroch sich noch tiefer unter das schützende Schaffell, mit dem sie sich zugedeckt hatten. »Und dann verliere ich in Uppsala das Medaillon meines Vaters«, fuhr Ebba leise fort. »Da waren sie mit einem Mal wieder gegenwärtig all die bösen Omen.«

»Sie haben das Medaillon wieder, Fräulein Ebba«, warf Elin ein. »Manchmal ist ein Rabe nur ein Rabe und ein Gespenst nur Nebel zwischen den Bäumen.«

Die Hofdame zeigte ein trauriges Lächeln und seufzte.

»Natürlich«, sagte sie leise und nicht sehr überzeugt. »Das könnten auch Kristinas Worte gewesen sein. Sie spricht nicht gern von Aberglauben und Gespenstern. Und auch über Hexen verliert man in ihrer Gegenwart am besten kein Wort. Sie glaubt nicht daran, dass es Hexen gibt, und will die Prozesse endgültig verbieten lassen.«

»Ich glaube auch nicht daran«, sagte Elin. »An Hexen, meine ich.« Sie schluckte und dachte an Emilias Haar. Durch den Stoff des Beutels hindurch ertastete sie die filigrane Form eines winzigen Kreuzes.

Die junge Hofdame schenkte ihr ein Lächeln und deutete auf das Ufer, an dem sich der rote Palast aus Ziegelwerk erhob.

»Das ist der Palast Makalös – ›Ohnegleichen. Das größte Gebäude nach dem Schloss. Macht er seinem Namen nicht alle Ehre?«

Von den Mauern des Schlosses aus gesehen wirkte das Gebäude nicht halb so prächtig wie aus der Nähe. Elin zählte fünf Stockwerke. Ganz oben befand sich eine riesige Dachterrasse wie gemacht für Feste unter einem Sommerhimmel.

»Unser Reichsmarschall Jakob de la Gardie hat es vor ein paar Jahren erbauen lassen«, erklärte Ebba. »Er ist Magnus Vater.«

Vom Wasser führte eine breite Treppe direkt hinauf zum prächtigen Palast. Vier mächtige Türme grenzten das Gebäude an den Ecken ab und erhoben sich zu spitzen Kupferzinnen. Auf den beiden seezugewandten Türmen an der Südseite thronten kupferne Meerjungfrauen mit wehendem Haar. In den Händen hielten sie Pfeil und Bogen. Steinerne, grimmig dreinblickende Löwen bewachten den Eingang in der Mitte eines langen Arkadengangs, an dem bereits Diener auf die Gäste warteten. Ein Mann kam die Treppe herunter und winkte Ebba zu. Vor dem roten Ziegelwerk leuchtete sein Haar wie eine helle Flamme. Magnus de la Gardie!

»Da sind ja meine Gäste!«, rief er und half Ebba aus dem Schlitten. »Meine Frau fragt schon den ganzen Morgen nach dir, Ebba. Sie weiß gar nicht mehr, womit sie unsere Bretonen noch unterhalten soll. Ach, Fräulein Elin sie geht mit meinem Diener hier. Unser Reitmeister brennt schon darauf, das Mädchen zu sehen, das sich mit unserem launigsten Schlachtross angelegt hat!«

 

Lars Melkebron war ein Hüne mit einer Stimme, die so laut war wie die eines Befehlshabers. Seine Worte aber trafen Elin wie die Sticheleien einer bösartigen Hofdame. »Lange Reden wirst du bei mir nicht hören, Fräulein Scheuermagd«, sagte er zur Begrüßung. »Und die Titel hebe ich mir für die jungen Kavaliere auf, denen ich beibringen soll, auf dem Schlachtfeld einen ordentlichen Angriff zu reiten und nicht bei der ersten Fanfare vom Pferd zu kippen. Auch den vornehmen Tanzunterricht für Pferde, wie er jetzt in den Reitanstalten in Europa so in Mode ist, wirst du bei mir nicht finden. Nein, die Königin will, dass du eine ordentliche Jagd oder ein Rennen reiten kannst. Und genau das wirst du lernen.«

Nach dem ersten Schreck stahl sich ein Lächeln auf Elins Lippen.

»Dafür, dass Sie nicht viele Worte machen wollen, war das aber eine sehr lange Ansprache.« Sie hatte Mühe, mit seinen langen Schritten mitzuhalten. Lars zog die Brauen hoch und warf ihr einen schelmischen Blick zu.

»Dein Mundwerk wirst du noch im Zaum halten, bevor die Sonne untergeht. Und das Sie lass sein. Für dich bin ich Lars. Hast du schon einmal auf einem Pferd gesessen?«

»Nur an einem gehangen.«

Der alte Reitmeister lachte dröhnend und beschleunigte seinen Schritt noch mehr, sodass Elin nur noch laufend mithalten konnte.

Im Vergleich zu Gudmunds niedrigen Stallungen aus Blockholz war diese hier riesig und wirkte beinahe wie ein gemauerter Wohnraum mit hohen Decken.

Pferdeköpfe mit Atemfahnen vor den Nüstern wandten sich den beiden Neuankömmlingen zu. Augen mit langen Wimpern glänzten im Licht einer Stalllaterne. Elin schöpfte Atem. Ihr war warm, ihre Beine schmerzten. Viel zu lange war sie nur wie eine Dame durch die Gänge getrippelt und hatte am Fenster über ihren Stickereien gesessen. Jetzt durchströmte sie ein lange vermisstes Glücksgefühl. Am liebsten hätte sie gejubelt, aber um Lars nicht herauszufordern, hielt sie vorsichtshalber den Mund und folgte dem Reitmeister zu einer Holzwand. Ein bildschöner Sattel lag darauf. Seine Sattelblätter glänzten und als Elin näher heranging, konnte sie den Duft von feinster Sattelseife und Lanolin wahrnehmen.

»Dieser Sattel ist ein Geschenk der Königin«, erklärte Lars. »Simon Jüterbock hat ihn für dich angefertigt der beste Sattelmacher der Stadt. Na los, im Gegensatz zu einem Pferd kann dieses tote Stück Leder dich nicht beißen.«

Elin war sprachlos. Vorsichtig streckte sie die Hand aus und befühlte die Riemen und den glatten Lederüberzug.

»Das ist ein Sattel für einen Mann.«

»So ist es. Aber wenn du willst, kann ich dir natürlich auch einen Damensattel holen lassen.« Es klang, als hätte er angeboten, ihr anstelle eines goldenen Zaums ein durchgekautes Seil zu bringen. Heftig schüttelte Elin den Kopf.

»Ich will wie die Königin reiten!«

Lars nickte, als hätte er keine andere Antwort erwartet, und strich über das Sattelhorn.

»Zuerst siehst du dir den Sattel genau an. Du musst dein Werkzeug gut kennen. Er hat einen Holzrahmen hier am Horn kannst du ihn fühlen. Ausgestopft ist er mit Pferdehaar und überzogen mit Hirschleder. Den Seidenüberzug hat Jüterbock weggelassen, es ist ein einfacher Jagdsattel, kein Prunksattel für Prozessionen. Steigbügel bekommst du aber trotzdem solche, wie die Frauen sie haben.« Er hob etwas hoch, das aussah wie ein gewöhnlicher Steigbügel nur hatte dieser hier eine Fußkappe aus geschwärzter Bronze. »Sporen wirst du ebenfalls nicht bekommen zumindest jetzt noch nicht. Dafür gebe ich dir einen guten Zaum. Komm mit! Wir suchen dir ein Pferd aus.«

Elins Herz schlug einen Trommelwirbel. Schüchtern folgte sie Lars, der an den Verschlagen entlangschritt. Ein dunkler Kopf wandte sich ihr zu. Selbst im Schattenriss erkannte Elin den schwanengleich gebogenen Hals des Rappen sofort wieder. Das Tier schnaubte ein weißes Wolkengespenst in die Luft und spitzte die Ohren.

»Wie heißt dieses Pferd?«, rief sie Lars hinterher. Der alte Reitmeister blieb stehen.

»Oh, der Enhörning. Er gehört zu Herrn Magnus Pferden. Wird mal ein gutes Streitross. Der junge Vaincourt hat ihn geritten.«

»Ich weiß«, sagte Elin. Und in Gedanken setzte sie hinzu: Wenn man es reiten nennen kann.

»Aber nur bis zu seinem Unfall«, meinte Lars. »Dann hat die Marquise darauf bestanden, dass er ein anderes Pferd bekommt.« Er lachte, trat zu dem Tier und klopfte ihm den Hals. »Der Sanftmütigste ist er zwar nicht, aber der Schnellste allemal.«

»Enhörning«, sagte Elin leise zu sich selbst. Einhorn. »Kann ich ihn reiten?«, fragte sie zaghaft. Lars warf ihr einen Blick zu, als hätte sie gefragt, ob sie einen Waldtroll satteln dürfe.

»Wo denkst du hin, Scheuerfräulein!«, rief er. »Ein Pferd ist keine seelenlose Maschine, was auch immer uns die Kriegsherren, die Pfaffen oder irgendwelche Franzosen weismachen wollen. Du kannst nicht jeden beliebigen Reiter draufsetzen.

Ein Reiter muss sein Pferd verstehen. So wie die Königin«, fügte er mit unverhohlenem Respekt hinzu. »Sie könnte Enhörning jederzeit reiten. Er ist dickköpfig, er braucht einen Reiter, der anstelle der Sporen den Verstand gebraucht. Nein, für dich habe ich etwas Passenderes.«

Mit diesen Worten trat er in die Box auf der anderen Seite des Stalles und führte ein stämmiges, braunes Pferd mit hellem Bauch und schwarzen Fesseln aus dem Verschlag. Seine Mähne war kurz und struppig und so schwarz wie seine Beine. Im Halbdunkel des Stalles leuchtete sein helles Maul, als hätte es seine Nase eben in einen Eimer mit Milch getaucht.

»Das ist Spelaren, ein guter Nordschwede. Seine Rasse stammt von den Wildpferden ab, die schon die Svea-Könige durch alle Schlachten getragen haben. Er ist wie geschnitzt für Ritte im tiefsten Schnee.«

Elin warf Enhörning einen letzten, sehnsüchtigen Blick zu und gab sich fürs Erste geschlagen.

Ein Pferd aufzuzäumen war nicht halb so schwierig wie Gudmunds störrischen Kutschgaul anzuschirren. Schwieriger war es dagegen, sich in den Sattel hochzuziehen. Spelaren legte die Ohren an und stöhnte, als würde man ihm eine Schiffskanone auf den Rücken laden. Lars schwang sich auf sein eigenes Pferd, einen rotbraunen Hengst, dem Spelaren gerade mal bis zur Schulter ging, und wies Elin an, ihm nach draußen zu folgen.

»Heute werden wir ein paar Runden im Lustgarten der Königin reiten. Er liegt direkt hinter dem Palast Makalös. Du wirst lernen, die Zügel und die Beine richtig einzusetzen. Also: Los!«

Elin kam es vor, als würde sie auf einem schwankenden Weinfass sitzen. Vor Aufregung entglitt ihr der linke Zügel. Unendlich weit unter ihr zog der Boden vorbei. Noch tauchten einige zaghafte Sonnenstrahlen den königlichen Lustgarten in spärliches Frühnachmittagslicht. In weniger als einer Stunde würde es wieder dunkel werden. Im Garten brannten bereits Fackeln und Laternen. Zögernd hob Elin den Kopf und sah durch die Pferdeohren nach vorn.

»Na los!«, rief Lars ihr zu. »Wenn dich jemand sieht, wird er dir anbieten, dein Pferd zu tragen, damit es schneller geht!«

Elin nahm ihren ganzen Mut zusammen, lockerte die Zügel und drückte die Unterschenkel fester an die Seiten des Pferdes. Spelaren reagierte und ging schneller. Und plötzlich, als sich Elin in den wiegenden Rhythmus eingefunden hatte, war sie glücklich. Lars sah ihr strahlendes Gesicht und begann mit dem richtigen Unterricht.

Die Sonne hatte sich kaum vom Fleck bewegt, als Elin schon in hohem Bogen durch die Luft segelte. Die Wolken glitten über ihr hinweg, dann ein Himmel aus Schnee und Hufspuren. Gerade noch konnte sie die Arme an den Körper ziehen, da schlug sie schon auf dem gefrorenen Boden auf. Vor Schmerz wollte sie aufschreien, doch sie bekam keine Luft. Benommen setzte sie sich auf, krümmte sich und rang nach Atem. Ihr Rock war voller Schneematsch und Schmutz und ihre Seite schmerzte so stark, dass Elin, sobald sie wieder Luft schöpfen konnte, fluchte wie Gudmunds Viehknecht. Das Schlimmste war die Enttäuschung. Lars vergewisserte sich mit einem kurzen Blick, dass sie unverletzt war, dann schüttelte er ungerührt den Kopf.

»Was habe ich dir gesagt? Pass auf die Fersen und die Zügel auf! Verstehst du jetzt, warum dein Pferd Spieler heißt?«, spottete er. »Er sieht harmlos aus, aber er hat stets noch einen Wurf parat, um dich mir nichts, dir nichts aus dem Spiel zu befördern.« Sein Lächeln wurde zu einem Grinsen. »Bete, dass ihr zur Jagd nur auf die Insel Djurgärden geht. Wenn du das Pferd nicht halten kannst, werden es zumindest die Ufer der Insel früher oder später zum Stehen bringen!«

Elin biss die Zähne zusammen und stand mühsam auf. Immer noch zitterte sie vor Schreck. Ihre ganze linke Seite war schneeverklebt und schmerzte wie nach einem Hieb mit einem Holzeimer. Mit fahrigen Händen ordnete sie ihre Röcke und suchte wütend nach einer Antwort.

»Du irrst dich, Lars!«, rief sie schließlich. »Ich bin freiwillig abgesprungen. Wenn du mich auf diese Kuh mit Mähne setzt, musst du dich nicht wundern, wenn ich zu Fuß schneller wieder im Schloss bin als hoch zu Ross!«

Lars sah sie so verblüfft an, dass sie lachen musste, obwohl ihr mehr denn je zum Heulen zumute war.

»So, Fräulein Scheuermagd will lieber spazieren gehen?«, brüllte der Reitmeister. »Nichts da! Zurück in den Sattel, bevor die Angst das Pferd überragt und dir bei jedem Ritt über die Schulter schaut!«

Elin wischte sich rasch über die Augen und humpelte mit erhobenem Kopf zu Spelaren. So, wie sie es vor einer halben Stunde gelernt hatte, zog sie sich auf den Pferderücken hoch und ließ sich in den Sattel gleiten. Ihr nasser Rock hing schwer an ihrer Hüfte. Behutsam und voller Angst holte sie die Zügel ein. Rechts von ihr erhob sich die gewaltige Nordseite des Palastes Makalös. Die beiden berittenen Krieger, die die Zinnen der landzugewandten Seite schmückten, schienen ihr höhnisch mit den Lanzen zuzuwinken. Gerade wollte sie die Zügel weiter nachfassen, als ihr an einem Fenster etwas auffiel. Wie ein blasser Mond leuchtete ein Gesicht hinter den in Blei gefassten, rechteckigen Scheiben. Mit verschränkten Armen stand der junge Marquis de Vaincourt am Fenster und beobachtete die Reitstunde. Selbst als er Elins Blick bemerkte, wich er nicht zurück.

 

An tausend Stellen pochten Blutergüsse und blaue Flecken. Blasen brannten an den Fingern, die die Zügel wund gescheuert hatten, und zu allem Überfluss hatte sie sich beim zweiten Sturz auch noch die Hand verstaucht. Das Feuer im Mädchenzimmer war heruntergebrannt. Wenn Elin die Augen schloss, saß sie wieder auf Spelarens Rücken und war glücklich wie noch nie zuvor. Behutsam tastete sie unter der Bettdecke nach dem kleinen Silberkreuz, das Fräulein Ebba ihr geschenkt hatte. Und nun besaß sie auch noch einen eigenen Sattel! Wie gern hätte sie Emilia davon erzählt.

Für einen Moment hörte sie wieder Ebbas Worte über das drohende Unheil, aber diesen Gedanken wollte sie schnell wieder beiseite schieben. So kniff sie die Augen zusammen wie ein Kind, das hofft, wenn man den Troll nicht sah, würde er einen auch nicht entdecken. Doch die Träume ließen sich von diesem Zaubertrick nicht zum Narren halten. Als Elin mitten in der Nacht aufwachte, war ihr Haar schweißnass. Immer noch trieb ihr das Bild von einer schlafenden Emilia vor Augen. Aber als Elin im Traum näher an das Bett ihrer Freundin herangetreten war, sah sie, dass die Hand, die auf Emilias Brust lag, sich nicht mit dem Atem hob und senkte. Emilia ihre Emilia! war gestorben; mit der Hand auf ihrem schmerzenden, vernarbten Herzen.

Ein klarer Wintermond tauchte die Bettvorhänge in ein geisterhaftes Licht. Nach und nach nahm Elin, noch immer ganz benommen, den Atem der anderen Mädchen wahr, die in diesem Zimmer schliefen. Neben ihr im Bett lag Tilda. Wie immer hielt sie ihr Kissen eng umschlungen und lächelte leicht im Schlaf. Elin schlug die mit Fell gefütterte Decke zurück und stand auf. Nur mit dem knöchellangen Unterkleid aus Leinen bekleidet, verließ sie das Gemach und tappte barfuß über den Gang. Auf dessen Südseite befand sich eine Nische mit einem großen Fenster, das direkt auf ein Gebäudedach zeigte. Links davon konnte Elin einen Blick in den streng geometrisch angelegten Parkgarten werfen, der sich wie eine mit akkurat gestutzten Hecken bepflanzte Terrasse über den tiefer gelegenen Teil der Burg erhob. Zur Rechten, weit unterhalb dieser Anhöhe, befand sich der von der äußersten Schlossmauer umgrenzte Obstgarten. Ganz ungezähmt streckten hier die winterkahlen Obstbäume ihre Äste nach dem Mond aus. Die kleinen, rechteckigen Scheiben beschlugen von Elins Atem und gaben dem Garten einen Heiligenschein. Neben einem Baum glaubte Elin auf einmal eine Gestalt zu erkennen. Reglos stand sie auf einem Teppich aus Nebel.

»Emilia?«, flüsterte Elin. Sie legte die Hand an die Scheibe und sah genauer hin. Es war nicht die finnische Magd. Möglicherweise war es nur eine Nebelsäule. Vielleicht träumte Elin aber auch nur, denn die Gestalt winkte ihr zu. Ihr Gesicht konnte sie von ihrem Standort aus nicht erkennen aber das Haar war lang und beinahe weiß, wie das von Elin.