Der Mann mit dem Federhut

 

 

 

Während der Jultage sprach man an den Kaminfeuern viel über die Gespenster, die in dieser dunkelsten Zeit des Jahres um die Häuser der Menschen schlichen. Solange Elin mit den anderen am großen Kamin saß, konnte sie darüber lachen, aber sie vermied es, noch einmal in den nebligen, düsteren Garten zu blicken. Die Räume des Schlosses dufteten nach frisch geschnittenen Tannen- und Kiefernzweigen, die als Julschmuck aufgehängt worden waren. Wacholderzweige und Efeublätter lagen auf den Tischen. Elins Reitstunden fanden bei Fackelschein statt. Lovisa schien allerdings wild entschlossen, dem täglichen Reitunterricht etwas weniger Unzüchtiges entgegenzusetzen. Vor ihren religiösen Lektionen gab es kein Entkommen. Sie las Elin aus den Büchern Mose vor, ließ sie die Psalme Davids auswendig lernen und natürlich, wie es sich für jeden guten Gläubigen gehörte, nahm das Studium des lutherischen Katechismus kein Ende. Das, worauf sich Elin nach den religiösen Unterweisungen am meisten freute, waren die Fabeln des Äsop, die Lovisa ihr auf Französisch vorlas. Bald verstand sie mehr als nur ein paar Worte und es machte ihr diebischen Spaß, sich unwissend zu stellen und den anderen Damen beim Plaudern zuzuhören. Die schwindsüchtige Madame Joulain war noch schmaler geworden und strahlte mit ihren brennenden Augen und der blassen Haut inzwischen die morbide Schönheit einer Todesfee aus. Ununterbrochen beklagte sie sich über »die barbarische Kälte und die Menschen, die so steif und humorlos sind, dass sie an trockenes Holz erinnern«. Jeden Tag fragte sie Lovisa, wie lange es noch dauern würde, bis endlich das Eis im Hafen brechen würde. Elin fand den Gedanken, dass der junge Marquis dann mit dem nächsten Schiff davonsegeln würde, sehr beruhigend. Aus einigen Gesprächsfetzen hatte sie herausgehört, dass die französischen Gäste in Paris lebten, aber aus einem Landstrich stammten, der sich »Bretagne« nannte, und dort einen Erbschaftsstreit um Ländereien am Meer verloren hatten.

Königin Kristina strahlte in diesen Tagen hell wie die Sonne selbst. Ihr Lachen hallte durch die Räume, sie plauderte mit den Gästen und scheuchte Musiker, Schneider und die jungen Kavaliere von Magnus de la Gardie herum. Etwas war im Gange. Manchmal, wenn Elin durch die Flure lief, hörte sie rhythmisches Stampfen und eine fremde, haarfeine Musik, die wie ein melodisches Weinen klang. Hofdamen huschten mit Stoffbahnen über dem Arm vorbei. Was es damit auf sich hatte, verriet ihr Lovisa erst am Morgen des Julfestes.

»Heute Abend werden wir ein richtiges Ballett sehen!«, rief ihr die alte Hofdame zu. »Um Himmels willen, unsere übermütige Königin hat sogar versucht, mich altes Schlachtross auf den Tanzboden zu zerren! Ihr ist wirklich nichts heilig.«

»Was ist ein Ballett?«

»Nun, ein Tanz aus Frankreich und ähnlich unsittlich wie das Reiten im Männersitz.« Ihren Worten zum Trotz blitzte die Vorfreude Lovisa nur so aus den Augen. »Im obersten Stock des Schlosses lässt Kristina ein Theater nach italienischem Vorbild bauen. Wenn es ganz fertig ist, wird es sogar Maschinen geben, die Donner und Blitz erzeugen können. Zum Julbankett heute hat Kristina auch die Mädchen und dich geladen. Mach mir ja keine Schande!«

Lovisa wollte sich jedoch nicht allein auf ihre Ermahnung verlassen und steckte Elin in ein züchtiges Kleid mit hochgeschlossener Chemise. Offensichtlich hoffte die Hofdame, ihr Zögling würde in diesem schlichten Gewand so gut wie unsichtbar werden. Elin ertappte sich dabei, wie sie am späten Nachmittag vor einem Spiegel stehen blieb und sich kritisch betrachtete. Sie sah aus wie eine junge Witwe, stellte sie fest. Aber immerhin wie eine lächelnde Witwe, die vor Aufregung rote Wangen hatte.

Die Pracht, die sie am Julabend zu sehen bekam, überstieg selbst die Bilder vom Hofleben, die Emilia ihr mit Worten in das Dunkel der Mägdekammer gemalt hatte. Der riesige Raum, den sie mit Lovisa und den anderen Mädchen durch eine Seitentür betrat, hätte selbst Emilias kühnste Fantasien übertroffen. Das Lüsterlicht warf ein Netz aus Lichtreflexen auf die gedeckte Tafel. Wie pflichtbewusste Soldaten warteten eckige Polsterstühle mit dunkelbraunen Lederbezügen auf die Gäste. An jedem Platz lag ein Silberteller und ein Besteck mit geschnitzten Elfenbeingriffen in Form von Fischen. Jede Schuppe war detailgetreu eingeritzt. Die zweizinkigen Gabeln sahen aus wie für Puppenhände angefertigte Bratspieße. Auf jedem Teller saß ein perfekt gefalteter Serviettenschwan, was Elin ein Lächeln entlockte. Helga Lundell hatte ganze Arbeit geleistet!

Der Festsaal brummte wie ein Bienenstock Lakaien eilten durch den Raum und balancierten Silberplatten mit Wildbretpasteten und Brandküchlein. Elin war so überwältigt, dass es ihr nicht gelang, auch nur einen Bissen zu essen. Unter großem Applaus wurden mehrere Schwäne hereingetragen. Sie thronten wie lebendig geworden auf den großen Platten, die silbernen Seen glichen.

Musiker stellten sich am Ende von Kristinas Tafel auf und begannen auf Instrumenten zu spielen, die nur entfernt den Schlüsselfideln glichen, die Elin kannte. »Das ist eine Violine«, erklärte Lovisa. »Und der Mann, der die Hauptmelodie spielt, ist ein Komponist aus Italien.« Die Töne, die er seinem Instrument entlockte, klangen höher und reiner als jede Schlüsselfidel, deren Klänge Elin bisher gehört hatte. Bisweilen berührte Elin die Musik so sehr, dass sie glaubte weinen zu müssen. Der Duft von fremden Gewürzen erfüllte den Raum. Es gab Muscheln und Aal und einen gebratenen Kapaun, der vorwurfsvoll in die Runde starrte. Kerzen steckten in silbernen Leuchtern mit schwerem, achteckigem Fuß. Elin bewunderte das Pfefferschälchen und kostete das wertvolle Gewürz.

Der Pfeffer zerging noch auf ihrer Zunge, als ein Diener erschien und sie bat, an den Tisch der Königin zu kommen. Elin verschluckte sich vor Schreck. Der Pfeffer brannte wie Feuer in ihrer Nase. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Würde sie jetzt den Auftrag erhalten? Am Julabend?

»Denk daran, was ich dir beigebracht habe«, flüsterte Lovisa. »Antworte nur mit Ja oder Nein und nur dann, wenn du gefragt wirst. Und komm mir bloß nicht auf die Idee, mit den französischen Herrschaften zu sprechen!«

Am Tisch der Königin wurde viel gelacht, ausgelassene Spaße flogen hin und her. Die Diener umflatterten die Herrschaften und kamen kaum zur Ruhe. Noch nie war Elin die Königin so fremd erschienen wie heute. Sie strahlte mit den Leuchtern um die Wette, ihr Gesicht war weich und schön. Sie war ebenso galant und kokett wie die französische Gräfin. Elin wurde gegenüber von Madame Joulain platziert, neben einem freundlich aussehenden Herrn in besticktem Rock. Seine gerüschte Halsbinde mit Spitzensaum leuchtete sauber und duftend gepudert im Licht der Kerzen. Neben den Tellern lagen zusätzliche Löffel. Was Elin noch mehr erschütterte als die wundersame Vermehrung des Bestecks, waren die Franzosen. Sie waren alle am Tisch versammelt Henri natürlich mit seinen Eltern, aber auch die Höflinge, die sie ausgelacht hatten. Schon stießen sich die ersten an, tuschelten und kicherten. Elin konnte Henris Gesicht zwischen den Spitzen der Schwanenflügel sehen. Heute wirkte er weniger lebhaft als sonst, sondern hatte etwas Düsteres, Melancholisches an sich. Elin war sehr wohl bewusst, dass der junge Adlige sie aus den Augenwinkeln genau beobachtete. Ein Diener legte ihr eine Eierspeise auf den Teller. Elin schnürte es die Kehle zu. In ihrer Panik sah sie sich unauffällig um und fand Madame Joulains Blick. Die Hofdame schenkte ihr ein flüchtiges Lächeln und zog die Brauen hoch. Mit einer unauffälligen Geste deutete sie auf einen Löffel aus Perlmutt. Henri grinste verächtlich. Elin war den Tränen nah. Trotzdem lauschte sie den Gesprächen. Schwedische Sätze vermischten sich zuweilen mit französischen Phrasen und Elin war sich nicht sicher, ob sie alles verstand. Dennoch erfuhr sie, dass der Mann mit dem hageren, freundlichen Gesicht neben ihr Herr Freinsheim hieß und die königliche Bibliothek verwaltete. Neben ihm saß der französische Botschafter Pierre-Hector Chanut. Bei Magnus de la Gar die saß ein beleibter junger Kriegsherr mit dunklem Haar und noch dunkleren Augen. Er beteiligte sich kaum an den Gesprächen und hatte sich seine Trinkkanne mit dem Silberdeckel schon zum dritten Mal füllen lassen. Seine Augen waren verschleiert vom vielen Wein, und er starrte die Königin an wie ein verdurstender Hund die Quelle. Offenbar gefiel es ihm nicht, dass Kristina in den höchsten Tönen von Ebba schwärmte, die ebenfalls am Tisch saß.

»Sie spielt nicht die Venus, sie ist eine!«, sagte Kristina gerade leidenschaftlich zum alten Marquis. Und setzte provokant hinzu: »Ihr Körper ist ebenso schön wie ihre Seele!« Der junge Oberst am Tisch verzog das Gesicht, als hätte er in einen verdorbenen Fisch gebissen, was Kristina ebenso wenig bekümmerte wie die Tatsache, dass Fräulein Ebba errötete. »Sie werden staunen, wie wundervoll meine Belle in ihrem Ballettkostüm aussieht!«, fuhr Kristina fort. »Ein Jammer, dass unser junger Graf nicht an den Tanzproben teilnehmen konnte. Wie geht es Ihrem Knie?«

»Besser«, erwiderte Henris Vater an der Stelle seines Sohnes. »Nicht der Rede wert. Natürlich hätte er heute tanzen können, aber für Ihr Ballett wäre es sicher kein Gewinn gewesen. Selbst wenn er gesund ist, hat er zwei linke Beine.«

Elin zweifelte daran, ob sie die französischen Sätze alle richtig verstanden hatte, aber im Gegensatz zu seiner Frau, die so schnell zwitscherte wie ein ungeduldiger Vogel, sprach der Marquis langsam und gesetzt. Offenbar hielt er nicht viel von seinem Sohn. Nun, dachte Elin bei sich, dann sind wir ja schon zu zweit.

»Sie hatten großes Glück, Monsieur Henri, dass das Fräulein Elin in der Nähe war«, hörte sie Kristinas Stimme. Erschrocken blickte sie auf.

Der alte Marquis zog die Brauen hoch.

»Wie darf ich das verstehen? Mir wurde gesagt, die Gardisten hätten das Pferd eingefangen?«

»Das ist auch nicht gelogen«, erwiderte die Königin mit einem Lachen. »Fräulein Elin ist ein weit beherzterer Soldat als so mancher in meiner Leibgarde. Karl sollte sie für seine Kavallerie anwerben.« Der Oberst erwachte aus seinem trunkenen Groll und ließ den Blick zu Elin schweifen. Das war also Kristinas Verlobter! »Meine Hofdamen sind nicht zu viel zu gebrauchen, aber Fräulein Elin sollte man nicht unterschätzen«, schloss Kristina und hob das Weinglas. Elin senkte den Kopf und starrte die weiße Tischdecke an. Als Muster waren ausgerechnet springende Einhörner eingewebt. Erst als das Schweigen bleischwer wurde, wagte sie aufzusehen.

Der Marquis musterte seinen Sohn kritisch. Trotz seines galanten Lächelns gefror sein Blick. Henri kniff die Lippen zusammen und schwieg.

»Nun, dann danke ich Ihnen von Herzen, Mademoiselle«, wandte sich der Marquis schließlich an Elin. »Ich hoffe, Sie sind gebührend entlohnt worden.«

»Sie spricht nur Schwedisch«, meinte die Königin gut gelaunt.

Der Blick, den der Marquis Elin nun zuwarf, gab ihr das Gefühl, ein verachtungswürdiger Wechselbalg zu sein.

»Sie ist trotzdem ein ganz reizendes Mädchen«, beeilte sich die Marquise zu sagen. »So ein hübscher Teint!« Mit einem Mal hasste Elin nicht nur Henri und seine Eltern, sondern auch alle anderen am Tisch den betrunkenen Karl Gustav, der sie aus glasigen Augen anstarrte, den Bibliothekar, ja sogar die Königin, die sie in diese Lage gebracht hatte. Lovisas Ermahnung schrillte in ihrem Ohr, aber ihr Mund öffnete sich wie von selbst.

»Ich bin reich belohnt worden, Monsieur«, sagte sie und bemühte sich, die französischen Worte langsam und korrekt auszusprechen. »Einen Riksdaler habe ich erhalten.« Der Marquis und seine Frau überspielten ihre Überraschung gut. Henri dagegen war ebenso verblüfft wie die übrigen Tischgäste. Am anderen Ende der Tafel reckte man die Hälse, um zu sehen, was die plötzliche Stille zu bedeuten hatte.

»Dann ist es wohl an mir, der Mademoiselle ein angemesseneres Dankesgeschenk zu machen«, sagte der Marquis.

»Überlassen Sie es mir, mich bei der jungen Dame erkenntlich zu zeigen«, versuchte Magnus galant zu vermitteln. »Schließlich war der Unfall allein meine Schuld. Enhörning ist kein Pferd, das man einem Gast überlässt, dessen Leben einem teuer ist.«

»Ich danke Ihnen, aber wir Vaincourts lassen niemals unsere Gastgeber dafür bezahlen, dass unsere Kinder ihre Reitstunden nicht ernst genug nehmen. Henri!« Die Stimme des alten Grafen schnitt schärfer als das Rasiermesser eines Barbiers. »Geh in mein Gemach und lass dir von meinem Diener zwanzig silberne Ecu geben.« Henri schoss von seinem Stuhl hoch und empfahl sich mit einer steifen Verbeugung. Sein Gesicht war ebenso rot wie das von Elin. Mit einer zierlichen Geste nahm die Marquise die Serviette und tupfte sich die Mundwinkel ab. Dann winkte sie dem Diener, ihren Stuhl nach hinten zu rücken. »Ich werde mich ebenfalls für einen Augenblick entschuldigen!«, sagte sie mit einem charmanten Lächeln.

»Madame, ich bitte Sie, nehmen Sie wieder Platz!« Die Stimme der Königin brachte die Menschen am Tisch zum Schweigen. Sie war nicht aufgestanden, trotzdem schien sie Elin und alle anderen zu überragen. Sie wandte sich an die Grafenfamilie und sprach auf Französisch einige versöhnliche Worte. Für Elin zu schnell, um sie verstehen zu können. Die Marquise lächelte höflich und nahm wieder Platz. Henri dagegen setzte sich erst auf einen gezischten Befehl seiner Mutter wieder hin. Dann wandte sich Kristina an Elin. Ihre Augen blitzten vor Wut.

»Du beleidigst meine Gäste?«, fuhr sie Elin auf Schwedisch an. »Jemandem das Leben zu retten ist eine Ehre, keine Arbeit, für die du Lohn erhältst. Ich dachte, man hätte dir ein Mindestmaß an Anstand beigebracht! Der wahre Held ist bescheiden und schweigt über seine Taten.«

»Aber Majestät!«, wandte Elin ein. Ihre Fingernägel drückten schmerzhafte Halbmonde in ihre Handflächen. »Das Geld bedeutet mir nichts. Darum ging es nicht. Wenn Sie an meiner Stelle wären …«

»An deiner Stelle?«, donnerte Kristina. »Du wagst es, dich mit mir zu vergleichen?« Die Musik kam endgültig aus dem Takt und verstummte.

»Nein«, stotterte Elin. »Ich wollte nur …«

»Schweig! Mademoiselle hat wohl vergessen, wo sie herkommt und wo sie offenbar immer noch hingehört. Vielleicht fällt es dir wieder ein, wenn du in die Küche zurückkehrst. Jetzt sofort!«

Elin stand auf. Der Raum schien zu schwanken. Die vielen Gesichter verschwammen vor ihren Augen. Im Saal war es totenstill geworden. Der junge Marquis war blass. In seiner Miene lag nicht mehr die geringste Spur von Verachtung. Er sah so unglücklich aus, wie Elin sich fühlte.

»Herr Freinsheim, seien Sie so freundlich und reichen Sie meiner menschlichen Zündschnur zum Abschied doch bitte ein Konfekt«, sagte Kristina mit kalter Stimme. »Vielleicht ist das ja eine Möglichkeit, ihren vorlauten Mund zu stopfen.« Höflich lachten die schwedischen Tischgäste und nahmen nach und nach ihre Gespräche wieder auf. Murmeln füllte den Saal, die Violinen setzten wieder ein. Der Bibliothekar erhob sich und reichte Elin mit einem mitfühlenden Lächeln eine silberne Konfektschale. Die Königin hatte sich halb abgewandt und würdigte Elin keines Blickes mehr. Mit Tränen in den Augen machte Elin einen hastigen Hof knicks und ging.

Wie sie zu Lovisas Tisch zurückgekommen war, wusste sie nicht. Die Lichter und Farben verschwammen vor ihren Augen, so sehr kämpfte sie gegen die Tränen an. Die alte Kammerfrau schalt Elin nicht, sondern stand auf und zog sie unter einem Vorwand aus dem Saal. Erst in der leeren Vorhalle richtete sie das Wort an sie.

»Schluck die Tränen runter«, sagte sie sanft. »Das ruiniert nur das Wangenrouge.«

»Zum Henker mit dem verdammten Rouge!«

»Hör auf zu fluchen!«

»Warum? Was soll dieses höfliche Getue? Sie sind alle so falsch!«

»Seht! Wie kannst du so etwas sagen!«

»Für den Grafen bin ich Ungeziefer.«

»Was hast du erwartet?«, gab Lovisa unbarmherzig zurück. »Ein Esel merkt erst, dass er ein Esel ist, wenn er in die Gesellschaft von Rössern kommt. Die gräfliche Familie behandelt dich nun einmal deinem Stand entsprechend. Du bist keine Adlige, sondern die Tochter eines einfachen Soldaten und einer unbekannten Mutter, mag sie nun eine Lagerdirne gewesen sein oder nicht. Am besten, du freundest dich mit dieser Tatsache an und nimmst den anderen ihre Zielscheibe.«

»Ich will den Riksdaler haben«, fuhr Elin die alte Dame plötzlich an. »Jetzt sofort! Ich gebe ihn dem Marquis zurück. Ich will sein verfluchtes Geld nicht!«

Entschieden schüttelte Lovisa den Kopf.

»Eine Frau kann es sich nicht leisten, aus Stolz Geld wegzuwerfen. Der Taler ist nur Metall aber er bedeutet sehr viel mehr als das. Eines Tages kann er darüber entscheiden, ob du dich frei fühlst oder unfrei wie eine Magd«, erwiderte sie ruhig. »Solange du diese Tatsache nicht zu schätzen weißt, wirst du von mir keine lumpige Öre bekommen!«

»Dann behalte den verdammten Taler! Und auch dieses Kleid und den Puder und den ganzen Tand. Ich will nichts mehr von euch! Ich verlasse das Schloss. Noch heute!« Im Raum verstummte die Musik, Applaus und Stühlerücken erklang. Lovisas Fingernägel gruben sich schmerzhaft in Elins Schultern.

»Das hat die Königin dir weder befohlen noch erlaubt«, sagte sie mit Nachdruck. »Sie hat dich in die Küche zurückgeschickt. Und genau dort wirst du dich nun hinbegeben. Ich werde mit ihr reden.«

»Aber …«

»Kein Aber, Elin. Sie ist die Königin. Und die Leute an ihrem Tisch, die du in Verlegenheit gebracht hast, sind ihre Gäste. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen, außer vielleicht das eine: Königin Kristina ist aufbrausend, sie hat das wilde Blut und auch das stürmische Gemüt der Wasa. Fordere es nicht heraus!«

 

Elin zitterte am ganzen Körper. Die Locken waren aus den Haaren gekämmt, das Rouge abgewischt. Nie war ihr aufgefallen, wie grob der einfache Stoff der Mägdekleidung sich anfühlte. Dieses Kleid hier roch zudem nach fremder Haut und altem Schweiß Gerüche, die ihre Nase früher kaum wahrgenommen hatte. Ihr Leben auf Gudmunds Hof und in der Mägdekammer erschien ihr so schäbig und grau wie nie zuvor. Zwei der Mägde schnarchten in ihrem Bett, aber Elin konnte ohnehin nicht schlafen. Seit Stunden saß sie regungslos auf ihrem Schlaflager, den Rücken an die kalte Wand gelehnt. Ihr Körper schien taub geworden zu sein wie ein Stück Holz. Brennend vor Wut ging sie immer wieder ihren Plan durch. Niemand konnte ihr befehlen, in diesem Schloss zu bleiben! Sie würde fliehen. Gleich morgen. Sie würde Stockholm verlassen und zu Emilia nach Uppsala zurückkehren. Und wenn die Königin sie suchen ließ, würde sie sich nach Deutschland durchschlagen, zu der Insel, auf der ihre Mutter gelebt hatte. Alles war besser, als hier zu sein. Vielleicht ließ sich Fräulein Ebbas Silberkreuz verkaufen? Gerade wollte sie nach dem Schmuckstück greifen, das unter dem groben Stoff verborgen war, als sie einen Lichtschimmer entdeckte.

»Elin!«, flüsterte jemand in der Dunkelheit. Im ersten Moment glaubte Elin das Gespenst aus dem Park zu sehen, dann aber erkannte sie im Licht eines glimmenden Kienspans Helga Lundells Lächeln.

»Komm mit und weck die anderen nicht auf«, raunte Helga ihr zu. »Du hast Besuch!« Das war bestimmt Lovisa! Elin glitt über die klamme Decke und folgte dem tanzenden Licht des Kienspans, der wie ein Glühwürmchen vor ihr herschwebte. Helga führte sie durch einen schmalen Gang und eine Holzstiege hinunter. Kälte kroch ihnen entgegen.

»Wohin gehen wir?«, flüsterte Elin. Helga drehte sich um und legte warnend den Finger an die Lippen. Erst als Elin runde Ziegelgewölbe erkannte, erriet sie, dass sie in den Lagerkellern sein mussten in dem Teil, wo das Brennholz und Holzfässer mit eingelegten Zwiebeln und Stockfisch gelagert wurden. »Dort hinein«, flüsterte Helga und deutete auf eine schmale Holztür. Elin schluckte und drückte die Klinke herunter. Kerzenlicht leckte über ihre Schuhe. Durch die Fässer, die sich bis zur Decke stapelten, wirkte der Raum sehr schmal. Dennoch bot er genug Platz für einen Tisch. Ein Verwalter führte hier wahrscheinlich die Aufstellungen über die Vorräte. Jetzt ging allerdings eine Gestalt in einem langen Mantel im Raum hin und her. Der Federhut verbarg ihr Gesicht, aber die energischen Bewegungen hätte Elin überall wieder erkannt.

»Ihre Majestät!«

»Hier, fang auf!«, befahl die Königin barsch. Mit einem Ruck wandte sie sich um und warf Elin einen Gegenstand zu. Es war ein in Leder gebundenes, schmales Buch.

»Lies mir den Titel vor.«

»Wie Sie wissen, kann eine kleine Magd wie ich nicht lesen«, schnappte Elin.

»Woher soll ich das wissen?«, gab die Königin ebenso schnippisch zurück. »Heute sprichst du Französisch, morgen zitierst du womöglich auf Deutsch aus dem Osnabrücker Verhandlungsprotokoll? Ich habe den Verdacht, du kannst viel mehr, als du mir zeigst.« Ihre Stimme bekam einen schneidenden Unterton. »Wie kommst du überhaupt dazu, meine Gäste zu beschämen?«

»Ich habe sie beschämt?«, rief Elin. »Der Marquis hat mich mit diesem Riksdaler beleidigt!«

»Dich beleidigt?«, spottete Kristina. »Du beleidigst dich selbst, Elin Ansgarsdotter. Du solltest bescheiden sein, statt aus Eitelkeit einen Streit vom Zaun zu brechen und dazu noch mit Personen, denen du nicht gewachsen bist. Bevor man in den Kampf zieht, sollte man sorgfältig die Waffe wählen, statt sich die erstbeste Mistgabel zu schnappen.«

»Sie waren es doch, die mich auf den Kampfplatz gezerrt hat«, gab Elin zurück. Kristinas Mundwinkel zuckten, und plötzlich brach sie in Gelächter aus. Sie lachte so sehr, dass sie sich verschluckte und husten musste.

»Guter Gott, Elin«, sagte sie schließlich atemlos. »Jemanden wie dich könnte Karl wirklich auf dem Feld gebrauchen. Woher hast du nur diesen Trotzkopf?«

»Leute wie ich brauchen besonders harte Schädel«, erwiderte Elin ernst.

Kristina winkte ab.

»Bilde dir nur nichts auf dein Elend ein. Und den jungen Marquis sieh als Lektion: Du wirst im Leben viele Feinde haben und jeder davon lehrt dich, mit zukünftigen Widrigkeiten besser fertig zu werden. Er ist der Stein, an dem du lernen kannst, deinen Säbel zu schärfen.« Sie lachte wieder und strahlte Elin an. »Im Grunde war es ein großartiger Auftritt bei Tisch! Alle glauben, dass du bei mir in Ungnade gefallen bist. Niemand würde auch nur vermuten, dass ich dir jetzt noch traue.«

Vielleicht war es die Tatsache, dass die Königin in dem einfachen Gewand und vor den Ziegelmauern wie eine ganz gewöhnliche Frau wirkte, vielleicht machte Elins Enttäuschung sie auch nur gleichgültig, jedenfalls lachte Elin nicht, sondern verschränkte die Arme.

»Wer sagt, dass ich Ihnen noch vertraue?« Kristinas Lachen erstarb. Elin schluckte und sprach weiter. »Vorher haben Sie mir verboten, mich mit Ihnen zu vergleichen, jetzt vergleichen Sie mein Elend mit Ihrem Glanz. Ich bitte um die Erlaubnis, das Schloss verlassen zu dürfen.«

Kristinas Augen wurden schmal.

»Auf keinen Fall. Wenn ich nicht auf dein Vertrauen zählen kann, tut es mir Leid. Dann werde ich dich eben an deinen Schwur erinnern müssen. Oder bedeutet ein Hurenkind zu sein, keine Ehre zu haben?«

Das hatte gesessen! Elin reckte das Kinn in die Höhe und rang um Fassung.

»Sie können leicht spotten, Majestät«, sagte sie leise. »Sie sind von hoher Geburt und wissen, wer Ihre Eltern sind. Ich kenne meinen Vater nur vom Namen und meine Mutter gar nicht.«

»Sei froh darum«, erwiderte Kristina bitter. Dann seufzte sie und ihr Gesicht wurde weicher.

»Ich wollte dich nicht beleidigen, Elin. Und auch die Worte an der Tafel sind eher zur Täuschung als aus echtem Ärger gesprochen worden. Lerne von mir! Manchmal sind solche Listen nötig!«

»Haben Sie noch mehr Befehle für mich?«, entgegnete Elin frostig.

»Ja, die habe ich. Schlag das Buch auf!«

Elin blickte auf den Ledereinband. Immer noch hielt sie die Kostbarkeit fest umklammert, als fürchtete sie, das Buch könne ihr aus der Hand springen und davonflattern. Behutsam lockerte sie den Griff und klappte das Buch mit einem ungeschickten Handgriff auf. Die Seiten fielen auseinander, niedergedrückt von etwas, das schwerer war und in der Mitte des Buches steckte. Ein Brief.

»Es ist so weit«, sagte Kristina.

»Ich soll einen Brief überbringen?«, flüsterte Elin. »Muss ich etwa nach Deutschland? Zu Pferd? Ich kann noch nicht reiten!« Kristina lächelte nicht mehr und Elin fiel auf, wie dunkel die Schatten unter ihren Augen waren.

»Nein. Du wirst zu Fuß gehen und zwar hier in Stockholm. In letzter Zeit werden Briefe abgefangen, die von höchster Wichtigkeit sind. Nun habe ich beschlossen, den Verrätern ein Schnippchen zu schlagen. Ich brauche jemanden, der sich im Volk bewegen kann, ohne aufzufallen. Jemanden, auf den ich mich verlassen kann und der klug genug ist, einen Brief so gut zu behüten, als wäre er ein kostbares Schmuckstück oder vielleicht sogar ein Leben.«

»Darf ich danach das Schloss verlassen?«

Die Königin schüttelte den Kopf und seufzte.

»Auf welchem Schlachtfeld wurde dein Vater getötet?«

»Bei Nördlingen.«

»Meiner fiel in Lützen, als ich fünf Jahre alt war. Man fand ihn ohne Kleidung, nur noch mit seinen Strümpfen und seinen drei Unterhemden bekleidet. Ein Krieg macht die Menschen zu Bestien. Ich schlage dir einen Handel vor, Elin. Hilf mir, diesen Krieg zu beenden. Ich kann jeden Vertrauten brauchen, der mir Treue schwört. Sobald der Krieg vorbei ist, verspreche ich dir, dass du gehen kannst, wohin du willst. Wenn du mir bis dahin dienst, mit deinem ganzen Herzen, deinem Mut und deiner Klugheit, dann werde ich dich belohnen. Und glaube mir …« – sie beugte sich weit zu Elin vor -»… du wirst es nicht bereuen, mir zu dienen. Oder möchtest du nicht schreiben und lesen können wie Monsieur Henri? Bedenke du könntest auch Dokumente lesen. Besonders solche, die dir möglicherweise einen Hinweis auf deine Herkunft geben könnten.«

Elin betrachtete nachdenklich das Buch in ihren Händen. Die unverständlichen Zeichen auf dem Buchdeckel grinsten ihr höhnisch entgegen. Vergeblich bemühte sie sich, ihre Wut und Empörung wieder zu finden, stattdessen konnte sie nicht anders, als der Königin ein flüchtiges Lächeln zu schenken.

»Wem soll ich den Brief überbringen?«

»Einem Sendboten, der nach Deutschland reiten wird. Zeitgleich schicke ich einen offiziellen Boten los. Er wird sich ein paar Dummheiten leisten, die die Spione am Hof auf seine Fährte bringen werden. Den mögen die Posträuber dann jagen, während unser Kurier unbehelligt den Brief trägt.« Beim Wort »unser« zuckte Elin zusammen. Kristinas Stimme sank zu einem Flüstern.

»Deine Aufgabe ist einfach. Du gehst als ganz gewöhnliche Magd zum Hötorget dem Heumarkt und von dort aus zum Haus von Simon Jüterbock, dem Sattelmacher.«

»Und wie komme ich ungesehen aus dem Schloss?«

»In wenigen Stunden werden Bauern und Bürger in den Audienzraum kommen. Helga wird dich dorthin bringen. Von da aus kannst du nach der Audienz unauffällig mit ihnen gemeinsam das Schloss verlassen.«

»Das ist ein Brief an Adler Salvius in Deutschland, nicht wahr? Sie versprechen ihm den Posten im Reichsrat?«

Kristina lächelte anerkennend.

»Und wenn der Brief sein Ziel erreicht, hat dieser unselige Krieg vielleicht schneller ein Ende, als den Oxenstiernianern lieb ist.«

»Er wird sein Ziel erreichen«, sagte Elin.

 

»Nimm dieses Siegel mit und verstecke es gut! Es ist dein Erkennungszeichen für Jüterbock.« Helga drückte ihr ein kleines, hartes Oval aus Metall in die Hand, das Elin sofort in ihrem Ärmel verbarg. Das Kopftuch hatte Helga ihr bis ins Gesicht heruntergezogen. Das Wolltuch um ihre Schultern roch nach Räucherkammer. »Schau auf den Boden«, riet ihr Helga. »Und halte dich in der Mitte der Gruppe, die den Audienzraum verlassen wird. Sieh dich nicht um und errege auch sonst nicht die Aufmerksamkeit der Gardisten und Wächter. Den Weg zum Hötorget hast du dir gemerkt?«

Elin nickte und strich sich nervös über den Rock, in den der kostbare Brief eingenäht war.

»Gott schütze dich«, flüsterte Helga. »Ich warte zu jeder vollen Stunde an der Anlegestelle.«

Wenig später stand Elin in einer Nische des Gangs, der zum Audienzraum führte. Murmeln wurde laut, als sich die Türen öffneten. Ein Strom von Menschen drängte aus dem Saal Bürger in ihrem Sonntagsstaat, Handelsleute, Tagwerker und Bauern, die die Last vieler Jahre Feldarbeit gebeugt hatte wie alte Bäume.

Elin mischte sich unauffällig unter die Menge und ließ sich, den Kopf gesenkt, mit ihr treiben. Langsam schob sie sich zur Mitte des Trosses, der von mehreren Dienern zum Ausgang geleitet wurde. »Ich sagte dir doch, die Königin kann uns nicht helfen«, flüsterte neben ihr eine Frau. »Gegen den Bauernschinder Oxenstierna wird sie nichts ausrichten.«

»Sie hat versprochen, sich beim Rat für die Bauern einzusetzen. Mehr kann sie nicht tun. So ist es nun mal. Nicht einmal eine Königin kann einfach so über alles und jeden frei bestimmen.«

»Nun, dafür kann sie frei bestimmen, wie viel Geld sie für den ganzen Prunk und diese Ausländer ausgibt«, kam die spitze Antwort. »Man sagt, die Staatsfinanzen liegen am Boden!«

»Lass es gut sein, Grit«, sagte der Mann müde. »Sie hat uns immerhin Geld aus der Schatzkasse gegeben.«

»Dieses Geld lindert unsere Not für einen Monat«, knurrte die Frau. »Aber die Steuerlast nimmt es uns nicht während die Adelsherren ihre Privilegien genießen und sich Paläste bauen. Und wer erlässt uns die Steuern und Zölle? Wer? Ohne die Zustimmung des Rats darf der Reichstag keine neuen Zollverordnungen beschließen. Und wer sitzt im Rat? Die Adelsherren! Einen Teufel werden die beschließen, um uns das Leben leichter zu machen.«

Ein Ellenbogen traf Elin in der Seite und sie wurde abgedrängt. Wenig später tat sich vor ihr das Tor auf und ein eisiger Morgenwind strich über ihr Gesicht. Gefrorener Matsch auf den Straßen machte es schwer, vorwärts zu kommen. Elin klammerte sich an ihren Korb. Die Tage unter Lovisas Obhut schienen ihr ein Stück Sicherheit geraubt zu haben. Sie fühlte sich allein und fehl am Platz. Die Welt, die früher die ihre gewesen war, war ihr entglitten und in die Ferne gerückt. Bei jedem Schritt bildete sie sich ein, das Papier, das in ihrem Rock eingenäht war, rascheln zu hören. Jeder musste es hören! Erst nachdem sie den Stortorget überquert hatte und in das Gewühl der Straßen eingetaucht war, begann sie wieder Boden unter den Füßen zu spüren. Die meisten Gassen waren so breit, dass Kutschen hindurchfahren konnten. Aber es gab auch schmalere mit steilen Treppen. In diese Schluchten zwischen den Häusern fiel nur spärliches Licht. Und obwohl es Tag war, brannten in den Werkstätten Kerzen und Öllampen. Elin legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die schmalen weißen Schornsteine, die Treppengiebel und die eisernen Ankerklemmen an den Fassaden, die die Wände der Häuser zusammenhielten. Ganz oben zwinkerte nur ein schmaler Streifen Himmel auf die Stadt herunter. Hinter den vereisten Fenstern sah sie Schuhmacher und Knopfschnitzer bei der Arbeit. Sie hörte die regelmäßigen Schläge der Kupferstecher und fasste nach und nach Mut, sich die Menschen, die ihr entgegenkamen, genauer anzusehen. Manche der Bürger schmückten sich nach europäischer Mode mit Perücken, andere waren altmodisch gekleidet. Die Flamen trugen Schuhe mit roten Sohlen und Absätzen. Elin folgte einer Gruppe von ihnen quer durch die Stadt bis zum Stadttor und schlüpfte dort rasch an ihnen vorbei. Über die Brücke verließ sie dann die Stadtinsel. Weit vor ihr erhob sich der Brunkeberg. Die Flügel der roten Windmühlen bewegten sich träge im Wind. Verstohlen blickte sie sich um, aber niemand folgte ihr. Bauern trieben Schweine zum Markt oder trugen Hühner in Käfigen auf dem Rücken dorthin. Der Hötorget selbst war der größte Markt, den Elin je gesehen hatte. Es mussten hunderte von Menschen sein, die hier ihre Waren feilboten! Milchkrüge, Schafe, Eier, Hühner, Gerätschaften für die Küche alles gab es hier zu kaufen. Der Duft von Torffeuer vermischte sich mit dem Geruch von Kuhmist und dem Aroma von siedender Fischsuppe. In Kohlepfannen wurde sogar frischer Fisch geröstet.

Simon Jüterbocks Haus war unscheinbar und lag in einer Seitengasse, nicht weit von der breiten Hauptstraße entfernt. Nur das Kupferschild mit einem aufgemalten Sattel wies darauf hin, dass sich hier eine Sattlerei befand. Elin zögerte und blieb stehen. Sie nahm ihren Korb hoch und tat so, als würde sie die Dinge darin ordnen. Leute drängten an ihr vorbei. Auf der anderen Straßenseite lehnte ein Mann mit einem Federhut an einem Karren und schnitt mit einem kleinen Messer einen Apfel in Stücke. Sein Gesicht konnte sie unter der Hutkrempe nicht erkennen. Er trug Handschuhe. Sein kleiner Finger stand steif und geziert ab. Elin ließ ihren Blick weiterwandern, bis sie sich schließlich ein Herz fasste und an Jüterbocks Tür klopfte. Sie öffnete sich beinahe augenblicklich und ein strenges Gesicht erschien. Die Haut des Mannes sah aus, als hätte ein Rotgerber sie ein wenig zu gründlich bearbeitet.

»Simon Jüterbock?« Der Mann nickte. In ihrem Rücken glaubte Elin die stechenden Blicke von Spähern zu fühlen. Mit einer kaum merklichen Geste schüttelte sie das Siegel aus dem Ärmel und ließ es Jüterbock einige Sekunden lang sehen.

»Ich komme wegen der neuen Kutschzügel«, sagte sie laut. Simon nickte und ließ sie eintreten. Im Inneren der Werkstatt arbeiteten zehn Leute. Ein Geselle, der dabei war, einen Sattelrahmen mit Leder zu beziehen, ließ die Hände sinken und musterte Elin mit besorgtem Blick.

»Die Zügel habe ich im Hof«, sagte Simon und ging voraus. Mit weichen Knien folgte Elin ihm. Natürlich führte der Weg nicht in den Hof, sondern in eine kleine Kammer. Sorgfältig verschloss Simon die Tür und drehte sich zu ihr um.

»Der Brief«, flüsterte er. »Du hast ihn bei dir?«

Elin nickte. Simon wandte höflich den Blick ab, während sie ihr kleines Nähmesser aus dem Korb holte und die Naht an ihrem Rocksaum auftrennte. Der versiegelte Brief lag schwer in ihrer Hand. Simon Jüterbock nahm das Papier entgegen.

»Ich habe auch einen weiteren Brief dabei«, sagte Elin leise. »Falls der Bote abgefangen wird, soll er diesen hier aushändigen. Das wird ihm Zeit geben, das richtige Dokument zu vernichten.« Mit diesen Worten zog sie das zweite Schreiben aus der Stofffalte am Rock.

»Die Königin lässt ausrichten, dass der Brief in spätestens acht Tagen am vereinbarten Ort sein muss.«

Jüterbocks Gesicht war angespannt, die Hand, die die Briefe hielt, zitterte leicht.

»Gut«, sagte er heiser. »Ich danke dir. Hier, nimm diese Zügel mit und geh.«

Wenig später stand Elin wieder vor dem Haus. Simons Aufregung hatte sie angesteckt, sie musste sich beherrschen, sich nicht ständig umzuschauen. Der Mann mit dem Federhut stand immer noch am anderen Ende der Straße. Er betrachtete Jüterbocks Türschild und sah dann mit großer Konzentration auf ein Hausdach. Elins Herz begann schneller zu schlagen. Unauffällig überquerte sie die Straße und verschwand aus seinem Blickfeld. Dann drückte sie sich flink an eine kalte Hauswand, schaute vorsichtig um die Ecke und folgte den Augen des Mannes. Da fiel ihr eine winkende Bewegung auf einem der Dächer auf. Ein Späher! Elin fluchte. Sie musste Jüterbock warnen! Seltsamerweise spürte sie in diesem Moment keine Angst. Mit einer genau bemessenen Bewegung steckte der Mann das Messer ein und begab sich auf Jüterbocks Straßenseite, wo sich ein anderer Mann wie ein Schatten aus einer Gasse löste. Schnauben und das Geräusch von einem scharrenden Huf erklang. Hielt jemand in der Gasse Pferde bereit? Behutsam stellte Elin den Korb auf einer Treppe ab und wickelte die langen Zügel um ihren Unterarm. Im Schatten der Gasse waren der Mann mit dem Federhut und der zweite Unbekannte in ein Gespräch vertieft.

Elin zog sich unauffällig zurück, lief ein Stück weiter und huschte dort über die breite Straße. So schnell es auf dem gefrorenen Weg ging, hastete sie zwischen den Häusern hindurch. Hier musste Jüterbocks Hinterhof sein. Vor ihr erhob sich eine fensterlose Steinmauer vermutlich die Rückseite einer weiteren Werkstatt oder vielleicht des Stalls. Ein leises Wiehern bestätigte ihre Vermutung. Eine Tür klappte. Elin wich zurück und hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, in den Hinterhof zu gelangen. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und zuckte zurück. Da hockte der Späher gut verborgen auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses beobachtete er Simons Hof. Nun gab er den Männern in der Seitengasse ein zweites Zeichen. Elin überlegte nicht lange. Sie raffte den Rock hoch und stopfte sich den Saum in den Bund. Nun hatte sie die Beine frei. Dann tastete sie nach einer Ritze in der Mauer und kletterte im Sichtschutz des Stalls an ihr hoch. Mit aufgeschürften Fingerknöcheln kam sie oben an und legte sich bäuchlings über die Mauer. So konnte der Späher auf dem Dach sie nicht sehen. Rechts von ihr befand sich der Stall. Elin zog sich näher an das schmale Seitenfenster heran und schielte hindurch. Der Geselle, der eben noch den Sattelrahmen bezogen hatte, schob gerade Königin Kristinas Brief in ein Geheimfach unter dem Sattelblatt. Sorgfältig zurrte er die Schnalle darüber fest und stieg auf das Pferd. Pferd und Reiter verließen den Stall und verschwanden aus Elins Blickfeld. Zu spät. Rufen konnte sie nicht. Und wenn sie von der Mauer in den Hof sprang und zu dem Kurier rannte, würde der Späher sie sofort entdecken. Elin überlegte fieberhaft, dann robbte sie ein Stück auf der Mauer zurück und sprang auf die Straße. Der Aufprall nahm ihr die Luft, ihre Handflächen, mit denen sie sich abgestützt hatte, pochten. Sofort schoss sie hoch und lief los. Die Häuser schienen kein Ende zu nehmen. Sie umrundete ein weiteres Gebäude, bis sie in der Gasse stand, in der sie die Verfolger vermutete. Und richtig: Da war ein Schatten. Zuckende Pferdeohren und eine wippende Feder auf einem Hut. Die Verfolger lauerten darauf, dass der Bote aus dem Hof ritt, um ihm zu folgen. Natürlich mitten in der Stadt würden sie keinen Tumult riskieren. Elin sah sich um. Jedes Geräusch erschien ihr plötzlich doppelt so laut, jede Kleinigkeit nahm sie mit größter Schärfe wahr. Zum Beispiel die beiden Heringsfässer am Rand der Straße. Gegenüber stand ein Karren. Elin schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der Kurier diesen Weg nehmen würde, und rannte los. Die Fässer waren leer und standen vermutlich bereit, um abgeholt zu werden. Sie verkroch sich hinter ihnen und lauschte. So schnell sie konnte, wickelte sie den Kutschzügel von ihrem Unterarm ab und schlang ihn um die Fässer. Hufschlag erklang. Jüterbocks Kurier. In schnellem Trab bewegte er sich genau auf Elin zu. Sie zurrte den Zügel fest und huschte zum Karren, das lose Ende des Zügels in der Hand. Hinter dem Karren ging sie in Deckung. Der Trab wurde langsamer. Reite weiter!, flehte Elin in Gedanken. Doch das Pferd blieb stehen. Elin spähte hinter dem Wagen hervor. Der Kurier hatte sein Pferd angehalten und starrte den Kutschzügel an, der quer über der Straße lag. Elin winkte ihm zu und machte eine warnende Handbewegung. Er verstand und gab seinem Pferd die Sporen. Sein Wallach sprang über den Zügel am Boden und flog los wie ein Pfeil, der von der Bogensehne schnellt. Elin wand die Zügel um die Speiche des Karrenrads und hielt das Ende mit beiden Händen fest. Galoppschlag näherte sich. Gerade noch rechtzeitig spähte sie unter dem Wagen hindurch, um die Pferdebeine zu erkennen, dann warf sie sich nach hinten und zog mit aller Kraft am Seil. Der Zügel schnellte vom Boden hoch und spannte sich quer über die Straße. Der plötzliche Ruck drohte ihr die Arme aus den Gelenken zu hebeln. Ein brennender Schmerz zuckte durch ihre Handflächen. Gepolter und ohrenbetäubendes Gebrüll ertönte. Die Fässer tanzten über die Straße und brachten die Pferde zu Fall, der Karren rutschte weg. Elin wurde gegen die Hauswand geschleudert. Ein Fass schlingerte auf sie zu. Gerade noch rechtzeitig konnte sie zur Seite springen, bevor es die Hauswand genau an der Stelle traf, an der sie sich eben noch befunden hatte. Auf der Straße wuchtete sich eines der gestürzten Pferde wieder auf die Beine und schüttelte benommen den Kopf. Sein Reiter wand sich schreiend im Schneematsch und hielt sich das verletzte Bein. Innerhalb von wenigen Sekunden verwandelte sich die menschenleere Gasse in einen Jahrmarkt. Fenster flogen auf, Menschen strömten aus den Häusern. Das zweite Pferd hatte sich im Zügel verheddert und trat in seiner Panik nach allem, was sich ihm näherte. Elin stützte sich an der Hauswand ab und kam benommen auf die Beine. Im selben Augenblick stand der Mann mit dem Federhut auf und sah sie an. Sein blutüberströmtes Gesicht wirkte wie eine rote Maske. Die Feder klebte an seiner Wange und verdeckte seine Züge. Als er seine Hand ausstreckte und auf Elin deutete, stand sein kleiner Finger ab, als wäre er ausgerenkt. Elin ließ endlich den Zügel los und begann zu rennen. Eine Hand riss an ihrem Wolltuch. Sie ließ es einfach zurück und schlitterte weiter. »Haltet sie!«, brüllte eine Männerstimme. Zum Glück war ihr Rock noch hochgebunden, was das Rennen erleichterte. Wie vom Teufel gejagt, hetzte sie um die Ecke. Eine Gruppe von Frauen stob erschrocken auseinander. Entsetzt starrten sie auf Elins verschmutzten Rock und ihre bloßen Beine.

»Dahinten!«, schrie sie den Frauen zu. »Er wollte mich schänden! Haltet ihn auf!«

Als sie das Ende der Straße erreicht hatte, hörte sie hinter sich Gebrüll und Gezeter. Mistgabeln stießen mit einem trockenen Knall gegeneinander. Die Frauen schrien: »Schändung!« Elins Verfolger brüllten: »Mord!« Elin sprang in eine Seitenstraße, hetzte die Treppen einer schmalen Gasse hinauf und kletterte über eine Mauer. Mit einem schmerzhaften Satz landete sie in einem kleinen Hinterhof, in dem ein Holzstapel lag. Dahinter verkroch sie sich. Ihre Lungen fühlten sich an, als hätte sie eine Hand voll Nadeln verschluckt, und ihre Hände brannten höllisch. Erst jetzt sah sie, dass ihr die Zügel blutige Schürfwunden zugefügt hatten. Rufe und trappelnde Schritte ertönten. Elin drückte sich noch dichter an den Holzstoß.

»Hier ist sie nicht!«, rief eine Frau. »Das arme Ding! Sicher ist sie zum Hötorget gelaufen!« Elin kauerte sich zusammen und schloss die Augen. Der Schock ebbte nur langsam ab. Der Kurier ist auf dem Weg, wiederholte sie in Gedanken immer wieder wie ein beruhigendes Gebet. Es dauerte lange, bis sie es wagte, hinter dem Holzstapel hervorzukommen. Erst als die Dunkelheit sich längst wieder über die Stadt gelegt hatte, kroch sie völlig durchgefroren hervor und kletterte schwerfällig auf die Straße. Noch länger dauerte es, bis sie den Weg zum Schloss fand, immer auf der Hut, immer in der Erwartung, entdeckt und festgenommen zu werden. In weitem Bogen umrundete sie die Gegend um den Hötorget und huschte von Nische zu Nische bis zur Brücke. Das Schloss erschien ihr wie ein fremder Ort aus einem Märchen. Ihre Füße trugen sie kaum noch, als sie endlich die Anlegestelle erreichte. Ob Helga noch dort war? Eine neue Sorge flammte in ihr auf was, wenn sie nicht mehr ins Schloss kam? In diesem Moment nahm sie den süßen Duft von Marzipan wahr. Sie drehte sich um und sank in Helgas Arme.

 

»Mein armes Mädchen!«, murmelte Helga immer wieder, während sie behutsam Elins Wunden reinigte. Elin saß zitternd am Tisch, an dem Helga noch vor wenigen Wochen den Schwan erschaffen hatte. »Lovisa stellt schon seit Stunden das halbe Schloss auf den Kopf, um dich zu finden«, flüsterte sie. »Ich habe gesagt, ich hätte dich das letzte Mal in den Vorratskellern gesehen. Oh, meine arme Kleine! Ich wünschte, mein Neffe wäre hier. Er studiert Medizin in Uppsala.«

»Es ist nicht schlimm«, murmelte Elin mit klappernden Zähnen. Sie fragte sich, wo der Kurier wohl heute übernachten würde. Waren ihm weitere Verfolger auf der Spur? Nur langsam ließ die Anspannung nach. Hier, in der Geschirrkammer, schlüpfte sie schließlich in ihr Mieder und den Rock, den sie gestern getragen hatte. Helga steckte ihr das Haar hoch und stäubte es mit Parfümpuder ein. Nach und nach verschwand Elin, das Bauernmädchen. Gerade war sie dabei, Handschuhe über ihre verwundeten Hände zu ziehen, als sie einen Schatten auf dem gefliesten Boden entdeckte. Mit einem Schrei sprang sie zur Seite. Im Bruchteil einer Sekunde sah sie einen ganzen Tag an sich vorbeiziehen der Mann mit dem Federhut war ihr gefolgt und hatte sie gefunden! Ein Messer blitzte auf und Elin sank zu Tode getroffen auf die Fliesen. Doch der Schatten gehörte nur zu Lovisa.

In ihren Locken hing eine Spinnwebe. Obwohl sie sofort ein strenges Gesicht aufsetzte, konnte sie ihre Erleichterung kaum verbergen.

»Da bist du ja. Erschöpft siehst du aus. Mein Gott, Helga! Was habt ihr nur mit dem Mädchen gemacht?« Rasch verbarg Elin ihre Hände in den Falten des Rockes. Zufällig blieb ihr Blick dabei an einem blanken Silberteller hängen. Schemenhaft erkannte sie darin das Gesicht einer jungen Hofdame mit ängstlichen Augen. Auf der Straße war ihr Gesicht schmutzverklebt gewesen und ihr Haar unter dem Tuch verborgen. Selbst wenn sie sich begegneten, würde der Verräter sie unmöglich wieder erkennen.

»Und?«, fragte Lovisa streng. »Bedankst du dich nicht, dass ich dich aus der Küche erlöst habe? Du glaubst nicht, wie sehr ich der Königin auf die Nerven fallen musste, bis sie ein Einsehen hatte.«

»Entschuldige«, erwiderte Elin gehorsam. »Ich danke dir. Du weißt gar nicht, wie sehr!«

Die alte Dame schenkte Elin ein strahlendes Lächeln. »Vielleicht wirst du ja in Zukunft auf mich hören. Und vergiss nicht, dich bei der Königin zu entschuldigen und dich auch bei ihr vielmals zu bedanken.« Elin lächelte müde. Wenn sich hier jemand bedanken würde, dann war es die Königin.