Das Versprechen

 

 

 

Irgendwann zwischen zwei Fieberträumen war das Hafeneis gebrochen. Als Elin sich das erste Mal wieder ankleidete und mit Kristina und Fräulein Ebba auf die Nordmauer ging, war ihr das Mieder zu weit geworden und aus dem Spiegel blickte ihr ein hohlwangiges Geschöpf entgegen. Unter dem linken Schulterblatt pochte die empfindliche Narbe. Stockholm erwachte aus dem Winterschlaf. Das Gewicht der Handelsschiffe brach das dünn gewordene Eis. Bizarr gezackte Eisschollen bildeten ein bewegliches Muster auf dem Wasser. Die Familie Vaincourt hatte mit dem ersten Schiff das Land verlassen und Kurs auf Polen genommen, um den dortigen Botschafter zu besuchen. Für Elin hatten sie einen höflichen Abschiedsgruß und einen Beutel mit silbernen französischen Ecus hinterlassen. Elin nahm eine Münze aus dem Beutel und betrachtete nachdenklich das bourbonische Wappenschild mit den drei Lilien und das Porträt des jungen Königs Louis XIV. Eine lange Locke fiel ihm bis auf die Schulter herab. Kristina war untröstlich über die Abreise ihrer Gäste, aber immerhin amüsierte sie Elins Enttäuschung, keine persönliche Nachricht von den Vaincourts vorzufinden. »Ja, einen Feind zu verlieren ist ein großer Verlust«, sagte sie. Elin schwieg, doch das seltsame Gefühl in der Magengrube blieb. Einen Feind zu verlieren wäre einfacher gewesen als jemanden, mit dem man einen Augenblick zwischen Leben und Tod geteilt hatte.

Mit der Schneeschmelze und den ersten Regenfällen kamen die Probleme an der Schleuse, die einzige Durchfahrt zwischen der Ostsee und dem Mälarsee und gleichzeitig die einzige Verbindung zwischen der Stadtinsel und der Südstadt Södermalm. Zahlreiche Schiffe lagen hier, hochbordige Koggen zur Ostsee hin und kleinere Boote auf der Mälarsee-Seite. Elin begleitete die Königin zur Schleuse. Kristina wollte sich davon überzeugen, dass die Schleusentore so weit wie möglich geöffnet waren. Trotzdem gab es Überschwemmungen, die viele Häuser in Söderström verwüsteten. Aus leeren Augen starrten die Gesichter der Enthaupteten vom Südtor auf die Straßen. Elin suchte nach dem Mann mit dem Federhut, aber die Hinrichtung war so lange her, dass sie auch einen vertrauten Menschen unter den verfaulten Schädeln nicht wieder erkannt hätte.

Doch das Leben wurde besser so als hätte Elin den Preis bezahlt. Bei Hof behandelte man sie wie ein Kuriosum. Tilda und die anderen Mädchen umsorgten sie plötzlich und Oxenstierna ließ ihr als Geschenk eine kleine silberne Brosche in Form eines Pferdekopfs anfertigen. Kristina gab ihr ein eigenes Gemach, das nicht weit von ihren eigenen Privaträumen lag. Das Zimmer war so groß wie der Raum, den Elin bisher mit drei anderen Mädchen bewohnt hatte. Darin stand ein Himmelbett mit blassgrünen Vorhängen. Es war, als hätte sich Kristinas Herz geöffnet, und Elin trat dankbar und staunend ein. Sie lernte eine andere Kristina kennen warmherzig und sorgsam und unendlich müde von den Verhandlungen und Ränkespielen. Sie lebte mit dem Schwert an der Kehle, das wurde Elin nun klar. Und einen Schwertstreich hatte sie selbst am eigenen Leib gespürt.

 

Es vergingen noch einige Wochen, bis Elin sich zum ersten Mal wieder in den Stall wagte. In den Nächten zuvor hatte sie immer wieder von Enhörning geträumt. Das Pferd erschien ihr in den Träumen riesenhaft, feurig und so wild, dass sie schweißgebadet aufwachte. Lars empfing sie mit einer festen Umarmung, dann aber scheuchte er sie unbarmherzig in den Sattel und ließ sie büßen. Am Ende der Reitstunde schmerzte ihre Narbe höllisch und ihre Beine zitterten vor Erschöpfung, aber sie war unendlich stolz auf sich. Im Überschwang lief sie sofort in das kleine Arbeitskabinett, das auch als Lager für die Akten diente, um Emilia zu schreiben. Neben dem Fenster stand der kleine Tisch, an dem sie das Lesen und Schreiben übte dort stapelten sich ihre Unterlagen. Sie brauchte sich nur hinzusetzen und den Federkiel anzuschärfen. Sie war so vertieft in diese Arbeit, dass sie die Stimmen, die sich dem Zimmer näherten, anfangs nicht bemerkte. Erst als die Tür aufflog, schrak Elin hoch und erstarrte. Kristina stürmte in den Raum und warf eine Ledermappe mit Dokumenten auf den Tisch. Ihr Verlobter Karl Gustav folgte ihr.

»Warum hältst du mich hin, Kristina?«, rief er. »Was habe ich getan, um so viel Verachtung zu verdienen?«

»Wer behauptet, dass ich dich verachte?«

»Lenk nicht ab. Du verstehst mich sehr gut!« Seine Stimme bebte. Elin drehte sich wieder zur Tischplatte um und duckte sich tief über das Papier. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Sollte sie sich aus der Seitentür stehlen?

»Sag mir jetzt: Wann wirst du dein Heiratsversprechen einlösen?«, donnerte Karl Gustav.

Elin stand auf, knickste tief und murmelte eine Entschuldigung. Kristina und Karl Gustav starrten sie an.

»Ich gehe schon, Ihre Majestät«, sagte Elin und rannte Richtung Tür. Kristina war schneller. Schmerzhaft schloss sich ihre Hand um Elins Handgelenk.

»Elin, du brauchst den Raum nicht zu verlassen«, sagte die Königin mit einer drohenden Höflichkeit. »Hier gibt es nichts, was hinter verschlossenen Türen besprochen werden müsste. Schreib deinen Brief.« Elin schluckte und verstand.

Sie versuchte den feindseligen Blick des Kavallerieobersts zu ignorieren und nahm gehorsam wie eine Verurteilte wieder Platz. Hinter ihrem Rücken ging Karl Gustav erregt auf und ab. Kristina räusperte sich und ließ sich Zeit mit der Antwort.

»Ich war so jung wie Fräulein Elin, als ich dir mein Versprechen gegeben habe«, sagte sie schließlich sanft. »Zu jung für solche Entscheidungen.«

»Du musst nur die Entscheidung treffen, ob du mich liebst.«

»Romantisches Gerede«, wies Kristina ihn mit sanftem Spott zurecht. »Damals im Frühling klangen unsere Schwüre schön und wahrhaftig aber wir sind beide erwachsen geworden.«

Verstohlen wandte Elin den Kopf zur Seite und schielte zu Karl Gustav. Was sie sah, bestürzte sie. Mitleid schnitt ihr ins Herz. Da stand der Oberst, der über tausende von Soldaten befahl, hilflos wie ein verliebter Junge, der abgewiesen wurde. Er war ein fetter Kriegsherr geworden, der zu viel trank, aber Elin war es, als könnte sie den jungen Mann sehen, den Kristina gekannt hatte und der seine Cousine offenbar immer noch aufrichtig liebte. Er zog Kristina zum Fenster und senkte seine Stimme, aber Elin hatte gute Ohren.

»Ich erkenne dich kaum wieder«, sagte er heiser. »Wo ist das Mädchen, das sich heimlich mit mir verlobte und mir in seinen Briefen schwor, dass nichts uns trennen könne? Jetzt finde ich eine Frau, die den ganzen Tag mit Staatsgeschäften beschäftigt ist. Sie spricht nur noch davon, den Überseehandel auszubauen, Manufakturen zu errichten, und zerbricht sich den Kopf über Handelsverträge mit Spanien, Portugal und England.«

Mit einer Leidenschaft, die Elin ihm nie zugetraut hätte, trat er noch näher an die Königin heran. »Wir haben getanzt, Kristina«, sagte er leise. »Weißt du das nicht mehr?« Kristina sah ihn lange an. Sie war so viel kleiner als der massige Mann, dass sie zu ihm hochschauen musste. Einen Augenblick wünschte sich Elin, sie würde Karl Gustav zulächeln und ihm die Hand reichen. Doch die Königin trat einen Schritt zurück.

»Ich achte dich sehr, Karl«, sagte sie mit belegter Stimme. »Du bist mir ebenso teuer wie Belle oder Magnus …«

»Es ist also Magnus!«, brauste er auf. »Es stimmt also, was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählt! Er ist dein Günstling! Seit Monaten muss ich mit ansehen, wie du ihn mit Ehren überschüttest.«

»In erster Linie ist er verheiratet«, antwortete sie ihm. »Aber bevor du andere der Untreue beschuldigst, solltest du dir überlegen, was eine Liebe schneller abzukühlen vermag: ein Günstling oder ein im Feld gezeugter Bastard.«

Bei diesem Wort zuckte Elin zusammen.

»Also das verzeihst du mir nicht«, sagte Karl Gustav gekränkt. »Urteile nicht leichtfertig über mich und meine Treue, Kristina. Dieses Wort bedeutet im Frieden das eine, im Krieg dagegen etwas ganz anderes. Du hast nie ein Schlachtfeld mit eigenen Augen gesehen. Für dich finden die Kämpfe nur auf dem Papier statt. Abstrakte Flecken auf Landkarten, ein paar diktierte Anweisungen für die Unterhändler zwischen Ausritten und Balletten.« Unversehens war er laut geworden. Kristina senkte den Kopf und seufzte.

»Ich kann dir nicht einmal widersprechen, Karl. Verzeih mir, wenn ich dich beleidigt habe. Der wahre Grund liegt nicht bei dir ich habe einfach eine Abneigung gegen die Ehe, die so stark ist, dass ich nicht weiß, ob ich sie je überwinden werde.« Sie richtete sich auf, was sie nicht viel größer aussehen ließ, und reckte das Kinn nach oben. »Jedenfalls wird mein endgültiger Entschluss bis zu meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag und meiner offiziellen Krönung feststehen. Bis dahin bitte ich dich, Schweigen über unsere Unterredung zu wahren. Aber auch jetzt weiß ich: Ich werde nur heiraten, wenn es aus politischen Gründen keine andere Möglichkeit gibt. Ich bitte dich als Freundin, die ich immer noch für dich bin und immer sein werde, Karl: Nimm die Stelle des Generalissimus an.«

Die Pause, die darauf folgte, verursachte Elin Übelkeit, so viel Angst hatte sie. Doch Karl Gustav war kein unbesonnener Kämpfer, er machte nicht den Fehler, seinen Zorn zu zeigen.

»Freundin«, sagte er nur bitter. »Wenn du mich nicht zum Mann nehmen willst, will ich weder dein Nachfolger sein noch dein Generalissimus. Vergiss nicht, Cousine ich bin ein Wittelsbacher. Wir lassen uns eine solche Behandlung nicht bieten.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und schritt aus dem Raum. Hinter ihm fiel die Tür so laut ins Schloss, dass Kristina und Elin zusammenzuckten. Lange Zeit sagte keine von beiden ein Wort. Erst als Elin einen unterdrückten Laut hörte, drehte sie sich um. Ihre Finger waren taub geworden, so fest hatte sie die ganze Zeit die kleine Klinge umklammert, mit der sie den Federkiel geschärft hatte. Die Königin starrte aus dem Fenster. Ihre Augen glänzten.

»Kristina«, sagte Elin sanft. Die Königin schüttelte heftig den Kopf und hob abwehrend die Hand.

»Lass mich«, sagte sie mit brüchiger Stimme. Sie wandte ihr blasses Gesicht Elin zu. »Was siehst du mich so an? Erscheint es dir denn so erstrebenswert zu heiraten?«

»Ich weiß nicht.« Gudmunds Hof war wieder da und mit ihm die aufdringlichen Knechte und der lüsterne Blick des alten Gudmund, der nach den Mägden schielte. Und da war auch die Erinnerung an Gudmunds Tochter Madda, die bei der Geburt ihres ersten Kindes unter Schmerzen und Schreien beinahe gestorben wäre.

»Es braucht mehr Mut, sich zu verheiraten, als in eine Schlacht zu ziehen«, sagte Kristina leise. »Was erwartet eine Frau schon in der Ehe?«

»Schmerzhafte Geburten und der Tod im Kindbett«, sagte Elin.

Kristina nickte.

»Und vergiss nicht die prügelnden, betrunkenen Männer. Wenn man die Wahl hat, frei zu sein und frei zu bleiben, warum sollte man sie nicht treffen?« Nach einer Pause fuhr sie noch leiser fort: »Unsere katholischen Freundinnen haben es da besser. Sie können ins Kloster gehen, wenn sie nicht heiraten wollen.«

»Andererseits muss nicht jede Ehe unglücklich sein«, wandte Elin ein. »Emilia und Elias waren glücklich.«

Kristina fuhr herum wie eine Schlange.

»Es steht niemandem zu, mich zu bedrängen!«, schrie sie plötzlich. »Und dir am allerwenigsten!« Ihre Stimme gellte in Elins Ohren. Zorn wallte in ihr auf, so ohne jeden Grund angefahren zu werden. Sie reagierte ohne nachzudenken.

»Ich bedränge Sie nicht!«, schrie sie zurück. »Sie selbst haben zu mir gesagt, man müsse alle Seiten hören, bevor man ein Urteil fällt. Haben Sie das schon vergessen?« Sie schnappte nach Luft und wurde sich bewusst, was sie sich gerade gegenüber der Königin herausgenommen hatte. Ihr Jähzorn verebbte. Zu ihrer Überraschung ließ sich Kristina auf einen Stuhl fallen und lachte. Kopfschüttelnd musterte sie Elin und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.

»Es ist seltsam so verschieden wir auch sind in so vielen Dingen sind wir uns gleich. Du bist rebellisch und hast deinen eigenen Kopf. Wenn ich in dein Gesicht sehe, wenn du lachst oder wütend bist, dann glaube ich manchmal, in einen Spiegel zu blicken. Du bist mein Spiegelbild, Elin. Nur bist du nicht gefangen, so wie ich.«

»Sie sind nicht gefangen. Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Sie befehlen wir gehorchen.«

»Das sagst du, die tut und lässt, was ihr gefällt, und die sogar meine Befehle missachtet«, spottete Kristina. Ein schmerzlicher Zug huschte über ihr Gesicht. In solchen Augenblicken erinnerte die Königin Elin an einen Aprilhimmel von einer Sekunde auf die andere veränderte sich das Spiel der Wolken, Sonne wechselte mit Regen, Gewitter mit Frühlingsluft und Regenbogen. »Ich beneide dich so sehr, dass du es dir gar nicht vorstellen kannst«, flüsterte Kristina. »Was ist ein König denn anderes als ein gekrönter Sklave seines Volkes?«