Zügel im Schnee

 

 

 

»Das Erste, was ich von Stockholm gesehen habe, waren die drei goldenen Kronen auf der höchsten Spitze des Schlosses«, flüsterte Emilia. »Dreißig ungarische Münzen hat König Gustav einst einschmelzen lassen, um sie zu vergolden. Damals, als ich und meine Schwester an Deck des Schiffes standen, das uns aus Finnland an die schwedische Küste trug, leuchteten sie nur für mich!«

Heute spürte Elin das alte Stroh nicht, das unter das zerschlissene Laken gestopft war. In der dunklen Magdkammer, wo neben der Bettkiste noch drei große Öltöpfe und eine Wäschetruhe standen, schien Emilias Stimme in jedem Winkel zu schweben. Ihre Arme aber umfingen Elin fester und wirklicher denn je. Unter der grob gewebten Wolldecke war es warm, aber Elin wusste nur zu gut, dass die Haut der Magd heiß vom Fieber war. Sorge schnürte ihr die Kehle zu.

»Und jetzt werden die Kronen dich begrüßen!«, sagte Emilia. »Hast du gesehen, wie Greta und die anderen dich angeschaut haben? Keiner hat gewagt, auch nur ein Wort zu dir zu sagen!«

Elin dachte an die ungläubigen, ängstlichen Blicke und an Annagrit, die schon am Abend in der Küche erschienen war und sich an die Arbeit gemacht hatte.

»Ich verstehe nur nicht, warum die Königin Greta auch noch belohnt hat«, sagte sie. »Sie hat jetzt genau das, was sie wollte ihre Gemeinheit hat sich für sie ausgezahlt.«

Emilias leises Lachen schwebte in der Dunkelheit. »Unsere Königin ist nicht dumm«, antwortete sie. »Was meinst du, wer wäre die Nächste gewesen, der sie das Leben schwer gemacht hätte?«

»Du.«

»Oh ja aber jetzt ist ihre Tochter hier und Greta wird keinen Grund mehr haben, Unruhe zu stiften.«

»Leute wie Greta werden immer einen Grund finden«, murmelte Elin. Emilia kniff sie in den Oberarm.

»Sei du nicht undankbar! Die Königin nimmt dich mit auf ihr Schloss! Du wirst nur erlesene Speisen essen und in Atlasseide und Spitze gekleidet sein. Den ganzen Tag spielt Musik und es gibt nichts als Vergnügungen. Am Stockholmer Hof trinkt man nur Wein und isst das zarteste Fleisch.«

»Ich werde in der Küche arbeiten«, flüsterte Elin. »Und dann schicke ich dir Geld und Medizin.« Der Griff an ihrer Schulter wurde fester.

»Nein, Elin«, sagte Emilia streng. »Blick nach vorn und niemals zurück, hörst du? Unsere Wege trennen sich und das ist gut und soll so sein!«

Elin schwieg. Ein Kloß saß in ihrem Hals und je mehr sie sich bemühte, ihn hinunterzuschlucken, desto größer wurde er.

»Wir suchen uns das Schicksal nicht aus«, sagte Emilia bitter. »Gott stellt uns in die Welt wie Spielfiguren. Es gibt nur zwei Wege in den Schlamm der Armut, auf die Schlachtfelder und ins Elend. Oder in die Schlösser, die feinen Kammern und an die gedeckten Tische. Die Reichen sind reich und die Armen arm und berühren werden sich diese Welten nie.« Tränen stiegen Elin in die Augen, rannen über ihre Nase und versickerten in Emilias herrlichem Haar, das sie an Herbstblätter erinnerte, die von Raureif überzogen waren.

»Ich will dich aber wieder sehen, Emilia. Du bist alles, was ich noch habe.«

»Das ist Unsinn, Kind. Ich war mit deiner Tante befreundet, das ist alles. Aber deine Tante und deine Eltern sind tot, also lass sie ruhen und mich gehen.« Sanft strich Emilia über Elins Wange. »Nicht weinen«, murmelte sie. »Tränen sind so nutzlos wie verschütteter Wein.«

»Erzähl mir noch einmal von meinen Eltern, Emilia!«

»Ach Kind, du weißt, dass es da nicht viel zu erzählen gibt. Es war Herbst, als du ins Dorf gebracht wurdest dein Vater war immer noch im Krieg, aber er hatte dafür bezahlt, dich nach Gamla Uppsala schaffen zu lassen. Du warst mehr tot als lebendig, als du hier ankamst starrend vor Dreck und Läusen, krank von der Schiffsfahrt. Aber deine Tante nahm dich mit offenen Armen auf. Sie war eine gute Frau. Sie hat viel geweint in jener Zeit und gebetet, dass dein Vater lebendig zurückkehrt. Nun, wir wissen ja beide, wie es ausging.«

»Und sie wusste wirklich nichts über meine Mutter?«

»Kein Name, nein. Nur dass ihr Bruder sie in Usedom kennen gelernt hatte, erfuhr sie. Du musst ihr wie aus dem Gesicht geschnitten sein. Ich habe Ansgar nie kennen gelernt, aber deine Tante sagte, sie und ihr Bruder wären sich schon als Kinder sehr ähnlich gewesen sie hatte dunkles Haar und braune Augen. Deine Tante erzählte, dass ihm die meisten Haare ausfielen, bevor er zwanzig war.«

»Glaubst du, dass meine Mutter eine Hure war?«

»Das wird wohl niemand je erfahren und es ist auch nicht wichtig, Elin. Du bist ein gutes, anständiges Mädchen. Komm, ich erzähle dir noch ein wenig von Stockholm. Als ich aus Finnland kam, war ich kaum älter als du. Und ich fand sofort Arbeit …«

»… auf dem Köpmantorget, dem Kaufmannplatz. Du hast Fisch verkauft.«

»Genau. Nicht weit davon liegt das Fischufer, wo Schiffe von den Schären anlegen. Dort ist auch der größte Marktplatz der Stadt.«

»Und dann hat Elias dein Haar gesehen und dich gefragt, ob du die Kupferfee aus den Minen von Falun bist.«

»Erzählst du die Geschichte oder ich? Ja, Elias war nie um einen Satz verlegen. Er war ein Mälarfischer und besaß zwei Boote. Von den zwei Meeren sind wir uns entgegengefahren, sagte er immer. Wir hatten ein Leben wie im Paradies am Köpmanporten.« Emilia seufzte tief. »Ich lernte damals sogar lesen und rechnen, das brauchte ich für den Fischhandel. Ach, wären wir doch nur nie nach Uppsala gegangen! Wer hat uns dazu getrieben, die Boote zu verkaufen und unser Glück auf einem Hof zu suchen? Zehn Jahre drückten uns die Schulden, die Steuern wuchsen und wuchsen. In dieser Zeit war es ein Segen, deine Tante zu kennen. Sie hat uns so oft geholfen. Wir hatten kein Geld, nach Stockholm zurückzukehren, kein Geld, den Hof zu halten. Und dann der Krieg in den deutschen Ländern, der seit bald dreißig Jahren Menschen und Geld frisst.

Wie viele Jahre haben wir nur für diesen elenden Krieg geschuftet? Und was hat er uns wirklich gekostet! Dich deine Familie, mich meinen Mann. Und alles nur, weil die einen Katholiken sind und die anderen Protestanten. Als wären wir nicht alle Menschen.« Elin erschrak.

»Lass solche Sätze nicht Greta oder die anderen hören!«

Emilia hustete dumpf und holte tief Luft. »Was soll mir denn noch Schlimmeres zustoßen?« Ihre Stimme wurde so leise, dass Elin sie kaum hörte. »Als die Nachricht von Elias Tod eintraf, wollte ich mich hinlegen und die Augen nie wieder aufmachen. Ich wollte den Himmel nicht mehr sehen, der mir das angetan hat. Ich weiß nicht einmal, ob auf dem Schlachtfeld ein Wundarzt bei ihm war oder ob er …«

»Hör auf, Emilia!«, unterbrach Elin sie sanft. »Solche Gedanken zehren dich aus.«

»Ich weiß, ich weiß. Mein Herz tut so weh, dass ich kaum atmen kann. Und hier unter der Rippe sticht es, als würde ich auf einer Nadel liegen.« Sie seufzte tief. »Da wollte ich dir von der goldenen Stadt erzählen und wovon rede ich? Von diesem unseligen Krieg.« Elin schwieg und dachte an ihren Vater. Manchmal, wenn sie träumte, winkte er ihr zu ein großer Mann ohne Gesicht, mal mit dunklem Haar, mal mit kahlem Schädel.

Unter dem Fenster ging jemand mit einer Fackel vorbei. Licht huschte durch die Kammer. Wie immer sah Emilia erschöpft und verblüht aus, aber sie lächelte tapfer.

»Meine Kleine«, flüsterte sie. »Ich wünsche dir so viel Glück! Du wirst bald von besseren Tellern essen.«

Zu so früher Stunde lag die Empfangshalle verwaist da wie die verwunschenen Schlösser in den Trollmärchen. Die Kälte der Nacht hatte mit eisigen Fingern bizarre Blumen an die Fenster gemalt. Elin zog ihr Wolltuch um die Schultern und drückte das Bündel mit ihren Habseligkeiten noch fester an sich. In der Kleiderkammer reinigte Victor die Mäntel. Das regelmäßige, schleifende Geräusch der Bürste hatte etwas Beruhigendes. Gerade schlug eine Standuhr, die metallischen Schläge klangen durch die Flure und verhallten erst am Fuß der Treppe. Elin bewegte stumm die Lippen und zählte mit. Fünf Uhr. In der Küche wurden jetzt die ersten Feuer geschürt, Diener brachten frisches Feuerholz zu den Gemächern, und der Bischof würde sich in seiner Residenz in Kürze darauf vorbereiten, sein Frühstück einzunehmen und die Morgenaudienz zu halten. Noch waren die Räume kalt und klamm von der Nacht.

Victor eilte vorbei und lächelte ihr aufmunternd zu.

Für den Augenblick, den eine Schneeflocke brauchte, um an ein warmes Fenster zu fliegen und zu schmelzen, sehnte sie sich nach ihrem alten Leben zurück. Es hätte ihr genügt, woanders arbeiten zu können solange sie nur weit genug entfernt von Greta wäre. Am liebsten wäre sie immer hier stehen geblieben zwischen Küche und Tre Kronor.

Schritte erklangen auf der Treppe. Elin drückte sich näher an das Geländer. Ein schwarzer Rock wurde sichtbar, eine matronenhafte Gestalt und weiße Löckchen. Schnaufend kam die Kammerfrau aus Madame Joulains Zimmer die Treppe herunter. Auf halber Höhe blieb sie stehen und sah sich mit schlafmüden Augen um. Jetzt am Morgen wirkte ihre Haut grau, ihre Lippen aber leuchteten in einem so grellen Rot, als hätte sie Beeren gegessen. Bei Elins Anblick verzog sie den Mund.

»So sieht man sich wieder«, meinte sie weder freundlich noch unfreundlich. Elin errötete und machte einen Knicks. Die Frau seufzte, drehte sich um und schnaufte die Treppe wieder hoch. Elin begriff und beeilte sich, ihr zu folgen. Die Kammerfrau trat zu einem Fenster. Ein Luftzug drückte sich durch einen Fensterspalt und trug Elin den Duft von parfümiertem Puder zu. »Elin heißt du, nicht wahr? Gut, gut. Mich nennst du Lovisa. Leg dein Bündel hin und lass dich anschauen.« Eine steile Falte erschien zwischen ihren Brauen.

»Hast du schon einmal ein richtiges Mieder getragen?«

Elin schüttelte den Kopf.

»Das sieht man. Dreh dich um. Kind du hältst dich ja wie ein Schürhaken!«

Unwillkürlich stellte sich Elin gerader hin und drückte die Schultern nach unten. Lovisa lächelte grimmig und schüttelte den Kopf. Ihre Löckchen tanzten.

»Nützt überhaupt nichts, Mädchen. In einer Stunde beginnt die Reise und so, wie du jetzt aussiehst, wirst du auf keinen Fall zu uns in die Kutsche steigen. Nun, wir werden dich schon gerade biegen. Komm mit!«

 

Der Schein der Fackel verwandelte die Schatten der Kutschpferde in zuckende, langbeinige Fabeltiere. Der ganze Hof lag unter frischem Schnee begraben. Hinter den vereisten Fensterscheiben, in die neugierige Finger Gucklöcher gerieben hatten, tanzten Kerzenflammen wie Irrlichter im Moor. Alle Bewohner waren wach, um der königlichen Gesellschaft bei der Abreise zuzusehen. Stallknechte tränkten die Pferde und die Kutscher prüften ein letztes Mal die Schlittenkufen, die anstelle der Räder an den Kutschen befestigt worden waren. Die Kutschen bestanden aus dunklem Holz, das an einigen Stellen blau und gelb bemalt war die Farben Schwedens. Auf jeder prangten die drei Kronen, das Zeichen des Königreichs Schweden.

Zügelringe und Kandarenketten klirrten, wenn die Pferde der Soldaten die Köpfe schüttelten. Mit zitternden Flanken wartete die Meute der königlichen Jagdhunde darauf, endlich vor der Kälte davonlaufen zu dürfen. Mitten in diesem Trubel stand Elin neben einem Berg von Gepäckstücken. Ihr eng geschnürtes Mieder aus festem Segeltuch drückte gegen ihr Brustbein und zwickte in den Achselhöhlen. Es musste einer dünneren, aber auch größeren Frau gehört haben. Das Kleid mit den weißen Ärmeln war länger und schwerer als ihre Küchentracht. Zum ersten Mal trug Elin fein gewebte Strümpfe und lederne Halbschuhe, die viel weicher und wärmer waren als die klobigen Küchenpantoffeln. Allerdings hatten die Schuhe einen vier Finger hohen Absatz, was Elin das Gefühl gab, auf Zehenspitzen zu laufen. Am wenigsten gefiel ihr das Tuch auf ihrem hochgebundenen Haar, das kaum größer als ein Taschentuch war. Ohne ihre Haube, die sonst ihr Haar vollständig verbarg, fühlte sich ihr Kopf so nackt an, als hätte ihn jemand geschoren. Verlegen zupfte Elin an ihren Handschuhen und wartete. Keiner der Bediensteten, die die Kleidertruhen einluden, gönnte ihr einen zweiten Blick.

Königin Kristinas französische Gäste fielen auf wie ein Haufen bunter Finken in einem Hühnerstall. Die verfrorene Madame Joulain blickte todunglücklich drein, ihre Wangen waren fiebrig gerötet und ihrer Nase sah man an, dass die Erkältung über Nacht nicht besser geworden war. Der Pelzsaum an ihrem Kragen sträubte sich im schneidenden Morgenwind. Madame Joulains Herrschaften ließen sich Zeit, zur Kutsche zu kommen. Der französische Graf war beleibt und hatte einen gestutzten Schnurrbart. Sein langes Haar trug er in unglaublich viele Locken gelegt. Schnee fing sich auf seinen zu Stulpen umgeschlagenen Schaftstiefeln. Die Dame an seiner Seite war zierlich und bewegte sich wie ein Vogel mit flinken, genau bemessenen Bewegungen. Ihr purpurroter Rock leuchtete im Schnee. Das Haar der Französin war so schwarz, dass Elin sicher war, eine junge Frau vor sich zu haben, aber als die Dame sich umwandte, erkannte sie, dass ihr Gesicht viel älter war als ihre Bewegungen und die Farbe ihres Haars. Die Madame zählte sicher schon vierzig Jahre! Elin reckte ihren Hals. Irgendwo musste der Sohn des Grafen und der schwarzhaarigen Gräfin sein, der junge Marquis, der gestern mit Ebba Sparre durch den Park spaziert war. Gestern, als Fräulein Sparre für Elin so unerreichbar gewesen war wie der Polarstern.

Doch der französische Gast erschien nicht, dafür trat die Königin aus der Tür und ging mit energischen Schritten die Treppe hinunter. Ebba Sparre und eine Gruppe von Höflingen, die sie allesamt um einen Kopf überragten, hatten Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Als Ebba Elin entdeckte, glitt ein verschlafenes Lächeln über ihr Gesicht. Mit klopfendem Herzen knickste Elin so, wie Lovisa es ihr eben im Umkleidezimmer beigebracht hatte.

Längst hatte die Hofgesellschaft ihre Plätze in den Schlitten eingenommen, als endlich auch Lovisa auftauchte. Erleichtert bückte sich Elin nach ihrem Gepäck, aber weit kam sie nicht. Die Luft blieb ihr weg, Lichtblitze tanzten vor ihren Augen. Es war offenbar unmöglich, sich hinunterzubeugen, ohne zu ersticken. Also ging sie mit stocksteifem Rücken in die Knie und hangelte nach dem Bündel.

»Komm endlich!«, zischte ihr ein dickliches, bildhübsches Mädchen zu. »Frau Lovisa wartet.«

Das Gepäck wurde ihr aus der Hand genommen, grobe Soldatenhände halfen ihr auf die viel zu hohe Trittstufe.

Ehe sie sichs versah, saß Elin bereits auf einer gepolsterten Bank, Schulter an Schulter mit dem dicken Fräulein. Gegenüber leuchtete im Halbdunkel Lovisas Gesicht. Sobald die Tür geschlossen war, breitete sich eine angenehme Wärme aus, die ein tönerner und emaillierter Ofen verströmte. Rufe ertönten und die Kutsche setzte sich in Bewegung. Verstohlen spähte Elin zwischen den Vorhängen hindurch. Das Letzte, was sie sah, bevor die Kutsche durch das große Tor in Richtung Stadt fuhr, war Victor. Wie eine lebendige Zierfigur stand er neben der riesigen Tür und blickte ihr mit besorgtem Gesicht nach.

 

Obwohl es so früh war, dass sogar die Pferde in den Ställen noch schliefen, säumten Menschen die Straße, auf der sich der königliche Tross in Richtung Stockholm bewegte. Elin staunte darüber, wie anders die Welt durch das Fenster einer Kutsche aussah. Gleichgültige Mienen verwandelten sich in ehrfürchtige Gesichter, die Welt schien nur dafür da zu sein, sich den königlichen Karossen zuzuwenden und ihnen Platz zu machen. Alles Leben erstarrte für wenige Momente. Für Königin Kristina und den Hof, begriff Elin, lief die Zeit anders.

Sie fuhren ein Stück weit am Fyris-Fluss entlang und passierten die riesige Domkyrka, in die an jedem Wochentag die Wallfahrer strömten, um vor dem goldenen Schrein des Heiligen Erik zu beten. Elin erinnerte sich an die endlos langen Predigten und an die Kälte der Kirchenbänke, die unbarmherzig unter die Kleider kroch.

»Wenn du weiter an deinen Handschuhen herumzupfst, wirst du bald wieder frieren, weil die Fingerkuppen abreißen werden«, holte Frau Lovisas Stimme sie aus ihren Gedanken. Ertappt ließ Elin ihre Hände wieder in den Schoß sinken.

Die einzige Abwechslung, die die Fahrt bot, waren die Gespräche in der Kutsche. Ein wenig enttäuscht stellte Elin fest, dass sie sich kaum vom Tratsch in der Küche unterschieden. Man sprach über Königin Kristinas Verlobten, ihren Cousin Karl Gustav, und mutmaßte über einen möglichen Termin für die Hochzeit. Man überbot sich in Vermutungen und wusste dabei ebenso wenig darüber wie Olof, der Tischdiener.

»Wenn ihr mich fragt, hat er schon viel zu viel Geduld mit ihr gehabt«, sagte das dicke Mädchen, dessen Ellenbogen seit geraumer Zeit in Elins Seite drückte. »Immer wieder schiebt sie den Hochzeitstermin vor sich her.«

»Ich würde verstehen, wenn er es wäre, der sich ziert oder möchtest du eine Frau haben, die flucht wie ein Soldat?«

Alle außer Elin und Lovisa kicherten.

»Karl Gustav müsste sie bezwingen wie der Bauer die Prinzessin mit der scharfen Zunge. Na, Mädchen? Was machst du so große Augen? Kennst du das Märchen nicht?«

Elin schüttelte den Kopf und das Gelächter wurde lauter.

»Na, dann erzähl es ihr schon, Tilda!«, sagte eine Frau zu dem dicken Mädchen. Die ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie wandte sich zu Elin um und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.

»Das war eine rebellische Prinzessin, die nicht heiraten wollte. Als ihr Vater es ihr doch befahl, sagte sie, sie würde nur den nehmen, der sie sprachlos machen könnte. Sie setzte sich in den Thronsaal, den sie zuvor hatte kräftig aufheizen lassen, und wartete auf die Freier. Jeder, der eintrat, rief aus: Hier ist es aber heiß! Worauf sie prompt zurückrief: In meinem Hintern ists heißer! Da waren die Freier sprachlos.«

Gelächter umbrandete Elin. Tilda grinste Elin an.

»Na, wird das kleine Gänschen jetzt rot?«

Elin funkelte die kichernden Damen an. Wie rot würden die erst werden, wenn sie einen Tag in der Küche oder in den Stallungen bei den Knechten verbracht hätten!

»Das ist noch gar nichts warte, bis du unsere Kristina kennen lernst«, ereiferte sich Tilda weiter. »Gegen die ist die großmäulige Prinzessin ein Waisenkind!«

»Hört auf!«, befahl Lovisa. »Wo habt ihr euren Anstand gelassen?« Das Gelächter verebbte und ging in Getuschel über. Im fahlen Licht, das durch das Seitenfenster fiel, sah Lovisas Gesicht noch strenger aus. Trotzdem war Elin sicher, dass für die Dauer eines Wimpernschlags ein amüsiertes Lächeln über die grimmigen Züge gehuscht war.

Die Wärme des kleinen Ofens hatte nicht einmal bis Mittag vorgehalten. Müdigkeit und Rückenschmerzen machten sich bemerkbar, außerdem eine leichte Übelkeit, denn obwohl der Schlitten dahinglitt, schaukelte und ächzte er, wenn sie über Schneehaufen fuhren oder bisweilen auch stecken blieben und warten mussten, bis sich die Kufen mit einem Ruck wieder aus dem Untergrund lösten. Das Schnauben der Pferde und die dumpfen Hufschläge wollten Elin in den Schlaf locken. Mehrmals ertappte sie sich dabei, wie sie den Kopf gegen die mit Samt bespannte Seitenwand lehnte und wegnickte. In einem dieser flüchtigen Träume erwachte sie in der Küche und Greta starrte sie wutentbrannt an.

Rufe drangen an ihr Ohr, ein Ruck ging durch die Kutsche und Elins Stirn schlug unsanft ans Fenster. Tilda sackte mit ihrem ganzen Gewicht gegen sie. Gerade noch konnte Elin sich abstützen, bevor ein zweiter Ruck sie Richtung Tür schleuderte. Jemand klopfte an die Scheibe.

»Aussteigen! Der Schlitten steckt fest!«

Lovisa und die Damen seufzten und zogen die verrutschten Decken von ihren Knien. Als Letzte kroch Elin aus dem Schlitten. Ihre Glieder waren so steif, dass sie stolperte, aber die Hand eines Reiters fing sie sicher ab.

»Langsam, Mademoiselle!«

Der Reiter, der ihr geholfen hatte, war ein ungewöhnlich schöner Mann. Blonde Locken fielen ihm über den Mantelkragen. Eine goldgelbe Feder an seinem Hut bauschte sich im Wind. Er rief dem Kutscher etwas zu und einige der Grenadiere lenkten ihre Pferde zu der Kutsche. War das vielleicht der Sohn des Marquis? Aber nein, das konnte nicht sein, dafür war sein Schwedisch zu perfekt. Im selben Moment preschte ein zweiter Reiter heran. Hoch spritzte der Schnee auf, als das Pferd aus dem Galopp zum Stehen kam. Die Damen wichen zurück. Ein leuchtend grüner Mantel mit Goldborten und Knöpfen fiel über die Kruppe des Pferdes.

»Der junge Marquis de Vaincourt«, flüsterte Tilda. Ihre Wangen waren vor Aufregung ganz rot. »Die Grafenfamilie ist mit dem französischen Botschafter Chanut befreundet, der in Stockholm lebt.« Elin runzelte die Stirn und schlang sich das Wolltuch, das sie während der Fahrt aus ihrem Bündel geholt hatte, um den Hals.

Das Pferd, das der junge Adlige ritt, warf den Kopf hoch und stemmte sich gegen den Zaum. Schaum troff in den Schnee. Der Marquis wirkte nicht viel älter als Elin. Das schwarze Haar erinnerte sie an die viel zu dunkle Lockenpracht der Marquise und auch in den fein geschnittenen Zügen des jungen Mannes konnte Elin eine Ähnlichkeit ausmachen. Als der Reiter ihm etwas zurief, lächelte der Franzose nur hochmütig und schüttelte den Kopf.

»Wer ist der blonde Mann mit dem Federhut?«, wandte sich Elin an Tilda. Das Mädchen schien nur darauf gewartet zu haben, ihr Wissen mit ihr zu teilen. Sie war geschwätzig, aber harmlos, stellte Elin fest.

»Wie, du kennst ihn nicht? Das ist Magnus de la Gardie, Mitglied des Reichsrats. Manche behaupten, er sei der Günstling der Königin. Bis vor kurzem war er noch außerordentlicher schwedischer Botschafter in Paris.«

»Warum hat er einen französischen Namen, wenn er Schwede ist?«

»Seine Vorfahren stammen aus der Gascogne.«

Als hätte Magnus de la Gardie das geflüsterte Gespräch gehört, sah er sich plötzlich nach Elin um. Rasch wandte sie sich ab. Inzwischen hatte sich die Dunkelheit des Winters über den frühen Nachmittag gelegt. Nur am Horizont konnte man noch ein wenig Helligkeit erahnen. Das Land lag unberührt wie ein weißes Laken vor ihr. Die Soldaten hatten aus dem Gepäckkasten der Kutsche Schaufeln hervorgeholt und feuerten die Pferde an. Mit aller Kraft legten sich die Tiere in das Geschirr, doch der Schlitten, der schräg in der Schneewehe steckte, rührte sich immer noch nicht.

Elin genoss die Pause und sog tief die kühle Luft ein. Hier, weit draußen auf den Ebenen, gab es nichts Schöneres als den Winter und die Farben des Himmels.

»Geht zurück!«, rief der Kutscher der Gruppe zu.

Während Elin sich beeilte, Lovisa und den anderen zu folgen, fing sie einen Blick des jungen Marquis auf. Für einen Moment sah sie sich mit seinen Augen: ein unbeholfenes Mädchen mit einem hässlichen blauen Fleck im Gesicht. Und zu allem Überfluss schwankte sie in den hohen Schuhen und hatte Mühe, in dem engen Mieder Luft zu bekommen. Ein spöttisches Grinsen huschte über das hochmütige Gesicht des Adligen. Sein Pferd tänzelte auf der Stelle. Grob parierte er es durch und hielt es am viel zu kurzen Zügel zurück. Es war ein schönes Tier schwarz, mit gebogenem Schwanenhals und einer Mähne, für deren Pflege ein Stallknecht viel Mühe aufgewendet hatte.

Der Franzose beugte sich zu Magnus de la Gardie, nickte in Elins Richtung und sagte etwas. Seine Stimme war zu freundlich, um nicht hinterhältig zu sein. Die Worte verstand Elin nicht, sehr wohl aber den Tonfall.

»Hör nicht auf ihn«, sagte Lovisa ärgerlich. Offensichtlich hatte sie vergessen, dass Elin kein Französisch sprach.

»Was bedeutet trébuche?«, fragte Elin.

Lovisa seufzte.

»Stolpern. Er sagt, du läufst wie eine Ente, die über ihre eigenen Füße fällt.«

Elin warf dem Jüngling einen empörten Blick zu. Als hätte er nur auf ihre Reaktion gewartet, brach er in schallendes Gelächter aus.

Plötzlich erklang ein schrilles Wiehern. Holz knirschte, das Ächzen von Lederriemen ließ Elin alarmiert zur Seite springen. Aufgeregte Rufe und lautes Gebrüll hallten durch die Luft. Elin sah, wie eins der Kutschpferde sich aufbäumte und strauchelte.

»Hooo!«, rief der Kutscher. Die Zügel verhedderten sich, ein Riemen riss. Das Pferd verdrehte in Panik die Augen, bis das Weiße zu sehen war, und keilte aus. Holz splitterte und mit einem Mal spielten alle vier Kutschpferde verrückt. Unter dem Gewicht der Achsen, die sich bogen, ächzte der Schlitten und erhob sich aus seinem Schneebett. Die Mädchen kreischten, als das Gefährt seitlich über den Schneebuckel gehebelt wurde, bevor es mit Getöse umkippte. Ein schrilles Wiehern ließ Elin herumfahren. Mit offenem Mund beobachtete sie, wie das Ross des Franzosen stieg. Für ein paar Sekunden glaubte sie auf ein Reiterstandbild zu blicken, dann scheute das Pferd und sprang zur Seite. Bockend wand und drehte es sich, brach aus, stemmte sich gegen den Zaum und riss dem Marquis schließlich mit einem Ruck die Zügel aus der Hand. Ein Grenadier sprang herbei, doch schon im nächsten Augenblick taumelte er zurück und hielt sich stöhnend die Hüfte, an der ihn ein Huf getroffen hatte. Der dunkelgrüne Mantel des Marquis flog durch die Luft, auf und ab wie eine riesige Vogelschwinge, dann beförderte ein gewaltiger Bocksprung den Jungen aus dem Sattel.

»Duck dich!«, schrie Elin. »Runter mit dem Kopf!« Nun sahen es auch die anderen. Der rechte Fuß des Reiters hatte sich im Steigbügel verfangen. Das Ross, durch den Zug am Sattel noch mehr in Rage gebracht, trat wie von Sinnen aus. Elin blickte in seine weit aufgerissenen, braunen Augen, dann tat der Junge endlich das einzig Richtige, krümmte sich zusammen und schützte seinen Kopf mit den Armen. Ein Hinterhuf schnellte knapp an seinem Ellenbogen vorbei. Endlich waren auch die Grenadiere zur Stelle und kreisten das Pferd ein. Das riesige Tier legte die Ohren an, preschte los und schleifte den Marquis hinter sich her. Der Mantel rutschte ihm über den Kopf und folgte ihm wie eine Schleppe. Ein Soldat sprang vor, glitt jedoch ab und bekam den Zügel nicht zu fassen. Elin lief los.

»Halt!«, kreischte Lovisa, aber Elin kümmerte sich nicht um sie. Sie spürte kaum, wie sie in den ungewohnten Schuhen umknickte. Das Pferd galoppierte in ihre Richtung. Noch war es damit beschäftigt, vor dem Gewicht, das am verrutschten Sattel zog, zu fliehen, seine Aufmerksamkeit richtete sich ganz auf das Bündel, das es hinter sich herzerrte. Elin wartete den richtigen Moment ab und sprang nach vorne. Knapp verfehlte sie den peitschenden Zügel, doch mit der rechten Hand bekam sie den Kehlriemen zu fassen. Der Ruck, der durch ihre Schulter fuhr, schmerzte wie Feuer. Das Mieder nahm ihr alle Luft. Sie biss die Zähne zusammen und legte sich mit ihrem ganzen Gewicht in den Riemen. Schnee klatschte gegen ihre Wange und machte sie für einige Sekunden fast blind. Dennoch ließ sie nicht los, sondern klammerte sich mit der linken Hand an der Mähne fest. Das Pferd drehte sich um seine eigene Achse und schleifte sie mit. Ein Schmerzensschrei erklang, dann das hässliche Geräusch reißenden Stoffs. Elin wurde wie ein nasser Lappen herumgeschleudert, bis es ihr schließlich gelang, das Wolltuch mit der linken Hand von den Schultern zu ziehen. Schon hatte sie den Stoff hochgeworfen und zerrte ihn über die Pferdestirn. Noch zwei Handgriffe und die Augen des Pferdes waren bedeckt. Irritiert riss der Hengst den Kopf hoch, blieb aber mit zitternden, angespannten Beinen wie angewurzelt stehen. Seine Flanken dampften, sein keuchendes Schnauben füllte die Luft mit Atemwolken.

»Bis du wahnsinnig, Mädchen!«, rief ein Grenadier. Ein Arm fasste sie um die Taille und riss sie von dem Pferd weg. Plötzlich hatte sich eine ganze Gruppe von Soldaten um das nervöse Tier versammelt. Sie trieben es zur Seite, banden die baumelnden Riemen hoch und zogen den Sattel herunter. Jemand befreite den Fuß des Marquis aus dem Steigbügel und half dem stöhnenden Jungen auf die Beine. Als er mit dem rechten Fuß auftreten wollte, presste er zwischen den Zähnen einen Fluch hervor, den Elin auch ohne die Sprache zu kennen verstand. Unwillkürlich musste sie grinsen.

»Was hast du dir nur dabei gedacht?«, zischte Lovisa. »Du hättest umkommen können!«

Flinke Finger zupften an Elins Haar. Ihre Frisur hatte sich aufgelöst, das lange Haar fiel ihr über die rechte Schulter.

»Und das Kleid!«, stöhnte Lovisa. »Sieh dich nur an!«

Zögernd wandte Elin den Blick von den Soldaten und betrachtete gehorsam ihren Ärmel. Der weiße Stoff hatte einen Riss bekommen und war über und über vom Schaum des Pferdemauls verschmiert. Ihre Schulter schmerzte und mit einem Mal fror sie so sehr, dass ihre Zähne klappernd aufeinander schlugen.

»Es tut mir Leid«, stammelte sie. »Ich werde es ersetzen.«

»Ersetzen! Du! Pah! Man sollte dich lieber gleich in Männerkleidung packen, wenn du dich am liebsten mit den Gäulen herumschlägst. Und wie kommst du dazu, dem Vieh dein gutes Wolltuch um den Kopf zu wickeln?«

»Solange ein Pferd nichts sieht, bewegt es sich nicht. Bei den Gudmunds war das die einzige Möglichkeit, das bockige Kutschpferd anzuschirren.«

Lovisa verdrehte die Augen.

»So«, meinte sie sarkastisch. »Na, du kannst unserer Königin auf der Jagd wirklich bestens Gesellschaft leisten.«

Die Kutsche war beschädigt. An einer Stelle war ein Holm gesplittert, Farbe war abgeplatzt, Schneematsch hatte die Gardinen und den Samt der Sitze beschmutzt. Innen lagen Decken und Bündel, zerbrochene Lampen und die Scherben des Ofens wild verstreut. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Schlitten wieder fahrtüchtig war. Elin war froh, ihren Wollschal wiederzubekommen, auch wenn er verschmutzt und zum Teil nass war. Sie drückte ihren schmerzenden Rücken gegen die Lehne. Ihre gezerrte Schulter pochte.

Der Kutscher wollte gerade anfahren, als die Tür aufgerissen wurde. Grüner Stoff leuchtete auf. Der Marquis hatte Schwierigkeiten, sich zu setzen, ohne sein verletztes Bein anzuwinkeln. Magnus de la Gardie nahm ihm gegenüber Platz. Schneeklumpen lösten sich von seinem Mantel und zerstoben auf dem Holzboden.

»Hat jemand den Arzt verständigt?«, fragte Lovisa mit einem kritischen Blick auf das Knie des jungen Grafen.

»Van Wullen fährt im ersten Wagen mit der Königin und den Gästen. Sobald wir den Tross eingeholt haben, wird er sich die Wunde ansehen.«

Mit einem Ruck setzte sich der Schlitten schließlich in Bewegung und gewann schnell an Fahrt. Erst jetzt fiel Elin auf, dass jemand ein paar der Lämpchen, die nicht kaputtgegangen waren, wieder aufgehängt hatte. Im schaukelnden Licht betrachtete sie den Marquis. Auf seiner Wange prangte eine Schürfwunde. Die Borten und Schleifen, die seine spanischen, halblangen Hosen zierten, waren zum Teil abgerissen oder zerdrückt. Auch die Knopfleiste, die das eng geschnittene Wams zierte, hatte unter dem Sturz gelitten. Am schlimmsten aber sah sein Knie aus. Dort musste das Pferd ihn getreten haben. Der kostbare Stoff war zerrissen und die Haut blutverkrustet. Die Wunde musste höllisch schmerzen, aber der Franzose ließ sich nichts anmerken und starrte nur stur aus dem Fenster. Trotz seiner Fremdheit erschien er Elin nicht viel anders als der arrogante Bäckersohn aus Gamla Uppsala.

»Und das ist also die Mademoiselle, die besser auf den Schmuck der Damen aufpasst als die Damen selbst«, brach Magnus nun das Schweigen. Er schenkte Elin ein herzliches Lächeln. Ganz bewusst sah er ihr in die Augen und nicht auf ihre geschundene Wange.

»Schüchtern Sie mir das Mädchen nicht ein«, sagte Lovisa in gutmütigem Tadel. »Sie ist noch völlig verstört.«

Magnus lachte.

»Glaubt man Kristina, ist sie alles andere als schüchtern, wenn es darum geht, die Königin mitten auf dem Gang beiseite zu stoßen. Und jetzt wirft sie sich wild gewordenen Streitrössern in den Weg. Ich wage gar nicht daran zu denken, was sie als Nächstes tun wird.« Elins Herz schlug gegen das harte Segeltuch wie ein Trommelstock.

»Erzählst du mir, woher du kommst?«, fuhr Magnus fort.

»Gamla Uppsala.«

»Aus der Stadt der Königsgräber, so, so«, sagte Magnus. »Einst lebten dort die Svea-Könige. Warst du je auf den Hügeln?«

»Natürlich. Die Kirche steht dort.«

»Sie ist schließlich kein Heidenkind«, warf Lovisa ein.

Elin zuckte zusammen. Magnus wandte sich seinem Gast zu. Ein ganzer Wirbel von fremden Worten faszinierte Elin gegen ihren Willen und sie versuchte angestrengt, den Sinn zu erahnen. Magnus malte mit den Händen ein Tempelgebäude in der Luft nach, ließ Rauch zum Himmel steigen. Sie hörte die Namen »Freya« und »Odin« heraus und wusste plötzlich, dass Magnus von dem heidnischen Tempel erzählte, der in Gamla Uppsala einst an der Stelle der rußgeschwärzten, roten Holzkirche gestanden hatte. Unter der Eibe, so hieß es, wurden dort früher Menschen und Tiere den Göttern geopfert. Noch heute schlichen sich abergläubische Menschen auf den Hügel und verschütteten in nördlicher Richtung hinter der Kirche eine Hand voll Hühnerblut. Das sollte ihnen Unversehrtheit bringen. Auch Emilia hatte das Blut zu den Gräbern der Svea-Könige getragen, aber ihrem Mann Elias hatte es nichts genützt.

Der Marquis schien nicht beeindruckt. Leise antwortete er mit wenigen Worten. Aus seinem Mund klang die fremde Sprache melodiöser als bei Magnus oder Lovisa. Dennoch war sich Elin sicher, dass er etwas Verächtliches gesagt hatte. Magnus nahm das Gespräch wieder auf und deutete auf Elin. Sie konnte nur erahnen, dass er den Grafen darauf aufmerksam machte, sich noch nicht bedankt zu haben. Der Marquis schoss einen unfreundlichen Blick zu ihr hinüber, doch statt sich ein Lächeln abzuringen und ein Wort des Dankes zu sagen, griff er stumm unter seinen Mantel. Münzen klirrten. Im Licht der Flämmchen leuchtete Metall auf ein Riksdaler. Alle Gespräche in der Kutsche verstummten.

Lovisas Gesicht lief rot an, Elin kam es vor, als hätte sie dem jungen Grafen das Geld am liebsten aus der Hand geschlagen. Stattdessen nahm die Hofdame den Riksdaler und murmelte einige höfliche Worte. Elin schoss das Blut in die Wangen, aber Lovisa bedeutete ihr, den Mund zu halten. Magnus de la Gardie konnte kaum verbergen, dass er von der herablassenden Geste des Gastes peinlich berührt war. Den Marquis dagegen störte die plötzliche verlegene Stille offenbar überhaupt nicht. Er wandte sich ab und starrte weiter zum Fenster hinaus. Magnus lehnte sich zurück und strich sich über den blonden Bart. Im Schein der schwankenden Lichter wirkte er wie eine Statue, die zum Leben erwacht war.

Elin drückte sich, so tief sie konnte, in die gepolsterte Sitzlehne. Mit einem Mal wünschte sie sich zurück in ihre warme, überschaubare Küche. Die Kutsche war plötzlich viel zu klein für all diese Menschen. Emilia hatte Recht. Die Adligen und die Küchenmädchen lebten nicht in derselben Welt. Sie hätte lieber zusehen sollen, wie das Pferd ihn bis zum vereisten Ufer des Mälarsees schleifte! Und sie hatte nicht übel Lust, einen Schneeklumpen vom Boden der Kutsche aufzuheben und ihm damit den arroganten Ausdruck aus dem Gesicht zu reiben.

 

Im Winterlicht glich der Mälarsee einer mit Frost überzogenen Silberplatte. Fußabdrücke und Spuren von Schlittenkufen zeigten, wo Eisfischer und Reisende vor kurzem noch ihre Wege gesucht hatten. Elin lehnte sich erschöpft an die Kutschenwand. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie sich mehr als einmal nach Emilias Strohlager zurückgesehnt, denn obwohl der Hofstaat in den Häusern auf der Strecke fürstlich bewirtet worden war, blieben für die Nacht nur enge Bettstätten, in denen sich die Mädchen und Frauen wie die Heringe in den Holzfässern der Fischverkäufer zusammendrängten. Das Mieder hatte Elins Achselhöhlen wund gescheuert, zu trinken gab es nur Bier und zwar nicht das Dünnbier, an das sie gewöhnt war, sondern ein dunkles, dickflüssiges Getränk, das ihren Kopf schwer werden ließ und ihren Durst noch verschlimmerte. Längst war der französische Gast in den Schlitten der Königin umgestiegen und die Mädchen und Damen tratschten nun am liebsten über die Verschwendungssucht des Magnus de la Gardie, der seiner jungen Frau in Paris ein mit Perlen und Brillanten besticktes Kleid aus weißem Taft gekauft hatte. Für Wäsche und Leinen, eine Karosse und ein Gemälde hatte er tausende von Riksdalern ausgegeben. Elin versuchte sich diese Summe vorzustellen, aber es wollte ihr nicht gelingen. Das Geschnatter der Mädchen ermüdete sie wie ein eintöniges Wiegenlied.

Am dritten Vormittag stieß Tilda Elin an der Schulter an. »Schau mal, wir sind gleich da«, sagte sie und deutete aus dem vereisten Schlittenfenster. »Da ist schon der Brunkeberg.«

 

Der Brunkeberg erwies sich als großer Hügel, auf dem ein Feuerturm stand. Auf einer vereisten, schnurgeraden Straße glitt der Schlitten in Richtung Hafen. Alle Straßen waren hier gerade gezogen und von erstaunlich vielen neu aussehenden Steingebäuden gesäumt.

»Vor ein paar Jahren hat es hier gebrannt«, erzählte Tilda. »Königin Kristina ließ die ganzen Holzhäuser abreißen und baut jetzt Paläste. Wir fahren gerade auf der neuen Königinstraße, der Drottninggatan

Lovisa lächelte und sah aus dem Fenster. An diesem Vormittag ließ eine eisige Wintersonne ihre faltige Haut schimmern. Elin lehnte sich so weit wie möglich nach vorne, um einen Blick auf die Stadt zu erhaschen.

Nach kurzer Zeit kam der Hafen in Sicht und dahinter, durch einen Graben von Eis getrennt die Stadtinseln! Gesäumt von einem Ring von Schiffen, die über Winter an Land gezogen worden waren, lag Stockholm zwischen Mälarsee und Ostsee. Masten zeigten wie drohend erhobene Lanzen gen Himmel. Und direkt zwischen ihnen, so erschien es Elin, ragte der hohe Turm einer Kirche aus dem Häusergewirr hervor. Das Geräusch der Pferdehufe wechselte von einem knirschenden Trappeln zu dumpfen, tiefen Schlägen. Schlittenkufen trafen an einigen Stellen auf Holz, als der königliche Tross über die Brücke fuhr, die das Festland mit der zentralen Stadtinsel verband. Stockholm selbst war ganz anders als die Gegend am Brunkeberg. Zwar bestand die erste Häuserzeile direkt am Hafen aus prächtigen, palastartigen Gebäuden dahinter jedoch, jenseits der großen Straßen, entdeckte Elin verwinkelte Gässchen und Märkte. Das war nicht die goldene Märchenstadt, von der Emilia erzählt hatte! Ganz gewöhnliches Ziegelwerk leuchtete, als wollte es die wenigen Stunden Licht in sich aufsaugen. Viele Häuser waren mit »Falurödfärg« gestrichen, der billigen roten Farbe aus den Kupferminen von Falun. Sogar Holzgebäude entdeckte Elin in der Königsstadt. Die Straßen waren noch schmutziger als in Uppsala, aber was Elin wirklich erschütterte, war die unüberschaubare Menge an Leuten. Noch nie hatte sie so viele Menschen gesehen und noch dazu so viele, die fremdländische Kleidung trugen.

»Mach den Mund wieder zu«, sagte Lovisa. »Schau lieber dorthin, da kommt das Westtor des Schlosses!« Unmerklich war der Weg steiler geworden. Als Elin genauer hinsah, erkannte sie Wallgräben, eine hohe Festungsmauer und dahinter prächtige, helle Steingebäude, Türme und Spitzen. Das Schloss befand sich am Nordostrand der Insel zum Teil sah es sogar so aus, als wäre das Gebäude ein Teil der Insel. Zwischen den kupfergedeckten Zinnen und Gebäudedächern ragte ein runder Verteidigungsturm hervor. Nur bei genauem Hinsehen erkannte Elin auf seiner Spitze die drei goldenen Kronen.

Die Kutsche fuhr durch das von zwei Rundtürmen flankierte Tor und dann scharf nach links in den rechteckigen Innenhof der Burg. Als sei damit ein Bann von ihnen genommen, schnatterten alle Damen im Schlitten gleichzeitig los. Die Kutschentür flog auf und die blaugelbe Livree eines Dieners leuchtete auf. »Los, los!«, scheuchte eine plötzlich lebhaft gewordene Lovisa Elin auf. »Steig schon aus!«

Nach den unzähligen Stunden im Schlitten kam es Elin so vor, als würde sie schwankenden Boden betreten. Aus den anderen Schlitten quollen Röcke und mit Pelz umnähte Mäntel. Diener kamen herbeigelaufen, trugen Truhen, Packen von Stoff, Körbe und Kästen davon. Elin drückte ihr Bündel an sich und sah sich mit bangem Herzen um. Noch nie hatte sie sich so verloren gefühlt. Von weitem sah sie Magnus de la Gardie und die drei Franzosen aus dem Schlitten steigen. Der junge Marquis ließ sich stützen, sein Knie sah noch dicker aus als vor zwei Tagen.