DAS SCHLOSS

Jessikas Vater, mein Onkel Gustl, saß, wie ich schon erzählte, auf einem großen Schloß, das einem uralten und steinreichen Adelsgeschlecht gehörte. Von diesem Geschlecht war nur noch ein Mitglied, nämlich eine Gräfin, übrig. Diese Unglückliche besaß sechzig Schlösser, wußte aber offenbar mit keinem etwas richtig anzufangen, denn sie wohnte in Paris.

Das Schloß, das mein Onkel unter sich hatte — nebst gewaltigen Forsten, vielen Sägewerken und ähnlichen nützlichen Einrichtungen —, war ein riesiger Bau, ein dreistöckiges Rechteck mit weit über hundert Zimmern, großen Sälen, einem Archiv mit wunderschönen alten Pergamenten in Schweinsleder gebunden, einem großen Park und einem Marstall. Dieser ganze Komplex wurde von nur elf Personen bewohnt, nämlich von Tante und Onkel, Jessika und ihrer jüngsten Schwester Josefa (an der alles dick und gemütlich war und die ich nicht für voll nahm — sie mich auch nicht), der Köchin Anuschka, der Magd Marischka, dem Kutscher Ciglasch, dem Verwalter Niclas und seiner Frau und dem Gärtner Manek.

Vor zehn Jahren war die Gräfin einmal höchstpersönlich auf dem Schloß gewesen, aber sofort wieder ausgezogen, weil sie mit zwei Stühlen, die der Holzwurm sorgfältig unterhöhlt hatte, zusammengebrochen war. Auch erschreckten sie wohl der Muff und die Leere der vielen Räume mit ihrem langsam vermodernden Inventar. Sie fiel dann irgendeiner Bürgerabordnung in die Hände, der sie großzügig versprach, daß der Park jeden Sonntagmittag bis zum Abend für das Publikum geöffnet würde. Das Publikum machte seither von dieser höchstgräflichen Erlaubnis eifrig Gebrauch, wobei das Archiv eine besondere Anziehungskraft entwickelte. Die Bürger bezogen nämlich von dort ihr Toilettenpapier, das sie den Schweinslederbänden entnahmen. Die Einbände ließen sie freundlich stehen, vielleicht weil sie für Schuhsohlen zu mürbe waren. Onkel Gustl machte darüber einen Bericht an die Verwaltung in Paris, auf den niemals eine Antwort erfolgte. Im übrigen beschränkte er sich darauf, einige besondere Kostbarkeiten vor der trivialen Verwendung zu retten, und ließ sonst den Dingen ihren Lauf, denn wenn man auf den Bürgermeister, den Apotheker, den Redakteur und den Metzger beim abendlichen Tarock angewiesen ist, kann man ihnen unmöglich das schöne mürbe Toilettenpapier entziehen, ohne seine Gemütlichkeit zu gefährden.

Und Onkel Gustl war sehr für Gemütlichkeit: ein großer, stattlicher Mann mit kugelrunden, großen braunen Augen, einem schwarzen Schnurrbart, den er mit Brillantine und Schnurrbartbinde in einer aufwärts gesträubten Verfassung erhielt, und mit den von mir so bewunderten dicken Waden in grünen Jägerstrümpfen.

Ich bewunderte ihn überhaupt maßlos und suchte ihn in jeder Weise zu kopieren. Wenn er auf seiner Kanzlei saß und in quadratierte Bogen unendliche Zahlen von Holzkubikmetern eintrug, saß ich ihm gegenüber und fertigte ebensolche Zahlenreihen an. Ging er mit Büchse und Tabakspfeife fröhlich pfeifend in den Forst, so stolperte ich mit meiner Luftdruckbüchse und einer von ihm abgelegten, entsetzlich stinkenden Tabakspfeife im Mund neben ihm her. Selbstverständlich hatte ich auch ein grünes Jägerhütchen mit einer Feder auf. Es war nur schwierig, mit ihm Schritt zu halten, zwei Schritte auf jeden von ihm waren zu schnell, einer war zu langsam, und so versuchte ich es mit einer Kreuzung zwischen Laufschritt und Hüpfen, die er als >Hundegalopp< bezeichnete.

Jakob wurde in diesem Kreis zunächst nicht ungünstig aufg-nommen. Ich hatte ihm für die Fahrt ein größeres — natürlich gebrauchtes — Bauer von dem melancholischen Vogelhändler gekauft, in dem er wenigstens mit Schwanz und Schnabel unterkam. Im übrigen hatten wir meist nette Leute im Abteil, so daß ich ihn den größten Teil der Zeit herausholen konnte. Er benahm sich auch auffallend manierlich und zeigte die Ruhe eines weitgereisten jungen Mannes. Bei der Ankunft wurden wir von Ciglasch im zweispännigen Jagdwagen abgeholt. Ich bestand darauf, neben ihm auf dem Bock des Zweispänners zu sitzen, mit Jakob auf dem Knie. An Ciglasch war alles rot, das Haar, die Nase, die Haut und das Taschentuch. Jakob begrüßte ihn mit einem fröhlichen »Armleuchter!«, worüber sich Ciglasch die ganze Fahrt hindurch nicht beruhigen konnte: »Nein, so was Ulkiges, ein sprechender Vogel!« Es ging über Feldwege zwischen schon sehr hohem Getreide. Die dicken Kruppen der beiden Kutschpferde Lisi und Grete glänzten vor Schweiß. Die Peitsche knallte, der Wagen rollte sehr vornehm auf seinen Gummirädern, viele Leute am Weg blieben stehen und sahen uns nach. Es war alles sehr prächtig.

Jessika begrüßte mich mit der ganzen Würde einer jungen Schloßherrin und erklärte mir, sie hätte verschiedene große Keller unter dem Schloß entdeckt, durch die ich sie huckepack als Seeräuberbraut tragen dürfe. Josefa, deren Aussprache noch sehr undeutlich war, streckte mir sehr deutlich die Zunge heraus. Ich wimmelte beide ab und begann eine große Wiederentdeckungstour.

Ich war schon einmal auf dem Schloß gewesen und nahm jetzt sofort wieder Besitz davon. Vor allem wollte ich ja alles Jakob zeigen. Mit ihm auf der Schulter durchstreifte ich die grasüberwachsenen Wege des verwilderten Parks und schritt mutig und hocherhobenen Hauptes über die Brücke des Mühlgrabens, die zu betreten mir streng verboten war, weil sie kein Geländer hatte. Dann war ich schon drüben bei Manek, dem Gärtner. Er war ein ergrauter Junggeselle, roch immer etwas säuerlich und züchtete die größten Stachelbeeren, die ich je in meinem Leben gesehen und gegessen habe (ganz abgesehen von seinen Erdbeeren). Beide mußte Jakob versuchen. Mit den Stachelbeeren wußte er weniger anzufangen, er hackte hinein, der Saft spritzte ihm um die Ohren, und er ließ sie daraufhin ziemlich indigniert fallen. Erdbeeren dagegen liebte er. Er suchte sich die reifsten aus und schluckte sie Stück für Stück.

Am Abend kam dann Onkel Gustl aus dem Wald zurück. Jakob sprang ihm gleich auf die Schulter und führte sein ganzes Repertoire vor. Onkel Gustl war sehr beeindruckt und erklärte, wir wollten ihn gelegentlich mit auf die Kanzlei nehmen, da wolle er ihm noch verschiedenes für den nächsten Stammtisch beibringen. Tante Jenny protestierte, böser Ahnungen voll, wurde aber zum Schweigen gebracht.

Am nächsten Morgen war ich schon zeitig wieder auf. Es war ein Wochentag, und ich genoß in vollen Zügen das Privileg, den für das Publikum gesperrten Park allein zu besitzen. Jakob ließ ich laufen, und er vergnügte sich auf seine Weise im hohen Gras, indem er Blumen köpfte und Schmetterlinge fing, während ich mit dem Bau der ersten Burg aus heruntergebrochenen Zweigen begann. Ich errichtete sie auf einem kleinen Hügel, der ringsum freies Schußfeld hatte, so daß ich die Sioux-Indianer, falls sie sich durch die Prärie heranschleichen sollten, rechtzeitig entdecken konnte.

Nach einer Weile fiel mir Jakob wieder ein. Ich rief und erhielt keine Antwort. Schließlich fand ich ihn auf einem Seitenpfad mit einem eigenartigen Spiel beschäftigt. Er hatte eine Maulwurfsgrille entdeckt, ein sonderbares Insekt, ungefähr einen halben Finger lang, das vorne zwei richtige kleine dicke schräggestellte Grabepfötchen besaß. Jakob hatte es nicht umgebracht, sondern schleppte es im Hüpfetritt den Weg entlang und setzte es dann wieder hin. Die arme Maulwurfsgrille hatte nichts anderes im Kopf, als sich schleunigst wieder in ihrem Loch in Sicherheit zu bringen, das am Rande des verunkrauteten Weges lag. Jakob flatterte ihr voraus und wartete mit schiefgestelltem Kopf an dem Loch auf ihre Ankunft. Er ließ sie dann halb hereinschlüpfen, faßte blitzschnell zu, trug sie wieder zurück, und dann ging der ganze Spaß wieder von neuem los.

Als Tierfreund fand ich das gar nicht spaßhaft, sondern schnauzte ihn an und versuchte, ihm das gequälte Insekt zu entreißen, worauf er mich wütend anfauchte, es im letzten Augenblick mit einem furchtbaren Schnabelhieb in zwei Hälften zerlegte und auffraß.

Ich stand wie vom Blitz getroffen. Es war das erste- und übrigens einzigemal, daß meine fanatische Liebe zu dem schwarzen Geschöpf, das da vor mir saß und impertinent zu mir emporschielte, ernsthaft ins Wanken geriet. Vielleicht war diese Liebe unangebracht? Undeutlich fühlte ich die ungeheure Kluft, die uns trennte, obwohl uns das Schicksal so eng aneinandergebunden. Man muß bedenken, daß ich ein junger Mann von elf Jahren war, der nicht nur in seiner Traumwelt von Schlachten und Indianerjagden lebte und die Schule mit abnehmendem Erfolg besuchte, sondern daß ich auch eine gute Portion widerborstige Nachdenklichkeit in mir hatte, die ihren Niederschlag in einem ängstlich versteckten Schulheft mit der Aufschrift >Meine Weltanschauung< gefunden hatte. Es war das Ergebnis einer geistigen Unternehmung, die man auf der Ebene der Erwachsenen als »kritische Bibelforschung< bezeichnet hätte, die ich übrigens nicht nur in besagtem Schulheft verwertete, sondern mit der ich auch meine Religionslehrer zur Verzweiflung brachte.

Ich sah mich also wie aus einem Traum erwachend um, und plötzlich schien sich das Sonnenlicht zu entfärben. In der blauen Luft sah ich den Falken, der die Taube jagte. Den Baum zerfraßen die Würmer, zwischen seinen Zweigen bereiteten Spinnen harmlosen Insekten qualvollen Tod. In der Wiese überfielen Ameisen Würmer und Käfer. In den Wäldern wüteten Fuchs, Marder und Schlange unter dem anderen Getier, alles war aus einer Idylle, aus einem Bild des Friedens teuflisch verwandelt in eine große Hölle des Mordes und der Todesqualen.

Kurz von Entschluß und von einem tiefen Glauben an die Wirksamkeit amtlicher Maschinerie erfüllt, beschloß ich, mich beschwerdeführend an die zuständige Stelle zu wenden. Als solche bot sich selbstverständlich Hochwürden, der Pfarrer, dar.

Hochwürden bewohnte mit seiner Wirtschafterin ein kleines, sehr sauberes Häuschen neben der Kirche. Er war ein dicker, gemütlicher Mann mit einem Doppelkinn und lustigen Augen unter schweren Lidern, eine der beliebtesten Zielscheiben des Spötters Onkel Gustl. Wenn er zu Besuch ins Schloß kam, pflegte Onkel Gustl vor versammelter Familie eine Pantomime aufzuführen, wie Hochwürden die Deputatsgänse aß oder mit seiner Wirtschafterin schäkerte. Auch wurde ihm immer wieder versprochen, daß in der Hölle der Nachbarkessel neben dem von Onkel Gustl bereits für ihn reserviert sei. Er solle schon jetzt die nötigen Flaschen für das Wiedersehen bereitstellen. Nein — das sei ja kaum möglich — er tränke sie ja alle bei Lebzeiten aus! Vielleicht, daß sich Gott Bacchus aus dem alten Heidenhimmel herunter noch für ihn verwende! Sein durch Bacchus vor der Christenhölle bewahrter Geist werde dann wohl beseligt durch die Weinkeller seiner Pfarrkinder schweben, und am nächsten Morgen würden besagte Pfarrkinder baß erstaunt sein, wenn der Wein in Fässern und Flaschen verdunstet sei. Onkel Gustl führte auch handgreiflich vor, wie es gluckerte, wenn man Hochwürden nach dem Mittagessen auf den Bauch klopfte.

Hochwürden pflegte sich diese lästerlichen Reden schmunzelnd anzuhören und erklärte einmal, als ich dabei war und offenen Mundes und gruseliger Erwartungen voll darauf lauerte, daß sich nun unter Onkel Gustl die Erde öffnen oder ihn der Blitz erschlagen werde: »Nimm deinen Onkel nicht ernst, mein Sohn! Er ist im Grunde ein lieber Kerl und guter Christ. Er schämt sich nur dessen. Warum, das weiß der Himmel. Jedenfalls ist er mir lieber als alle diese Haufen von Heuchlern, die ich tagein, tagaus verarzten muß (»verarzten« sagte er ernsthaft!) und die nur zu mir kommen, damit ihnen ihre alten Gemeinheiten verziehen werden, auf daß sie neue begehen können.«

Worauf Onkel Gustl lachend das Glas gegen ihn gehoben und ihn einen »ganz verdammten alten Seelenfänger« genannt hatte.

Ich wanderte also mit Jakob auf der Hand aus dem Park zum Pfarrhaus, wo es wie üblich intensiv nach gutem Essen duftete. Es war kurz vor Mittag. Die Köchin führte mich zu Hochwürden hinein, der in seiner Fensternische bei den Blumen saß und ein dickes Buch auf den Knien hatte. Er legte das Buch beiseite, nahm die Brille ab und streckte mir eine kleine dicke Hand entgegen. »Ei — sieh da, das Hänschen! Willst du mit uns essen? Und das Jaköble ist auch mitgekommen! Dein Onkel hat mir schon davon erzählt, und hier im Ort bist du seinetwegen eine Sehenswürdigkeit!«

Jakob machte sich in der fremden Umgebung ängstlich dünn und preßte sich an mich, ohne daß er wie sonst meine schützende Hand zu fühlen bekam. Darauf kroch er auf meine Schulter, kaute mein Ohrläppchen durch und sagte mir ganz leise und vertraulich »Tschack-tschack — Kakao!« ins Ohr.

»Hochwürden«, sagte ich gewichtig, einen Stuhl ihm gegenüber erkletternd, »haben Sie einen alten Lappen?«

Hochwürden zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Es ist wegen Jakob«, erklärte ich, »falls er was fallen läßt.«

Worauf Hochwürden dröhnend lachte: »Das wischen wir schon weg. Und was gibt’s denn sonst noch? Du hast doch was auf dem Herzen!«

»Sie wissen, ich bin evangelisch, Hochwürden, aber Sie wissen ja auch in der Bibel Bescheid. Ich möchte Sie etwas fragen.«

Er faltete die Hände über dem Bauch und sah mich forschend an: »Frag nur, mein Kind. Außerdem gibt es ja — soviel ich weiß — nur einen lieben Gott, dem wir alle dienen, so gut wir es verstehen.«

Ich erzählte das Erlebnis mit Jakob und meine Zweifel. Je weiter ich sprach, desto nachdenklicher wurde er, und ich hatte das angenehme Gefühl, von ihm durchaus ernst genommen zu werden. Schließlich stand er auf und dröhnte ein paarmal schweren Schrittes durch den großen dunklen Raum mit den Butzenscheiben, den gewaltigen Eichenstühlen und den Zinnkrügen auf den Borden. Dann blieb er vor mir stehen und legte mir die Hand auf die Schulter:

»Es ist schön von dir, daß du so nachdenkst und nicht in den Tag hineinlebst! Nun — mein Sohn, das sind sehr, sehr schwere Probleme. Um sie zu begreifen, reicht unser kleiner Verstand nicht aus.«

Er räusperte sich, als er mein enttäuschtes Gesicht sah, und fuhr hastig fort: »Ich will dich aber nicht mit solchen allgemeinen Phrasen abspeisen. Ich habe selbst — vielleicht sündigerweise — über diese und viele andere Dinge nachgedacht. Ich habe um Erleuchtung gerungen...« Er seufzte und sah traurig auf seinen Bauch. »Es ist nicht viel dabei herausgekommen«, fügte er dann hinzu, und ich verstand plötzlich in kindlicher Intuition, warum Onkel Gustl neulich nach einem Besuch des Pfarrers zu meiner Mama gesagt hatte: »Wenn sich das gute alte Faß eines Tages zu Tode säuft, weiß ich nicht, was ich ohne ihn in diesem Drecknest hier anfangen soll!«

»Immerhin«, sagte die schwermütige Stimme, »glaube ich, dir folgendes sagen zu können: Dein Jakob ist nicht grausam, denn er weiß nicht, daß der arme Käfer Schmerzen hat, wenn er ihn zerreißt. Die Natur ist auch nicht grausam, denn sie handelt nicht von sich aus, sie ist nicht wie ein lebendiges Wesen, das weiß: jetzt tue ich dies oder jenes. Sie läuft ab wie ein großes Uhrwerk, das Gott gebaut und aufgezogen hat, damit es nach seinem Willen eine Weile läuft. Du kannst dich also ruhig weiter an ihr freuen als an dem großen Wunder des Herrn. Seine Hand mußt du in allem erkennen. Was siehst du mich so entsetzt an — glaubst du mir nicht?«

»Doch, Hochwürden«, stammelte ich, »aber wenn das so ist, dann... dann ist ja Gott grausam und... sündig! Denn er weiß doch bestimmt, was er tut, wenn er arme Tiere, die nichts getan haben, so leiden läßt!«

Die Augen in dem guten dicken Gesicht wurden ganz dunkel, dann sah er zum Fenster hinaus, und plötzlich war es ein anderer Mensch, ein viel hagerer, jüngerer. So hatte er vielleicht ausgesehen in der Zeit, als er noch keinen Bauch hatte und um Erkenntnis rang...

»In der Bibel steht...«, begann er schließlich. Er sah mich an und machte eine Handbewegung, als schiebe er ein dickes Buch beiseite. »Ich will es dir anders erklären. Weißt du, was Perspektive ist?«

»Ja, wir hatten’s in der Zeichenstunde.«

»Gut. Du siehst den großen Baum in der Ferne kleiner als den niedrigen Busch gerade vor dir. Stimmt das?«

»Ja, natürlich«, sagte ich erstaunt, »das ist doch eben die Perspektive!«

Seine Hand wischte wieder etwas weg: »Perspektive! Die Menschen kleben ein Etikett auf eine Sache und glauben, damit sei sie erklärt. In Wirklichkeit belügen dich deine Augen. Sie zeigen dir etwas, was nicht stimmt. Hm?«

Ich überlegte es eine Weile. »Ja, das ist richtig«, sagte ich dann.

»Gut, sieh auf zum Himmel. Hattet ihr schon Astronomie in der Schule?«

»Gerade angefangen.«

»Nun, die Sterne, die du dort alle zu gleicher Zeit nebeneinander siehst, sie sind nicht zu gleicher Zeit da, denn das Licht von ihnen her braucht Hunderttausende von Jahren, bis es zu uns kommt. Vielleicht sind die meisten von ihnen längst erloschen oder zerplatzt. Trotzdem sehen wir sie nebeneinander und zu gleicher Zeit. Also — wieder stimmt nicht, was du siehst. Ich gebe dir noch ein anderes Beispiel: Wenn dich auf dem Schulhof ein kleiner sechsjähriger Spatz aus der ersten Klasse trifft, und du sprichst mit ihm, wird er sagen: »Ein großer Junge hat mit mir geredet.«

»Klar, m... hm, Hochwürden!«

»Nun, und wenn du zu einem Abiturienten sprichst, dann wird er sagen: »So ‘n Hosenmatz aus der Quinta hat mich angeredet.«

»Hm...«

»Nun, nimm ihm das nicht übel, denn er wieder muß es sich gefallen lassen, daß ich ihn ein junges Bürschchen nennen würde, wenn er mit mir redete, und so wieder würde der Herr Bischof von mir sagen, wenn ich mit ihm spräche. Stimmt’s?«

»Ja...«

»Nun! Noch ein Wort: Es gibt nicht groß und klein, lang und kurz, alt und jung — du kannst nur sagen: es kommt mir so vor, ich sehe es so. Aber du hast ja schon gemerkt, daß wir meist falsch sehen. Und deshalb kannst du auch nicht sagen, die Natur ist grausam, oder Gott ist grausam, du siehst es nur so, weil du es nur aus deinem kleinen Winkel siehst...« Er seufzte: »Wie es in Wirklichkeit ist, das weiß Gott allein.«

Ich versuchte in seinen Augen zu lesen, um die sich jetzt wieder die gewohnten Strahlenfältchen des Lächelns gebildet hatten, dann sagte ich: »Wenn wir nichts wissen, woher wissen wir dann, daß Gott es weiß?«

Er bekreuzigte sich und starrte mich eine Weile an. Allmählich gingen seine Augen durch mich hindurch, und es war mir, als starrte ich in eine unendliche Nacht und fröre. Ganz von fern hörte ich dann seine Stimme: »Du wirst es eines Tages — oder eines Nachts — wissen. Und ich werde für dich beten, daß dieser Augenblick dich nicht zu spät erreicht.«

In diesem Augenblick wurden wir uns eines seltsamen Geräusches bewußt, eines Flatterns und Klirrens und unartikulierten Krähens, das aus dem Nebenzimmer drang. Während wir noch lauschend schwiegen, stürzte die Wirtschafterin mit allen Zeichen des Entsetzens herein: »Hochwürden — Hochwürden — der schwarze Teufel bringt die Lora um!«

Hochwürden war mit erstaunlicher Schnelligkeit auf den Füßen und noch vor mir im anderen Zimmer, wo sich uns folgendes Bild bot: Auf dem breiten Fensterbrett, das zum Garten hinausführte, stand das große Papageienbauer, und darin saß, wie es sich gehörte, die grüne Lora. Das heißt, sie saß kaum noch, sie hing nur noch an der Stange, die Flügel zitternd seitwärts gesenkt, den Schnabel aufgerissen, und aus dem Schnabel quoll dickes, rotes Blut. Vor dem Bauer saß, in Schlangenstellung mit Basiliskenblick, Jakob und keifte:

»Armleuchter — Schulmeister — Scheißkerl!« (das letzte Ergebnis aus Onkel Gustls Sprachunterricht).

»Amen...«, fauchte Lora undeutlich, »Maria... die Suppe...« Und nachdem sie so die Schlachtrufe getauscht, rückte Lora gegen das Gitter vor, den gekrümmten Schnabel weit aufgerissen. Bevor sie jedoch zubeißen konnte, schlug der spitze Dolch Jakobs blitzschnell zu, mitten in die dicke, gewölbte Papageienzunge. Lora stieß ein wehes Krächzen aus und wandte sich um. Bei dieser Gelegenheit riß ihr Jakob eine weitere Schwanzfeder aus. Zwei hatte er schon neben sich liegen. Lora flatterte in Panik gegen die Decke des Bauers. Jakob sprang mit wildem »Kakao-Kakao-UItruspultrus« auf das Bauer und holte zu einem neuen Hieb aus, als ich ihn packte. Er biß mich wütend in die Hand, worauf ich ihn so schüttelte, daß selbst sein stoßfest aufgehängtes Gehirn zu schlackern begann. Dann trug ich den fauchenden Wüterich ins Nebenzimmer, wo ich ihn auf eine Stuhllehne setzte und ihm »Büßen!« anbefahl. Er tat es, und Hochwürden, der mit gerötetem Gesicht hinter mir herkam, nachdem er seinen ramponierten Piepmatz getröstet hatte, sah es sich schweigend an.

Ich wandte mich zu ihm um: »Da sehen Sie’s mal selbst!« sagte ich.

Ja, grollte er dumpf, er sehe es.

»Jetzt würden Sie ihm wohl am liebsten das Genick umdrehen?« forschte ich weiter.

Er könne diesen Wunsch nicht leugnen. Obwohl er natürlich sündig sei!

»Na«, sagte ich und nahm mein Jägerhütchen vom Stuhl, »dann werde ich lieber gehen.«

»Tue das, mein Sohn, tue das!«

Ich griff meinen Jakob, setzte das Hütchen auf, gab Hochwürden die Hand und machte eine besonders tiefe, formelle Verbeugung. Seine Hand war schlaff und kalt und drängte mich weg. Mir kamen die Tränen:

»Sie haben selbst gesagt, er weiß nicht, daß er grausam ist... Er ist unschuldig... haben Sie selbst... gesagt...«

Und dann ging ich. Auf der Schwelle packte mich ein unvermutet starker Griff und zog mich zurück, bis ich wieder mitten im Zimmer stand. Dann trat Hochwürden von mir zurück und sah mich von oben bis unten an:

»Was willst du denn mal werden, du... du...«

»Nonplusultra...«, sagte ich, unter Tränen lächelnd.

»Ha?«

»Nonplusultra nennt mich mein Opapa. Ultruspultrus sagt Jakob. Und ich will Offizier werden.«

Im Gesicht Hochwürdens arbeitete es, er lief mehr und mehr rot an, und schließlich barst aus ihm ein Gelächter, ein gewaltiges, erschütterndes, falstaffisches Gelächter, das, aus dem Bauch aufgrollend, die Brust durchschüttelte und schließlich aus dem Mund brüllte. Mit Hinfallen auf den nächsten Stuhl und lautem Schenkelschlagen. Solch ein Gelächter kennt man heute gar nicht mehr, weil die dicken Bäuche, zu denen es gehört, zu selten geworden sind. Die paar Leute, die heute noch solche Bäuche tragen, sind darüber besorgt und lassen sich Hormone spritzen. Damals aber, in jener Märchen-Friedenszeit, trug man noch Bauch mit Stolz.

»Offizier...«, keuchte er endlich, »viel zu schade! Mit dem Köpfchen... Rechtsanwalt... Rechtsverdreher... oder Diplomat oder...«

Hier mußte er husten, sich in ein buntes Taschentuch schnauben, die Tränen ab wischen.

»Maria...«, sagte er endlich schwach, »legen Sie noch ein Gedeck auf, dieses Gespann bleibt zu Mittag hier.« Er strich Jakob vorsichtig über den gesträubten Schopf.

»Ihr seid einander wert!«

»Armleuchter!« sagte Jakob.

Die Tage begannen zu fliegen. Immerzu war eine Woche um.

Es war Sonntag und ganz besonders schön. Die Sonne brütete schon mit hochsommerlicher Wärme und schüttete so viel Gold über das langsam in den moorigen Untergrund versinkende Schloß, daß es aussah wie frisch gewaschen. Oben um den Turm kreiste ein Falkenpaar. Im Hof lärmten die Spatzen und stoben auseinander, als ich mit Jakob auf dem Arm zu Ciglasch in den Stall ging. Dort schossen die Schwalben aus und ein in den kühlen Gewölben. Die verschmutzten kleinen Scheiben ließen nur wenig Licht durch, so daß man immer in einem Halbdunkel stand, in dem die Pferdehinterteile mit ihren langen Schwänzen gewaltig aufragten. Ab und zu ein Stampfen und Klirren, eine Mähne wurde geschüttelt, ein weiches Maul mahlte schnurpelnd in der Krippe.

Jakob war gern hier, weil es so viele Fliegen gab, vor allem die dicken Pferdebremsen, die lautlos die schön gestriegelten blutvollen Pferdekörper anflogen und ihren Stachel hineinsenkten.

Die beiden Kutschpferde Lisi und Grete hatten Jakob bei seinem ersten Auftritt mit wilden Panik-Augen betrachtet. So ein Pferd kann ja, wenn es etwas Ungewohntes sieht, das Auge aufreißen und ein Gesicht machen, daß es einem kalt über den Rücken läuft. Jakob hatte sich zuerst eine strategische Position auf der Scheidewand zwischen den beiden Boxen gesucht. Nach einer Weile, während er dort entlanghampelte und offensichtlich Fliegen fing, näherte sich ihm schnaubend ein riesiges Pferdemaul. Er hatte der Versuchung widerstanden, hineinzuhacken oder an die Decke zu flattern und verrückt zu spielen, hatte ganz still, wenn auch etwas dünn dagesessen und nur einmal »Tschack-tschack« gesagt. Nachdem die gegenseitige Besichtigung zur Zufriedenheit ausgefallen war, hatte Lisi, die ihn zunächst beschnuppert hatte, die Mähne geschüttelt und sich wieder dem Geschäft des Fressens gewidmet, ab und zu mit dem Schwanz schlagend oder den Kopf nach hinten werfend, um eine allzu hartnäckige Bremse zu verscheuchen. Dann hatte auch Grete Jakob besichtigt und sich von seiner Harmlosigkeit überzeugt. Beide hatten ihn aber während des Fressens im Auge behalten und beobachtet, wie er die Insekten vertilgte. Beim zweiten oder dritten Besuch hatte sich dann Jakob plötzlich von der Holzwand in Lisls Box heruntergelassen und dort die Jagd nach Fliegen aufgenommen. Sie hatte erst ein bißchen geschaut, dann aber sofort verstanden, worum es sich handelte. Ich hatte die ganze Sache mit angehaltenem Atem, auf Ciglaschs Schemel hockend, beobachtet. Jetzt setzte sich eine dicke Bremse auf Lisls rechtes Vorderbein. Sie zitterte mit der Haut, die Bremse machte einen kleinen Bogen und ließ sich dann an genau der gleichen Stelle wieder nieder. Lisi hörte auf zu fressen und sah schnaubend herunter. In diesem Augenblick sprang Jakob an ihrem Bein hoch, krallte sich eine Sekunde fest, und schon hatte er die Blutsaugerin erwischt. Von oben hatte sich der ungeheure Pferdekopf auf ihn niedergesenkt und ihn warm angeblasen.

Seitdem hatte er völlig freie Bahn. Er konnte sogar, wenn es ihm paßte, den beiden auf dem Rücken herumspazieren, und wenn sie, während er in den unteren Regionen tätig war, aus dem Stall geführt wurden, rollten sie die Augen, schnaubten und setzten die Füße ganz vorsichtig, um ihm ja nichts zu tun.

»Gell... da schaut’s, das Vogerl«, hatte Ciglasch erklärt, »a g’scheit’s Vogerl hat der junge Herr!«

Heute hatte ich nur einen kurzen Meinungsaustausch mit Ciglasch, in dem es sich hauptsächlich um das Wetter drehte. Dann wanderten wir in den Schloßpark. Ich setzte Jakob auf den Boden und ging pfeifend zur Gärtnerei. Er kam hinterher, teils laufend, teils hüpfflatternd, manchmal ärgerlich schimpfend, wenn ich ihm zu schnell ging. An sich war ich ihm immer noch etwas böse, wegen der Maulwurfsgrille.

Bei Manek, der vor mir die Mütze zog und den ich jovial begrüßte, nahm ich ein paar dicke Stachelbeeren, und dann kroch ich durch die Hecke auf den Acker, der an die Gärtnerei grenzte. Dort war gleich vom ein Streifen Brachland, auf dem sich Jakob besonders gern auf hielt, weil es da so viel zu wühlen und zu jagen gab. Ich setzte mich auf einen Stein am Rand und starrte auf die Erde. Das machte ich manchmal gem. Ich sah mir dann jedes bißchen an, jeden einzelnen Kiesel, jeden Halm, jede Wurzel, jeden Riß in der Erde und jedes Insekt. Und je länger man sich die Erde so ganz genau ansah, desto interessanter wurde es.

Plötzlich war über mir ein Krächzen. Ein Geschwader von vier Krähen kam durch die Luft gepumpt, schlug einen Kreis über mir, beäugte sich im Tiefflug Jakob und ließ sich dann ein paar Meter von ihm entfernt in den Ackerfurchen nieder. Jakob saß wie versteinert. Dann ging er ganz vorsichtig an seine großen Verwandten heran. Die hackten emsig und sehr sachlich mit ihren Schnäbeln, watschelten auch ein paar Schritte, sahen sich um und holten wieder etwas aus dem Boden. Jetzt war Jakob nur noch einen Meter von der vordersten entfernt. Mit langem Hals beäugte er, was sie da fraß. Dann nahm er selbst etwas und versuchte, mit einem unverbindlichen »Tschack-tschack-kraaoooo« eine Unterhaltung anzufangen. Die Krähe hob den Kopf, maß ihn mit einem kurzen Blick, stieß ein tiefes, heiseres »Kark!« aus und ging weiter. Jakob hüpfte dienstfertig neben ihr dahin. Als sie erneut den Kopf senkte, um etwas aufzuzwicken, steckte auch er den Schnabel dazu, ungemeines Interesse an diesem Fund heuchelnd. Sie schluckte ihn herunter und gab ihm dann so ganz nebenbei einen Schnabelhieb über den Rücken. Er sprang zur Seite, schrie kurz auf, blieb aber dann sitzen, putzte sich das Gefieder, kratzte sich hinter dem Ohr und gab auf alle mögliche Weise zu erkennen, daß es ihm nur um die Unterhaltung ginge, daß er auf gar keinen Fall — um Gottes willen, niemals! — die Absicht habe, der Frau Tante etwa einen Wurm streitig zu machen. Zwei andere Krähen kamen herangewatschelt und sahen ihn sich ebenfalls an. Er imponierte ihnen offensichtlich gar nicht. Dann gab die vierte ein Signal, und plötzlich erhoben sich alle mit schwerem Flügelschlagen und strichen gegen den Wald ab. Das Jaköbchen blieb zurück. Er pumpte mit den Flügeln, er stieg gackernd in die Höhe, höher, als ich ihn jemals hatte fliegen sehen, mindestens zehn Meter hoch, zu mehr aber langte es nicht mit seinen gestutzten Flügeln. Und er landete in einem elenden Sturzflug im Acker.

Ich rannte zu ihm. Mein ganzer Zorn über die Maulwurfsgrille war verflogen: »Ach... mein Jaköbchen, mein armes Jaköbchen!« sagte ich und nahm ihn in die Hand. Sein Herz schlug wie rasend, immer noch machte er einen dünnen Hals, pumpte mit den Flügeln und folgte mit den Augen sehnsüchtig den vier Schatten, die über den fernen Wipfeln kreisten.

Ich war zunächst ratlos. Dann fand ich, ich sollte ihn aufheben und wegtragen, ins Haus zurück. — Ja, das war das beste. Da sah er eine Weile den Himmel nicht, der ihm durch uns Menschen versagt wurde, obwohl er doch seine Heimat war...