STADT

Als eine weitere Klippe in den nächsten Tagen erwies sich Frau Meier, die Wirtin. Sie hatte ein saures Gesicht geschnitten und war hinter dem Stubenmädchen in unser Zimmer gekrochen, um nach Klecksen zu suchen. Hinter denen war ich aber her wie der Teufel hinter der armen Seele. Ich blieb den ganzen Tag in einem Wischen und Polieren, damit man uns nichts nachsagen konnte. Frau Meier fand sich denn auch mit Jakobs Existenz ab, zumal er der Liebling aller Gäste wurde, die sogar andere Gäste zum Kaffee mitbrachten, um die zahme Dohle zu bewundern.

Wenn Jakob nicht fraß, entfaltete er eine fieberhafte Tätigkeit. Wie er überhaupt zeit seines Lebens den Eindruck machte, ungeheuer in Eile zu sein. Was gab es aber auch alles zu tim! Da mußte er zum Beispiel eine Kaffeetasse mit aller Kraft an den Gartentischrand wuchten und herunterfallen lassen. (Die Wirtin setzte sie uns zum doppelten Preis auf die Rechnung!) Vom Tisch flatterte er zu Boden, schlich sich von hinten an Emil (>Geh in die Sonne — beweg dich!<) heran, stieg ihm auf den Fuß und hackte ihm durch die Löcher seiner Sandale in die Zehen. Alle — außer Emil — fanden das zum Schreien komisch. Dann köpfte Jakob schnell ein paar Blumen auf dem Beet (worüber die Wirtin weniger begeistert war, weil sie nicht wußte, wie sie sie berechnen sollte) und erflatterte dann den in den Garten hineinragenden Felsen, auf dessen Existenz im Prospekt der Pension besonders hingewiesen war. Aus einer Ritze dieses Felsens förderte er eines Tages mit gewaltigem Gegacker und Gezerre etwas Weißes zutage, das immer länger wurde und schließlich einerseits die Aufmerksamkeit der Wirtin und andererseits die Bestürzung zweier Gäste hervorrief. Es war, wie die Untersuchung dann ergab, ein Handtuch, in dem unzweifelhaft ein großes Brandloch, offenbar von einer Zigarre, entstanden war. Die Mieter von Zimmer drei hatten es achselzuckend als >verschwunden< bezeichnet. Jetzt mußten sie’s bezahlen. Seitdem waren sie bedeutend weniger freundlich zu Jakob...

Die anderen aber erhielten ihm ihre Sympathie. Vor allem wetteiferten sie darin, ihm Sprachunterricht zu erteilen. Die Damen brachten ihm so blödsinnige Worte wie >Kakao< und >Danke schön< bei, während die Herren unter viel Gekicher und Protest der Damenwelt mit ihm in eine Ecke zogen und ihm dort weit weniger harmlose Redensarten einzutrichtern versuchten. Jakob hörte sich das alles mit schiefem Kopf an, hackte auf den Ringen herum, drehte Knöpfe ab, zog Nadeln aus den Schlipsen und Uhren aus den Brusttaschen und sprach auch manchmal ein Wort nach. Am besten gelang ihm »Armleuchter«, das ihm ein dicker Reisender in Unterwäsche beigebracht hatte.

Während der ganzen drei Wochen, in denen man so seine Erziehung vervollkommnete, sein Schwänzchen wuchs und sich der gelbe Rand um den Schnabel verlor, korrespondierte die Mama mit den Großeltern. Was sich im einzelnen zwischen den höheren Instanzen abgespielt hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie schließlich, kurz vor unserer Abfahrt, wieder einen Brief erhielt, zu mir in den Garten gerannt kam und mich umarmte: »Wir können ihn mitnehmen!«

Ich starrte sie — mit Jakob auf der Hand — entgeistert an. Der Gedanke, daß ich ihn etwa hätte zurücklassen müssen, war mir auch nicht im Traum gekommen. Jetzt erst wurde mir der ganze Schrecken dieser Möglichkeit klar. Ich preßte meinen kleinen Freund an mich und zitterte. Die Mama kniete sich vor mich hin und umarmte mich nochmals: »Aber wir dürfen ihn doch mitnehmen, mein Junge, du brauchst doch nicht zu zittern!«

»Mein Jaköble«, stammelte ich, »mein liebes, kleines Jaköble...«, und dann rannte ich mit ihm weg auf die Wiese. Dort studierte und bewunderte ich ihn zum hundertsten Male: den kräftigen Schnabel, auf dessen oberem Ende ein paar Federn lagen wie dicke Haare, das graue Brustgefieder, das immer etwas unordentlich um die Flügel herumstand, die Flügel selbst, die ich so gern zwischen meinen Fingern hielt und unter denen er richtig kitzlig war wie ein Mensch, die frechen Augen, über die er eine Haut ziehen konnte, die kleinen Federplättchen rechts und links am Kopf, unter denen seine Ohrlöcher lagen, die dünnen, gepanzerten Füße und die Krallen.

Genauso studierte Jakob aber auch mich. Zunächst war mein Anzug sehr interessant, besonders die Hirschhornknöpfe an meiner kleinen Jägerjoppe. Dann der Inhalt meiner Jackentaschen. Er kroch mit dem ganzen Kopf hinein und holte Bindfäden, das Taschenmesser und die bunten Steine heraus, die ich gesammelt hatte. Sehr interessant war offenbar auch mein Kopf. Er fuhr mir mit dem Schnabel in den Mund, sperrte dann den Schnabel auf und konnte mir auf diese Weise in den Mund hineinsehen. Er hackte leise gegen meine Zähne, fuhr mir ganz vorsichtig mit dem Schnabel in die Nasenlöcher und in die Ohren, zerrte an meinen Haaren und kaute, wenn er zärtlicher Laune war, ganz behutsam mein Ohrläppchen durch. Von größtem Interesse waren auch meine Augen. Wenn ich ihn, auf meiner Hand sitzend, vor das Gesicht hob, drehte er auf die ulkigste Weise den Kopf bald vor das eine, bald vor das andere Auge. Dabei wurde er ganz dünn vor Aufregung und sehr gesprächig. Ich kam schließlich darauf, daß er sich in meinen Augen spiegelte und einen anderen Miniatur-Jakob sah.

Als wir uns so gegenseitig genügend bewundert hatten, sprang er von meiner Hand herunter in die Wiese und watschelte gravitätisch darin herum. Er köpfte ein paar Blumen, drehte Steine um, bohrte den Schnabel in irgendwelche Löcher und pickte jetzt schon selbständig Käfer, Schmetterlinge und Raupen von den Halmen. Die Zeit verging, ein bunter, schöner Traum. Luftgewehr und Soldaten waren vergessen, es gab nur noch uns beide.

Plötzlich war es Abend, Zeit zum Essen. Infolge des Schreckens konnte ich diesmal nicht viel hinunterbringen, aber ich war unsäglich glücklich. Er saß wieder auf meiner Stuhllehne, mit dem Tuschlappen dahinter auf der Erde und bekam von allem etwas ab. Schließlich wurde er müde, und das war etwas, worauf ich schon immer wartete. Erst riß er ein dutzendmal den großen Schnabel auf. Dann schob er immer häufiger eine bläuliche Haut vor seine Augen, und schließlich saß nur noch die kopflose Federkugel da, die auf einem dünnen Bein balancierte. Wenn es dann zum Schlafen ging und ich ihn aufwecken mußte, um ihn unter seine Drahtglocke zu tragen, kam erst eine glühheiße Kralle aus dem Daunengefieder, dann erschien auch der Kopf, der Schnabel wurde gähnend aufgesperrt, schlaftrunken taumelte das ganze Gebäude auf meinem Finger hin und her und ließ sich ohne Widerstand verstauen. »Gute Nacht, Jakob!« sagte ich, während ich ein Handtuch über das Bauer legte.

»Gunajapop...«, kam die schlaftrunkene Antwort.

Allmählich erkundete ich nicht nur das Körperliche, sondern auch den Charakter meines kleinen Freundes. Er bewies, wie ich schon erwähnte, ausgesprochenen Mut gegenüber Hund und Katze. Besonders darunter zu leiden hatte der Pekinese Fu, der im Kreise seiner Wirts-Familie >Schellfisch-Käse< genannt wurde, weil er — so behauptete die Familie — abwechselnd nach Schellfisch und nach Käse roch, manchmal auch nach beidem gleichzeitig, jedenfalls niemals gut. Wenn sich diese durch ihre eingedrückte Nase schnurchelnde Fellraupe mit dem hinten hereingesteckten Staubwedel als Schwanz über die Kieswege des Pensionsgartens quälte, versuchte Jakob mit allen Mitteln, sich ihr zu nähern. Saß er gerade unter der Drahtglocke, so ratterte er todsicher damit auf ihn zu. War er in Freiheit, so stellte er sich ihm in den Weg. Das erstemal hatte der Schellfischkäse versucht, sich Bahn zu brechen, aber ein krachender Schnabelhieb auf die Nase hatte ihn blindlings in die Flucht gejagt. Später machte er deshalb einfach kehrt, was ihn aber nicht davor bewahrte, daß Jakob ihm wie ein Adler auf den Rücken sprang und anfing, ihm die Haare auszureißen. Er nahm immer gerade so viel in den Schnabel, wie er ausrupfen konnte, und ließ sich nur mit größter Wut von seinem Opfer entfernen.

Dieser Mut, mit Bosheit verwoben, konnte aber ebenso rasch in rasende Angst Umschlägen, wenn er auf unerwarteten Widerstand stieß oder sonst etwas Unvermutetes geschah. So zum Beispiel, wenn jemand ein Tuch aus dem Fenster ausschüttelte oder ein an den Stuhl gelehnter Regenschirm umfiel, an dessen Zwinge er mit aller Kraft gehackt und gezerrt hatte, als hinge sein Leben davon ab. Dann wurde sein Hals lang und dünn, die Federn legten sich dicht an den Kopf, der ganze Vogel schien von unsichtbarer Hand in die Länge gezerrt zu werden, die gestutzten Schwungfedern hoben und senkten sich in jammervollen Flugversuchen, während die Augen die Umgebung absuchten und das kleine Herz wie ein Hammer schlug. Außerdem fiel sofort ein Klecks, gewissermaßen als Auspuff der inneren Spannung. Im Zimmer genügte ein ungewohntes Geräusch oder eine Bewegung, ein Fremder, der eintrat, um ihn in hühnerhafter Hysterie kreischend und gackernd gegen die Decke flattern zu lassen. Er hatte ein besonderes Geschick darin, seine Notlandungen in Geländestreifen zu legen, wo möglichst viel umfiel und zerbrach. Das wiederum war neuer Anlaß zu einem Segelflug, und die kreischende Angst schraubte sich immer höher, bis ich ihn schließlich zu fassen bekam und an meiner Brust barg. Am besten war es, wenn ich eine Jacke anhatte und ihn darunterstecken konnte. Dort, in der Dunkelheit und am Herzen seines Menschen, kam er schnell zur Ruhe, was mein Selbstgefühl und meine Zuneigung ins Ungemessene steigerte. Hier, in dieser kleinen Seele, war ich nicht mehr Objekt von Lehrern, Eltern und Schulkameraden, hier war ich Beschützer, Herr und Meister. Ein Wesen wenigstens verließ sich ganz auf mich.

Jakob hatte auch ausgesprochene Sympathien und Antipathien. Konnte er jemanden nicht leiden, so duckte er sich, daß Kopf, Rücken und Schwanz eine gerade Linie bildeten. Seine grauen Augen drehten sich nach vorn, was ihnen einen basiliskenhaften Ausdruck verlieh. In dieser Stellung schlich er sich gegen den Verhaßten an und schoß plötzlich zum Angriff vor. Es war weniger ein Schlag als ein stoßender Biß, und der ging durch bis ins rohe Fleisch.

Ebenso gradlinig drückte sich seine Sympathie aus, doch zeigte er sich dabei deutlicher Abstufungen fähig. Bei dieser Gelegenheit stellte ich mit Erstaunen fest, daß er auch ein geschickter Diplomat war. Ich war zum Beispiel sein Mensch, sein Beschützer, sein Transportmittel. Auf mir wurde mit der ganzen Achtlosigkeit gesicherter Liebe herumgetreten, am Haar geziept, der Kragenknopf mit gewaltigen Hieben behämmert, in die Hand gezwickt und Fäden aus der Jacke gerissen. Ganz anders jedoch waren seine Beziehungen zur Mama. Ihr gegenüber gab er sich absolut charmant. Er setzte sich zu ihr auf den Nähtisch, sortierte die Druckknöpfe, aber sehr artig, indem er sie nur leise durcheinanderschob und höchstens gelegentlich verschluckte. Er bewunderte den Mechanismus der Stickschere und plauderte im übrigen wie ein kleiner Kavalier. Ungefähr: »Tschack-tschack, Kakao — buuhh — Hansemännchen —«, und (besonders deutlich) »Armleuchter!«

Die Mama ließ dann die ewig fleißigen Hände sinken, strich ihm über das Köpfchen, das sich gehorsam sträubte, seufzte: »Na, Jaköbchen, was werden bloß Omama und Opapa zu dir sagen, du geliebter kleiner, schwarzer Teufel, du!«

Er drängte den gesträubten Kopf gegen ihre Finger, klapperte zärtlich mit den Augen und legte ihr auch wohl als Beweis seiner Zuneigung ein Stück Regenwurm oder einen halbverdauten Heuhupfer an einem langen Spuckefaden in die Hand. Er holte diese Kostbarkeiten mit einer kurzen Würgebewegung aus seinem Tresor, dem Kropf, in dem er all jenes Eßbare aufbewahrte, was er beim besten Willen nicht mehr hinunterschlucken konnte.

Die Ferien verflogen fast unbemerkt, und es ist bezeichnend, daß ich mich außer an Jakob an kaum etwas aus diesen Wochen erinnern kann. Sonst führte ich dicke Tagebücher, in denen alle Ereignisse gewissenhaft vermerkt wurden und vor allem die genauen Pläne der Ritterburgen und Wigwams, mit denen ich das umliegende Terrain zu >sichern< pflegte. Kam die Zeit zur Abreise, so gab es ein langes Abschiednehmen von all diesen Plätzen mit einsamen Männertränen zwischen Bäumen und auf Felskuppen. Die Pflichten der Schule stiegen wie Zuchthausmauern vor mir auf. Unerträglich, wieder in einem verglasten Steinwürfel mit einem Haufen unbarmherziger Mitschüler und dem scheußlichen Kerl hinter dem gelbgestrichenen Katheder eingesperrt zu sein und jenen trockenen Bildungsstaub herunterwürgen zu müssen, der uns angeblich >für das Lebern eingetrichtert wurde.

Diesmal nichts von alledem. Es beherrschte mich nur die eine Sorge, nämlich, wie ich Jakob so angenehm wie möglich nach Hause bringen könnte.

Die Chancen dafür sahen wenig rosig aus, denn es stand dafür nur etwas zur Verfügung, was die Mama schonend >Transportkäfig< nannte, ein winziges Ding von Holzbauer, das sie in einer Andenkenbude erstanden hatte und das höchstens einer Zaunkönig-Frühgeburt imponiert hätte. Jakob ging im wahrsten Sinne des Wortes nur mit Ach und Krach hinein, obwohl er vor Angst ganz dünn war. Drinnen konnte er sich nicht umdrehen. Auf der einen Seite guckte der Schwanz, auf der anderen der Schnabel durch die Gitterstäbe. »Es ist ja nur für ein paar Stunden!« tröstete die Mama. Ich heulte.

Schließlich saßen wir im Abteil. Jakob kam oben ins Gepäcknetz. Zunächst war er vor lauter Widerstand und Angst so erschöpft, daß er in dem Käfig förmlich hing. Die Flügel waren jämmerlich zur Seite gespreizt, so daß die gestutzten, ruppigen Schwungfedern herausstachen, der Hals hing ihm nach vorn, der aufgerissene, erschöpft japsende Schnabel stak durch die Stäbe der vorderen Schmalseite.

Oben auf dem Bauer stand Mamas Hutkarton, und davor, das Sichtfeld noch einengend, lagen Schirm, Stock und Luftgewehr in einer braunen Segeltuchhülle.

Ich hatte mich geweigert, mich hinzusetzen, und stand vor der Mama zwischen den Knien der Reisenden, den Hals zu meinem Liebling emporgehoben. Nur seinen offenen Schnabel konnte ich sehen, der über das alberne Segeltuch ragte. Ich haßte es.

Dann fuhr der Zug an, und in diesem Augenblick wurde Jakob wieder lebendig. Ich hörte seine Krallen auf dem Holz kratzen und malte mir aus, wie es dem armen Wesen zumute sein mußte: Nach all der Freiheit und Verwöhnung jetzt in diesem winzigen Stall eingesperrt, von Gepäck verschüttet, und nun kam dieser ganze Alptraum auch noch ins Rollen!

»Setz dich doch, Jungchen!« sagte eine dicke Frau hinter mir.

»Komm, setz dich!« sagte die Mama. Ich rutschte neben sie: »Können wir ihn nicht ‘rausholen? Ich halte ihn auf den Knien!«

»Jetzt nicht — und sei endlich ruhig. Du machst mich ganz verrückt.« In diesem Augenblick begann Jakob erst leise, dann immer lauter zu schimpfen.

»Was ist denn das dort oben?« fragte ein Herr mit gestreifter Hose, Schnurrbart und flachem Strohhut. Er hätte ein Zwillingsbruder jenes Kerls sein können, der auf der Hinfahrt der Mama schöne Augen gemacht hatte, und auch dieser unterließ das nicht. Ich bekam natürlich sofort wieder Angst, starrte wie hypnotisiert auf seine prallen Schenkel in der gestreiften Hose und überlegte mir mit meiner ewig auf dem Sprung liegenden Phantasie, wie es wohl wäre, wenn er mich in seiner Eigenschaft als mein Stiefvater über diese Schenkel legen und mir mit seiner dicken Hand den Hintern vollhauen würde. Der Mund unter seinem Schnurrbart sah grausam und gewissermaßen wölfisch aus. Ich vergaß für einen Augenblick direkt, an Jakob zu denken.

Die Mama erklärte ihm, was dort oben krächzte. »Ach, das arme Vögelchen! Sie haben doch gewiß nichts dagegen, wenn wir es einmal herausnehmen?«

Die dicke Frau hatte nichts dagegen, obwohl sie etwas zweifelhaft dreinsah. Sie trug einen flachen Hut aus schwarzem Stroh mit nachgemachten Kirschen und zwei Veilchenbüschen darauf.

Der Wölfische wandte sich darauf nach der anderen Seite an einen alten Herrn, dem ein goldenes Pincenez über die wegen der Hitze geöffnete weiße Weste hing. Der Herr hatte auch nichts dagegen, denn er schlief und röchelte unter seinem weißen Schnurrbart. Das übrige Abteil blieb indifferent, nur Jakob sagte in die Stille laut und erschreckend deutlich: »Armleuchter!«, gefolgt von wütenden Hieben gegen die Gefängnisstäbe. Ein paar Holzspäne segelten durch die Gegend. Ein scheues Paar in der einen Ecke, das die ganze Zeit Hand in Hand gesessen hatte, sah sich erschrocken an, ob es wohl recht gehört habe.

Aus dem Herunterholen des Transportbauers machte der Wölfische einen Kraftakt, bei dem er alle Muskeln spielen ließ. Er stieg mit den Füßen auf die gegenüberliegende Bank, und die Mama mußte ihn an der Wade festhalten. Endlich hatte er das Bauer unten und überreichte es mir mit einem pompösen Schwung.

»Da, mein Junge, jetzt kannst du dir deinen kleinen Freund selbst herausholen!«

Jeder Ton, den er sagte, klang mir falsch im Ohr, aber um Jakobs willen sagte ich sehr höflich; »Ich danke Ihnen auch schön!«

»Netter Bub!« sagte der Mann zur Mama.

Bub!

Die Befreiung Jakobs aus dem Gefängnis war gar nicht so einfach; denn ich hatte ihn mit dem Kopf zuerst hineingepfercht, und umdrehen konnte er sich wie gesagt nicht. Ich versuchte ihn vorsichtig am Schwanz herauszuziehen, aber er begriff nicht, daß dieses Manöver seiner Befreiung dienen sollte, und tobte so, daß ich fürchtete, er bekäme einen Herzschlag. Der Wölfische holte darauf ein mit zahlreichen Klingen versehenes Taschenmesser hervor und erklärte, er werde nunmehr die Gitterstäbe durchschneiden. Als er es versuchte, hackte ihm Jakob in den Finger, und er steckte den Finger mit einem sehr bösen Gesicht in den Mund.

»Vielleicht... hm... wenn man den Boden des Käfigs öffnete?« sagte der männliche Teil des scheuen Paares.

Das war es! Der Boden war nämlich herauszuschieben, schon wegen der Reinigung. Ich schob. Jakob Fiel zu seinem eigenen größten Erstaunen heraus und saß ein paar Sekunden dünn und erschrocken zwischen Apfelsinenschalen und Zigarettenstummeln auf dem Boden des Abteils. Alle zogen die Füße ein. Ich griff ihn, holte ihn an meine Brust, bis er sich beruhigte, die Tolle sträubte und schließlich ganz normal auf meinem Finger saß. Nun fanden ihn alle >süß< und wollten wissen, was er fräße. Der Wölfische hielt ihm mit Heldenmut trotz der schlechten Erfahrungen die Hand hin und erklärte mit einem tiefen Blick in die Augen der Mama, man dürfe Tieren und Menschen gegenüber niemals Angst haben. Jakob sah sich den fremden dicken Finger zurückhaltend an, hackte einmal unverbindlich gegen den klotzigen Siegelring, der den Finger zierte wie eine Zigarrenbauchbinde, stieg dann aber schließlich über.

»Na, bitte!« sagte der Wölfische und sah sich triumphierend um. Jakob schien das als Aufforderung zu betrachten, turnte den Ärmel aufwärts und setzte sich dem Kerl auf die Schulter. »Kakao!« verkündete er von dort aus und ließ etwas auf die Schulter fallen.

Ich erschrak. Die Mama hob entsetzt die Hand vor den Mund, aber niemand sonst sagte etwas. Alles grinste nur. Offenbar hatten sie den Wölfischen nicht gern.

Er blitzte, ohne von seiner Bekleckerung etwas zu ahnen, die Mama mit seinen weißgewienerten Reklamezähnen an: »Keine Angst, gnädige Frau!«

Vorsichtig führte er die Hand gegen die linke Schulter. Wenn er jetzt in den Klecks faßt, ist es aus! dachte ich. Er tat es aber nicht, Jakob stieg jedoch auch nicht auf seinen Finger, sondern sah ihn sich mißbilligend mit schiefem Kopf an und machte statt dessen einen Hupf auf den Strohhut der dicken Frau, wo er umgehend begann, die künstlichen Kirschen abzumontieren. Die Frau saß schreckerstarrt unter dem Gehämmer in ihrem Obergeschoß und machte Augen wie Setzeier. Der Wölfische, der Mama fröhlich-boshaft zuzwinkerte, sprang galant auf und griff nach Jakob: »Nein, so haben wir nicht gewettet, mein Junge — gestatten, gnädige Frau...«

Die Dicke wogte mit dem Busen und sah ihn dankbar an. Jakob aber ließ sich nicht greifen, sondern produzierte einen Klecks auf den Strohhut, umsegelte den Störenfried mit einer eleganten Kurve und landete auf dem Knie des schlafenden Herrn mit dem Pincenez.

Dieses Pincenez hing an einer schwarzen Gummischnur und erregte alsbald Jakobs Aufmerksamkeit. Zunächst entdeckte er, daß man sich in den Gläsern spiegeln konnte. Er sah erst mit dem einen, dann mit dem anderen Auge hinein, breitete dann die Flügel aus und vollführte vor seinem Ebenbild einen kleinen, rührenden Tanz. Mir kamen die Tränen, und die ganze Einsamkeit des kleinen Gesellen wurde mir plötzlich klar, den das Schicksal für immer der Gesellschaft seiner Brüder beraubt hatte. Das übrige Abteil hielt den Atem an und schien offensichtlich ebenfalls gerührt.

Jakob hatte jedoch den Spiegeltanz bald satt und versuchte nun, unter atemloser Anteilnahme des ganzen Kupees, den Kneifer abzureißen. Er packte den auf dem sanft atmenden Bauch liegenden Apparat und zog die Gummischnur, auf dem Schenkel rückwärts schreitend, aus Leibeskräften in die Länge. Auf diese Weise kam er schließlich bis ans Knie und geriet ins Rutschen. Erschrocken ließ er die Schnur los, die nun mit dem Kneifer dem Schnarchenden wie ein Geschoß direkt an die Nase flog. Das Schnarchen verstummte, der alte Herr öffnete die Augen, sah den schwarzen Teufel auf seinem Knie, schüttelte den Kopf und schloß gleich wieder die Augen. Ich konnte mir denken, was er dachte: Ungefähr: Komisch, was man so für ungereimtes Zeug zusammenträumt — sitzt einem plötzlich eine Krähe auf dem Knie! Wahrscheinlich zu fett gefrühstückt! Er warf sich mit einem so gewaltigen Schnarcher auf die Seite, daß Jakob erschrocken auf flatterte und schließlich auf dem Griff der Notbremse über der Eingangstür landete.

Im gleichen Augenblick schnarrte die Tür auf, und der Kontrolleur wurde sichtbar, eine wagnerische Erscheinung mit rötlichem Vollbart, strengen blauen Augen und einer noch blaueren, steifen Mütze.

»Die Fahrkarten!« donnerte er in einem Ton, als betrete er eine Schaluppe voller Seeräuber mit der Pistole in der Faust. Ich blickte zu ihm auf wie zum. Donnergott Thor. Die anderen betrachteten ihn teils eingeschüchtert, teils giftig und begannen, in ihren Koffern, Hosentaschen, Manteltaschen, Brillenetuis und Frühstückspaketen nach den Fahrkarten zu suchen. Die meisten fanden sie zunächst nicht. In diesem Augenblick machte Jakob dem Donnergott von oben herab auf die Dienstmütze. Es schien mir ein besonders ausgedehnter Klecks zu sein, zu dessen Abwurf er in die Kniebeuge ging und ihm mit schiefem Kopf aus seiner Notbremsen-Schaukel wohlgefällig nachsah. Mamas Hand krallte sich in meinen Ärmel. Aber der Wölfische, mit dem ihm unbewußten Klecks auf der Schulter, wieherte los, und das ganze Abteil stimmte erlöst ein. Die Majestät des Kontrolleurs fiel zusammen wie eine angestochene Gummiblase. Er sah verwirrt um sich, wurde rot, machte hastig seine Blaustiftstriche (von unten her aus der Faust heraus) auf die Fahrkarten und verschwand, die Tür heftig hinter sich zuknallend.

Jakob reagierte darauf mit einem Raketenstart in meine Richtung, so daß ich ihn endlich wieder zu fassen bekam und unter meine Jacke verstauen konnte.

Der Wölfische, dessen männliche Aura einen Augenblick durch die Majestät des kontrollierenden Donnergottes überschattet worden war, konnte sich vor Fröhlichkeit nicht lassen. »Nein... so was, nicht wahr, gnädige Frau... so ein aufgeblasener Kraftprotz... und rennt herum mit diesem Klecks... ohne es zu ahnen! Es gibt doch nichts Komischeres als unbewußte Lächerlichkeit!«

Worauf der männliche Teil des Turteltaubenpaares in der Ecke ein Lachen anfing, das mit einem dünnen Winseln begann und immer lauter in immer breiteren Kaskaden losbrüllte, bis es das ganze Abteil in seinen Strudel zog, so daß sie schließlich unisono wieherten, bis sie nur noch keuchend mit offenen Mündern dasaßen. Der Wölfische, der im ersten Teil dieser Lachsymphonie noch mitgewirkt hatte, sah schließlich etwas verwirrt um sich. Endlich stieß ihn die Dicke mit dem Klecks auf dem Hut an und keuchte, während ihre Busenfülle auf- und niederstieg: »Wir... lachen doch bloß so... weil Sie selber... auf der Schulter...«

Der Wölfische faßte hin, sah sich dann seinen Finger an, roch an ihm, nahm sein Taschentuch aus der Brusttasche, wischte ihn ab, zog eine Zeitung vor und blieb dahinter verschwunden. Ich fürchtete ständig, er würde der Dicken etwas wegen ihres Hutes sagen, er tat es aber nicht.

»Sperr ihn wieder ein!« zischte mir die Mama aus dem Mundwinkel zu.

»Bloß wegen dem blöden Kerl?« flüsterte ich zurück.

Sie hielt mir entsetzt den Mund zu. »Wenn du ihn jetzt nicht sofort einsperrst...«

Ich hatte sie selten so wütend gesehen. Aber ich kämpfte ja schließlich für meinen Jakob, nicht wahr? So holte ich das Bauer unter meinem Sitz hervor, nahm es in die eine Hand, preßte Jakob, der beim Anblick des Marterinstruments in das Innerste meiner Jacke kroch, mit der anderen Hand an mich:

»Ich geh erst mal auf die Toilette. Ängstige dich nicht, es dauert ‘ne Weile!« Und ‘raus war ich, ehe sie etwas sagen konnte.

Im Gang standen eine Menge Leute, die aus den Fenstern sahen. Auch Koffer standen herum, und die Bewegung des rasch fahrenden Zuges schleuderte mich hin und her, weil ich mich mit vollen Händen ja nicht festhalten konnte. Außerdem schienen sich alle Leute verabredet zu haben, gleichzeitig auf die Toilette zu gehen. Ich wankte durch den Zug, hin und zurück. Entweder war überall besetzt, oder es ging gerade einer ‘rauf.

Endlich beschloß ich zu warten, und zwar zweiter Klasse, weil dort weniger Leute waren. Ich stellte den Käfig neben mich und sprach Jakob tröstend zu: »Du kommst nich in den ollen Kasten. Wir riegeln uns ein und spielen.« Daraufhin begann er sich aus meiner Jacke herauszuwinden.

Neben mir stand ein älterer Junge mit Pickeln im Gesicht. Er hatte bisher ab und zu aus dem halb heruntergelassenen Fenster gespuckt. Nun drehte er sich, als ich ihm erstaunt zusah, um.

»Willste auch mal spuck’n? Ich heb dich hoch!«

»Danke, nein. Warum spuckste denn?«

»Vielleicht fliegt’s in ‘n andres Fenster wieder ‘rein, und dann wissen se nich, wo’s herkommt. Schick, was?«

»Finde ich nich!« erklärte ich. Ein widerlicher Kerl!

Jetzt sah er Jakobs Kopf: »Mensch... was hast ‘n da? ‘ne Krähe?«

»Eine Dohle!«

»Au... gib mal her, die schmeiß’n wir aus ‘m Fenster!«

Ich kroch gegen die Wand. In diesem Augenblick wurde die Toilette frei. Ein Weib natürlich! Sie rauschte an uns vorüber wie eine Königin, und hinter ihr roch es nach Parfüm. Ich schnell hinein. Hebel ‘runter. Endlich!

Ich klappte den Deckel herunter und setzte mich zunächst mal auf den geschlossenen Thron, nahm Jakob heraus und seufzte tief erleichtert. Das kleine Kabinett enthielt außer dem Thron eine Waschschüssel und darüber ein Schränkchen. Darin gab es kleine, frisch gewaschene Handtücher mit kleinen grünen und roten Seifenstückchen. Sie kosteten nichts, und man konnte ein ganzes Dutzend davon nehmen, ohne daß einem einer was sagte. Opapa brachte auch solche Seifenstückchen von den Dienstreisen mit. Die bekam dann Valeska in die Küche.

Ich betrachtete mein kleines Reich voller Zärtlichkeit. Jakob schien weniger damit einverstanden, vielleicht weil man hier aus irgendwelchen Gründen das Schwingen und Stampfen des Zuges und das Rollen und Rattern der Räder besonders stark empfand. Er saß dünn und mit halb gelüfteten Flügeln auf meinem Knie und machte den Eindruck, als wolle er jeden Augenblick gegen die Decke steigen.

Rattata-Rattata — machte der Zug. Jemand drückte von außen die Klinke nieder, murmelte etwas Ärgerliches und ging wieder weg. Ich sah mich ratlos um. Neben mir war ein Schild: Die Toilette darf nicht benutzt werden, solange der Zug hält. Und darunter die Rolle mit dem Papier. Das war was für Jakob! Ich rollte einen guten Meter ab und rollte ihn wieder auf. Nachdem ich es dreimal getan, wurde er aufmerksam, legte die Flügel an, hupfte auf mein anderes Knie und begann an dem Papier zu ziehen. Er riß ein Blatt ab und zerrupfte es. Dann holte er sich das nächste. Ich riskierte es, ihn vom Knie herunter- und auf den Thron zu setzen. Dort konnte er allein weitermachen. Er tat es und arbeitete wie im Akkord. Na, also!

Ich stand auf, pfiff und sah mich besitzerisch um. Jemand rüttelte an der Tür. Sollte er!

Aus lauter Langeweile kam ich schließlich sogar darauf, die Hände zu waschen. Es gab dazu fließendes warmes Wasser, für mich von besonderer Qualität, da es, wie ich annahm, aus der Lokomotive kam. Ich steckte drei Stück Seife in meine Hosentasche, wusch mich mit einem vierten und trocknete mir jede Hand mit einem anderen Handtuch ab, das ich dann mit lässiger Grandezza in den dafür bestimmten Drahtkorb warf. Neben mir schnurrte die Rolle, Jakob, eingewickelt in Toilettenpapier, kämpfte vor Wonne krähend mit wilden Schnabelhieben. Die Fetzen schaukelten in dem leichten Luftzug, der durch die Fensterritze fegte. Es war wie im Schneegestöber, nur nicht so kalt. Wir waren glücklich.

Jetzt rüttelte man wieder an der Tür, und draußen war ein dumpfes Gebrabbel.

»Wer ist denn hier?« fragte eine tiefe, autoritätgeladene Männerstimme.

»Besetzt!« antwortete ich, meine Stimme so tief wie möglich machend.

»Armleuchter!« schrie Jakob voller Wonne.

Draußen hörte ich den pickligen Lümmel petzen: »Da ist so ‘n Kleener drauf, mit ‘ner Krähe!«

»Mit was?« fragte die tiefe Stimme.

»Mit ‘ner Krähe, mit ‘ner zahmen!«

Ich knöpfte mir schnell die Hose ab und setzte mich hin.

»Mach auf, du Kleiner da drin!« dröhnte die Bärenstimme.

»Kann noch nich, bin noch nich fertig!« Was machte ich um Gottes willen mit Jakob? Er hampelte auf dem Rand vom Waschbecken und versuchte die Tropfen abzufangen, die aus dem Hahn quollen. Er hatte Durst, der arme Kerl. Da quietschten plötzlich die Bremsen, Jakob kugelte vom Waschbecken und flatterte auf meine Schulter, die Bewegung des Zuges wurde langsamer. Große Schatten glitten draußen vor der Milchglasscheibe vorbei. Stimmen: »Gepäckträger... Gepäckträger...« Jetzt hielten wir: eine Station!

Im gleichen Augenblick sah ich voller Entsetzen, wie sich der Riegel an der Tür hob. Man schloß von außen auf! Ich sprang auf, versuchte mit der einen Hand das Hemd in die Hose zu stecken und mit der anderen die Tür zuzuhalten. Vergebens, sie ging auf. Davor ragte der Turmbau des Kontrolleurs, sein roter Bart schien sich zu sträuben, seine Augen funkelten satanisch unter der Dienstmütze.

»Was machst du eigentlich hier?« fragte er. Und mit einem Blick in das Papiergestöber: »Na, das sieht ja schön aus! Und was ist das denn? Was soll die Krähe?«

Hinter ihm ein Bündel von Gesichtern, dazwischen die schadenfrohe Fratze des Pickligen.

»Es ist keine Krähe«, sagte ich, dem Weinen nahe. »Jakob heißt er. Er ist ganz zahm und tut niemandem was!« (Wenn man jetzt noch die Seife in meiner Tasche fand, wurde ich bestimmt erschossen. Abgesehen von dem Klecks, den der Riese sicher noch auf seiner Mütze hatte!)

»Soso!« sagte er jetzt und strich sich den Bart.

»Ich will zu meiner Mama!« erklärte ich.

Der Riese streckte die Hand aus: »Na, denn komm mal mit!«

Ich bückte mich: »Können Sie Jakobs Bauer nehmen, bitte

schön?«

»Na, meinetwegen!« Es verschwand fast in seiner Riesentatze.

»Das Bauer ist nämlich für Jakob zu klein«, haspelte ich atemlos, während ich in seinem Schlepptau durch das Gewühl des Ein- und Aussteigens gezerrt wurde, »und der Jakob ängstigt sich so drin. Er ist nämlich immer frei ‘rumgelaufen, und zu Hause darf ich ihn auch frei laufen lassen... und er macht sich den Schwanz und die Flügel kaputt, weil es zu klein ist...«

Während der ganzen Zeit sah ich mich verzweifelt um, ob ich mich irgendwie losreißen und woanders verstecken könnte. Aber dieses Ungeheuer würde mich überall aufstöbern.

Jetzt mußten wir einen Moment halten, weil ein Koffer den Weg versperrte. Der Zug fuhr langsam wieder an. Der Riese drehte sich zu mir um: »Du hast ihn wohl sehr lieb, deinen Jakob?«

»Furchtbar lieb!« Nanu? Was war denn das? Der sah ja plötzlich ganz freundlich aus! In diesem Augenblick kam die Mama. Sie blieb mit ausgebreiteten Armen jenseits des Koffers stehen: »Ja, wo bist du denn? Ich suche dich überall und bin schon halb wahnsinnig!« (Mütter sind manchmal wie Hühner!)

Der Koffer wurde vom Gang weg in das Innere des Abteils gezogen. Die Mama stürzte sich auf mich: »Jetzt sperrst du ihn aber sofort wieder ein und kommst mit! Ich danke Ihnen, Herr Kondukteur!« Sie wühlte in ihrer Handtasche, nahm ein silbernes Geldstück heraus — ein silbernes, eine ganze Mark! — und steckte das dem Kondukteur zu. Der nahm den Käfig in die linke Hand und salutierte. Dann sah er mich einen Augenblick überlegend an und wandte sich zu meiner Mutter: »Der Kleine kann sich ja ins Dienstabteil setzen. Wenn er dort den Vogel unter Aufsicht hält, braucht er ihn nicht einzusperren!«

Ich starrte ihn an: »Ach, lieber Herr Kondukteur!« konnte ich nur sagen.

»Na also, geh ins Dienstabteil«, meinte die Mama, »aber komm mir nicht an die Tür. Ich werde ab und zu nachsehen.«

Ich holte schnell Jakobs Lappen und trappelte hinter dem Riesen her. Dienstabteil! Es war eng, und man saß mit dem Gesicht direkt vor einer Wand, aber es flößte mir solche Ehrfurcht ein, daß ich mich kaum hinzusetzen wagte. Ab und zu sah der Kondukteur herein und ab und zu die Mama, und später kam einer von der Eisenbahn, der aber eine einfachere Uniform hatte und eine Wurstschnitte auspackte. Von der Wurst gab er Jakob was ab.

Dann wurde ich von all der Aufregung ganz furchtbar müde, aber ich hielt mich künstlich wach, damit ich nicht einschlief und man Jakob inzwischen einsperrte.

Schließlich — gegen Abend — kamen wir an. Auf dem Bahnsteig brannten schon die Lichter. Mama holte mich und nahm den Käfig. Ich gab dem Kondukteur die Hand und machte einen Diener:

»Schönen Dank, lieber Onkel Kondukteur! Und... und... Sie haben einen Klecks von Jakob auf der Mütze!«

»Nanu!« sagte er und nahm die Mütze ab.

»Ich will es schnell abwischen!« erbot ich mich.

»Nein, laß mal... das mache ich schon... aber wie...«

Mama zog mich schnell weg, denn der Zug kam schon zum Stehen. Der gute Riese blieb hinter uns, ratlos auf die Mütze starrend...