GROSSE GESELLSCHAFT

Einmal im Jahr, meist im Februar, stieg die sogenannte Große Gesellschaft. Ja, sie stieg tatsächlich, gleich einer Rakete aus der dunklen Winternacht in fußkalten, knapp geheizten Zimmern und fröstelnden Abenden vor zweierlei Streichwurst.

Für einen Abend und eine Nacht überfluteten vierzig festlich gekleidete Menschen unsere Wohnung, saßen an kleinen Tischchen in der Bibliothek und im Salon und an der lang ausgezogenen Tafel im Eßzimmer. (Das Arbeitszimmer blieb den Herren reserviert, damit sie dort nach dem Essen rauchen und sich Witze erzählen konnten.) Kommoden und Schränke spien Silber, Kristall und Damast aus. Neben den Glaskronen brannten noch Kerzen auf allen Tischen, und alle Öfen waren voll geheizt, so daß es sogar noch am Tage nach der Gesellschaft richtig mollig bei uns war.

Für acht bis zehn Stunden reckte sich die Familie in altem Stolz auf und zeigte, wer sie war — und wieder werden wollte. Sie kam mir vor wie die Blume Regina della notte, die Königin der Nacht, die nur eine Nacht wunderbar blüht und über die ich gerade damals eine Geschichte gelesen hatte, die mich sehr erregte.

Ich entsinne mich noch, daß es diesmal bei der Besprechung der Gästeliste darum ging, ob man von Opapas Kollegen außer dem allgewaltigen Herrn Busch, dem Generaldirektor, auch den Assessor Werkenthau einladen solle. Werkenthau war vor kurzem in die Direktion aufgenommen worden. Er hatte schnell Karriere gemacht, weil er, wie Opapa sich ausdrückte, ein »scharfer Hund« war.

In den Wochen vor der Großen Gesellschaft hatte Opapa keine Dienstreisen vor und ging deshalb ins Büro. Er ging früher weg als sonst und kam später heim — alles wegen Werkenthau. Als drohende Konkurrenz fiel sein Schatten immer dunkler über die Familie.

Ich fand es überhaupt nicht richtig, daß Opapa ins Büro ging. Ich hatte Angst um ihn, ohne daß ich mir klarwerden konnte, warum. Wahrscheinlich empfand ich unterbewußt, daß der bei aller Poltrigkeit schrullig-gütige und noble Mann dem üblichen erbarmungslosen Nahkampf eines Bürobetriebes nicht gewachsen war. Allein auf einer Inspektionsreise durch die im ganzen Land verstreuten Zweigfabriken oder als würdiger Repräsentant des großen Unternehmens auf einem der zahlreichen Kongresse, war er in seinem Feld. Aber Tisch an Tisch mit Werkenthaus, die schon um halb neun dort saßen und bis in die Nacht durcharbeiteten?

Auch Omama empfand das wohl und suchte ihn auf ihre Weise durch Mittagessen zu stärken, die sich aus all seinen bescheidenen Lieblingsgerichten zusammensetzten: eine besondere Art Rübchen in brauner Soße, Kotelett mit Setzei, Mixed pickles und vor allem Meerrettich, den sonst niemand von uns ausstehen konnte. Opapa pflegte ihn zu allen Gerichten zu essen, zur Verzweiflung der Omama, die an düsteren Tagen feststellte: »Es hat gar keinen Zweck, sich etwas Besonderes für dich auszudenken, wenn du dir alles mit diesem scheußlichen Zeug beschmierst!«

Jetzt aber waren alle Einwände hintangestellt, zumal Opapa statt um zwölf erst um halb sechs abends zu Mittag aß. Wenn er kam, nahm ihm Omama schon an der Tür die Aktentasche und den Hut ab, strich ihm über das Haar: »War es schlimm, Mäcke?«

Valeska hängte derweilen den Mantel auf.

Drinnen bürstete sich Opapa den Schnurrbart vor dem Spiegel, nahm die >Röllchen< ab (steife Manschetten, die nicht mit dem Hemd verbunden waren), gab mir einen Kuß, streichelte Jakob und sagte etwas mühsam, als müsse er sich erst wieder zurechtfinden: »Na, ihr beiden Ultruspultrusse?«

Dann setzte er sich zu Tisch, und es ging los. Er aß trotz allen Ärgers, der vorausgegangen sein mochte, mit Eifer und Genuß. Er lieferte seinen Lieblingsgerichten sozusagen eine Schlacht, und wenn er mit vollen Backen unter dem gesträubten Schnurrbart kaute, klang es immer wie »Nam-nam-nam«.

Dabei mußte er unentwegt Omama berichten. Sie schob ihm wie einem Baby mit einem Löffel die Speisen auf dem Teller zurecht.

»Na, und was hat Werkenthau gesagt?« Sie kroch fast in ihn hinein. Ich saß ihm mit offenem Mund gegenüber, Jakob hatte den Serviettenring annektiert und rollte ihn über das Tischtuch, die Mama machte sich im Hintergrund zu schaffen und tat, als ob sie am Spiegel Staub wische.

Opapa schob eine Gabel mit Rübchen in den Mund und feuerte einen kleinen Löffel Meerrettich hinterher: »Ja, also, da haben wir die neuen Schutzgitter für die Arbeiter an den Sägen besprochen, und — nam-nam-nam — da setzt sich doch der Kerl hin und sagt, man könne glatt die Hälfte sparen, wenn man statt der Ausführung A die Ausführung B nähme. Da habe ich — nam-nam-nam — gesagt: >Werkenthau<, habe ich gesagt, >Sie haben doch die Gutachten gelesen, daß diese Ausführung B Mist ist!<« (Eine Gabel Kotelett, ein Löffel Meerrettich — nam-nam-nam —)

»Na, und... was hat er da gesagt?« fragte Omama und schob die Mixed pickles in Schußweite.

»Ja, stell dir vor, er sagt...: >Die Kerls sollen sich eben mehr vorsehen<.«

Opapa nahm einen Löffel Mixed pickles, während seine Augen blitzten und die Pickles unter seinem Schnurrbart voller Zorn zerquetscht wurden:

»>Werkenthau<, habe ich gesagt, >diese Kerls sind Menschen wie Sie und ich. Es ist schließlich nur ein Zufall, daß wir auf Grund unserer besseren Erziehung auf diesen Stühlen sitzen und diese Männer zehn Stunden an den Maschinen stehen. Möchten Sie mit einer halben Hand nach Hause kommen?<«

»Das Ei wird kalt!« sagte Omama und schob es ihm in Gabelweite. Er schwang es mit einem Ruck in den Mund: » >Verehrtester<, hat er gesagt, >waren Sie vielleicht kürzlich in einer sozialdemokratischen Versammlung? Es klingt fast so. Glauben Sie doch nicht, daß man den Arbeitern mit Güte und Verständnis imponieren kann. Das Pack greift sofort nach!< — >Pack< hat er gesagt!

>Herr Werkenthauh (nam-nam-nam) habe ich gesagt — absichtlich: Herr! — >Wir werden auf die Dauer entweder den Arbeitern bürgerliche Lebensbedingungen verschaffen oder alle in einer furchtbaren Revolution zugrunde gehen!<«

Omama räusperte sich gewaltig: »War das nicht unvorsichtig von dir? Er schiebt’s aufs Politische. Du siehst, wie gefährlich der Mann ist!«

Eine wohlausbalancierte Gabel Kotelett mit Quetschkartoffeln, Soße und Meerrettich erstarrte auf halbem Wege in der Luft. In Opapas Augen zeigten sich die roten Zornesadern: »Es ist meine Überzeugung!« Er sah majestätisch aus!

Omama seufzte: »Na, und was sagte Busch?«

Das Kotelett fuhr mit Verspätung in den Mund ein: »Busch — nam-nam-nam — pflaumenweich wie immer: >Aber, meine Herren! Ich muß allerdings sagen, daß ich Werkenthau in der psychologischen Beurteilung der Arbeiterschaft zumindest verstehen kann. Andererseits bin ich doch für die Ausführung A. Wir dürfen uns nicht Risiken oder Vorwürfen aussetzen. Diese Menschen kriegen es fertig und bringen uns in die Presse, wenn etwas passierte«

»Also hat er dir doch de facto recht gegeben!« meinte die Omama.

Er lehnte sich seufzend zurück, holte etwas mit der Zunge aus dem Backenzahn, wischte sich dann den Mund, faltete umständlich die Serviette zusammen und griff nach dem Serviettenring, den Jakob gerade auf ihn zurollte. Im Moment, als Opapa zupacken wollte, nahm er ihn jedoch auf der schmalen Seite in den Schnabel, zerrte ihn mit großer Kraftanstrengung seitwärts weg und warf ihn vom Tisch. Er rollte unter das Sofa. Ich hinterher.

»Er wird mir das nicht verzeihen!« sagte Opapa, räusperte sich sorgenvoll und sah auf die Uhr.

»Wir werden ihn zur Großen Gesellschaft einladen«, erklärte Omama plötzlich entschlossen.

»Meinst du, das ist richtig, Paulchen?« fragte er. »Legt man dem Mann damit nicht zuviel Gewicht bei?«

»Du kannst ihm nicht genug Gewicht beilegen. Er wird sich geschmeichelt fühlen, und wenn er sieht, wer wir sind, wird er vorsichtig sein. Was meinst du, Trudchen?«

Die Mama, die ein paar alte Ringkrüge abgestaubt hatte, stellte sie seufzend auf das Bord über dem Sofa zurück: »Ich fürchte, es macht ihn nur neidisch!«

»Ach, du fürchtest immer«, sagte die Omama ärgerlich. »Wir werden ihn neben Poldi setzen!« verkündete sie dann.

Ich richtete mich mit dem wiedergefundenen Serviettenring in der Hand auf: »Onkel Poldi?« schrie ich.

Omama streichelte mir den Kopf: »Ja, Onkel Poldi, Onkel Gustl und Onkel Ferdl kommen. Alle drei Brüder!«

Ich war überwältigt: das ganze österreichische Trio rückte also zur Großen Gesellschaft an!

Onkel Gustl war — wie schon erwähnt — Oberförster, der Mann von Tante Jenny und wohnte auf einem großen Schloß in Böhmen, wo ich schon mehrmals die Ferien verbracht hatte. Er hatte runde, braune, lustige Augen und sehr viele Haare auf der Brust, mit denen er im Sommer die Damen erschreckte, wenn er das Hemd aufmachte. Jedenfalls taten sie so, als ob es sie erschreckte.

Onkel Ferdl war Rittmeister bei den Windischgrätz-Dragonern, ein fescher Kerl, der viel lachte, alle Frauen und Mädchen unserer Verwandtschaft, auch die Mama, auf den Mund küßte und auf den Popo klopfte und die Männer anpumpte. Es wurde am Abend ausführlich erörtert, wie Opapa den dragonerischen Pumpversuchen entgehen könne, ohne unsere Wohlhabenheit in Frage zu stellen.

»Er wird wieder die Trudi ausführen und sich das Geld dazu von dir leihen!« sagte Omama düster.

Opapa sog unruhig an seiner Pfeife und warf gequälte Blicke gegen den Italienerschrank, in dem er seine Spargelder aufbewahrte.

»Ich werde sagen, ich fühle mich nicht wohl«, schlug die Mama vor.

Omama warf ihr einen kurzen Blick zu: »Unsinn, du kannst ein bißchen Ausgehen mit jungen Leuten gut vertragen!« Sie seufzte: »Kostet es schon so viel, kann es ruhig noch ein bißchen mehr kosten. Also, Max, zwanzig Mark — aber nicht mehr!«

»Das ist mit Sekt und Hummer!« sagte Opapa zu Mama. »Achte darauf, daß er es auch wirklich ausgibt!«

Sie seufze: »Das vorigemal mußte ich das Taxi zurück bezahlen, er hatte schon wieder nichts. Und er hat sich mit drei Frauen verabredet, während er mit mir zu Abend aß. Immer ‘rausgegangen und Zettelchen durch den Ober. Die Weiber waren wie verrückt hinter ihm her...«

Opapa machte einen kurzen, glucksenden Laut durch die Nase: »Gustl hat mir erzählt, daß er schon wieder zwei Alimentenklagen am Halse hat.«

»Opapa, was sind Alimente?« fragte ich.

Alle fuhren überrascht zu mir herum. Omama rollte die Augen zu Opapa, der sich gewaltig räusperte: »Alimente... äh... das ist dasselbe wie Remonten... das sind Pferde, die für die Kavallerie gekauft werden.«

»Und er hat sie nicht bezahlt?«

»Er wird schon!« sagte die Omama. »Und jetzt geh spielen.

»Sind das feine Alimente?« fragte ich.

»Remonten, du hörst doch — Remonten«, sagte die Mama.

»Ich habe sie nicht zugeritten!« erklärte Opapa und ging prustend ins Arbeitszimmer.

»Max! Benimm dich!« verkündete Omama streng.

Der älteste Bruder — Onkel Poldi — war zugleich der Clou des Trios, k. und k. General und Kommandeur einer Kavalleriedivision; nicht sehr groß, aber breitschultrig und mit schmaler Taille, braungebrannt, mit blitzenden Zähnen und kohlschwarzen Augen. Das letztemal war er erschienen mit Lackstiefeln, klirrenden Sporen, Schnüren, Orden und sehr viel Gold auf den Schultern. Seine Brüder nannten ihn, um seinen Glanz einigermaßen zu dämpfen, den >Lederäppel< (wegen seines braunen Gesichts) und erzählten, daß er sich noch mit elf Jahren in die Hosen gemacht habe. Das stört jedoch die Frauen wenig und noch weniger Opapa. Schon die Tage, bevor Onkel Poldi kam, arbeitete es in ihm. Er stand stundenlang gewichtig sich räuspernd am Fenster und rauchte sehr prominente Zigarren. Weder ich noch Jakob waren besonders gefragt. Schließlich wandte er sich aber doch zu mir um: »Hm... ich werde für die Bande in der >Königseiche< Zimmer bestellen. Kommst du mit?«

Natürlich kam ich mit. Die >Königseiche< war das einzige Hotel unseres Vororts und wurde alle vierzehn Tage einmal von der Familie zur Einnahme eines sogenannten >kleinen Abendessens< aufgesucht. Als wir eintraten, schien der Oberkellner infolge eines Gähnkrampfes dem Tode nahe zu sein. Unser Erscheinen errettete ihn. Er machte den Mund zu, riß die Serviette unter den Arm, erschreckte einige Dutzend Fliegen, die auf einem der leeren Tische verzweifelt an Brotkrumen tupften, und stürzte auf Opapa zu: »Guten Morgen, Herr Direktor!«

»Morgen, Fellner!« sagte Opapa jovial.

»Was darf es denn sein, Herr Direktor? Guten Morgen, junger Herr!«

Das war ich! Ich machte eine knappe Verbeugung und schielte nach den Bierdeckeln, die ich mir von dort mitzunehmen pflegte.

»Rufen Sie mir mal den Wirt!« sagte Opapa.

»Jawohl!« sagte Fellner entsetzt. »War etwas nicht in Ordnung das letztemal?«

Opapa klopfte ihm auf die Schulter: »Ach, keine Rede, Fellner!«

Der verbeugte sich erleichtert: »Ich rufe den Gewerberat. Wenn die Herrschaften inzwischen Platz nehmen wollen? Kleines Pils?«

Opapa nickte gnädig, und ich bestellte schnell eine Himbeerlimonade mit Strohhalm. Dann trug der Wirt, der irgendwo den absonderlichen Titel Gewerberat erworben hatte, seinen gewaltigen Schnauzbart und den darunter in einer grauweißen Weste wabbelnden Bauch gegen uns heran. Auf dem Bauch hing eine dicke goldene Kette mit den ersten Zähnen seiner vier Kinder, alle in Gold gefaßt (die Zähne natürlich). Die Begrüßung war von chinesischer Höflichkeit. Nachdem man das Wetter diskutiert und festgestellt hatte, daß man beiderseits nicht jünger werde, erklärte Opapa beiläufig und mit mehrfachem Räuspern: »Habe da Samstag kleine Familienfeier — sozusagen — meine drei Neffen aus Österreich kommen. Hätte sie gern bei Ihnen untergebracht.«

Der Bauch versicherte, aus seinen tiefsten Tiefen grollend, daß ihm das ein Vergnügen wäre.

Opapa räusperte sich erneut: »Also... für die beiden Jungen einfache Einzelzimmer.«

Der Wirt erklärte, er werde sich der Knaben persönlich annehmen. Opapa lächelte nachsichtig:

Nun, Knaben seien es nicht gerade, der eine Oberförster, der andere Rittmeister bei den Windischgrätz-Dragonern.

Der Bauch sagte: »Oh!« und dann lachten sie beide.

Ja, sagte Opapa, setzte den Kneifer auf und warf einen sorgenvoll strengen Blick auf den Gewerberat, da sei nun noch der dritte!

Jetzt platzte die Bombe! Mir lief es kalt über den Rücken, und ich verschluckte mich an meiner Limonade.

»Sicher Oberst oder Forstrat?« erkundigte sich der Bauch, charmant blinzelnd.

Gewaltiges Räuspern Opapas: »Nein, mein ältester Neffe ist Generalleutnant Leopold von Wiedenhof, Divisionskommandeur, Kavallerist.«

Der Bauch machte »Aaahh!« und der Mund blieb eine Weile offen, so daß ich fünf Goldzähne darin zählen konnte.

»Fürstenzimmer natürlich!« flüsterte er dann.

»Natürlich«, sagte Opapa.

Der Oberkellner, der schon die ganze Zeit hinter ihm gestanden, brauchte nur nach vorn zu fallen, um an seinem Ohr zu sein.

»Fellner, Fürstenzimmer für Seine Durchlaucht und Exzellenz, den Herrn Generalleutnant...«

»Das wäre alles«, erklärte Opapa und stand auf. Der Gewerberat riß vor ihm die Tür auf.

Und dann kamen die drei. Ferdl begrüßte uns fröhlich, aber ziemlich flüchtig, und machte sich gleich auf den Weg, um bei den verschiedenen Kusinen und Schwägerinnen eingeladen zu werden. Onkel Gustl war rauh, aber kameradschaftlich zu mir, schoß mit dem Luftgewehr und spielte sehr nett mit Jakob, der ihm gegenüber eine geradezu hündische Ergebenheit an den Tag legte.

Onkel Poldi aber wurde von uns mit Beschlag belegt, was mir sehr gut gefiel, denn er verehrte die Mama, die er unentwegt ausführte, und die infolgedessen nie dazu kam, Schularbeiten mit mir zu machen. Jakob und ich kamen auch bei ihm zu unserem Recht. Jakob durfte Onkel Poldis Goldschnüre und Medaillen beklopfen und brachte ihn nur einmal etwas in Verlegenheit, als er ihm ein Stück Watte aus dem Ohr zog. Ich war für einen Tag der Stern der Klasse und wurde selbst vom Lateinlehrer gut behandelt, weil mich Onkel Poldi mit der Mama von der Schule abholten.

Dann aber kam Opapa an die Reihe. Er lud Onkel Poldi und mich zu einem >Bummel Unter den Lindem ein.

Zu diesem Zweck wurde eine Autodroschke engagiert, gesteuert von einem schnapsnasigen Individuum namens Zimmer, dessen Standplatz vor der Kneipe gegenüber war. Das heißt, nur sein Benzinvehikel mit dem hutkoffergroßen Motor stand davor. Zimmer saß innen in der Kneipe, und man mußte ihn herausholen. Er war dann immer ziemlich brummig, und man mußte sich die Tür zu der muffig riechenden Polstergruft selbst aufmachen. Als Zimmer jedoch die Uniform sah, erwachten dunkle Erinnerungen an verschollene Jahrzehnte als herrschaftlicher Kutscher in ihm. Er rannte um seine Benzinjolle herum, riß die Tür auf und klappte sie ehrfürchtig hinter uns zu. Erst dann begann er seine Freiübungen an der Motorkurbel, bis ein gewaltiges Donnern und Schütteln, verbunden mit einer blauen Auspuffwolke, die in den Wagen hineindrang, den Erfolg seiner Bemühungen anzeigte. Zimmer nahm Platz, hieb den ersten Gang in die Kulissenschaltung, die außen am Wagen war, und los ging es.

Am Brandenburger Tor ließ Opapa halten. Links lag der Tiergarten, rechts breitete sich Unter den Linden aus. Onkel Poldi, um den sich ein halbes Dutzend staunender Gassenjungen versammelt hatte, wollte lieber in den Tiergarten, weil dort geritten wurde, aber Opapa bestand darauf, ihn ins Café Kranzler einzuladen, das an der Ecke der Linden und der Friedrichstraße lag. Onkel Poldi, der — wie ich jetzt annehme — genau wußte, worum es Opapa ging, erklärte sich höflich einverstanden, und so durchschritten wir zu dritt das Tor. Gleich hinter dem Tor war die Wache. Die Mannschaft saß drinnen. Davor standen ihre Gewehre in Pyramiden zusammengestellt, und vor den Pyramiden stand ein Soldat auf einem kleinen Podest und paßte auf.

Opapa schritt gleichgültig plaudernd einher. Seine Hand hatte er leicht über Poldis Arm gelegt. An seiner anderen Hand hing ich. Der Posten blinzelte die verbündete Uniform an. Dann erkannte er wohl die Generalsabzeichen und schrie:

»Wache — ‘raus!«

Die Wache stürzte ans Gewehr. Die Spaziergänger blieben stehen, Onkel Poldi grüßte sehr höflich, Opapa tippte an seinen Strohhut, und ich zerplatzte einfach in Hochgefühl und bemühte mich, gelangweilt geradeaus zu sehen, als ob wir jeden Morgen durch repräsentierende Wachen schritten.

»Der alte Herr — jemand vom Hof!« hörte ich es flüstern, als wir auf Wolken durch die Menge schwebten.

»Nein...«, sagte eine andere Stimme, »es ist der österreichische Botschafter...«

Bei Kranzler saßen wir oben auf dem Balkon und aßen Torte und Schlagsahne. Die Herren tranken Mokka und Schnäpse und rauchten von Onkel Poldis schweren Virginiazigarren, aus denen sie vorher die Strohhalme herauszogen. Ich bekam eine Tasse Schokolade. Die Damen ringsum tuschelten, und die Herren warfen böse Blicke auf Onkel Poldi, weil ihre Damen das Gefieder spreizten wie die Hühner. Dann stritten sich Opapa und Onkel Poldi, wer zahlte, und dann gingen wir. Onkel Poldi wollte sich die Läden in der Friedrichstraße ansehen, aber Opapa hatte plötzlich seine Meinung geändert und erklärte großmütig, Poldi habe sich doch die Reiterinnen im Tiergarten ansehen wollen. Das bedeutete, daß wir noch einmal an der Wache vorbei mußten. Onkel Poldi seufzte, aber er gehorchte. Ich hätte Opapa um den Hals fallen können.

Wir jagten noch einmal die Wache heraus.

»Schludrig«, sagte Opapa, als wir vorbei waren. »Schludrig, die Griffe! Hast du gesehen, der dritte von rechts, klappte nach! Kein Zug mehr in der Bande!«

Onkel Poldi lachte: »Da solltest du erst mal unsere sehen! Dagegen kommt ihr mir immer vor wie aufgezogene Uhrwerke!«

Es war unbeschreiblich schön. Fast so schön wie der Moment, in dem ich Jakob bekam.

Und dann am nächsten Tag wurde es Ernst mit der Großen Gesellschaft.

Am aufregendsten für mich und alle die anderen war, daß aus Anlaß dieser Gesellschaft unsere auf eiserne Sparsamkeit abgestimmte Lebensführung von Omama, dem Finanzdiktator, bewußt über Bord geworfen wurde.

Bei Kempinski in der Leipziger Straße wurde das Essen bestellt. Ein Extralieferwagen brachte es, und zwei junge Männer in Kempinski-Uniform trugen es herauf, während aus den Ladentüren und Fenstern der Nachbarschaft neugierige Blicke diesen phänomenalen Vorgang verfolgten. Da gab es Kaviar im Eisblock, knallrote Hummer mit riesigen Scheren, Hühnerfrikassee, in der Kochkiste vorgekocht, Zander, Schildkrötensuppe, dazu Torten in neckischer Verpackung, Eisbomben, Waffeln und ein Dutzend verschiedener Kekse.

Jakob wurde eingesperrt, während man all diese Herrlichkeiten in der Küche ausbreitete und die Mama nach einer Liste verglich. Er beobachtete die Vorgänge mit glühendem Interesse und hätte nur zu gern auf seine Weise daran mitgewirkt. Aber man hatte die Käfigtür mit einer Schnur festgemacht. Er sprang von der einen Stange auf die andere, dann auf den Boden. Er rüttelte an der Tür und schimpfte ingrimmig vor sich hin. Seine Feuergeschwindigkeit steigerte sich vor Aufregung bis auf einen Klecks alle fünf Minuten. Dann wurde er ruhig, besah sich die Schnur und begann, sie mit systematischen, wohlüberlegten Schnabelhieben zu bearbeiten.

Inzwischen kamen die Weine. Die beiden jungen Kempinskianer trugen die leichten, spritzigen Mosel in Kisten auf der Schulter und setzten sie mit Schwung auf den Boden. Dabei fragten sie Valeska, wann sie den nächsten Ausgang habe. Sie erklärte schnippisch, daß sie verlobt sei, und ich fügte hinzu, daß ihr Bräutigam eine Hand so groß wie eine kleine Bratpfanne habe, kaum durch die Tür gehe vor lauter Größe und im Privatberuf Bechsteinflügel auf der Schulter herumtrüge. In diesem Moment schrie Valeska auf: »Jesses... der Vogel!«

Jakob hatte in aller Stille seine Tür aufgebrochen und war mit einem Hupf auf dem Küchentisch. Dort begann er zunächst die Überarbeitung eines Haufens von Schokoladentüten mit Schlagsahnefüllung. Er steckte gerade den Kopf in die erste Tüte und zog ihn völlig eingeseift wieder heraus, wobei er die Sahne mit hochgerecktem Kopf und wollüstig geschlossenen Augen auf der Zunge zergehen ließ. Er sah aus wie Opapa beim Rasieren, bevor er das Messer ansetzte.

»Wirst du wohl!« fauchte Valeska.

Jakob machte einen erschrockenen Hupfer und landete mit seinen beiden durchaus nicht sauberen Füßen direkt in der großen Schüssel mit der Hummermayonnaise. In diesem Augenblick erschien die Mama wieder in der Tür und schrie:

»Ja, paßt denn niemand hier auf?«

Ich bekam Jakob zu packen und trug ihn wieder ins Bauer. Meine Jacke erhielt eine interessante Dekoration aus Mayonnaise.

»Ich mache die Tür mit Draht fest, er hat sie sich selbst aufgehakt. Es interessiert ihn doch alles so!« haspelte ich schnell herunter.

»Was machen wir nun mit der Mayonnaise?« fragte Valeska. »Er hat doch den ganzen Dreck aus dem Bauer hereingeschleppt?«

Mama besichtigte seufzend die Schüssel. Dann richtete sie sich entschlossen auf: »Geben Sie mir einen Löffel!« Sie rührte ein paarmal um: »In der Mayonnaise merkt man es Gott sei Dank nicht, es löst sich auf!« sagte sie dann.

Ich kam eilfertig mit Draht und Zange angerückt und begann zu basteln. Jakob kratzte sich die Schlagsahne von Kopf und Hals und begann sie, vermischt mit Mayonnaise, von seinen Krallen zu frühstücken. Die beiden Kempinskianer waren ganz ernst und sachlich und stellten nun die alten Rotweine hin, deren Flaschen ganz staubig waren und jede für sich in einem kleinen Henkelkörbchen ruhten. Schließlich packten sie noch die Schnäpse aus und empfahlen sich dann eilig unter den strengen Blicken der Mama. Jakob hatte seine Reinigung beendet, trank einen Schluck Wasser nach, sprang dann auf den Boden des Käfigs und betrachtete nachdenklich die neu angebrachte Drahtschlinge.

Sodann erschien der angemietete Koch, der in der Küche eine hohe weiße Mütze aufsetzte und Valeska an den Po faßte, um gleich von vornherein eine gewisse Atmosphäre von Zusammenarbeit und kollegialer Vertraulichkeit herzustellen. Valeska sagte dazu kein Wort. Offenbar schüchterte seine Autorität sie ein. Sodann erschien Frau Müller, die immer ein aufgedunsenes Gesicht bekam, wenn sie Erdbeeren aß, und schließlich ein Lohndiener, der seine ungeheuren und sehr roten Hände in weiße Handschuhe zwängte und seinerseits Frau Müller in den Po zwickte, die beim Abwaschen helfen und die Garderobe abnehmen sollte.

Jakob hatte eine Zeitlang vergeblich versucht, den Draht aufzubiegen. Schließlich bekam er es mit der Wut und hackte wild darauflos. Er schielte direkt vor Gift und Galle, fauchte und knurrte, bis er völlig erschöpft mit herunterhängenden und zitternden Flügeln auf dem Boden sitzen blieb. Als aber dann der Koch seine Mütze aufsetzte, begann er vor Schreck zu toben, daß ich ihn herausholte und an meiner Brust barg.

Ich verdrückte mich nach vorn, wo man die Bibliothek ausräumte. Der Schreibtisch wurde endlich einmal benutzt, indem man ihn an die Seite schob und Schnapsflaschen und Gläser daraufstellte. Opapa hatte eine nach langer Überlegung ausgewählte Zigarrenkiste dort aufgebaut; aber gerade, als ich nach vorn kam, wurde diese Kiste von der Omama heftig beanstandet. Sie sah nach dem Preisschild und erklärte, das sei lächerlich! Außerdem hätten die Zigarren keine Bauchbinde. Opapa setzte sich den Kneifer auf und starrte auf die Zigarren, als bemerke er das erst jetzt. Er murmelte etwas von »sehr guten leichten Fehlfarben«, wurde aber im der Jacke genommen und vor seinen Schrank geführt. Omama schloß auf, was Opapa offensichtlich durch Mark und Bein ging, und begann, in dem durch Jahre aufgestapelten Vorrat zu wühlen. Hinter ihrem Rücken vollführte Opapa halb abwehrende, halb hilfeleistende, jedenfalls völlig unwirksame Handbewegungen.

»Aber laß mich doch, Paulchen«, sagte er, »du bringst ja alles durcheinander!«

»Ja, das hilft doch nichts, Mäcke«, erklärte sie, »du kannst Herrn Busch und Leo (Omamas Kusin, genannt der Eiszapfen, Mützenfabrikant, vielfacher Häuserbesitzer und Mann von Erbtante« Lola) doch nicht solchen Mist vorsetzen! Was sollen denn die Leute denken!« Währenddessen studierte sie unentwegt Preisschilder und zog schließlich mit vier Kisten unter dem Arm zum Schreibtisch: »Hier, mach die auf!«

Opapa kramte in’ einem letzten stillen Sabotageversuch seine Taschen um und brummelte etwas von dem Messer, das er nicht fände.

»Brauchen wir nicht!« sagte Omama, griff auf den Schreibtisch und nahm einen Kistenöffner in Form eines versilberten Hammers, ein Lieblingsspielzeug von Jakob übrigens. Sie öffnete damit die Kisten, stellte Bauchbinden fest und sagte befriedigt: »Na, also!« Dann rauschte sie ab, während Opapa eine Weile trübselig paffend vor den Kisten stand, schließlich aus dem Schrank eine Liste holte und die Nummern strich.

Ich hatte während der ganzen Zeit mit Jakob auf der Hand ganz still neben dem Phonographen gesessen und mit den Walzen gespielt, die in ihren gefütterten Papprollen bereitstanden. Opapa tat mir sehr leid. Jetzt bemerkte er mich, nahm den Kneifer ab und kratzte sich am Kinn.

»Wenn du willst«, schlug ich vor, »laß ich die Kiste mit den ganz schönen in den Glasröhren verschwinden! Wir könn’ ja sagen, daß Jakob sie ‘runtergeworfen hat und daß sie kaputtgegangen sind!«

Opapa strich mir über den Kopf: »Nein, laß«, sagte er melancholisch, »das hat keinen Zweck, sie holt dann nur noch eine Kiste heraus, man soll sich nicht mit Frauen streiten, merk dir das.«

»Warum soll man sich denn nicht mit ihnen streiten?«

»Weil sie die besseren Nerven haben und deshalb immer recht behalten. Aber das verstehst du nicht.«

Es klingelte wieder einmal. Es klingelte eigentlich ununterbrochen. Diesmal kamen die Blumen für die Dekoration. Auf dem Flur herrschte lebensgefährliches Gedränge. Jeder stieß jeden, und alle zusammen fielen dauernd über irgend etwas. Zwischendurch riß die Mama die Tür auf: »Ihr müßt euch umziehen — schnell! Die ersten Gäste kommen bald!«

Opapa warf sich in das Flurgewimmel, um in das Schlafzimmer zu gelangen, ich steckte Jakob in die Jacke und sauste hinter ihm her: »Opapa, ziehst du heute deine Orden an?«

»Nein«, meinte er, »ich darf nicht, das heißt, ich will nicht. Busch und der Eiszapfen haben keine Orden zum Anstecken, es würde sie beschämen.« Ich blieb bei ihm im Schlafzimmer und beobachtete, wie er den Frack anzog. Ich durfte ihm beim Hemdknöpfen helfen und rannte nach einem Schuhanzieher, weil ihm die Lackstiefel zu eng waren. Er fluchte furchtbar.

Dann wurden wir beide wieder hinausgejagt, weil das Schlafzimmer für die Garderobenablage der Damen frei gemacht werden mußte. Die Mama packte mich beim Wickel und steckte mich in meinen besten Matrosenanzug mit den Goldknöpfen.

»Wenn Onkel Leo dich fragt, ob dir die Mütze Freude macht, die er dir voriges Jahr geschenkt hat, mußt du sagen, daß du sie dauernd trägst und daß sie dir viel Freude macht, hörst du? Dann schenkt er dir nächstes Jahr wieder eine Mütze!«

»Das kann er auch ruhig tun«, sagte ich, »er macht sie ja selbst, sie kosten ihn nichts. Soll ich ihm das sagen?«

»Untersteh dich!«

»Soll ich ihm einen Kuß geben?«

»Nur, wenn er dir die Backe hinhält. Du weißt, Onkel Leo ist nicht sehr für Zärtlichkeiten, nur manchmal, wenn man es nicht vermutet. Man kennt sich bei ihm nicht aus.«

»Mama«, sagte ich, während sie mir das Haar bürstete, den Scheitel zog und die Ohren revidierte, »Omama hat gesagt, Onkel Leo ist Millionär, und Tante Lola ist unsere Erbtante, stimmt das?«

»Ja, das stimmt.«

»Und Omama hat gesagt, wenn sie stirbt, vermacht sie mir vielleicht was! Soll ich sie danach fragen?«

»Untersteh dich!«

»Soll ich vielleicht Tante Lola den Jakob zeigen?«

»Vielleicht später, nicht gleich. So, und jetzt ‘raus!«

»Ja... wohin denn Taus! Ich wer’ ja überall ‘rausgeworfen!«

»Sperr den Jakob ein und geh ins Eßzimmer.«

»Ich kann Jakob nicht einsperren, er ängstigt sich so vor der Mütze vom Koch.«

»Dann nimm ihn mit ins Eßzimmer«, sagte sie, »aber paß auf ihn auf und nimmt nichts vom Tisch, da ist schon gedeckt.«

Ich ging also ins Eßzimmer. Dort sollten die weniger wichtigen Eingeladenen an der Tafel abgefüttert werden, die man auf die vierfache Länge ausgezogen hatte. Es war ein imposanter Anblick: viel Blumen auf dem Damasttuch, das beste Geschirr, die Servietten kunstvoll zu spitzen Kegeln gefaltet. Dazwischen standen Bouillontassen mit Käsestangen, und außerdem hatte der Koch aus Butterkugeln herrliche Pyramiden aufgebaut.

Dann klingelte es wieder. Ich setzte Jakob schnell auf eine Stuhllehne, legte ihm den Lappen unter und rannte zur Entreetür. Da war schon der erste Gast: der alte Geheimrat Schlieven aus dem Kriegsministerium kam hereingewankt. Er hatte einen Gehpelz über dem Frack und sah direkt vornehm aus. Natürlich lange nicht so vornehm wie Opapa, der jetzt auch im Frack erschien und den Geheimrat durch eine ungewöhnlich freundliche Begrüßung bestürzte. Er legte dem baufälligen Erstling sogar den Arm über die Schulter und sagte: »Kommen Sie nach vorn, Schlieven, wir nehmen erst einmal einen, damit wir die Sache besser durchstehen!«

Schlieven wischte sich mit einem Taschentuch, das er aus der Brusttasche zog, die Augen aus und einen Tropfen von der Nase, tätschelte mich auf den Kopf und sagte: »Gewiß, lieber Max, gewiß, lieber Max!«

Dann klingelte es wieder, und es erschien der Generaldirektor Busch mit seiner ungeheuer dicken Frau, die kolossal nach Parfüm roch und der ich einen tiefen Diener zu machen und sie mit »Tante Busch« zu titulieren hatte. Ich trabte hinter ihr her in das Schlafzimmer und versuchte ihr dort beim Ablegen zu helfen. Sie hatte nämlich am Finger ein kleines Paket baumeln, von dem ich nicht zu Unrecht annahm, daß es für mich sei. Bei all ihrer Leibesfülle und bei der Entledigung des schweren Nerzmantels wurde ich jedoch gar nicht bemerkt und gewissermaßen an die Wand gefegt. Omama war intensiv um sie herum. Tante Busch erzählte ihr, heftig durch die Nase atmend, daß sie schon wieder fünf Pfund zugenommen und außerdem nachts immer einen Schluckauf habe. Omama sagte, sie solle die Arme hochheben und die Füße in kaltes Wasser stecken.

»Das kann ich nicht«, sagte Tante Busch deprimiert, »dann wacht Oskar auf. Er schnarcht zwar so, daß ich nicht schlafen kann, aber er ist sehr ärgerlich, wenn er geweckt wird.«

»Soll ich dir vielleicht eine Schüssel mit kaltem Wasser holen, Tante Busch?« fragte ich aus dem Hintergrund. »Ja — was machst du denn hier?« fragte Omama.

Tante Busch wälzte sich herum, wobei es einen richtigen Luftzug gab: »Ach, laß ihn doch, Paulchen, er meint es ja so gut, ein richtiger kleiner Kavalier! Ach... übrigens hier, mein kleiner Kavalier... ist etwas für dich!«

»Vielen Dank, Tante Busch!« (Na also, warum nicht gleich?) Ich nahm das Paketchen und sauste damit aus dem Zimmer.

Draußen rollten gerade Onkel Leo und Tante Lola ein. Ich versteckte schnell das Geschenkpäckchen hinter dem Gasmesser und ging ihnen entgegen. Onkel Leo hatte einen Spitzbart und sehr kalte Augen. Opapa sagte, er ginge über Leichen und habe das Gemüt eines Fleischerhundes, was ihm von der Omama streng verwiesen wurde. Tante Lola war eine sehr schöne Frau, frühere Schauspielerin, und was man >statiös< nannte, das heißt, sie hatte eine schlanke Taille, konnte aber trotzdem einen ansehnlichen Busen in der Auslage präsentieren. Außerdem hatte sie große dunkle Augen wie die Antilopen im Zoo, eine tiefe Stimme, und Tante Frieda, die Frau des Redakteurs, die inzwischen auch gekommen war und mir einen derben Kuß gab, hatte mal erwähnt, Tante Lola habe mit Opapa eine >Liaison< gehabt, worunter ich mir nichts vorstellen konnte, denn man versuchte es mit »Psst, psst, der Junge!« vor mir zu verheimlichen.

Tante Lola begrüßte Opapa mit einem fragend vertraulichen Augenaufschlag und gab der Omama einen innigen Kuß. Omama erwiderte den Kuß mit Wärme, und ich bin heute überzeugt, daß sie es nur meinetwegen und im Hinblick auf die >Erbtante< tat.

Auch jetzt strich mir Tante Lola wieder über den Kopf, drückte mir eine Tüte in die Hand, die mindestens fünf Pfund wog, und sagte dann zur Mama, die inzwischen auch aufgetaucht war: »Zu dünn, der Junge, viel zu dünn! Gebt ihr ihm denn genug Butter? Man sollte eine Butterkur mit ihm machen!«

Ich hatte eigentlich eine Feuerwehr oder ein paar Schachteln Zinnsoldaten erwartet, bedankte mich aber sehr artig und verdrückte mich dann in mein Zimmer, um die beiden Pakete zu untersuchen. Inzwischen klingelte es ununterbrochen. Die Gäste begannen die Räume zu überschwemmen und standen zunächst ziemlich ungemütlich in den vorderen Zimmern herum. Dann kam Werkenthau und wurde von mir mit Argusaugen beobachtet. Er erinnerte mich an den scheußlichen Kerl von der Ferienfahrt, der Mama den Hof gemacht hatte. Opapa begrüßte er zunächst ziemlich oberflächlich mit: »‘n Abend, Kollege, Busch schon da?«

Währenddessen fuhren seine Mausaugen blitzschnell über die Bibliothek, in die man ihn geführt hatte. In der Tür erschien jetzt Busch im Gespräch mit Onkel Leo. Werkenthau war sofort strahlend vertraulich-süßlich. Busch gab ihm die Hand: »Was Neues, Werkenthau?«

»Alles in bester Ordnung, Herr Generaldirektor!«

Dann setzte er mit den schleichenden Schritten eines Panthers — und gefolgt von mir — seinen Erkundungsgang in den Salon fort. Dort prallte er auf Onkel Poldi, der die Mama unter den Arm gefaßt hatte. Werkenthau, der angesichts der Kronleuchter, der schönen alten Möbel und der kleinen, festlichen Tische zu blinzeln begonnen hatte, knickte in sich zusammen. Opapa, der hinter ihm aufkreuzte, nahm seinen Arm:

»Darf ich bekannt machen: meine Tochter... mein Neffe, Generalleutnant von Wiedenhof — Kollege Werkenthau.«

Onkel Poldi verbeugte sich ritterlich. Werkenthau stammelte: »Exzellenz...!« Dann küßte er der Mama schwärmerisch die Hand: »Gnädige Frau...«

Als er der Omama vorgestellt wurde, war er schon so fertig, daß er ihr kaum die Rosen überreichen konnte, die er hinter dem Rücken hielt. Omama reichte ihm die Hand zum Kuß. Sie hatte den großen Brillantring angelegt, der nach allen Seiten bunte Strahlen warf. Ich bemerkte, wie er den Ring blitzschnell musterte, ehe er die Hand wieder freigab. Er sah nun ganz verfallen aus. Dann kam Tante Lola und warf ihn völlig aus der Bahn, indem sie ihn mit einem Legationsrat verwechselte, den sie beim Empfang des Fürsten Lichnowsky getroffen hatte. Während Werkenthau sich stotternd bemühte, den Irrtum aufzuklären, erschien Onkel Ferdl und fragte Tante Lola, wie ihr der gestrige Abend bekommen sei. Tante Lola schlug ihn leicht mit dem Fächer, durchtränkte Werkenthau mit einem Antilopenblick und bat ihn, sie zu entschuldigen. »Die Verwandtschaft... Sie verstehen...!«

Werkenthau versicherte, daß er alles verstehe, und ging dann wie auf Eiern an ein Tischchen mit Schnäpsen. Der Mann war erledigt, das war klar.

Beim Anblick Onkel Ferdls waren mir wieder seine Pferde eingefallen. Ich mußte fragen, ob er sie bezahlt hatte. Schulden kamen bei uns gleich nach Diebstahl, und ich hatte ihn doch gern, weil er so eine schöne Uniform hatte und so lustig war.

Ich bahnte mir meinen Weg — überall beklopft und begrüßt — durch die immer dichter werdende Menge. Mein Herz schwoll. Das Licht der Kronleuchter und Kerzen, all diese Männer in Frack oder Uniform, die Damen in raschelnden Seidenkleidern mit Blumen, Brillanten, Perlen, weißgepuderten Schultern und tiefen Ausschnitten, der wunderbare Geruch von gutem Essen und Zigarren, das sanfte Summen des Geplauders mit den Lichtkringeln des Gelächters, unsere schönen Möbel und Teppiche, die alle ganz neu und anders aussahen... Es ging eine solche Kraft und heitere Ruhe davon aus. Ein schöner, wunderschöner Abend!

Halt, da war Onkel Ferdl! Er saß mit Onkel Fritz und Tante Frieda zusammen auf dem Sofa im Salon. Onkel Fritz war auch ein Neffe von Opapa, zwei Meter groß, Major im Generalstab, hatte einen Birnenschädel, breite rote Streifen an der Hose und einen ganz hohen Kragen auf der Uniform, so daß er zusammen mit seinem langen Kopf aussah wie ein Schornstein.

Onkel Ferdl und Onkel Fritz redeten zu gleicher Zeit auf Tante Frieda ein, die sehr schön aussah mit ihren großen schwarzen Augen, Ohrringen und einem Kamm im Haar. Ihr Mann, Onkel Ludwig, war Redakteur, hatte einen roten Vollbart und hielt nicht weit von den anderen dem einsamen Werkenthau einen Vortrag über Politik. Als ich kam, sagte Onkel Ferdl gerade zu Tante Frieda, sie solle nicht auf das >blöde preußische Lineal< (damit meinte er Onkel Fritz) hereinfallen. Sie, die Windischgrätz-Dragoner, seien bekannt für schneidige Attacken.

Das war der richtige Augenblick. Ich schmiegte mich zärtlich an Onkel Ferdl (was ihm anscheinend gar nicht gelegen kam) und fragte: »Reitest du dann auf deinen Alimenten?«

Die drei erstarrten und zogen im Takt die Augenbrauen hoch. »Was hast du da gesagt, mein Junge?« fragte Tante Frieda.

»Ob Onkel Ferdl dann auf seinen Alimenten reitet, wenn es zur Attacke geht. Weil er sie doch noch nicht bezahlt hat!«

Onkel Fritz riß den Mund auf, haute sich auf den Schenkel und lachte so los, daß sich ein paar in der Nähe umdrehten. Tante Frieda griff schnell nach dem Taschentuch, hielt es sich vor den Mund und die Augen, so würgte sie, um nur nicht auch so laut zu lachen: »Ferdl«, keuchte sie schließlich, »...ich stell’ mir das so vor!«

Onkel Ferdl war ganz rot geworden und packte mich am Arm: »Was, zum Teufel, erzählst du da, du Lauser?«

Huch, hatte der plötzlich Augen! So mochte er schauen, wenn man mit ihm zum Säbelkampf kam. Lieber nicht.

»Ich weiß gar nicht, was ihr wollt!« stotterte ich. »Opa hat es doch gesagt, daß Onkel Gustl gesagt hat...«

»Gustl!!« schrie Onkel Ferdl kampflüstern und richtete sich auf wie ein Hahn.

»Und Opapa hat gesagt«, stotterte ich weiter, »...er hat sie nicht zugeritten... er weiß es nicht...«

Jetzt packte mich Onkel Fritz am Arm: »Was hat er gesagt... zugeritten? Hahahaha!«

Schließlich steckte Tante Frieda das Taschentuch weg und entriß mich den Männern, die mich zwischen sich hin und her zerrten: »Jetzt laßt ihr mir den Jungen in Ruhe! Und du bleibst sitzen, Ferdl, und machst hier keine Familienszene, verstanden? Und du, Fritz, brüllst nicht wie ein Schimpanse! Hänschen, was sind denn Alimente, wir verstehen das nicht.«

Sie hatte eine tiefe Stimme voll mütterlichen Verständnisses. Sie war überhaupt eine großartige Frau, fand ich immer.

»Na, das sind doch die Pferde, die man für das Militär aufkauft!«

»Remonten!« schrie Onkel Fritz und haute sich wieder aufs Bein.

»Aber ich habe doch gar keine gekauft!« stotterte Onkel Ferdl und sah ganz dumm von einem zum andern. »Dagegen habe ich tatsächlich... Es war doch dieser verflixte Gustl!«

Er wollte wieder hoch, aber Tante Frieda hielt ihn abermals zurück: »Sei nicht albern, Ferdl. Komm, erzähl mir, das ist ja furchtbar... Fritz, bring den Jungen weg. Mach den Mund zu, Hänschen, und geh mit Onkel Fritz. Ich werde diesen Löwen derweilen bändigen.«

»Wenn er heute abend aufs Hotelzimmer kommt«, sagte Onkel Ferdl, »haue ich ihm die Jacke voll!«

»Da will ich dabeisein... da will ich dabeisein!« schrie ich, aber Onkel Fritz packte mich wie einen jungen Hund am Genick und schleppte mich zu Opapa.

Der plauderte gerade mit Tante Emmy und ihrem Mann, Onkel Paul. Tante Emmy war auch, was man damals >statiös< nannte, blond, hatte blaue Augen, eine lange Nase und einen großen Muff auf dem Schoß, aus dem der Kopf ihres Rehpinschers Max schaute. Sie nahm ihn überallhin mit, weil er aus Rache alles vollmachte, wenn man ihn zu Hause ließ. Sonst, wenn man ihn auf der Straße hinsetzte und er laufen sollte, schlotterte er immer mit seinen dünnen Streichholzbeinen und tat mir sehr leid, weil ich doch auch so dünne Beine hatte und meist fror. Jetzt aber hatte er sein kleines Maul offen, die Zunge hing ihm heraus, und die Augen hatte er noch mehr vor dem Kopf als sonst. Offenbar war selbst ihm zu heiß.

Onkel Paul war viel kleiner als Tante Emmy, hatte kein einziges Eiaar auf. dem Kopf, war meist auf Geschäftsreisen unterwegs und spielte, wenn er zu Haus war, Cello. Opapa und Omama hatten die beiden vor vielen Jahren auf einer Badereise kennengelernt. Sie wohnten in >der Provinz< und kamen immer nur für ein paar Wochen in die Stadt.

Onkel Fritz also schleppte mich zu den dreien, schlug Opapa auf die Schulter (was ich sehr despektierlich fand) und sagte: »Du erteilst deinem Ableger ja eine sonderbare Art von Naturunterricht. Er hat den Ferdl gefragt, ob er auf seinen Alimenten reitet... Er hatte es von dir und du von Gustl...«

»Remonten...«, sagte ich. »Remonten, Opapa, ich hab’s nur wieder verwechselt! Du hast doch selbst erst >Alimente< gesagt, und du hättest sie nicht geritten...«

Tante Emmy prustete los, Onkel Paul errötete wie ein junges Mädchen, zog mich an seinen kleinen, runden Bauch und streichelte mir den Kopf. Onkel Fritz erzählte alles noch einmal und wieherte dazu.

»Ferdl will dem Gustl die Jacke vollhauen, wenn sie im Hotel sind. Hans, das sehen wir uns an, was?«

»Ja... vielleicht...«, stotterte ich und sah ängstlich auf Opapa. Der war ganz blaß und sagte:

»Laß diese dummen Witze, Fritz! Und du gehst jetzt ‘raus!« befahl er mir.

»Und nimm meinen >Max< mit, sagte Tante Emmy, »es ist ihm zu heiß!« Ich nahm Max auf den Arm. Er hatte ein Geschirr um wie ein Pferd, mit Glöckchen dran.

»Aber wo soll ich denn hingehen?« maulte ich. »In meinem Zimmer liegen lauter Mäntel, und in eurem Schlafzimmer liegen lauter Mäntel, und in der Küche haben sie sowieso keinen Platz.«

»Dann geh ins Badezimmer!« sagte Opapa verzweifelt.

»Das darf ich ja auch nicht, da sind dauernd die Tanten, und Omama hat gesagt, wenn ich mal muß, soll ich ‘ne Treppe höher zu Heiseckes gehen, das mach’ ich aber nich, ich kann doch nich klingeln, und dann macht womöglich Mimi, die dämliche Ziege, auf (gleichaltrige Tochter des Hauses), und der kann ich doch nich sag’n: >Gut’n Abend, ich muß mal!< Da halt’ ich mir’s lieber ein, bis ihr eßt.«

Onkel Fritz wieherte wieder. Er hatte große Zähne wie ein Pferd. Opapa schob mich an der Schulter weg: »Na ja, na ja, das wollen wir gar nicht so genau wissen. Dann spiel mit Jakob und Max.«

Jakob! Wo war Jakob? Ich hatte ihn völlig aus den Augen verloren, seit ich ihn im Eßzimmer abgesetzt hatte. Auf dem Wege dorthin traf ich die Mama und klagte ihr mein Leid.

»Komm mit«, sagte sie, »ich gehe sowieso ins Eßzimmer, da ist niemand, ich muß nachsehen, ob alles richtig gemacht ist.«

Wir zogen die Schiebetür auseinander und gingen hinein. Die gewaltige Tafel stand schweigend unter dem Kristalleuchter, und auf der Tafel stand Jakob. Er war so fieberhaft beschäftigt, daß er unseren Eintritt gar nicht bemerkte. Momentan war er dabei, das Arrangement architektonisch umzubauen, und zwar konzentrierte er sich dabei auf die Pyramiden aus Butterkugeln. Er pickte immer eine Kugel mit dem Schnabel auf, schüttelte sich dann und schnellte sie auf diese Weise in die Weite. Zwei große Pyramiden hatte er schon abgetragen, und die Butterkügelchen klebten überall — auf den Stuhllehnen, an den Wänden, auf dem Teppich. Er arbeitete wie im Akkord und bekam einen fürchterlichen Wutanfall, als ihn die Hand der Mama packte. Aus Rache legte er noch schnell einen Klecks auf die Tafel, bevor er wie am Spieß schreiend in die Küche transportiert und ins Bauer gesperrt wurde.

Dort aber entsetzte er sich von neuem über die Mütze vom Koch, und so nahm ich ihn wieder heraus und flüchtete mich mit ihm und Max in Valeskas Zimmer, wo wir uns traurig und ausgestoßen auf ihrer eisenumrankten Schlummerstätte niederließen. Gott sei Dank wurde ich vom Schicksal entschädigt, denn als ich in meiner Langeweile anfing herumzustöbern, fand ich unter Valeskas Bett einen gewissermaßen konzentrierten Auszug aller Gerichte, der wahrscheinlich als Belegexemplar für ihren Freund beiseite gebracht worden war. Es gab da Hummermayonnaise, Kaviareier, gebratene Hühnerbeine, Eisbombe und Torte. Jakob, Max und ich aßen von allem, wobei sich Max für die Hühnerbeine interessierte, während Jakob und ich das Eis und die Torte bevorzugten.

Dann — nach erfolgter Sättigung — begannen Max und Jakob sich füreinander zu interessieren.

Max stand vor dem Eisenbett, zitterte mit den Beinen und heftete seine hervorquellenden Glubschaugen auf Jakob, der ihn sich, auf meinem Knie sitzend, mit schiefem Kopf betrachtete. Er hatte noch nie einen so kleinen Hund gesehen. Jetzt rülpste Max, daß seine Glöckchen klingelten. Jakob strich sich seinen mit Sahne beschmierten Schnabel an meiner Hose ab und sprang dann auf die Erde. Er war ebenso hoch wie Max. Der zitterte. Was würde nun geschehen?

Ich saß auf dem Sprung und fürchtete besonders für Maxens Augen, aber Jakob interessierte sich nur für die Glöckchen. Erst knabberte er daran, dann holte er aus und führte einen Hieb dagegen. Max sank in die Knie und sah aus wie ein winziges Reh. Dann drängelte er sein Hinterteil zwischen meine Beine und reichte vorn in einer rührenden Bewegung Jakob die Pfote hin. Und siehe da: Etwas von der Demut des kleinen Hundes schien ihn zu erreichen. Er hob seinerseits ein Bein und griff damit die Pfote. Er wollte auf steigen! Einen Moment sah es so aus, als schüttelten sich die beiden die Hand. Dann ließ Max die Pfote sinken, stakste, immer noch zitternd, an Jakob heran und leckte ihm über die Schultern.

»Hansemännchen!« bemerkte Jakob zu diesem unerhörten Vorgang. Dann langte er herum und kaute ganz zart und vorsichtig an einem von Maxens kleinen, dürftigen Fledermausohren. Max legte sich auf den Rücken und reckte seine vier Stöckchenbeine in die Luft. Jakob ging rund um ihn herum und begann dann ganz vorsichtig dieses ganze Gebilde abzusuchen. Er fuhr mit dem Schnabel über die kurzen Haare, kaute an den kleinen, schwarzen Zehen, zwickte ganz zart die dünnen Häute an den Schenkelgelenken und zerrte an den Glöckchen. Max schloß die Augen, rülpste noch einmal und begann dann zu schnarchen. Jakob hörte sich das Geräusch eine Weile an, dann riß er den Schnabel auf, gähnte und sortierte das Gefieder. Schließlich steckte er, an der Seite des Spielgefährten sitzend, den Kopf weg.

Mir war an sich etwas übel, aber die schläfrige Stille, die von diesen beiden Tieren ausging, überwog. Ich sah noch eine Zeitlang in den rötlichen Schein der Petroleumlampe, die auf Valeskas Nachttisch brannte, auf die Postkarten, die hinter ihrem Spiegel steckten und ihren Bräutigam mit nacktem Oberkörper und geschwollenem Bizeps im Ringerverein zeigten. Dann wußte ich nichts mehr.

Ich wurde erst wach, als mich jemand rüttelte. Es war die Mama:

»Ja... was machst du denn hier? Es ist doch schon ganz spät! Seit drei Stunden bist du verschwunden! Aber es ist ganz gut, daß du noch angezogen bist, komm nach vorn, Tante Lola möchte Jakob sehen.«

Ich raffte mich auf, und gleich wurde mir wieder etwas übel, aber ich bekämpfte es mannhaft. Dann sah ich mich nach Jakob um. Er schlief noch immer. Vor ihm, jetzt zusammengerollt und mehr als je einem Reh ähnlich — Max.

»Jakob ist müde, und mir ist übel!« erklärte ich der Mama.

»Das macht nichts«, erwiderte sie eisern, »mußt du gleich mal heraus?«

»Nein, so schlimm ist es noch nicht.«

»Dann nimm Jakob und komm.«

Vorn war die Esserei zu Ende. Man reichte Sekt und Mokka. Das Vierzig-Personen-Gewimmel hatte sich überall in angeregte Grüppchen aufgelöst. Im Arbeitszimmer spielte der Phonograph unter Gelächter >Beim Zahnarzt<, und hinten spielte Onkel Ferdl Klavier. Tante Emmy sang dazu mit Onkel Paul als einzigem Zuhörer. In der Bibliothek war Onkel Fritz wieder mit Tante Frieda beschäftigt, während in einer anderen Ecke ihr Mann, Onkel Ludwig, den Geheimrat von Schlieven über die neue Heeresvorlage zu interviewen versuchte. Im Salon hörte ich Onkel Leo und Onkel Busch über Goldpfandbriefe und erste Hypotheken plaudern, und in der anderen Ecke saß Tante Lola, umzingelt von Opapa und Omama, vor dem Phonographen. Alle waren ziemlich rot im Gesicht, sprachen sehr laut und machten große Bewegungen.

Ich durchschritt das Gewimmel mit Jakob auf der Hand, der einen dünnen Hals machte. Einen Moment überlegte ich, was er, das Tier des Waldes und der Felsen, wohl zu dieser funkelnden, fremden, künstlichen Welt sagen mochte.

»Hansemännchen...«, sagte er zunächst ziemlich kläglich und drängte sich an mich.

Es erlosch auch, als ich mit Jakob schlaftrunken durch die Räume wackelte, für einen Moment ringsum das Gespräch. Die Menschen wandten sich voneinander und uns zu. Die Spannung und die Künstlichkeit zwischen ihnen hörten auf, und sie zeigten für einen Augenblick ihre wahren Gesichter. Die waren ganz jung und eigentlich recht nett.

»Ach, da ist ja das Vögelchen!« sagte Tante Lola mit ihrer Baßstimme. »Ein reizendes Vögelchen, kommt es auch zu mir?«

Ich fand, daß sie wunderbar und direkt atemberaubend aussah. Nur störte es mich, daß man so viel von ihrem Busen sah. Sie streckte Jakob die beringte Hand hin. Er war sofort von zwei haselnußgroßen Brillanten fasziniert, die an Tante Lolas Fingern glitzerten, stieg über und begann an ihnen herumzuknabbern.

»Na... sieh mal!« sagte sie begeistert und zog ihn zärtlich an den schon erwähnten Busen. Jakob pausierte mit den Brillanten und steckte den mit Kuchenkrümeln und Schlagsahne verzierten Schnabel ungeniert zwischen die Busenhälften. Offenbar dachte er, daß irgend etwas zum Essen darin versteckt sei.

»Tschack-tschack-Kakao-Armleuchter!« erklärte er fachmännisch, als er wieder daraus auftauchte. Etwas Schlagsahne und ein Kuchenkrümel blieben an den Wölbungen haften.

Tante Lola lachte dröhnend: »Nun, du kleiner Schäker — hat er das von dir, Max?«

Opapa wurde rot und grinste. Omama lachte säuerlich, aber familiär verbindlich. Es schien alles in allem ein voller Erfolg. Onkel Fritz, der aus dem Hintergrund aufgetaucht war, wieherte und sagte: »Laß das nicht den Eiszapfen sehen, Lola!«

Tante Lola drohte ihm mit der Hand und warf einen kurzen Blick zu ihrem Gemahl hinüber, der aber unentwegt in Goldpfandbriefen machte. Dabei kraulte sie Jakobs Kopf. Der sträubte die Federn, verdrehte die Augen und fühlte sich offenbar völlig zu Hause. Ich stand schläfrig da, den berühmten Lappen hinter dem Rücken, falls er etwas fallen ließe. Er tat es nicht, begann aber statt dessen an dem Smaragdarmband zu zerren, das Tante Lola am Handgelenk trug. Sie drehte das Innere der Hand nach oben, um ihm sein Spiel zu erleichtern: »Wirklich ein lieber kleiner Schelm«, sagte sie, und dann: »Was hat er denn — ist er krank?«

Es war für Erklärungen schon zu spät. Jakob hatte unmißverständlich zu würgen begonnen, und während die Familie ringsum gefror, legte er Tante Lola eine wohlgelungene Gewöllewurst in die Hand, in der ich Borsten von Opapas Rasierpinsel und Splitter einer Hummerschere zu erkennen glaubte. Dann schüttelte er sich, ließ etwas fallen, was Gott sei Dank in der allgemeinen Bewegung unbemerkt auf Tante Lolas Schuh landete, und erklärte laut und feierlich: »Schulmeister!«

Dann kam alles in Aufruhr. Ich nahm Jakob von der Hand der erstarrten Tante Lola, Opapa riß das Taschentuch heraus und angelte die Gewöllewurst von ihrer Hand, Onkel Fritz riß auch das Taschentuch heraus und wischte umständlich den Kuchenkrümel vom Busen weg, bis sie sagte: »Na, jetzt ist es aber genug, Fritz!« Onkel Leo war auch plötzlich da, fragte: »Was ist los?« und setzte den Kneifer auf, wodurch er noch unerbittlicher aussah.

Aber Tante Lola erwies sich wieder einmal als große Dame: »Das kleine Vögelchen hat mir ein Kompliment gemacht. Laß dich nicht stören, Leo!« erklärte sie. Leo sah sie an, Onkel Fritz an, Opapa an, die — ihr Taschentuch in der Hand — ziemlich dumm herumstanden, grunzte dann etwas und ging wieder weg. Omama schleppte die Kusine ins Schlafzimmer, Opapa sah mich finster an und kippte dann die Gewöllewurst mit einem Ausdruck tiefsten Ekels aus dem Taschentuch in einen Aschbecher, Onkel Fritz lachte, haute mir auf die Schulter und sagte: »Deine Krähe solltest du dir patentieren lassen! Mach dir nicht in die Hosen, Max, das Gesicht von Leo war mir den ganzen Abend wert!«

Um mich drehte sich alles. Ich war entsetzt, müde, verwirrt, und immer noch war mir übel, besonders von der Eisbombe.

Dann brachte mich die Mama ins Bett. Jakob ließ ich auf dem Stuhl neben dem Nachttisch schlafen, weil er doch solche Angst vor dem Koch hatte. Viel später wurde ich noch einmal wach, als die Gäste gingen und man die Mäntel aus meinem Zimmer holte. Jakob war auch so müde, daß er nicht einmal den Kopf aus den Federn nahm.

Früh am Morgen war ich wieder wach. Ich hatte wilde Träume hinter mir: immer rannte ich vor irgend etwas weg, durch große, finstere Höhlen, über messerscharfe Hügelkämme, die von furchtbaren Winden umheult wurden, immer das Jaköble an meine Brust gepreßt, während aus gespenstischen Weiden dünne Geisterarme langten, die ihn mir entreißen wollten.

Ich blinzelte in das Licht und sah dann schließlich Jakob auf seiner Lehne, wie er gerade den Schnabel aufsperrte und gähnte.

Wie kam er denn hierher? Und im Augenblick fiel mir wieder alles ein, besonders die Gewöllewurst auf Tante Lolas Hand. Nun würden wir wohl niemals Geld von ihr erben, und schuld war das Jaköble. Dazu die Sache mit den Butterkugeln — nun würde man ihn wohl verbannen...

Aber ich würde es nicht zulassen. Wenn nötig, würde ich mit Jakob gehen. »Jaköble«, flüsterte ich aus dem Bett, »komm her!«

Er ließ noch schnell einen Klecks fallen und hüpfte in mein Bett. Ich hob die Decke hoch und enthüllte ihm die warme Höhle, in der mein Körper ruhte. Jakob besah sich dieses Gebilde, das ihm zum erstenmal in dieser Weise präsentiert wurde, ziemlich nachdenklich und warf einen mißtrauischen Blick gegen die Decke des Federbettgewölbes. Dann aber betrat er es gravitätischen Schrittes. Ich zog ihn an mich und ließ die Decke über uns beide fallen: »Mein Jaköble, mein geliebtes«, flüsterte ich, streichelte seine Flügel und küßte seine Brust: »Wir bleiben zusammen! Ich liebe dich nämlich so furchtbar, weißt du.«

Und dann malte meine wild wuchernde Phantasie sich aus, wie wir — von den Erwachsenen aus dem Haus getrieben — über die Landstraßen irren würden, ein kleiner Junge und ein noch kleinerer Vogel, wie dann die Nacht käme und der Schnee, der gnädige, in dem wir einschliefen und sterben würden (ich hatte gerade in der Zehn-Pfennig-Romanzeitung, die sich Valeska hielt, eine solche Geschichte gelesen). Ja — und dann würde man uns also finden, und Mama und Opapa und Omama würden über unseren Leichen zusammenbrechen und schreien: »Hätten wir doch...«

Hier tat ich mir so leid, daß ich in wildes Schluchzen ausbrach.

Die Bettdecke über mir wurde mit einem Ruck entfernt, die Mama ragte über mir auf: »Was machst du denn, willst du denn nicht aufstehen — die Sonne scheint, es ist Sonntag - du weinst ja? Warum denn? Ist dir noch übel? Und der Jakob im Bett, na — das wird ja immer schöner! Marsch, ‘raus mit euch!«

Ich stand auf, ernst und gefaßt, wusch mich so wenig wie möglich und ging dann an den Frühstückstisch. Omama und Opapa saßen auch schon da, sie hatten gerötete Augen, und Opapa aß einen Hering. Eine große saure Gurke stand in Reserve. Noch sagten sie nichts über Jakobs Abschaffung, aber sicher verstellten sie sich nur. Ich gab ihnen den Guten-Morgen-Kuß, der ziemlich zerstreut entgegengenommen wurde. Opapa ging vom Hering zur Gurke über und bemerkte:

»Also, Paulchen, wie gesagt, sehr gelungen, was? Leute haben sich offenbar amüsiert.«

Sie sah von der Zeitung auf.

»Besonders du hast dich amüsiert, du hättest Lola gar nicht so gründlich...«

»Das war ich ja gar nicht, das war Fritz. Der hat...«

»Psst! Der Junge!« sagte die Mama.

»Wie?«

(Lauter): »Psst, der Junge!«

»Ach so...« Omama sah mich zum erstenmal richtig an, und mir stand das Herz still. Aber ihr Blick war freundlich: »Iß etwas Torte, mein Kind, und gib Jakob auch was... und hör nicht immer so zu!«

(Na, das ging ja. Aber vielleicht war es doch Verstellung?)

»Ich glaube, ihm ist noch etwas übel«, sagte die Mama, »er hat geweint, und den Vogel hatte er auch im Bett!«

Alle drei blickten mich forschend an. Jetzt war es soweit; ich schluckte, während mir die Tränen heiß in die Augen stiegen: »Das mit den Butterkugeln...«, begann ich, hörte aber sofort auf, denn die Mutter trat mich vors Schienbein. Ich war glücklich darüber, wenigstens sie war auf meiner Seite.

»Butterkugeln?« fragte Omama, und dann ging ein verständnisvolles Lächeln über ihr Gesicht: »Ja, mein Kind, du bekommst heute abend auch von den Butterkugeln, es sind noch genug übrig.«

Opapa schüttete eine Tasse schwarzen Kaffee hinter den Hering und die Gurke: »Busch hat mir, als er ging, auf die Schulter geklopft. Mein lieber Freund, hat er gesagt, es war wirklich ein entzückender Abend! Ihre Kusine... charmante Frau, große Dame!

Und ihr Gatte... Fülle von Ideen und sehr anregende Gesichtspunkte! Na, was sagst du dazu, Paulchen?«

Sie nahm die Brille ab und stieß energisch den Zwieback in ihren Tee: »Wenn dir der Kaffee nach dem Hering und der Gurke bekommt, hast du einen Magen wie ein Pferd! Ja, das mit Busch ist gut. Aber ich habe Frieda und Fritz ermahnen müssen, hast du das gesehen, gegen Morgen in der Ecke? Frieda, habe ich gesagt, ihr seid nicht im Séparée!«

»Psst! Der Junge!« sagte die Mama.

»Wie? — Ach so!«

Und allmählich merkte ich mit Erstaunen, daß Jakobs Sünden von diesen seltsamen Erwachsenen offenbar völlig vergessen waren, über lauter langweiligen Nebensächlichkeiten, die ich noch dazu gar nicht verstand. So begann ich denn aufzuatmen und konnte mich in den nächsten zwei Tagen einer der größten Jahresfreuden der Familie widmen, dem Reste-Essen. All die unverzehrten Köstlichkeiten des großen Abends tauchten in fragmentarischer Form noch einmal auf und konnten nun in Ruhe und bis zur schmerzhaften Überfüllung der Mägen genossen werden. Jakob bekam sein reiches Teil davon ab...