DIE LANDPARTIE

Als ich wieder gesund war und sich beim besten Willen kein Fieber mehr feststellen ließ, ging ich noch zwei Tage in der Wohnung umher. Die Knie waren weich, ich schritt wie auf Watte und legte mich bald wieder hin.

»Es hat den Jungen wieder sehr angegriffen!« sagte man.

Am dritten Tag durfte ich einen Augenblick ins Freie gehen, unten in den Hof. Dort war schon der Frühling ausgebrochen. In der sogenannten Schmuckanlage hinter den Müllkästen zählte ich zwölf Schneeglöckchen und fünf Krokusse. Ich hatte Jakob natürlich mit heruntergenommen, weil er auch so lange nicht an der Luft gewesen war. Die Frühreife aus dem Porzellangeschäft war selbstverständlich sofort wieder da.

»Du bist aber dünn geworden!« meinte sie. »Da kannst du mich wohl noch nicht durch den Kellergang tragen, wenn wir Seeräuber spielen?«

Ich sagte, ich könnte wohl, wollte aber nicht.

»Darf ich dann wenigstens mal den Jakob halten?«

»Ja, gut... nimm ihn.«

Sie hielt ihm die Hand hin, er stieg über, rannte schnurstracks ihren Arm hinauf und riß ihr ein paar Haare aus. Sie stand völlig erstarrt mit runden Augen und machte den Mund auf, als ob sie schreien wolle.

»Heule nicht, dumme Gans«, sagte ich, »das macht er doch aus Liebe. Ihm gefällt dein Gesicht.«

Sie machte sofort den Mund wieder zu, nahm sich Jakob von der Schulter, kraulte ihn und sagte: »Aus Liebe... ei, ei, Jaköbchen!«

Ich atmete auf, daß die Sache so verlaufen war. Jetzt zerrte Jakob aus Leibeskräften an dem Band, das ihre weiße Bluse verschloß. Es hatte am Ende zwei kleine rote Herzen, und die hatten es ihm wohl angetan.

»Gefällt dir mein Gesicht auch?« fragte sie mich.

Ich musterte sie prüfend: »Jaaa... ganz nett... bißchen dick...«

»Ach, du bist ja dumm... komm, Jakob, wir gehen an die Mülltonnen, das hast du doch gern, nicht?«

Ich war ganz froh, daß sie mit ihm abschob, denn ich wollte mir mal die Krokusse ansehen. Sie waren wie aus einer anderen Welt, diese wunderbare dünne Zeichnung auf den Blättern und innen der gelbe Stempel, ganz zart bepudert. Und da die Schneeglöckchen — eines war ganz groß, und die zackigen Blätter mit Celb abgesetzt! Wie schön! — Ich sah auf: Steine ringsumher, mit tausend Fensteraugen, grau, verraucht und ganz oben der Himmel. Es war, als ob die Steine über mich fallen würden.

Dann hörte ich die Stimme der Frühreifen: »Jakob... Jakob... laß das, komm her!«

Und da sah ich es: Jakob, der erst die Mülltonnen revidiert hatte, war auf den Rasen geflattert. Es hatte ihn schon wieder interessiert, was an den Blumen war, die ich streichelte, und er begann sie auf seine Weise zu untersuchen, indem er sie abhackte und in einer Reihe wie die Mehlwürmer auf baute. Ich sprang auf:

»Pfui, Jakob, laß die Blumen stehen!«

Der Kobold in ihm erwachte, mit gellendem Tschack-tschack kreiste er hinter mir herum und hackte auch noch den schönen weißen Krokus und das Schneeglöckchen ab, vor denen ich eben gekniet hatte.

Der kleine Auftritt hatte den Portier des gegenüberliegenden Hauses aufmerksam gemacht. Er war ein großer Mann mit dicken, krummen Beinen und einem aufgezwirbelten Schnurrbart. Er hatte den Kopf geschoren und war früher Feldwebel gewesen. Jetzt riß er das Fenster auf und brüllte mich an: »Wenn du dich mit deinem Rabenvieh nicht zum Teufel scherst, drehe ich ihm den Kragen um! Und dir haue ich den Hintern voll!«

Oben am Küchenfenster sah ich Valeskas Kopf erscheinen.

»Valeska«, rief ich, »er will Jakob umbringen und mich verhauen!«

Valeskas Kopf verschwand eilig vom Fenster, ich jagte hinter Jakob her, der sich absolut nicht fangen lassen wollte, sondern von einem Strauch zum andern hüpfte und sich schließlich auf einen der verstaubten Büsche schwang. Ich wühlte in dem Busch, der Portier brüllte: »Läßt du gleich den Busch in Ruhe, Lausebengel... warte, ich komme ‘raus!«

»Jakob!« schrie ich. »Mein Jaköbchen... komm doch ‘runter!«

Da erschien schon der Portier auf dem Hof, doch zu gleicher Zeit von der anderen Seite Opapa mit der Mama im Schlepptau. Opapa stampfte auf den Portier zu, den Schnurrbart gesträubt:

»Wenn Sie den Jungen anrühren«, brüllte er, »zerbreche ich Ihnen sämtliche Knochen im Leibe!« Er sah richtig gefährlich aus und hatte ganz rote Adern in den Augen.

Die Mama hängte sich an Opapas Arm: »Vater... mach dich nicht unglücklich!« schrie sie.

In allen Fenstern erschienen Köpfe.

»Hier auf dem Hof habe ich zu sagen!« grollte der Portier, aber er wich unwillkürlich zurück.

Jakob, die Szene mit schiefem Kopf und dünnem Hals beobachtend, hatte wohl das Gefühl, daß dicke Luft sei, und schwang sich auf meine Schulter. Ich nahm ihn an meine Brust, rannte zum Hintereingang und blieb dort stehen, den weiteren Verlauf von dort abwartend.

»Ich werde mich über Sie beschweren!« donnerte Opapa. »Sie können sich Ihren ganzen albernen Hof an den Hut stecken und ihn umgraben, wenn Sie wollen, aber lassen Sie das Kind zufrieden!«

»Er war eben krank und ist noch so schwach!« sagte die Mama hinter Opapas Rücken hervor.

Der Portier wandte sich um und ging O-beinig wieder zurück, irgend etwas von »Aufgeblasener Bande aus dem Vorderhaus« murmelnd. Opapa schüttelte hinter ihm die Faust: »Sagen Sie das nicht noch einmal!«

»Komm nach oben, Max!« sagte Omama kurz vom Küchenfenster herunter.

Opapa, der einem siegreichen Stierkämpfer gleich dastand, erwachte wie aus einem Traum. Er nahm mich bei der freien Hand, und wir gingen nach oben.

»Du sollst dich nicht so erregen«, sagte Omama dort. Opapa schnaubte noch gewaltig durch die Nase: »Ich hätte den Kavalleriesäbel mitnehmen sollen«, sagte er, »so ein alberner Kerl, Feldwebel... wahrscheinlich war er nicht mal im Krieg!«

»Er kann dich wegen Bedrohung verklagen!« erklärte Omama.

»Er hat das Kind bedroht!« meinte Opapa bedeutend leiser.

»Das zählt nicht vor Gericht«, erklärte Omama, »du weißt, Max, ich bin ein halber Rechtsanwalt!«

»Soll er doch!« sagte Opapa ziemlich schwach, und dann gingen er, Jakob und ich ins Vorzimmer.

Dort nahm Opapa erst mal einen Cognac, und dann zündete er sich eine Zigarre an.

»Das haste fein gemacht«, sagte ich, »der hatte richtig Angst! Du hätt’st ihm mindestens eine vor ‘n Bauch geben sollen!«

»Ja... nicht wahr«, meinte Opapa, »er hatte Angst! Diese Leute haben immer Angst, wenn man ihnen richtig entgegentritt.«

Und dann nahm er Jakob auf die Hand und ging mit ihm auf den Balkon: »Mein kleiner Ultruspultrus!« sagte er und strich ihm den Rücken.

Jakob knabberte an seinem Finger. Dann sah er oben am Himmel einen Schwarm heimkehrender Stare. Er verfolgte sie mit einem nach oben gewandten Auge, ging mehrmals in die Kniebeuge und wippte mit den Flügeln. Opapa beobachtete ihn aufmerksam. Darm kratzte er sich am Kinn und sagte:

»Weißt du was... das arme Tier kennt ja eigentlich gar nicht mehr die Natur! Am nächsten Sonntag haben unsere Damen ihren Wabenkrötenverein (das war sein von den Damen streng verpönter Ausdruck für das Kaffeekränzchen). Da machen wir beide eine Landpartie und nehmen Jakob mit!«

Ich sprang an ihm hoch: »Au... fein, Opapa, da bin ich dann auch schon wieder ganz gesund!« Ich holte mir Jakob:

»Jakob... wir gehen ins Grüne, wo richtige Bäume sind und Wiesen, da kannst du so viel Blumen abhacken, wie du willst, und wir können uns auf der Erde wälzen und Käfer suchen, und es schimpft keiner!«

Der Ausflug startete mit zahllosen Ermahnungen und belegten Broten, die wir laut großmütterlicher Anweisung im Restaurant >Seeblick< zu einer Tasse Kaffee respektive einer Brauselimonade zu verzehren hatten. Das warme Mittagessen würde uns bis abends aufgehoben. Wenn der Hunger allzu groß wurde, könnten wir unterwegs ein paar Wiener Würstchen mit Senf von einem Papptablett essen.

Meine größte Sorge war, wie wir Jakob bis in den Wald brächten, ohne ihn mit dem Transportbauer zu quälen. Ich machte mich stark, ihn auf der Hand zu tragen und ihm in kritischen Situationen ein Tuch über den Kopf zu hängen. Außerdem wurde ich mit einem frischen Lappen für seine Kleckse ausgestattet, falls wir wegen schlechten Wetters in einem Lokal sitzen müßten.

Und dann ging es tatsächlich los. Es war strahlendes Wetter, mit kleinen, festen, weißen Wolken am Himmel. Opapa bestand darauf, daß er den flachen Strohhut aufsetzte, Omama bestand darauf, daß er dann den Schirm mitnehmen müsse. An der Krücke des Schirms befestigte sie das Frühstückspaket, damit es nicht im Abteil vergessen werde.

Opapa sagte: »Das ist lieb von dir, Paulchen« und zwinkerte mir zu. Und dann fiel wirklich die Haustür ächzend hinter uns ins Schloß, und wir standen auf der Straße. Wir gingen Hand in Hand, bis wir wußten, daß unsere Damen, die hinter der Gardine standen, uns nicht mehr sahen. Opapa wandte sich um und vergewisserte sich, daß die Luft rein sei. Dann gab er mir den Schirm mit dem Reiseproviant und sagte:

»Jetzt paß mal auf: Du läufst schnell zum Franz (der Friseurssohn) und gibst ihm das alberne Zeug. Den Schirm soll er mir aufheben, die Brote soll er aufessen. Sage ihm, es sind Eier drauf!«

Ich sauste los. Franz war beglückt. Als ich mit hängender Zunge wieder zurückkam, stand Opapa dort und hatte seinen guten Spazierstock mit dem vergoldeten Knopf in der Hand.

»Wo hast du denn den her?« fragte ich.

Er grinste wie ein Fuchs: »Den habe ich gestern hier in der Kneipe abgegeben!«

Ich versuchte, ihm auf die Schulter zu klopfen, reichte aber nur bis zum Ellbogen: »Mann... du bist ganz groß!« sagte ich.

Dann schoben wir beide zum Bahnhof und pfiffen. Am Billettschalter löste Opapa anderthalb Karten zweiter Klasse. Mir blieb angesichts dieser Verschwendung der Atem weg. Es waren natürlich noch zehn Minuten Zeit bis zur Abfahrt unseres Zuges. Endlich schnappte das Schild herunter, in der Ferne kam die Lokomotive mit der Schlange der Wagen dahinter an, die sich durch eine Kurve wanden, der Aufsichtsbeamte kam aus seinem Häuschen, mit der roten Mütze auf dem Kopf und der Scheibe unter dem Arm. Dann wurde die Lokomotive ganz groß, sie fauchte und dröhnte an uns vorüber, der Perron zitterte, die Bremsen kreischten. Jakob, den ich mit beiden Händen hielt, wand sich vor Aufregung und wollte durchaus losflattern. Ich drängte mich dicht an Opapa, der gewichtig den Zug entlangging. Wie klug von ihm, zweiter Klasse genommen zu haben, denn in dritter war alles voll, und in zweiter gab es lauter ganz leere Abteile, in denen wir Jakob loslassen konnten.

Zu meinem Erstaunen wählte Opapa jedoch nicht ein leeres Abteil, sondern eines, in dem schon eine Dame mit großem Hut und dunklen Locken saß. Bevor er einstieg, griff er in die Tasche, holte sein Schnurrbartbürstchen vor und bürstete sich die Enden hoch. Dann setzte er den Strohhut eine Kleinigkeit schiefer, rückte die Krawatte zurecht, räusperte sich und vertrödelte damit so viel Zeit, daß der Beamte schon »Einsteigen, bitte!« rief, ehe er die Klinke herunterdrückte. Ich klomm hinter ihm die hohen Stufen hoch und stieß mich am Schienbein, weil ich doch Jakob in der anderen Hand hatte und ausrutschte.

Drinnen machte Opapa eine kleine Verbeugung gegen die Dame, setzte sich dann gewichtig hin, zog die Hosenbeine hoch, räusperte sich wieder und fragte mich schließlich in einem Ton, der mir sonderbar gekünstelt vorkam, ob ich mich freue.

»Ich freue mich gar nicht«, versicherte ich, die Dame mit dem Hut feindselig betrachtend, »warum sind wir denn nicht in ein leeres Abteil gestiegen, da hätte ich doch Jakob loslassen können!«

Opapa errötete wie ein Schuljunge, die Dame lächelte vor sich hin. Der Zug fuhr an.

»Was hast du denn da?« fragte die Dame nach einer Weile. »Ein Vögelchen?«

»Nein, ein Stachelschwein, du blöde Ziege«, drängte es mich zu sagen, aber meine gute Erziehung überwog. Außerdem dachte ich an Jakob und sagte: »Eine Dohle ist es, gnädige Frau, Jakob heißt er.«

Die dunkle Dame hatte ein Grübchen, wenn sie lächelte, und ähnliche Antilopenaugen wie Tante Lola, nur traten sie ihr etwas mehr aus dem Kopf.

»Sie haben aber ein sehr wohlerzogenes Söhnchen!« sagte sie zu Opapa.

»Gnädigste sind sehr liebenswürdig!« erwiderte Opapa mit einer seltsam kollernden Stimme und lüftete den Hut, und — zu mir gewandt: »Geh mal ans Fenster, mein Sohn, und zeige Jakob die Gegend!«

»Mein Sohn...?« Irgend etwas war da kaputt, aber mir konnte es ja gleich sein, die Idee mit der Gegend war jedenfalls gut. Ich lüftete die zweite Hand von Jakob, ließ ihn frei sitzen und stellte mich ans Fenster. Draußen versanken die letzten Häuser, Felder drehten sich vorbei wie bunte Schachbretter, manche waren noch dunkel, manche schon ganz hellgrün bewachsen. In der Ferne Waldkulissen. Jakob blieb auf meiner Hand, war aber ganz dünn vor Angst und Aufregung. Er drehte den Kopf nach hinten, um mich zu beobachten. Er konnte den Kopf furchtbar weit nach hinten drehen, beinahe rundherum. Dann sah er wieder zum Fenster hinaus, und plötzlich begann er, seltsame Symptome zu zeigen. Er ging in die Kniebeuge, richtete sich dann wieder auf, duckte sich wieder zusammen und wiederholte das Ganze mit der Regelmäßigkeit einer Maschine.

Rattattattattaaa... machte der Zug. Hinter meinem Rücken hörte ich Opapa erzählen, daß er viel auf Reisen sei: »... immer allein...« Worauf die mit den Locken einen schnurrenden Laut des Bedauerns ausstieß.

Jakob setzte seine Kniebeugen fort, die ich mit steigender Besorgnis beobachtete. Vielleicht mußte er mal und konnte nicht? Aber er war doch bisher noch nie verstopft gewesen, im Gegenteil. — Da hielt der Zug. Draußen rannten ein paar Menschen hin und her. Jakob wurde wieder normal, besah sie sich mit schiefem Kopf und trat aufgeregt von einem Fuß auf den andern: »Ultrus-pultrus-Kakao!« bemerkte er aus dem Schnabelwinkel.

Der Zug fuhr an, und alsbald nahm er auch seine Kniebeugen wieder auf. Hinter mir bemerkte die Dame, daß sie sich nie etwas aus jungen Männern gemacht habe, man verschwende nur seine Zeit mit solch tölpelhafter Unerfahrenheit. Opapa erwiderte in kollerndem Brustton, daß er das verstehen könne. Als ich mich umdrehte, um ihn auf Jakobs seltsames Benehmen aufmerksam zu machen, sah ich, daß er sein Monokel eingeklemmt hatte, das er zu Hause nur aus Spaß aufsetzte und zu dem die Mama immer sagte: »Ach tu’s weg, Papa, du siehst damit so blöd aus, wie ‘n Gockel auf dem Mist!«

Das Monokel erschütterte mich jedenfalls so, daß ich die Frage vergaß und mich wieder Jakob widmete. Was konnte er nur haben? Und dann plötzlich wußte ich es: Jakob folgte mit seinen Blicken wie hypnotisiert den Telegrafendrähten, die am Fenster vorüberschwangen. Nach jedem Pfahl senkten sie sich, schnellten dem nächsten aufsteigend entgegen und sanken wieder ab. Und Jakob machte, fasziniert wie ein Huhn, diese Bewegungen mit. Das war es! Welch eine interessante Entdeckung! Ich wandte mich, den flatternden Vogel auf der Hand, stürmisch um und brach mitten in das lebhafte Geplauder. Opapa erzählte gerade etwas von »meinen Direktoren, denen ich schon soundso oft gesagt habe, sie sollten...«

»Opapa«, schrie ich, »jetzt weiß ich, warum er so wippt... es ist wegen der Drähte... paß mal auf!«

Ich wollte mich mit Jakob wieder zum Fenster wenden, um das Phänomen der hypnoiden Kniebeugen zu produzieren, hielt aber inne, denn in Opapa ging eine tragische Veränderung vor. Er warf mir einen kurzen, verzweifelten Blick zu, lief rot an und sackte dann irgendwie in sich zusammen. Die mit den Locken kulpste die Augen noch mehr heraus, dann stieß sie einen zischenden Laut aus, als ob man ein Gummischwein angestochen habe, und sagte mit einem Unterton, der gar nicht mehr girrte:

»Opapa? Einen reizenden Enkel haben Sie!«

Eine Weile war Schweigen, während ich aufmerksam vom einen zur andern sah. Dann raffte sich Opapa auf und legte mir die Hand auf den Kopf: »Ja... und wir vertragen uns gut, nicht wahr, Hänschen?«

Er zwinkerte mir zu, ich zwinkerte zurück: »Klar, Mann!«

Da mußte auch die Dame lachen und hatte ihre Grübchen wieder. Der Zug bremste. »Wir sind da«, sagte Opapa, ließ das Monokel fallen und stand auf.

Er verbeugte sich: »Es war mir ein Vergnügen, gnädige Frau!«

Sie lächelte gnädig: »Ganz auf meiner Seite — leb wohl, Hänschen!«

Ich gab ihr die Hand, verbeugte mich und sagte: »Es war mir ein Vergnügen, gnädige Frau!«

Noch als wir draußen auf dem Bahnsteig standen, hörten wir sie lachen. Warum eigentlich?

Die nachfolgenden Ereignisse steigerten sich dramatisch. Zunächst gingen wir ins Restaurant >Seeblick< und tranken teils Bier, teils Brauselimonade. Opapa trank drei Bier und ich zwei Brauselimonaden. Dann sagte Opapa, ich sollte mal auf seinen Hut und Stock aufpassen, und ging weg. Als er wiederkam, sagte ich, er sollte nun mal den Jakob nehmen, und ging auch weg. Als ich wiederkam, hatte er einen Schnaps vor sich stehen und war außerdem an Hand von Jakob, der allgemeines Aufsehen erregte, mit zwei Damen am Nebentisch in ein Gespräch geraten, die mit weggebogenem kleinem Finger belegte Brote aus dem Papier aßen. Opapa langte in die Tasche, gab mir einen Groschen und ermutigte mich, aus einem Automaten in Gestalt einer Henne, der am Eingang des Lokals stand, ein mit Bonbons gefülltes Blechei zu ziehen, außerdem sollte ich den Jakob mitnehmen. Ich zog und hielt ein prächtiges Blechei in der Hand. Es ging aber nicht ums Verrecken auf, ich brach mir nur die Nägel dabei ab. Drei Hosenmätze, die höchstens in die erste Vorschulklasse gingen, beobachteten interessiert meine Bemühungen.

»Willste mein Messer?« fragte der eine.

»Quatsch!« antwortete ich. »Außerdem... wer hat ‘n dich gefragt? Paß auf...«, und ich legte das Ei in den Sand und machte Jakob darauf aufmerksam, indem ich mit dem Finger daran stieß. Er beäugte es von allen Seiten, sprang aber statt dessen auf einen Gartenstuhl und begann sich den Frack zu ölen. Ich nahm ihn wieder herunter und setzte ihn abermals vor das Ei. Er tippte einmal mit dem Schnabel dagegen und fraß dann einen Stein, den er im Kropf aufbewahrte. »Schmeiß es doch einfach hin!« sagte einer von den Hosenmätzen.

Um die verpatzte Situation zum Abschluß zu bringen, tat ich es. Es öffnete sich aber nicht. In diesem Augenblick, als es so über den Sand kollerte, stürzte sich Jakob drauf, führte zwei gewaltige Schnabelhiebe dagegen, und — auf war das Ei! Es gab keinen stolzeren Vater als mich. Ich überließ Jakob ein Bonbon, nahm ihn wieder auf die Hand, steckte das Ei in die Hosentasche und ging zu Opapa zurück. Die beiden Damen waren weg. Er saß allein, rauchte eine Zigarre aus der Spitze und hatte den Strohhut schief auf dem Kopf.

»Wollen wir jetzt nicht in den Wald gehen?« fragte ich.

Er sah mich etwas starr an: »Ach... eigentlich ist mir ziemlich heiß.«

»Och, Opapa«, bat ich, »sieh mal, da hinten ist doch schon der Wald und die Wiese davor!«

Er seufzte, rief die Kellnerin, zahlte und erhob sich. Dabei geriet er mit dem Fuß in den Tisch, und als er den Fuß heraus hatte, geriet er mit dem Stock in den Stuhl. Er räusperte sich mächtig, holte den Stock schließlich auch heraus und zog mit mir los, indem er sich ganz steif und gerade hielt. Wir marschierten eine Viertelstunde geradeaus, dann waren wir auf der Wiese. Dort nahm Opapa den Hut ab und die Jacke über den Arm, den Hut befestigte er mit einer Klammer am Hemd, damit er ihn nicht verlor. Wir vollbrachten eine gewaltige sportliche Leistung, indem wir ungefähr hundert Meter bis an den Waldrand gingen. Da ließ sich Opapa nieder, legte sich in die Wiese, zog den Strohhut über die Augen und sagte etwas unklar: er sei das Hauptquartier, und ich sollte einige Erkundungsstöße unternehmen.

Um uns waren hohes Gras und viele Blumen. Es war alles viel, viel schöner und wirklicher als auf dem Hof, und ich wollte erst gar nicht glauben, daß es das wirklich noch gab. Ich sah sogar schon Schmetterlinge und Käfer. Jakob setzte ich hin. Er saß eine Weile ganz erstarrt einfach da, und diese Erschütterung, dieses Staunen war die schönste Belohnung für mich.

Nach Überwindung dieser Erschütterung begann er gravitätisch das Gras zu durchschreiten und hier und dort ein unaufmerksames Insekt vom Halm zu picken. Zitronenfalter, Kohlweißlinge und schöne grüne Raupen verschwanden in seinem Schnabel wie in einem Zerreißwolf. Dann begann er mit dem Schnabel ein Loch auszubohren, in dem wahrscheinlich eine Grille saß.

Ich hockte neben ihm im Gras und wunderte mich über mich selbst. Sonst tat ich doch keinem Tier etwas zuleide, ich schlug sogar die Mücken nicht tot, sondern fing sie, wenn möglich, nur und warf sie wieder weg. Und vor allem liebte ich die Schmetterlinge. In ihrer zarten Gaukelei schienen sie mir kaum noch von dieser Welt zu sein, so schön und so harmlos, niemandem etwas antuend, vom Überfluß des Honigs lebend, der sowieso da war. Und hier sah ich zu, sah mit Befriedigung zu, wie all das von einem schwarzen Ungeheuer auf gepanzerten Krallenbeinen vernichtet wurde. Dunkel begann ich zu ahnen, wie sehr Jakob mein Leben verändert hatte, und nicht nur mein Leben, das Leben der ganzen Familie eigentlich. Auf seltsame Weise war alles anders, irgendwie verschoben, aus dem Gleis gerückt. Besonders Opapa war ganz anders, viel jünger, nicht mehr so starr, und auch wir beide standen anders zueinander, seitdem diese kleine schwarze Federkugel ihren Schabernack um uns herum trieb. Früher waren wir zwei ernste Sachverständige, jetzt zwei Lausbuben. Das alles wurde mir natürlich nicht so präzise klar, aber irgendwie verstand ich es doch.

Unten glitzerte die Sonne im See, die Bienen summten in den Blumen, aus den Gräsern tauchte hier und dort Jakobs freche Visage auf. Er warf einen kontrollierenden Blick zu mir herüber, ob sein Mensch auch noch da sei, und vertiefte sich dann wieder in seine Beschäftigung. Es war einer jener Momente, die als Inseln des vollkommenen Glücks in meiner Erinnerung haften blieben. Im ganzen gibt es kaum ein halbes Dutzend solcher Momente in meinem Leben.

Der Moment war, wie das in seiner Natur liegt, kurz. Er endete damit, daß sich eine merkwürdige und zunächst nicht definierbare Empfindung meiner zu bemächtigen begann. Das nächste, was ich feststellte, war, daß es eine unangenehme Empfindung war. Und kurz darauf gelang es mir, sie zu lokalisieren und zu definieren: Ich hatte nasse Hosen. Ich bitte, mich nicht mißzuverstehen, die Nässe kam von außen, nämlich von der feuchten Wiese, die offensichtlich noch Erinnerungen an die kürzliche Schneeschmelze in sich barg. Im gleichen Augenblick richtete sich hinten Opapa auf und machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Hast du auch nasse Hosen?« rief ich.

Er fuhr sich mit den Händen ans Hinterteil: »Donnerwetter — ja, du hast recht!« Er stand auf, ergriff seinen Strohhut und fühlte dann wieder an seiner Hose. »Das ist gefährlich«, sagte er endlich, »man kann sich sehr leicht etwas holen, wir müssen sofort zurück ins Lokal und etwas dagegen tun.«

Ich griff Jakob, der gerade einen Regenwurm zerlegte, und wir gingen im Eilmarsch zurück in das Restaurant.

»Was machen wir denn dagegen, Opapa?« fragte ich, atemlos neben ihm herhampelnd.

»Das ist je nach Alter verschieden«, erwiderte er, »ich werde einen großen Grog trinken und du machst derweilen einen Dauerlauf dreimal um das Lokal. Beides regt die innere Temperatur an.«

Gesagt, getan. Opapa bestellte sich einen großen Grog und behielt Jakob, ich rannte dreimal ums Restaurant, bis ich schweißbedeckt war und mir das Herz weh tat. Als ich wiederkam, bestellte sich Opapa gerade den zweiten Grog: »Man muß ihn schnell austrinken«, sagte er entschuldigend, »sonst wirkt er nicht.«

Oben auf dem Tisch saß Jakob und zerhackte Zahnstocher. »Ich habe ihm eine Extrapackung bestellt«, erklärte Opapa. »So, und nun setz dich hin, wir essen Mittag.«

Das war ein Ereignis! Erst gab es eine Nudelsuppe, hinterher Gulasch und Kartoffeln und dann einen Nachtisch mit französischem Namen, der eigentlich nur ein Pudding in einer sehr süßen Soße war. Omama machte besseren. Aber unter den Bäumen und dem See draußen, auf dem jetzt ein Raddampfer seinen Weg mahlte, war es schon großartig.

Nach dem Essen gähnte Opapa sehr, riß sich aber dann zusammen und sagte, wir wollten noch einen Spaziergang machen. Wir wanderten über die Wiese, bis wir in eine Schonung kamen. Dort wuchsen ungefähr drei Meter hohe Bäume zwischen alten breiten Baumstümpfen. Opapa gähnte wieder, dann holten wir unsere Taschentücher heraus, breiteten sie über die Baumstümpfe und setzten uns hin. Wenigstens war es trocken. Jakob sichtete erst eine Eidechse. Er schoß ihr nach, aber sie war schneller als er und verschwand raschelnd in dem dürren Wintergras. Dann begann er in dem Mulm des Baumstumpfs zu bohren, aber es kamen nur Ameisen zutage, die ihm zuerst über die Füße liefen, dann jedoch weiter nach oben krabbelten und in seinen Federn verschwanden. Er erschrak darüber sehr, sprang auf einen kleinen Zweig und schüttelte sie dann weg. Opapa gähnte schon wieder, nieste und sah auf die Uhr. Die Sonne schien recht heiß. Wir dösten eine lange Weile.

Schließlich begann mich der Ameisenhaufen in dem Stamm zu interessieren. Ich nahm ein Bonbon aus dem Blechei, lutschte es feucht und legte es in den Ameisenhaufen vor den Haupteingang. Es wurde ein Volksfest daraus! Zum Schluß brachten sie es doch tatsächlich fertig, das dicke Bonbon von der Stelle zu rücken!

Da fiel mir Jakob ein. Er war weg! Wie weggepustet. Mir wurde einen Moment ganz schlecht. Dann sprang ich auf und stürzte in die Schonung. Gott sei Dank — da saß er, nur ein paar Bäume weiter in der Spitze.

In diesem Augenblick sagte Opapa: »Wo bist du denn? Ich habe Kaffeehunger!«

»Hier bin ich... Jakob ist auf einen Baum geklettert...«

»Na, dann hol ihn, und nachher wollen wir Dampfer fahren.«

Dampfer fahren — nein, das war wirklich der Tag aller Tage. »Schnell«, rief ich, »komm ‘runter, Jakob, wir fahren Dampfer, stell dir vor — Dampfer!«

Jakob blieb oben auf dem Zweig, beäugte mich, kratzte sich hinter dem Ohr und sagte sehr deutlich: »Armleuchter!« Als er keine Anstalten machte herunterzukommen und auch nicht darauf reagierte, daß ich mit den Bonbons in dem Blechei ratterte und das Ei ins Gras warf, raffte ich meine gesamten turnerischen Kenntnisse zusammen und kletterte auf den Baum. Jakob war ungeheuer amüsiert und begleitete meinen Aufstieg mit einer großen Anzahl aufmunternder »Schulmeister!« Als ich oben war und nach ihm langte, flatterte auf den nächsten Baum. Ich kletterte auch auf diesen. Worauf er den übernächsten erflatterte. Mein Gesicht war schon ganz zerkratzt, überall an meinen Hosen war Harz und in meinem Haar viele Tannennadeln. Ich schwitzte wie ein Affe, während ich den dritten Baum erklomm. Jakob wurde immer munterer und quietschte direkt vor Vergnügen.

Ich rief Opapa zu Hilfe: »Opapa... Opapa... komm doch bitte mal schnell, Jakob rückt aus!«

»Das hat uns gerade noch gefehlt!« hörte ich seine Stimme, dann brach er durch die Schonung wie ein Elefant, blieb am Fuß des Baumes stehen und kratzte sich am Kinn.

»Paß auf«, sagte er, »wir treiben ihn in die Enge.« Er knüpfte sein Taschentuch an den Stock, trat damit hinter den Baum und wedelte wild vor Jakob hin und her, während ich auf der anderen Seite heraufkroch.

Jakob erschrak vor dem Tuch, stieg gackernd wie ein Huhn in die Höhe und landete auf dem nächsten Baum. Wir durchtobten die ganze Schonung, traten in Ameisenhaufen, Zweige schlugen uns ins Gesicht, wir schrien, fluchten, bettelten — Jakob wurde völlig verrückt, schließlich entflatterte er immer weiter, wir sahen ihn noch einmal in einer Lücke zwischen den Wipfeln, im Gleitflug, dann war er weg...

Wir sanken erschöpft zu Boden.

Nach einer Weile rafften wir uns auf und trampelten herum, immer noch rufend, aber auch mit dem Zweck, erst mal wieder den Ausgang zu finden. Dann standen wir wieder auf der Wiese, Opapa mit schweißdurchtränktem Kragen, den Schlips nach unten gerutscht, die Weste aufgerissen, das Haar voll Tannennadeln. Ich stand neben ihm und zitterte. Er knöpfte sich die Weste zu, polkte sich die Nadeln aus dem Haar, klopfte sich die Hosen ab, dann säuberte er mich. Schließlich strich er mir über den Kopf und nahm mich bei der Hand: »Komm, Hänschen, es hat keinen Zweck... gehen wir!«

Ich sah ihn entsetzt an, dann heulte ich: »Ich bleibe hier!«

»Aber das ist doch unmöglich, sei doch vernünftig!«

Ich krallte meine Finger in seine Hand: »Er hat doch die Flügel beschnitten... er kann doch nicht fliegen! Der Bussard wird ihn holen oder der Fuchs... wir können doch unser Jaköble nicht hierlassen!«

»Er hat die Flügel viel zu wenig beschnitten«, grollte Opapa, »er wird sich schon ernähren. Omama und die Mama ängstigen sich zu Tode, wenn wir nicht kommen!« Er beugte sich nieder und gab mir einen Kuß: »Komm... sei vernünftig... wir fahren morgen wieder her!« dann packte er mich an der Schulter und trug mich halb von dannen. Ich immer mit dem Kopf nach rückwärts gewandt, über alles mögliche stolpernd — so zogen wir ab, eine geschlagene Armee.

Dabei war es ein so herrlicher Tag! Unten legte gerade der Dampfer, mit dem wir hätten fahren wollen, von der Brücke ab, die Sonne stand schräg am Horizont, bald würde es dämmern, dann käme die Nacht — mein Jaköble — ich konnte es einfach nicht fassen. Mein Herz war Eis, und die Tränen liefen mir über das Gesicht wie aus einer aufgedrehten Wasserleitung. Es war doch gar nicht möglich, das konnte doch nicht das Ende sein...

Als wir beinahe am Lokal waren, hörten wir hinter uns etwas krähen, und dann sahen wir Jakob. Er sauste mit ausgebreiteten Flügeln hinter uns her über die Wiese. Wir blieben erstarrt stehen. Dann kniete ich mich hin, und mit weit geöffneten Armen fing ich ihn auf. Er sprang mir auf die Schulter und war so außer sich und wütend, daß er mich ins Ohr biß:

Seine Menschen waren ihm weggelaufen! Wo er doch nur einen kleinen Spaß gemacht hatte! Unerhört!

Dann waren wir wieder im Lokal. Es saßen nur noch wenige Leute an den Tischen. Mir schien es, als seien hundert Jahre inzwischen vergangen. Opapa ließ sich ächzend auf einen Stuhl fallen und bestellte hintereinander drei doppelte Cognacs. Nach dem dritten schob er den Strohhut in den Nacken, haute mich auf die Schulter und fing an zu lachen: »Eigentlich war das ja ein tolles Abenteuer, was, Junge?«

»Komm, Opapa«, drängte ich, »Omama und die Mama ängstigen sich tot — du hast es selbst gesagt!«

Er sah mich merkwürdig starr an, dann lachte er: »Das nächstemal legen wir das Luder an die Kette!« Er schlug gewaltig auf den Tisch: »Zellnerin — kahlen!«

Trotz der Konsonanten-Verquatschung erschien eine Kellnerin. Sie hatte die ganze Zeit hinter einem Baum gestanden, offenbar aus Angst, daß wir mit der Zeche durchgehen würden. Auch war sie gar nicht überrascht, daß Opapa, immer noch mit dem Hut im Nacken, sie nach ihrem Vornamen fragte und ihr fünfzig Pfennig Trinkgeld gab. Dann erhoben wir uns. Auf dem Wege zum Bahnhof pfiff Opapa und wirbelte mit dem Spazierstock. Ich trabte mit Jakob hinterher. Manchmal sah ich nach unten. Er war in meiner Jacke eingeschlafen, völlig erschöpft. Ich auch.