EINE SCHLACHT GEWONNEN

Die Mama spendierte einen Gepäckträger und — vor dem Bahnhof — eine Droschke. Der Kutscher hatte einen eisgrauen Bart, einen Zylinder und an dem Zylinder eine Rosette. Das Pferd war ein lustiger Brauner. Es rollte wild die Augen auf Jakob, den ich aus dem Bauer genommen hatte und auf der Hand hielt. Er wäre mir beinahe entschlüpft, weil das Pferd gerade, als wir einstiegen, mit dem Schweif schlug.

Ich fühlte, wie das kleine Herz unter der Federbrust klopfte. Jakob hatte ja noch nie ein so großes Tier gesehen und so viele Häuser und so viel Lärm.

Der Kutscher kletterte auf den Bock, nahm die Peitsche aus dem Ständer, drehte die Bremse auf und machte »Hü!« Der Braune zog an, ging in Trab über. Klapp-klapp-klapp machten seine Hufe auf dem Asphalt. Menschenströme, Kutschen, Lastwagen, gewaltig ratternde gelbe Autobusse mit offenem Oberdeck, klingelnde Straßenbahnen und Häuser... Häuser... Häuser...

Jetzt erst wurde mir klar, daß mich die ungeheure Stadt wieder verschlungen hatte, die Stadt, gegen die ich mich schon damals als gegen etwas Drohend-Widernatürliches auflehnte. Jetzt erst fiel mir ein, daß ich die ganzen Ferien sozusagen hinterrücks verloren hatte, um dieses kleinen Wesens willen, das da aus meiner Jacke guckte und den Kopf nach allen Seiten wandte. Manchmal sah er zu mir auf, als wolle er sich vergewissern, daß er nicht träume. Ich küßte ihn auf das schmale, glatte Köpfchen und fühlte, wie sich seine klappernden Augen an meinen Lippen bewegten. Ich dachte an unseren Parkettfußboden, der alle Augenblicke mit Eisenspänen abgezogen wurde, an Opapas Soldaten, seine Münzsammlung, die vielen Nippesfiguren auf schmalen Borden stehend — mir wurde immer düsterer zumute. Dann fiel mir der liebe Gott ein, und ich richtete zum Klapp-Klapp der Hufe eine inbrünstige Bitte an ihn, mir und meinem Jaköbchen eine günstige Aufnahme zu bereiten. Schließlich, als ich gerade endgültig entschlummern wollte, waren wir da.

Valeska strich mir über den Kopf, schüttelte der Mama treuherzig die Hand und lud dann mit dem Kutscher aus. Sie hatte Jakob gar nicht bemerkt. Das Treppenhaus kam mir vor, als sei es inzwischen kleiner geworden. Schlechte Luft. Und in drei Tagen wieder Schule! Oben an der Tür die Omama. Sie küßte mich.

»Vorsicht!« sagte ich. »Du quetschst ihn ja!«

»Ach, das Vögelchen!« In der halben Finsternis des Flurs sah sie nur seinen Kopf. »Geh mal gleich in die Küche, da ist eine Überraschung!«

Opapa kam auch: »Na, Herr Räuberhauptmann? Glücklich daheim! Wo ist denn der Piepmatz?«

Wir trabten beide nach hinten. Auch der Flur schien mir inzwischen kürzer geworden. In der Küche, auf dem Fensterbrett, thronte ein großes Bauer.

»Das wird ja wohl genügen«, sagte Opapa. »Wir haben es gebraucht vom Vogelhändler gekauft. Da war vorher ein ganzes Dutzend Singvögel drin.«

Ich öffnete die Jacke und holte Jakob heraus. Ehe er noch große Geschichten machen konnte, steckte ich ihn durch die Tür, die für Finken und Kanaris berechnet war. Er ging gerade so durch.

»Donnerwetter!« sagte Opapa. »Das ist ja ein halber Lämmergeier!«

»Ja, schön groß, nicht wahr?« sagte ich, während ich innerlich zitterte. Jakob saß verdattert auf dem Boden des Käfigs. Der war schön sauber mit Sand bestreut. Darin war ein Napf mit frischem Wasser, ein weiterer mit Vogelfutter und eine Schaukel.

Opapa wandte sich zur Omama um, die gerade hereinkam. »Hast du das gesehen, Paulchen?«

Sie sah es, warf ihm einen hypnotisierenden Blick zu.

»Ja, ein liebes Tierchen. Du kommst dann nach vorn, Hänschen, Abendbrot. Du wirst sehr müde sein.«

Valeska kam mit einem Koffer: »Allmächtiger, ‘ne Krähe!«

»Eine Dohle!« verbesserte Opapa sie streng. Dann setzte er sich seinen Kneifer auf, beugte sich gegen das Bauer und kratzte mit dem Finger gegen die Gitterstäbe: »Na, Jakob?« Der würdigte ihn eines kühlen, unverbindlichen Blickes und kratzte sich dann am Ohr. Sodann begann er eine Besichtigung des Bauers. Zunächst steckte er den Schnabel in das Wasser und ließ es genüßlich die Kehle hinunterrinnen, was Opapas Beifall erregte. Dann warf er das ganze Vogelfutter aus dem Freßnapf und deutete auf diese Weise an, daß er dieses Menü für extrem albern halte.

»Er frißt Mehlwürmer«, erklärte ich, »oder auch ‘n Stückchen Fleisch oder Semmelbrösel genudelt und in Milch getaucht.«

»Na, woll’n wir doch mal sehen!« sagte Opapa, stöberte in der Speisekammer, erschien mit Semmelkrume, tauchte sie in Milch und nudelte. Jakob nahm es dankbar an.

»Netter Kerl!« sagte Opapa.

Ich atmete auf. Die erste Schlacht schien gewonnen. Dann ging es ans Auspacken und ans Erzählen, wir aßen zu Abend, ich wurde furchtbar müde und ging nur noch einmal zu Jakob, um ihn zur Nacht zuzudecken. Er hatte die Schaukel ausgehakt und war dabei, sie zu Kleinholz zu verarbeiten. Dann mußte ich mich noch waschen, fiel ins Bett und war im Moment eingeschlafen.

Am nächsten Morgen fand ich mich erst gar nicht zurecht. Die Sonne stand hell im Zimmer und fiel auf den Waschtisch, hinter dem an der Wand ein Tuch aufgespannt war, mit >Morgenstunde hat Gold im Munde< daraufgestickt. Wo war ich nur? Ach — zu Hause! Darm fiel mir ein, daß ich noch drei Tage Ferien hatte. Wir kamen immer etwas früher zurück, damit »der Junge nicht sofort in die Schule braucht und sich eingewöhnen kann«. Diese drei Tage waren die größten Kostbarkeiten der ganzen Ferien. Sie wurden Stunde für Stunde sorgsam genossen und gewissermaßen auf der Zunge zerkaut.

Dann fiel mir Jakob ein, das heißt, ich hörte nebenan im Eßzimmer eine bekannte Stimme: »Tschack-tschack!«, darauf ein Klirren und Rollen. Ich schlüpfte aus dem Bett und öffnete leise die Tür: Opapa saß an seinem Tischchen am Fenster, über dem Ärmel hatte er ein Tuch, und auf dem Tuch saß Jakob. Beide beschäftigten sich mit der Münzsammlung. Jakob hatte seinen Schnabel tief in der Blechschachtel mit Silbermünzen und sortierte. Ab und zu holte er ein Stück heraus, das ihn besonders interessierte, nahm es in die Kralle und hackte darauf herum. Dann ließ er es fallen, und Opapa fing es auf, das heißt, manchmal. Manchmal glückte es auch nicht, und dann rollte es über den Fußboden, und Opapa ließ es ruhig rollen. Das war für mich ein völlig unverständlicher Vorgang, wo es doch zu den Schreckvorstellungen der Familie gehörte, daß irgend etwas Wertvolles über den Fußboden rollen und in den breitklaffenden Dielenritzen unter den Wänden verschwinden könnte, wo man es nie wiederfinden würde. Laut Familiensaga waren bereits zwei goldene Zwanzigmarkstücke und ein kleiner Brillantring der Omama auf diese Weise abhanden gekommen. Tagelang hatte man mit gebogenen Drähten hinter den Dielen herumgestochert, aber außer faulem Holz und grauen Fusseln nichts von Belang zutage gefördert. Und jetzt rollte ein blitzblanker Jubiläumstaler mit einem Kurfürsten in Rüstung und Allongeperücke in der Gegend herum, und Opapa stand nicht auf, offenbar, um Jakob nicht zu erschrecken!

Der hatte nun die Münzsammlung satt und stieg auf Opapas Bauch über. Zunächst zog er dort mit gewaltigem Kraftaufwand die Uhr aus der Westentasche. Sie wurde ihm ans Ohr gehalten, und er lauschte einen Augenblick dem leisen Ticken. Dann hielt ihm Opapa den Taschenspiegel vor. Das war eine Sensation. Denn das Bild darin war natürlich ganz etwas anderes als in den Kneifergläsern des Mannes im Kupee. »Armleuchter!« sagte Jakob erschüttert, als er sein Porträt sah. Dann pickte er vorsichtig danach, stieß einen seltsam knarrenden Laut aus und verbeugte sich einige Male. Schließlich, als keine Antwort kam, suchte er hinter und unter dem Spiegel nach dem Gefährten. Als auch dies nichts nutzte, legte er einen Klecks auf Opapas Brust, kletterte dann höher hinauf, zog die Perle aus der Krawatte, ließ sie fallen und zupfte ihn schließlich am Schnurrbart. Ich erstarrte. Aber Opapa lachte, er lachte schallend, ganz laut und jungenhaft, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. »Du bist ja ein doller Kerl!« sagte er. Jetzt stürzte ich vor, wischte ihm schnell den Klecks von der Weste, gab ihm einen Kuß und nahm Jakob an mich: »Entschuldige, Opapa, er stört dich sicher, wie ist er denn überhaupt aus dem Bauer gekommen?«

Opapa räusperte sich gewaltig: »Wie? Ach so... ich... ich habe ihn ‘rausgeholt. Er wollte es. Man muß ihn natürlich unter Kontrolle behalten. Vielleicht könnte man ihm auch angewöhnen, daß er seine Kleckse in einer bestimmten Ecke macht, in einem kleinen Sandkasten vielleicht... du solltest das mal probieren! Na, wasch dich erst mal! Ich werde ihn derweilen wieder einsperren. Und dann werden wir ihm Mehlwürmer kaufen.« Damit nahm er Jakob in die eine Hand, den Lappen in die andere und ging gewichtig in die Küche.

Ich hatte mich noch nie so schnell gewaschen, obwohl ich an sich die Weltmeisterschaft in Schnellwäsche besaß. Trotzdem war ich offenbar nicht schnell genug, denn in der Küche schien etwas schiefzugehen. Ich hörte Jakob wütend krächzen und flattern, dann kreischte Valeska, dann Opapas tiefe Stimme, und dann bemerkte Jakob anschließend und offenbar besänftigt: »Kakao-Kakao-Tschack!«

Die Tür öffnete sich, Opapa kam herein, während ich gerade das Hemd in die Hose stopfte. »Er wollte nicht ins Bauer«, sagte er, »Valeska wollte ihn zwingen, aber er ist ihr auf den Kopf geflogen. Du hättest das sehen sollen, es war großartig! Schließlich habe ich ein Machtwort gesprochen: er bleibt draußen, schließlich ist er kein Vogel für den Käfig!«

Ich machte schnell etwas Zahnpasta an den Finger, schmierte sie an das Glas, damit es aussah wie Zähne geputzt, und ging hinter ihm in die Küche. Da saß Jakob ganz friedlich oben auf dem Bauer und blinzelte in die Sonne. In der Kammer nebenan brachte sich Valeska wütend ihre Frisur in Ordnung, indem sie mit dem Kamm an ihren dicken Pferdehaaren riß. Vor dem Bauer stand Omama und kraulte Jakob vorsichtig auf dem Kopf, wozu er irgend etwas Verbindliches murmelte. Es waren keine besonderen Worte, sondern er sprach sozusagen ins unreine: »Blablabogagagago.« Omama, die etwas schwerhörig war (sie legte stärkstes Gewicht auf das >etwas<), wandte sich strahlend um: »Hansemännchen hat er gesagt, habt ihr’s gehört? Ein sehr kluges Tier! Mäcke (Familienkosename für Max) — nimm den irdenen Topf dort und füll ihn halb voll Wasser. Vielleicht will das Tier baden!«

»Der denkt gar nich dran!« bemerkte Valeska, die in der Türöffnung erschien, »die alte Krähe...«

»Es ist eine Dohle!« bemerkte Omama streng. »Und Sie werden ihn liebgewinnen, Valeska!« Sie nahm den Topf aus Opapas Hand und stellte ihn auf das Bauer. Jakob wurde erst dünn vor Angst, dann sah er mit schiefem Kopf in das Wasser und trank davon. Schließlich stieg er sehr vorsichtig auf den Rand, balancierte flatternd darauf herum, und plötzlich saß er mit beiden Füßen drin und begann nach Herzenslust zu planschen. Mit wildklappernden Flügeln tauchte er den Kopf unter und ließ sich das Wasser über den Rücken rinnen. Die Küchenbank schwamm, der Fußboden schwamm, uns liefen die Tropfen von den Gesichtern, und im Hintergrund stand grimmig Valeska, mit dem Scheuertuch in der Hand. Omama strahlte. »Valeska«, sagte sie feierlich, »er badet!«

Schließlich, als nur noch so wenig Wasser im Napf war, daß es nichts mehr zu flattern gab, kletterte Jakob dünn wie eine Ratte und außerordentlich jämmerlich anzusehen aus dem Topf und sprang auf das Bauer. Er schüttelte sich, und Valeska, die sich gerade zum Aufwischen bückte, bekam einen Sprühregen ab. Sie fluchte ganz unmißverständlich, während Opapa, an seiner Zigarre ziehend, nachdenklich ihre Formen betrachtete. Endlich richtete sich Valeska ostentativ stöhnend auf, als wenn sie Rheuma hätte. Jakob sprang an den Rand des Bauers, sah sie mit schiefem Kopf an und sagte dann ganz deutlich: »Valeska!« Sie stand erstarrt. Wir alle standen erstarrt und sahen uns an. Schließlich blickte sie sich nach uns um: »Er kann schon meinen Namen!«

In ihren Blick trat mütterliche Milde. Sie berührte das pitschnasse Gebilde mit ihrem dicken, roten Köchinnenfinger und sagte: »Ach Jottedoch... so ‘n armes Luder!«

Jakob knabberte edelmütig an ihrem Finger, und dann begann er seinen Frack zu ölen, wozu er die nötigen Ingredienzen aus dem Hinterteil seines Körpers holte. »Er hat dort eine Talgdrüse!« erklärte Opapa feierlich.

»Er ist gar nicht zu dünn!« erwiderte Omama, die falsch gehört hatte, ärgerlich.

»Talgdrüse, Paulchen!« sagte Opapa spitz. »Ich sagte Talgdrüse. Wer redet von dünn?« Es war eine seiner kleinen harmlosen Bosheiten, die Erklärungen für seine schwerhörige Frau möglichst knapp und unklar zu lassen. Sie blickte ihn jedenfalls nur starr an und sagte dann: »Du bist wieder schlecht rasiert!«

Opapa fuhr sich mit dem Handrücken unter das Kinn, drehte sich auf der Hinterhand um und verschwand. Die Küche leerte sich, und ich blieb mit meinem Vogel allein. Jakob hatte inzwischen die Toilette beendet, breitete nun die Flügel in der Morgensonne aus und trocknete sich. Ich beobachtete ihn hingerissen. Es schien, als ob er sich in Sonne bade, als ob er sie in sich aufsauge und jede Zelle damit fülle. Er sträubte die Nackenfedern, stieß kleine, krächzende Laute aus, geriet immer mehr ins Zittern und Taumeln, seine Augen verdrehten sich beängstigend, er geriet ganz offenbar in eine Art von Ekstase. Schließlich war er so sonnentrunken, daß er regelrecht vom Bauer fiel und erst am Boden aus seinem Rausch erwachte und wild herumflatterte.

Als ich ihn gerade auf das Bauer zurückgesetzt hatte, erschien Opapa, den flachen Strohhut auf dem Kopf, den Stock mit der goldenen Krücke und die gelben Glacehandschuhe in der Hand, heller Sommeranzug. Ich fand ihn wieder hinreißend schön und war stolz auf ihn.

»Kommst du bald?« fragte er, bemüht, auf meine bewundernden Blicke nicht zu reagieren.

»Ja... gleich, ich frühstücke nachher!« Ich zog mich schnell zu Ende an, umging in scharfer Kurve die Mama, die mich durchaus noch zu Kakao und Brötchen einfangen wollte, und dann traten wir beide auf die Straße, die in Sonne gebadet war. An den Bäumen hingen schon einige gelbe Blätter. Die Erde zu ihren Füßen war ganz hart und gesprungen, die Blumen in den Vorgärten verstaubt.

Auf den Bürgersteigen gab es viele Menschen, Damen, die die Röcke zierlich rafften, wenn sie über die Rinnsteine stiegen, mit großen Hüten und Schirmen mit Schleifchen daran, Lorgnons an langen Ketten vor dem Bauch, Handwerker in blauen Kitteln, einholende Dienstmädchen, Herren im Sommeranzug mit Spazierstöcken, andere mit harten Hüten und dicken Aktentaschen. Auf dem Damm knarrten schwere Lastfuhrwerke, die Kutscher knallten mit der Peitsche und riefen den Mädchen nach, Equipagen mit Gummirädern rollten vorbei, darin saßen Damen mit engen Taillen und Kavaliere mit engen Hosen und allen möglichen Formen von Bärten. Die Elektrischen klingelten wichtig, und ab und zu ratterte auch ein Auto vorbei mit einem Motor wie ein Hutkoffer. Hinten heraus kam blauer Rauch. Ich mußte mich an all das erst wieder gewöhnen. Opapa grüßte — wie üblich — viel und wurde sehr viel gegrüßt. Bekannte Damen traf er gern, für die Herren hatte er nicht viel übrig und machte immer Bemerkungen, wenn sie vorbei waren. So zum Beispiel: »Hast du ihn gesehen, den alten Trottel? Er hatte wieder einen Tropfen an der Nase, man sollte ihm ein Taschentuch schenken.« Oder auch: »Dumm wie ein Schwein... und so was ist Regierungsrat... na, was kann man auch heutzutage verlangen?«

Endlich waren wir bei der Vogelhandlung. Sie stimmte mich immer tieftraurig. Innen roch es muffig und scharf. Arme kleine Vögel, für immer gefangen, hüpften ruhelos in den Käfigen hin und her, ein paar Fische drängten sich gierig um Luftblasen, eine Schildkröte saß appetitlos vor einem Salatblatt, und ganz in einer Ecke hockte ein kleines Äffchen mit einem alten und unglücklichen Gesicht. — Der spitznasige Vogelhändler, der Opapa erst überschwenglich begrüßt hatte, wurde melancholisch wie sein Affe, als wir diesmal nicht ein Vogelbauer oder auch nur eine Schildkröte, sondern lediglich zu zweit für zehn Pfennig Mehlwürmer kauften. Opapa jedoch klopfte ihm gewichtig auf die Schulter, erklärte genau den Zweck der Aktion und stellte regelmäßigen Bezug in Aussicht. Daraufhin erhielt er den Rat, die Mehlwürmer in einem Steintopf mit Sägemehl, altem Brot und Lumpen aufzubewahren, alles leicht angefeuchtet.

Zu Hause wurde der zeternden Valeska ein Topf entrissen. Opapa, im Vollgefühl neuer Sachkenntnisse, regierte gewaltig. Die Mama wurde wegen Sägemehls in die Tischlerei gejagt. Valeska mußte derweilen aus der Bäckerei ein paar alte Brötchen holen. Alles schüttete er selbst, das Pincenez vorn auf der Nasenspitze, in den Topf und rührte mit einem Quirlstiel das Sägemehl durcheinander. Es gab auch eine längere Beratung über die Flüssigkeitsmenge, die zugesetzt werden sollte, man entschied sich schließlich für ein kleines Milchkännchen voll. Opapas Begeisterung wurde erst gedämpft, als ihm Paulchen erklärte: »So, und jetzt holst du eine von deinen alten Socken!« Er bestritt zunächst leidenschaftlich die Existenz einer in diesem strengen und vernichtenden Sinne alten Socke. Omama, die diesmal sehr gut hörte, erklärte: »Dann werde ich sie herausholen! Du hast Dinger darunter, bei denen die Sohle überhaupt nur noch aus Stopfe besteht; ich wollte sie sowieso längst wegwerfen.«

Der Gedanke, daß von fremder Hand in seiner geheiligten Kommode gekramt und die Schlachtordnung der Unterwäsche gestört werden könnte, veranlaßte Opapa, im Zuckeltrab nach vorn zu eilen. Ich hinterher. Es ging doch um die Socke meines Sohnes! Wir wählten lange und umständlich, bis wir ein Paar fanden.

»Die zweite Socke hebst du auf, bis die Würmer die erste gefressen haben!« tröstete ich Opapa. Er stimmte nach längerem Überlegen zu. »Ja, man soll die Tiere nicht gleich verwöhnen.«

Dann holte er seine Wäscheliste vor, desgleichen einen Rotstift, schlug die Rubrik >Socken< auf und strich Nummer dreiundzwanzig. Nach kurzem Zögern schrieb er >einhalb< darüber, rollte die überlebende Socke wehmütig zusammen und legte sie an den Platz, an dem sie eben noch Fuß an Fuß mit ihrem Zwillingsbruder geschlummert hatte.

Schließlich war auch die Socke (leicht angefeuchtet!) im Topf, und dann kam der feierliche Augenblick, da wir die Mehlwürmer, die äußerst indigniert in ihrer Tüte raschelten, dazuschütteten. Sie verkrochen sich sofort in dem Sägemehl, und weg waren sie! Wir sahen uns verblüfft an. Dann wurde ich nach einer neuen Portion geschickt, um das Gedrängel im Topf etwas imposanter zu gestalten. Sodann zog Opapa, mit dem Topf in der Hand, los, die Familie hinterher, und suchte einen Platz. Man entschied sich für den Winkel, der durch das Aneinanderstoßen des großen Kamins im Eßzimmer mit dem hochlehnigen und nippesbeladenen Sofa entstand. Bisher hatte ich auch diesen Winkel als Hafen für meine Flottenmanöver benutzt, ich überließ ihn aber jetzt gern den Mehlwürmern.

Dann wurde Jakob geholt. Man stellte den Topf auf das Parkett und setzte ihn daneben. Er begriff erst gar nicht, worum es sich handelte, und sah unter den Teppich, was er in der Weise tat, daß er den Schnabel darunterschob und aufsperrte. Schließlich griff ich in den Topf und holte ein paar Würmer heraus. Sie fühlten sich hart und trocken an und hatten erstaunliche Kräfte. Fast taten sie mir leid, als ich sie hinlegte. Sie krochen nach allen Seiten auseinander.

Jakob saß einen Augenblick völlig erstarrt, dann stürzte er sich darauf und verschlang sie mit einer Schnelligkeit und Sachlichkeit, als hätte er sein Leben lang nichts als Mehlwürmer gekaut. Nun griff Opapa in den Topf und war ebenso schnell ausverkauft. Die Mama wurde eingeladen, auch hineinzugreifen, sagte aber nur »Pfui Teufel«. Als dann eine Weile nichts kam, verfiel Jakob in Baby-Manieren, sperrte den Schnabel auf, zitterte mit den Flügeln und stieß ein steinerweichendes »Kraaaaoooohhh!« aus. Darauf hatten Opapa und ich gleichzeitig unsere Hände im Topf. Mama mahnte zur Mäßigung, wenn wir so weitermachten, würden wir jeden Tag für zehn Pfennig Mehlwürmer brauchen. »Das bedeutet drei Mark im Monat und...«

»Das laß meine Sorge sein!« erklärte Opapa majestätisch. Jakob hatte inzwischen die doppelte Portion eingeatmet, brachte den Rest aber nur noch im Kropf unter, der sich gewaltig unter dem Schnabel sträubte. Er attackierte dann den Topf, um sich weitere Mehlwürmer — ich weiß nicht, wohin — zu stopfen. Zur allgemeinen Erleichterung stellte sich aber heraus, daß er nicht herankonnte. Wenn er oben auf dem Rand saß, konnte er nicht hinunterlangen, zum Hineinhüpfen war der Topf zu eng, und wenn er davorstand und sich ganz lang machte, konnte er nur mit einem Auge die wimmelnden Kostbarkeiten sehen, ohne sie zu erreichen.

Der Topf wurde schließlich weggestellt, und die Familie verkrümelte sich bis auf uns drei Männer. Jakob schien ausgesprochen guter Laune zu sein und legte es darauf an, mit uns zu spielen. Zunächst einmal zog er Opapa die Schuhsenkel auf. Dann, als ich mich zu ihm auf die Erde setzte, marschierte er, gravitätisch mit dem Kopf nickend, unter meine hochgezogenen Beine und amüsierte sich damit, den Kopf dazwischen herauszustecken, einmal »Tschack« zu sagen und wieder zu verschwinden. Plötzlich knackte neben mir das Parkett. Und was sah ich? Opapa ließ sich ächzend neben mir nieder! »Ich muß mir doch die Senkel zubinden!« erklärte er, als ich ihn fassungslos anstarrte, und dann grinste er und stieß mich mit der Schulter an.

Auch Jakob war offenbar gewillt, dieses unerhörte Ereignis gebührend zu feiern. Er tat es, indem er sich vor Opapa auf die Teppichkante stellte und — jedesmal mit einem leichten Rülpser — sieben Mehlwürmer aus seinem Kropf spendierte. Er baute sie an langen Spuckefäden in einer militärisch ausgerichteten Reihe auf. Entweder stellten sich die Würmer raffiniert tot, oder sie waren in Jakobs Kropf bereits in ihr Paradies hinübergegangen, jedenfalls lagen sie stocksteif, und Jakob stand hinter ihnen wie ein Trödler hinter seiner Ware. Als Opapa die Hand hob, mimte er >böse<, machte sich ganz gerade und fauchte mit Basiliskenblick.

»Er ist böse«, sagte ich, »sieh dich vor!«

»Unsinn!« erklärte Opapa. »Er will doch nur spielen, siehst du das nicht?« Dabei näherte er seine Hand den Würmern: »Jetzt nehm ich sie!« Worauf Jakob blitzschnell die Wurmleichen in seinem Kropf verschwinden ließ und anschließend einen wilden Hieb gegen Opapas Hand führte.

»Max — deine Hose — es wird ja immer schöner!« sagte unvermutet Omamas Stimme hinter uns. »Außerdem ärgere das Tier nicht, es wird sonst bösartig.«

Opapa zeigte sein Widerspruchsgesicht: »Ärgern? Keine Ahnung, Paulchen, er spielt, siehst du das nicht?«

Jakob rückte auch prompt wieder an Opapas Hand heran und baute die Strecke erneut auf. Einer der Würmer schien durch einen Schaltfehler in den Magen gelangt zu sein, denn es waren nur noch sechs. »Schrei nicht so!« erklärte die (etwas) schwerhörige Omama, »ich höre sehr gut. Außerdem ist das äußerst unappetitlich, was ihr da macht. Und vor allem, hast du nicht um elf Uhr Direktionssitzung?«

Opapa erhob sich ächzend, schüttelte die Hosenbeine gerade und sah dann nach der Uhr: »Es ist ja erst zehn Uhr!«

»Das weiß ich. Du mußt dich aber umziehen, deine Hose ist verknittert, und am Po hast du sicher Flecke. Valeska hat erst gestern frisch gebohnert.«

Worauf Opapas Widerspruch schlagartig zusammenbrach und er nach hinten trabte.

»Sei wenigstens du vernünftig!« ermahnte mich die Omama. »Man kann euch wirklich keinen Augenblick allein lassen. So kleine Jungens seid ihr doch nun auch nicht mehr!«

»Ich bin doch so froh, daß er Jakob gern hat!« sagte ich und streichelte ihn. Hinter mir hörte ich ein Räuspern, und dann strich mir eine Hand leise über den Kopf. Die Tür fiel zu. Endlich war ich allein und konnte auch mal mit meinem Vogel spielen. Wir taten es, bis kein Wurm mehr übrig war...