DAS HEIM

Und da ist der Schwindel wieder hinter meinen Augenlidern. Ich reiße sie auf. Wie sehe ich aus?

Ein kleiner blasser Blondschopf von elf Jahren trabt auf viel zu dünnen Beinen durch eine große, dunkle Wohnung in einem Vorort Berlins. In dieser Wohnung gibt es sieben Zimmer mit hohen, stuckverzierten Decken und großen Kaminen, alle verbunden durch einen langen Flur, der immer in Finsternis liegt und den des Abends nur eine kümmerlich puffende Gasflamme erhellt.

Gleich, wenn man von außen in die Schlucht dieses Flurs tritt, auf der linken Seite, ist die Tür zur Bibliothek. Ich öffne sie. — Muß mich doch richtig erst wieder daran gewöhnen, daß ich die Klinke gerade vor der Nase habe und zu mir herunterziehe, statt sie von oben niederzudrücken, wie ich das später als Erwachsener tat.

Und jetzt, da ich im Zimmer bin, ragen die Bücherregale wie Häuser über mir empor. Ich muß mir einen Stuhl nehmen, und selbst damit reiche ich noch nicht an die oberste Reihe. Den beiden Ritterrüstungen, die in den Ecken stehen, geht mein Kopf gerade bis an die gepanzerten Fäuste, die auf den Schwertgriffen ruhen. Ich sehe es lieber, wenn sie die Visiere geschlossen haben, obwohl sie da sehr bedrohlich ausschauen. Aber wenn die Mama beim Staubwischen an die Visiere kommt und sie aufgeklappt läßt, ist es noch unheimlicher. Dann sieht man in die Finsternis der hohlen Köpfe, und vor diesem dunklen Nichts habe ich ein drückendes, leeres Gefühl im Magen.

Natürlich lasse ich mir nichts anmerken; denn im Moment, da ich das Zimmer betrete, bin ich ein edler Sarazene, der auf die Galeere des Roten Falken, des berühmten Seeräubers, lauert. Der türkische Diwan mit den beiden riesigen Kissen davor ist mein Felsenversteck, und der alte Meßgewänderschrank, gebaut in Ulm Anno Domini 1500, mit seinen Intarsien und den geflügelten Engelsköpfen, der seit vierhundert Jahren mit der Familie lebt, ist die Galeere. Ich klettere auf einen Stuhl und nehme ein altes Krummschwert von der Wand. Dann kauere ich mich hinter die Kissenfelsen, bis die Galeere ganz nahe ist. Ihr Deck wimmelt von Bewaffneten. Die Hellebarden und Enterhaken wie ein stachliger Wald über ihnen. Die Geschützluken öffnen sich, quietschend und polternd rollen die Kanonen heraus, die Geschützmeister mit glimmenden Lunten hinter ihnen. Und da, auf der Kommandobrücke — der Rote Falke! Die Worte der Handlung murmele ich halblaut vor mich hin, während ich jetzt mit geschwungenem Säbel vom Felsen an Deck springe, meine tapferen Leute hinter mir.

Aber der Rote Falke ist auch nicht von Pappe. Schnell ziehe ich einen roten Schal aus der Tasche, den ich aus der Kommode der Mama entlieh, springe zur Wand und hole mir dort eine gewichtige Reiterpistole aus dem Dreißigjährigen Krieg. Jetzt bin ich der Rote Falke und lege auf mein eigenes Ich an. »Puh — puh —«, rufe ich, während ich den Abzug der doppelläufigen Pistole durchreiße, deren Schaft meine kleine Faust kaum umklammern kann. Es nutzt aber nichts, die Sarazenen dringen vor, und schließlich ziehe ich mich zum letzten Kampf in die Kabine zurück. Ich betrete sie, indem ich die große Schiebetür zum benachbarten Arbeitszimmer zur Seite rolle. Dort sitzt Opapa am Fenster und blättert in seiner Briefmarkensammlung. Er raucht eine Zigarre mit langem Aschenkegel und bläst blauen Rauch genüßlich unter seinem kurzen, grauen Schnurrbart hervor.

Die Vision der Seeschlacht wird dünn und unwirklich wie ein bunter Bilderbogen, der dann plötzlich umklappt und einfach nicht mehr ist. Ich halte die Pistole hinter dem Rücken, stelle mich gegen Opapa und recke die Nasenspitze über das Buch. Gerade hat er die Seite mit der >Sachsen, drei Pfennig rot< aufgeschlagen. Einer seiner größten Schätze, der in Senfs Katalog mit dreihundert Mark steht. Dreißig Goldstücke!

Jetzt nimmt Opapa den Kneifer ab, steckt ihn in die Westentasche und sieht mich aus seinen blaßblauen Augen an, in denen ganz hinten ein Lächeln glimmt: »Na, was hat’s denn gegeben?«

»Galeere geentert!« erkläre ich kurz. Vor Opapa geniere ich mich gar nicht, denn er ist Fachmann. Er hat von seinen Eltern nicht nur die Waffensammlung geerbt, sondern auch eine Zinnsoldatensammlung mit Rittern und Indianern und besonders mit Figuren aus den Napoleonischen Kriegen. Früher, als wir noch eine berühmte Familie waren und mit dem Kaiserhof lebten, spielten der alte Moltke und der Kriegsminister Roon oft damit, und Heinrich Heine und Bismarck machten ihre Witze darüber, wenn sie die Großmutter besuchten.

Mit dem Tode des alten Kaisers und meines Urgroßvaters — die beiden Freunde starben kurz nacheinander — erlosch der Glanz der Familie. Geblieben sind nur die Erinnerung, ein paar alte Waffen und Möbel und die Zinnsoldaten. Jetzt baut Opapa sie zweimal in der Woche auf. Er hat dazu große Holztafeln, die über zwei Stühle gelegt werden. Wenn er sie aufgebaut hat, zum Beispiel Austerlitz — genau nach dem Geschichtsbuch —, dann setzt er sich stundenlang davor und bläst den Zigarrenrauch zwischen die Karrees der Alten Garde, daß es aussieht wie Pulverdampf.

Er ist überhaupt ungeheuer genau. Seine Schätze hat er im >Italienerschrank<, das ist ein sehr altes Möbel mit zwei Hunden als Intarsien auf der Vorderseite. Innerhalb des Schranks geht es gewaltig ordentlich zu. Die Armeen ruhen in großen Kisten mit vielen Einzelfächern. Dann gibt es ausziehbare Platten, auf denen die Kanonen und Trainwagen und Pontons der Pioniere stehen und auch die Kutsche, in der der österreichische Kaiser sitzt mit der Hand am Federhelm. — In der Mitte liegen die vier dicken Alben der Briefmarkensammlung. Darauf stehen die Samttabletts mit den kleinen Näpfchen, in denen die Goldstücke der Münzsammlung ruhen, während die Jubiläumstaler und die minder wichtigen Exemplare in runden Blechbüchsen gehäuft sind. Ganz unten liegen Opapas andere Sammelobjekte: die Zigarren, die er während des Jahres geschenkt bekommt, und die Bieruntersätze und Teelöffel mit Hotelaufschriften, die er von seinen Dienstreisen mitbringt.

Über alles führt Opapa Buch. Er hat lange Listen, in denen es von roten und grünen Kreuzen wimmelt. Ob er nun die Kreuzritter oder Wellingtons Generalstab neu anstreicht, ob er eine neue Unterhose aus der Boulekommode nimmt oder gebrauchte zum Waschen gibt oder eine Zigarrenkiste aufbricht, die er vor fünf Jahren zu Weihnachten geschenkt bekam — es wird alles notiert. Ich bewundere das.

Ich habe natürlich auch eine Soldatensammlung und eine Briefmarkensammlung, aber es geht in beiden bedeutend liederlicher zu. Ich hatte auch mehrfach Listen begonnen, aber sie kamen selten über die erste Seite hinaus und verwandelten sich bald in Schlachtenbilder oder Hunde oder Blumen und Vögel, und was mir sonst noch in den Sinn kam.

Opapa kann das alles viel besser. Er hat ja aber auch viel mehr Zeit in seinem Leben dazu gehabt. In meinem Alter, meint er, hätte es bei ihm auch nicht so geklappt. Es würde schon noch kommen. Ich neide ihm seinen Vorsprung nicht. Ich sonne mich an seiner Vollkommenheit und fühle einen unbändigen Stolz, sein Bundesgenosse gegen die Frauen zu sein, die das alles nicht verstehen und zum Beispiel durchaus nicht einsehen wollen, was für ein wundervoller Hafen für meine Kriegsschiffe die Ecke zwischen dem Klavier und dem Ofen im Salon ist. Dauernd wollen sie mit dem Besen hinein. Dabei ist der Staub, dessentwegen die ganze Flotte auslaufen muß, nach ein paar Minuten wieder da!

Die Frauen — das sind Omama, die Mama und die Köchin Valeska. Omama, Paula, genannt >Paulchen<, ist der Chef des Hauses. Sie ist Opapas zweite Frau. Die Mama stammt aus Opapas erster Ehe, über die nie gesprochen wird. Ich weiß nur, daß er sehr krank und fast arm war, als ihn seine erste Frau verließ... Omama, die aus Irland kam, brachte eine an Kindes Statt angenommene Nichte mit, ein Jahr jünger als die Mama, ein rötlich-blondes, sehr schönes Mädchen mit großen, blauen Augen, das auf den Namen Jenny hörte, in zwei Jahren fließend Deutsch lernte und von Anfang an sehr fest und praktisch im Leben stand.

Die Omama verschaffte Opapa eine schöne Stellung, in der er nicht allzuviel zu tun hatte und viele Dienstreisen machen konnte, rettete den Rest des Vermögens und nahm die Erziehung der beiden Mädchen in die Hand. Sie kamen auf eine gute Privatschule, auf der die Mama immer die Erste und Tante Jenny immer die Letzte war. (Deshalb kam sie auch viel besser durchs Leben.)

Später lernte Tante Jenny kochen und die Mama in Öl malen. Sie besuchte mit einer Staffelei bewaffnet eine Hochschule und bedeckte eine Reihe von Wandschirmen mit springenden Hirschen und bärtigen Förstern an tosenden Wildbächen. Zum Kummer der Mama wurden diese Hochschulgreuel von der Omama pietätvoll aufgehoben und schmückten unsere diversen Kamine. Ich finde diese Ofenschirme schön, weil sie mich an Onkel Gustl erinnern, der Oberförster ist und den Tante Jenny, nachdem sie kochen gelernt, ehelichte, kurz nachdem die Mama ihrerseits das gleiche mit meinem Papa getan.

Als dann die Ehe der Mama mit dem Tode meines Vaters schon wenige Monate nach meiner Geburt tragisch endete, war wieder die Omama da. Sie nahm die trostlose junge Frau auf und das mitgebrachte Bündel, aus dem sich später meine werte Person entwickelte, und sie übernahm meine Erziehung mit derselben Energie wie seinerzeit die der beiden Töchter.

War sie jedoch den beiden Töchtern eine strenge, wenn auch wohlmeinende Herrin gewesen, so wurde sie, ohne daß ich es im geringsten darauf anlegte oder mir dessen bewußt wurde, mein Sklave. >Der Junge« darf weder geschlagen noch ausgeschimpft werden, das Beste ist gerade gut genug für ihn, und vor der Befriedigung seiner Wünsche hört sogar die eiserne Sparsamkeit auf, mit der die Omama ein neues Vermögen aufbaut, das dereinst die Karriere «des Jungen« und die Zukunft der Mama sicherstellen soll.

Jetzt aber ist die Mama noch jung und hübsch. Ach, so jung — und so hübsch, wenn auch für den Zeitgeschmack zu schlank. Ein stilles, folgsames, aufopferndes Wesen, das sich eine zweite Ehe versagt, um mir nicht einen Stiefvater zu geben...

Dann ist da noch Valeska, die Köchin, von der nur zu berichten ist, daß sie eine Frisur hat, die aussieht, als habe sie sich zwei Preßkohlen auf den Kopf gelegt. Sie ist meist über irgend etwas beleidigt, hat aber ein gutes Herz und einen zwei Meter großen Möbelpacker als Freund, der manchmal sonntags auf Besuch kommt. Opapa schenkt ihm dann eine Zigarre und unterhält sich mit ihm zur Verzweiflung Valeskas über die Politik der Sozialdemokratie. Mir muß er seinen Bizeps zeigen und mich wie einen jungen Hund mit einer Hand gegen die Decke heben. Ich kann diese Offenbarung männlicher Kraft stundenlang immer wieder bewundern, bis Valeska kategorisch erklärt: »Jetzt geht’s bei uns mit dem Privatleben los, und du gehst nach vorn, Soldat spielen!«

Der Haushalt gleicht, da auch die Omama und die Mama sehr genau sind, einer gut geölten Maschine, in deren Ablauf nur ich einige Unberechenbarkeiten bringe. Das ist aber auch nur der Fall, wenn ich von der Land- zur Seekriegführung übergehe und meine Flotten um die verschiedenen Teppichecken bis in den Salon segeln lasse, der zwischen dem Arbeitszimmer und dem Eßzimmer liegt.

Der Salon wird von der Mama abwechselnd >die Schreckenskammer< oder die >kalte Pracht< genannt. Darin steht nämlich — außer dem Klavier — ein Kachelofen für Anthrazit, der nur an Sonntagen geheizt wird, weil die Omama den Anthrazit zu teuer findet. Davor prangt einer von Mamas Ofenschirmen, dreiteilig, mit einem großen Bernhardinerkopf, einer Freischützlandschaft (Quelle — Schlucht — Gewitterhimmel) und einem Blumenstilleben, vor dem aus unerfindlichen Gründen ein knallroter Hummer liegt. Das einzige, was mich an dem Zimmer interessiert, ist ein Eisbärenfell vor dem Ofen und eine große Muschel auf dem Ecktisch, in der man das Meer rauschen hört, wenn man sie ans Ohr hält. Für die Flottenmanöver benutze ich den Salon nur, wenn er geheizt ist, oder im Sommer. Sonst spiele ich dort nur gelegentlich Eskimo. Ich ziehe dann Handschuhe und meine Pudelmütze an, hole aus dem Schrank Mamas alte Pelzjacke und einen Zuluspeer von der Wand. Der Ecktisch wird zur Eisscholle ernannt, von der herunter ich den Eisbären harpuniere, der mich mit aufgerissenem Schlund und riesigen Eckzähnen bedroht. Mitunter erschieße ich ihn auch mit einer Araberflinte, die ich sehr gern habe, weil sie ziemlich leicht ist und einen enorm langen Lauf hat.

Manchmal auch, wenn mir in der Schule Latein und Mathematik allzusehr zum Halse heraushängen, setze ich mich über Mittag, wenn alles schläft, einfach so in den Salon und hoffe, daß ich einen Schnupfen oder sogar eine Mandelentzündung bekomme. Mitunter gelingt es mir.

Die Schule habe ich gar nicht gern. Früher war ich einer der Besten, aber seit Latein und Mathematik geht es ständig abwärts mit mir. Ich mogele mich nur noch so durch und kann die meisten Lehrer nicht leiden, weil sie mir vorschreiben wollen, was ich zu denken habe. Die Kameraden quälen mich, weil sie mich wegen meiner dünnen Beine >Storchbein< nennen und weil ich sie nicht alle verhauen kann. Bei den meisten gelingt es mir, denn ich bin trotz meiner Magerkeit sehr kräftig und prügele mich mit wilder Inbrunst. Manche aber sind einfach zu stark. Besonders einer reizt mich, ein großer Dunkler, der Thomas heißt. Ich falle ihn immer wieder an und versuche ihn niederzuringen. Er aber steht einfach da wie ein Klotz, wirft mich dann mit einem Ruck auf die Schulter, lacht mir ins Gesicht und sagt: »Willst du noch mehr, Storchbein?«

Ich habe auch einen Haufen Freunde, aber die fahren meist Rad, was mir verboten ist, und wenn ich sie mit meinen Soldaten spielen lasse, ist es kein Vergleich zu den wunderbaren, wohldurchdachten Kämpfen, die Opapa und ich uns liefern. Die meisten Jungen haben auch Brüder und Schwestern, mit denen sie sich um die Spielsachen zanken müssen. Ich bin dann immer froh, wenn ich wieder zu Hause und bei meinen Soldaten, Schilfen, Waffen und Briefmarken sitze.

Trotzdem fehlt mir etwas, ich weiß nur nicht, was es ist.

Winterabend — 1913. Nun sitze ich wieder am Abendbrottisch. Die Gasflammen kochen über mir. Der Rest des Zimmers liegt im Dunkel. Auf dem Tisch steht das übliche spartanische Abendbrot: Zwei Enden weiche Wurst, eine rot, eine grau, Butter, die mir aufgestrichen wird, Schmalz, Brot und eine Tasse Tee.

Ich friere und versuche, das Abendbrot abwechslungsreicher zu gestalten, indem ich aus grauer und roter Wurst und Schmalz eine Paste forme und mit der Gabel Kerben darin mache. Der Erfolg ist kümmerlich. Tee mag ich nicht, und das Glas Milch, das mir als Ersatz angeboten wird, verschmähe ich, weil ich ja schließlich kein Säugling mehr bin.

Nach dem Abendessen steht Opapa auf und geht nach vorn an den Italienerschrank. Ich höre, wie er im Dunkeln rumort, und weiß, jetzt holt er den Anzünder aus der Ecke, eine Messingröhre, in der ein langer wachsumhüllter Draht sitzt, den man herausschieben kann. Dann geht mit einem Puff das Gaslicht an, die Schranktür knarrt.

Ich schlendere nach vorn. Opapa steht versunken vor seinen Schätzen. Dann räuspert er sich, holt eine Zigarrenkiste heraus und entnimmt ihr umständlich eine Zigarre, deren Bauchbinde er aufmerksam betrachtet. Er knipst die Spitze ab, bläst verkehrt durch die Zigarre, holt dann das perlmuttene Taschenmesser hervor, entfernt vorsichtig die Bauchbinde und zündet schließlich die Zigarre an. Dann nimmt er eine Liste, macht einen Vermerk, stellt die Kiste wieder weg.

»Vergiß nicht, das Gas auszumachen, Max, wenn du kommst!« ruft Omama.

»Nein, Paulchen.« Er reckt sich, dreht die Flamme aus. Wir wackeln beide ins Eßzimmer. Dort ist inzwischen das Geschirr verschwunden und eine blau-weiß gewürfelte Decke aufgelegt. Die Mama häkelt und schaut ab und zu in einen Roman. Omama liest die Zeitung, ich hole meinen Lederstrumpf, Opapa schlägt die Briefmarkenzeitung auf. Das Gaslicht kocht. Ab und zu räuspert sich Omama gewaltig, und dann liest sie etwas aus der Zeitung vor. Ein Doppelmord, etwas über den Grafen Zeppelin. Die Kaiserin hat eine neue Kirche gestiftet, und die Sozialdemokraten sind gegen die Flottenvorlage.

»Wie findest du das, Max?«

Opapa sieht über den Kneifer hinweg und hat, was die Familie das >Oppositionsgesicht< nennt. »Ich hab’s schon gelesen, Paulchen«, sagt er spitz.

»Ich finde das Quatsch!« erkläre ich. »Wir brauchen noch mindestens zehn Linienschiffe, um mit den Engländern gleich zu sein.«

Opapa nimmt den Kneifer ab, klopft damit auf den Tisch und sinnt vor sich hin: »Alles Unsinn«, sagt er schließlich. »England hat noch nie einen Krieg verloren und wird nie einen verlieren. Was wollen wir mit der Flotte? Ohne Küsten? Mit einem Land wie England verbündet man sich.«

»Die Iren sind anderer Meinung«, sagt Omama.

»Es gibt zwei Sorten von Iren«, erwidert Opapa, »die einen sind in Irland und wissen nicht, was sie wollen. Und die anderen haben rote Haare und sind Polizisten in New York.«

»Vergiß nicht, daß ich aus Irland komme, Max!«

»Nein, Paulchen!« Er grinst.

Pause. Das Gaslicht zischt. Die Zeit gleitet dahin wie ein dunkler, glatter Strom. Dann, um die neunte Stunde, beginnt Opapa zu gähnen. Omama sieht ihn über die Brille weg an, unterdrückt ihrerseits ein Gähnen und sagt: »Max, du bist müde!«

Opapa nimmt den Kneifer ab, dessen schwarze Schnur in seiner Brusttasche mündet, und macht das Oppositionsgesicht: »Nein, Paulchen, ich bin nicht müde. Du bist müde!«

Sie räuspert sich gewaltig: »Ich? Keine Rede!« Und hebt die Zeitung wieder vor das Gesicht. Opapa stellt die Briefmarkenzeitung hoch und sieht hinter dieser Deckung verstohlen nach der Uhr. Er unterdrückt ein neues Gähnen mit solcher Anstrengung, daß er einen ganz dicken Hals bekommt und seine Augen tränen. Ich grinse hinter meinem Lederstrumpf. Er stößt mich warnend gegen das Schienbein und kneift ein Auge zu.

Nach einer Viertelstunde läßt Omama die Zeitung fallen, packt die Brille ins Etui und erklärt: »Wir sind müde!«

Im nächsten Augenblick ist Opapa auf, hat uns allen den Gutenachtkuß gegeben und ist den langen Flur entlang in das Schlafzimmer abgetrabt. Allgemeiner Aufbruch. Ich packe mein Buch fort, muß mich zu meinem größten Kummer unter Aufsicht der Mama noch waschen (die Ohren auch).

Im Bett kriege ich von Omama und der Mama noch einen Kuß. Die Mama halte ich an der Hand fest: »Mama«, flüstere ich, »war das auch so langweilig, als du jung warst?«

»Du bist undankbar. Omama und Opapa lesen dir jeden Wunsch von den Augen ab. Was willst du denn noch mehr?«

Ja, was will ich denn noch mehr?