JESSIKA

Wenige Wochen später, kurz vor Ostern, rollte Tante Jenny, die Frau von Onkel Gustl, ein. Mit ihrer Tochter Jessika. Tante Jenny kam jedes Jahr, immer mit Jessika, um die Großeltern zu besuchen und Einkäufe in der Großstadt zu machen. Sie ließ niemals die großen Ausverkäufe Ende Februar aus, und da sie im Gegensatz zu der schlanken Mama von stärkerer Statur war, blieb sie in den Frauenschlachten um den aufgestapelten Trödel des Jahres meist Siegerin. Sie hatte auch die besseren Nerven, weil sie doch das ganze Jahr auf dem Schloß in Böhmen lebte. Manchmal saß ihr Hut etwas schief, ihr Mantel war eingerissen, oder sie hinkte, weil ihr so viele auf die Füße getreten waren. Aber die Beute, die sie heimbrachte, war immer beträchtlich. Ich hatte sie eigentlich sehr gern, es ging eine entschlossene Mütterlichkeit von ihr aus, so, als ob sie viele, viele Kinder zu betreuen hätte. Und dabei hatte sie nur ihre Jüngste, die kleine dicke Josefa, mit der man noch nicht reisen konnte, und Jessika, mit der ich mich absolut nicht vertragen konnte.

»Denke daran, daß sie jünger und ein kleines Mädchen ist«, sagte die Omama in Vorbereitung ihrer Ankunft, »und außerdem ist sie deine Kusine.«

»Dafür kann ich nichts«, murmelte ich, »wenn das dämliche Weib bloß erst weg wäre!«

»Aber was hast du denn gegen sie?«

»Sie wird Jakob quälen und wieder mit meinen Soldaten spielen wollen.«

»Jakob quälen darf sie nicht, aber mit den Soldaten kannst du sie ruhig spielen lassen.«

»Und wenn se nun was kaputtmacht?«

»Dann kriegst du es neu.«

»Hm.«

Das »hm« bedeutete die Aussicht, im Wege von Ersatzansprüchen nach Jessikas Abreise meine schwere Belagerungs-Artillerie komplettieren zu können. Ich liebäugelte schon seit langem mit einer großen Kanone, aus der man richtig mit Erbsen schießen konnte. Trotzdem war ich unglücklich.

Als einziges Kind hatte ich mich niemals gegen die Konkurrenz von Geschwistern verteidigen müssen. Jetzt hatte ich plötzlich so was wie ‘ne Schwester, noch dazu solch ein fürchterlich unberechenbares Exemplar wie Jessika. Und der Konkurrenz-Bazillus traf mich mit verheerender Gewalt und in völliger Schutzlosigkeit.

Und dann kam Jessika, mit der Unausweichlichkeit eines Vorortzuges. Am Abend war sie noch müde von der Fahrt. Laut Familienbeschluß hatte ich ihr einen Kuß zu geben. Sie kniff die Lippen ein und drängte sich mit gespielter Ängstlichkeit an ihre Mutter. Dabei funkelten mich ihre großen grünen Katzenaugen spöttisch an: Na warte mal, dir werd’ ich was zu knacken geben! schienen sie zu sagen.

Und am nächsten Morgen ging es dann los. Während wir alle am Kaffeetisch saßen, sah sie erst auf meine Tasse und dann auf ihre. Ihre war eigentlich gar keine richtige Tasse, sondern ein großer Stampen, aus dem Valeska am Morgen ihren Malzkaffee trank. Ich weiß nicht, unter welchen teuflischen Vorspiegelungen sie ihn ihr abgeschwindelt hatte. Jedenfalls sagte sie mit honigsüßer Stimme: »Ich habe eine starke Tasse, und du hast eine schwache Tasse!«

Bis dahin hatte ich mich noch nie um Tassen gekümmert. Überhaupt schon diese albernen böhmischen Ausdrücke >stark< und >schwach< statt groß und klein. Außerdem war ich gewöhnlich froh, wenn ich mit meinem Kakao oder meiner Milch fertig war. Nachdem sie aber ihre Überlegenheit in puncto Kubikinhalt der Frühstückstasse drei Morgen hintereinander wiederholt hatte, war ich genügend verblödet, um zu der Ansicht zu gelangen, daß mein Seelenheil von dem Besitz einer größeren Tasse als der Jessikas abhinge. Da ich von Natur einen ziemlich primitiven Charakter besitze und es keine größere Tasse in der Familie gab, löste ich das Problem, indem ich aufstand, zu ihr hinüberging, ihr eine klebte und ihr die Tasse wegnahm. Sie war einen Moment genau wie alle anderen versteinert, holte dann aber schnell auf, indem sie mir mit den Krallen wie eine Katze ins Gesicht fuhr. Ich packte sie an den Rattenschwänzen, und damit erledigte sich der Fall insofern, als die strittige Tasse zwischen uns zu Bruch ging. Es hagelte stundenlange Ermahnungen und erstaunte Ausrufe der Omama und Mama, abgestimmt auf die Melodie: Was hat bloß der Junge, so kennen wir ihn ja gar nicht!

Nur Opapa lächelte still vor sich hin und weigerte sich strikt, irgend etwas von sich aus zu der Affäre beizutragen:

»Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!« sagte er nur und ging nach vorn an seinen Italienerschrank.

Jessika indessen setzte ihren seelischen Zermürbungsfeldzug unverdrossen fort. Nach zwei weiteren Tagen hatte sie mich so weit, daß ich, der Kommandeur bedeutender Armeen und Indianerstämme und Verächter alles weiblichen Spiels, mir zu dem bevorstehenden Osterfest eine Puppennähmaschine wünschte. Opapa, dem ich dieses irrsinnige Begehren zu beichten wagte, sah mich mit einem Ausdruck tiefsten, gramvollen Verständnisses an und strich mir über den Kopf:

»Weißt du«, sagte er mehr zu sich selbst, »was den Menschen vom Tier unterscheidet — er lernt nichts. Wenn unser Jakob zum Beispiel mit irgendeiner Sache ein paarmal schlechte Erfahrungen macht, dann läßt er sie. Der Mensch, besonders der Mann, heiratet immer wieder und fällt immer wieder auf die Frauen und ihre Launen ‘rein. Verstehst du das?«

»Nein.«

»Dann schenke ich dir die Messingkanone, aus der du richtig mit Erbsen schießen kannst. Du wünschst sie dir doch schon lange, nicht wahr? Vergiß diese blöde Puppennähmaschine!«

Es war mir, als ob ich aus einem Fiebertraum erwachte, ich ging teils beglückt, teils beschämt von dannen und unterhielt mich mit Jakob über den Fall. Jakob hatte inzwischen auch schon seine Erfahrungen mit Jessika gemacht. Einerseits konnte er sie nicht leiden, vielleicht war es das Katzenhafte in ihr, andererseits — ewiger Zwiespalt der männlichen Natur — war er ihren Reizen gegenüber nicht ganz unempfindlich. Besonders ihre kleinen, braunen, strammen Waden hatten es ihm angetan. Vielleicht war er auch seelisch ausgehungert durch den völligen Mangel dieses Artikels auf meiner Seite. Jedenfalls hatte er sie gleich am zweiten Tag mit Genuß in diese Waden gezwickt. Es war eine genauso unschuldige Reflexbewegung wie damals bei Emil mit den dicken, roten Backen. Nur, daß ich Jessika nicht wie Emil einschüchtern konnte. Sie brüllte eine Stunde lang und mit Wonne, und Jakob mußte als gefährliches Untier einen ganzen Tag lang ihretwegen im Bauer bleiben.

Dann kam das Osterfest und mit ihm die traditionelle Hasensendung von Onkel Felix aus Nürnberg. Wie ich schon erwähnte, sandte er mir immer zu Ostern einen Riesenhasen, wie es ihn in keinem Geschäft sonst gab. Es war der schönste Schokoladen-Osterhase weit und breit, eigentlich viel zu schön zum Essen, weshalb ich ihn auch viele Wochen nach Ostern aufhob. Als wir jedoch diesmal das Paket aufmachten, war er nicht darin, statt dessen aber zwei mittlere Hasen, einer für Jessika und einer für mich. Absolut betrachtet, waren sie immer noch ganz anständig groß, aber keine Überhasen, und vor allen Dingen, womit hatte diese verdammte Katze überhaupt einen Hasen verdient?

In den Feiertagen fraßen wir traditionsgemäß sämtliche Eier aus Schokolade, Marzipan und Gelee auf, und es wurde uns ebenso traditionsgemäß übel danach. Ich hoffte im stillen, daß Jessika auch ihren Onkel-Hasen nachschieben würde, aber sie tat es nicht, weil ich es nicht tat. So belauerten wir uns gegenseitig, jeder mit seinem Hasen, den wir argwöhnisch bewachten. Jessika hatte ihren in der Puppenküche versteckt. Warum versteckte sie ihn überhaupt? Das war wieder einer ihrer üblen Tricks, genauso wie das Anschmiegen an die Mama bei der Begrüßung. Es stempelte mich sozusagen von vornherein zu einem Dieb und Strolch, der hinter ihrem blöden Hasen her war.

Sie hatte jedoch nicht mit meinem besten Verbündeten, Jakob, gerechnet. Eines Tages, als sie mich wieder reizte, indem sie mir zum hundertsten Male erzählte, »ich habe einen ebenso schönen Hasen wie du«, hörten wir es nebenan poltern. Jessika schoß wie ein angestochener Eber um die Ecke, ich hinterher. Und da sahen wir Jakob, der mit beiden Füßen in der Puppenküche stand und Groß-Aufräumen spielte. Das ganze Puppengeschirr lag schon auf der Erde, und gerade zerrte er aus Leibeskräften den Hasen aus der Ecke. Er hatte ihn an dem kleinen Messingglöckchen gepackt, das ihm an einem rosa Bändchen um den Hals hing. Jessika fuhr kreischend mit gezückten Krallen auf ihn los. Jakob flatterte mit dem Hasen hoch, der Hase fiel herunter und lag da mit abgebrochenem Kopf. Innerlich jubelnd, ergriff ich meinen Vogel und brachte ihn in Sicherheit, während sich sämtliche Frauen um das heulende Gör bemühten. Man empfahl Jessika dringend, den Hasen nunmehr ganz aufzuessen, aber sie strampelte, schrie, schlug um sich und war durch nichts zu beruhigen. Dabei sah ich genau, daß sie das alles nur spielte, um Jakob und mich noch schwärzer erscheinen zu lassen. Schließlich holte die Tante, mit einem gram-voll-vorwurfsvollen Blick auf uns beide, eine Tube mit Klebstoff und pickte den Kopf des Hasen wieder an.

Jessika triumphierte. Aber ihr Triumph kam zu früh. Der Abend nahte, es war ein später Frühling, und Omama ließ, der Tante wegen, kräftig heizen. Unter dem brodelnden Gaslicht, während die Erwachsenen sich unterhielten, saßen Jessika und ich uns gegenüber, jeder mit seinem Osterhasen. Plötzlich sah ich, wie Jessikas Hase ein nachdenkliches Gesicht machte. Er schien sich etwas zu überlegen und legte zu diesem Zweck den Kopf auf die Seite. Da, wo er geleimt war, begannen sich lange Fäden zu ziehen. Die Ofenhitze hatte den Klebstoff aufgeweicht. Na, das war ja großartig!

»Paß auf, Jessika«, sagte ich, »dein Hase nickt mit dem Kopf!«

Sie sah herunter und wurde ganz blaß vor Wut. Dann riß sie das Maul auf, kniff die Augen zu und begann zu brüllen. Die Tante rannte sofort nach der Klebstofftube, und der Hase wurde wieder geleimt. Das wiederholte sich jeden Abend, bis sein ganzer Hals nur noch aus Klebstoff bestand. Nach vier Tagen hielt Jessika das nicht mehr aus und fraß ihren Hasen auf einen Sitz auf, mit dem Klebstoff. Der Leim bekam ihr sehr schlecht. Sie mußte ins Bett und bekam, um meinen Triumph vollzumachen, Rizinusöl.

Am liebsten hätte ich vor Freude gejubelt, aber ich beherrschte mich und folgte Opapa, der vom Tisch aufgestanden und nach vorn gegangen war. Dort saß er an seinem Schreibtisch mit Jakob auf dem Knie, er kraulte ihn auf dem Kopf und sagte: »Bravo, Jakob, wir Männer müssen zusammenhalten!«

Merkwürdig — von diesem Augenblick an schien die von Jessika ausgehende Behexung gebrochen, und mehr noch, sie schien ihre Niederlage anzuerkennen und drehte — echt weiblich — um hundertachtzig Grad bei. Sie nannte mich nicht mehr »blödes Mannsbild« und »Scheißkerl«, sondern »Hansi« und bestand am nächsten Tage darauf, daß ich ihr einen Kuß auf den Mund gäbe. Ich tat es, im Interesse des Familienfriedens. Sie ließ auch Jakob mit der Puppenküche spielen, ohne ihm den Hals umzudrehen, und versteifte sich darauf, Hand in Hand mit mir spazierenzugehen, was mir schrecklich war, wegen der anderen Jungen, und weil unsere Hände dabei so schwitzten. Als die Frühreife von nebenan wieder als Seeräuberbraut durch den Keller getragen werden wollte, fuhr Jessika wie eine Tigerin auf sie los, sie rissen sich an den Haaren und traten sich vor die Schienbeine, daß es eine Wonne war. Dann kletterte Jessika mir auf den Buckel und ich mußte sie durch den Keller tragen. Ich kam mir direkt interessant dabei vor.

Allmählich gewöhnte ich mich an sie, und es tat mir richtig leid, als sie abfuhr. Aber wir würden uns ja bald wiedersehen, zu den Pfingstferien auf Onkel Gustls Schloß in Böhmen. Unser Hausarzt würde mir ein Attest schreiben, daß ich wegen Schwächlichkeit zwei Wochen länger bleiben könnte, damit sich nämlich das Fahrgeld lohnte.

Als sie abgefahren war, fragte ich Opapa, ob ich Jessika heiraten könnte. Er sah mich verächtlich an:

»Gott sei Dank nicht!«

»Warum denn nicht?«

»Weil sie deine Kusine ist.«

»Aha!« sagte ich. Aber ich verstand es nicht. Kusine war anscheinend etwas sehr Kompliziertes.