DER HUT

Das war nicht der einzige stürmische Nachmittag, den Jakob uns bescherte. Kurz darauf spielte sich folgendes ab. Es war ein ungewöhnlich warmer Herbsttag. Die schon etwas durchsichtigen Sonnenstrahlen fielen auf den Balkon und wurden von dem Männertrio der Familie vollzählig genossen. Jakob arbeitete in einem der Blumenkästen. Er hatte ein Loch in die geplagte Erde gebohrt und würgte nun einige Mehlwurmleichen hinein; das Ganze war wohl als Vorratskammer für schlechte Zeiten gedacht.

Ich versuchte derweilen das Wetterhäuschen zu reparieren. Es enthielt zwei Holzfiguren, einen vollbärtigen Förster, der schlechtes Wetter bedeutete, und eine Bäuerin mit rotem Kopftuch und Schürze, deren Austritt schönes Wetter anzeigte. Jakob hatte vor einigen Tagen die Apparatur untersucht mit dem Ergebnis, daß der Bäuerin der Kopf fehlte (wir fanden ihn Wochen später im Mehlwurmtopf) und der Förster infolge Verbiegung der drehbaren Achse wie angenagelt draußen stehenblieb, somit unentwegt und auf die Nerven fallend schlechtes Wetter prophezeiend. Opapa derweilen stand am Geländer, rauchte genüßlich eine Zigarre aus einer Kiste, die er vor drei Jahren zum Geburtstag bekam, hatte seinen Feldstecher umgehängt und musterte durch ihn ab und zu irgendein interessantes Ereignis auf der Straße oder hinter den gegenüberliegenden Fenstern.

Jetzt sah er wieder etwas, legte die Zigarre vorsichtig auf das Balkongeländer und hob das Glas an die Augen. Ich hatte verzweifelt die Reparatur des Wetterhäuschens aufgegeben und mich damit begnügt, den Förster hinein- und die kopflose Bäuerin damit herauszuschieben. Jakob hatte seine Mehlwürmer beerdigt, kippelte auf dem Balkongeländer und tauschte Schimpfwörter mit den Spatzen, die in dem schon gefleckten Laub des nächsten Baumes lärmten. Dann bemerkte er plötzlich die Zigarre und beobachtete einige Augenblicke die blaue Rauchspirale, die sich aus der weißen Asche in die stille Luft wand. Ich ahnte, daß er einen neuen Unfug auf der Pfanne habe, aber die prickelnde Lust der Erwartung ließ mich schweigen.

Mit einem leichten Hupf setzte sich Jakob neben die Zigarre, versuchte sie erst um die Mitte zu fassen und hielt sich dann, als sie sich als zu dick erwies, an das ziemlich zerkaute und von der großväterlichen Spucke befeuchtete Hinterende. Er versuchte es abzuschneiden, geriet aber dabei mit der Zunge in den weißlichen Rauchschwaden, welcher der Giftnudel entquoll.

Pfui Teufel, schmeckte das! Jakob schüttelte sich, geriet ins Wanken, die Zigarre flog in den Abgrund, und er wäre beinahe hinterher geflogen. Opapa, der aus mir völlig unerfindlichen Gründen eine Dame beobachtete, die mit hochgerafftem Rock einer Pferdedroschke entstieg und die wir gar nicht kannten, setzte das Glas ab und sah verdutzt um sich.

»Deine Zigarre...«, sagte ich. »Jakob hat sie ‘runtergeschmissen.«

»Oh!« sagte er. »Jakob... du verdammter Lausejunge!«

Dann hängten wir uns beide über das Geländer, während Jakob verdattert auf den Boden des Balkons sprang, dort den Schnabel aufsperrte und heftig schniefte.

Unter uns lagen die großen Schaufenster des Warenhauses >Goldstein, Textilien und Gelegenheiten aller Art<. Vor einem dieser Fenster sahen wir einen Hut stehen. Man konnte es beim besten Willen nicht anders ausdrücken: es war eine Dame mit einem der damals üblichen gewaltigen Hüte, auf dem wir ein Stilleben aus Veilchentuffs, Kirschen, Bändern, Schleifen und zwei toten Vögeln entdeckten, die sich mit den Schnäbeln gegeneinander aufrichteten. Das Ganze hatte die Größe einer Aufschnittplatte für sechs Personen. Unterhalb des Hutes sah man nur noch eine Hand und ein Stückchen Arm, beides in einem langen weißen Handschuh. Das alles hielt eine Schleppe. Ein Stück von der Schleppe sahen wir auch noch. Es war mausgrau.

An dieser Veranstaltung wäre nun nichts Aufregendes gewesen, und Opapa hätte mich wahrscheinlich — nachdem er sich umgesehen, ob wir auch allein wären — wie sonst mit einem Augenzwinkern angestoßen und gefragt: »Sind die Weiber nicht verrückt?« In diesem Falle jedoch blieb ihm die Bemerkung im Halse stecken, denn zwischen den Veilchen und den toten Vögeln lag die Zigarre, und eine unverkennbare Rauchspirale hob sich von ihr in die Luft. Es war aber nicht die übliche blaue Spirale sanft verbrennenden Tabaks, sondern eine schwärzlich graue Sache, die einen sengerischen Geruch bis in unsere vor Entsetzen geweiteten Nasenlöcher trug.

Jetzt trat unten die Dame ein paar Schritte zurück, um aus größerer Entfernung die übrigen Schaufenster überblicken zu können. Wir sahen auf diese Weise auch einen Teil ihres Bauches mit einem Lorgnon, das an einer langen Kette davor baumelte. Jetzt kam die andere Handschuhhand und hob das Lorgnon unter den Hut vor die Augen. Opapa und ich starrten uns einen Augenblick in die bleichen Gesichter und blickten dann wieder wie hypnotisiert hinunter.

»Kennste se?« fragte ich.

»Nein, du?«

»Auch nich.«

In diesem Augenblick flatterte Jakob, der sich wieder erholt hatte, auf das Geländer und verkündete seine Wiederkehr mit einem fröhlichen »Armleuchter!«

»Deckung!« zischte ich, packte Jakob, feuerte ihn durch die offene Tür ins Eßzimmer und duckte mich hinter der Balkonbrüstung. Auch Opapa ging erstaunlich schnell in die Knie, denn die Dame hatte auf Jakobs Bemerkung hin für einen Moment nach oben geschaut. Gott sei Dank widmete sie sich dann wieder dem anderen Schaufenster, und wir hängten unsere Nasen vorsichtig wieder über das Geländer.

»Du... die dampft ganz schön!« sagte ich anerkennend.

Opapas Gesicht zeigte einen nachdenklich-verwirrten Ausdruck: »Um diesen albernen Deckel, den sie da herumschleppt, wäre es ja nicht schade«, flüsterte er, »aber...«

»Was macht ihr denn da?« ertönte in diesem Augenblick Omamas Stimme. Sie wollte aus dem Eßzimmer den Balkon betreten, wurde aber von uns mit wilden Gesten zum Halten gebracht. Dann krochen wir auf allen vieren auf sie zu und ins Zimmer. Sie starrte uns entgeistert an, wandte sich dann um:

»Trudchen, komm doch mal her, die beiden sind total übergeschnappt!«

In ihrer (leichten) Schwerhörigkeit sprach sie gewaltig laut. Es klang für uns wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Opapa, in der Deckung des Zimmers angelangt, richtete sich ächzend auf und beschwor sie zu schweigen, indem er die Backen aufblies und den Finger auf den Mund legte.

Inzwischen war auch die Mama hinzugeeilt, in vorsichtigem Abstand gefolgt von Jakob, der sich nach der rauhen Abservierung damit begnügte, auf dem Teppich zu bleiben und dort einen Klecks hinzulegen.

Den beiden Frauen wurde inzwischen von Opapa der Situationsbericht gegeben. »Vor allem jetzt volle Deckung!« schloß er seine strategischen Anweisungen. »Wenn ihr sie sehen wollt — hier, vom Fenster aus geht’s gerade noch.«

Omama schob die Gardine zur Seite, die Mama sah ihr über die Schulter, und ich kletterte auf die Fensterbank und quetschte mich zwischen beiden durch. Wenn man sich die Nase plattdrückte und die Augen so weit nach rechts drehte, daß sie einem weh taten, konnte man gerade noch den Hut sehen.

»Um Gottes willen...«, flüsterte die Mama.

»Wir müssen die arme Frau warnen, sie brennt!« meinte die Omama.

»Wie ‘n Schleppdampfer auf der Spree!« fand ich und bekam prompt von der Mama eins hinter die Ohren.

»Schlage das Kind nicht, Trudchen«, meinte die Omama, »es gebraucht nur Vergleiche, und wenn sie nicht passend sind, muß man sie ihm erklären. In Güte, Trudchen, nur in Güte!«

Sie trat ins Zimmer zurück, maß ihren Gatten von oben bis unten: »Was soll nun werden, Max? Du mußt hinuntergehen und es ihr sagen!«

Opapa kratzte sich nachdenklich die Bartstoppeln: »Was meinst du, kostet der Hut?«

»Na, mindestens vierzig Mark!« meinte die Mama.

»Den bekommst du nicht unter fünfzig!« korrigierte Omama.

»An sich brennt er ja nicht direkt«, stellte Opapa fest, »er kohlt nur, es kann ‘ne ganze Weile dauern, bis es durch die Frisur durchkommt...«

»Max!« sagte Omama empört.

»Du... Opapa...«, flüsterte ich, »kann man an der Zigarre sehn, daß es deine Zigarre ist?«

Er dachte einen Augenblick nach: »... Nein, eigentlich nicht...«

»Wenn’s ‘rauskommt, was passiert lins dann?« flüsterte die Mama.

Omama schien noch zu wachsen. Dies war wieder eine Gelegenheit, ihre juristischen Kenntnisse zu zeigen (ein geflügeltes Wort von ihr war: Ich bin ein halber Rechtsanwalt):

»Es ist Körperverletzung«, erklärte sie feierlich, »bösartige Körperverletzung — günstigenfalls! Dazu Brandstiftung — das ist die strafrechtliche Seite. Dann der angerichtete Sachschaden, ein eventuell damit verbundener Nervenschock wäre zivilrechtlich einklagbar. Da du nicht vorbestraft bist, Max...«

»Nein, nein, nein«, stammelte die Mama, setzte sich auf die Fensterbank und schlug die Hände vor das Gesicht.

Ich klopfte Opapa tröstend auf den Arm: »Mach dir keine Sorgen, Opapa, ich besuch dich im Gefängnis. Der Graf von Monte Christo... der war viel länger drin! Im übrigen biste ja noch nich drin! Wenn man nämlich nich sieht, daß es deine Zigarre is, dann kann se ja auch von ‘nem andern Balkon ‘runtergefallen sein!«

Opapa packte mich an der Schulter: »Du hast recht, Junge... was meinst du, Paulchen?«

Omama wiegte zweifelnd den Kopf: »Wenn’s gerade niemand gesehen hat... aber der alte John von gegenüber, der auch diese Albernheiten macht wie du mit dem Feldstecher... und uns immer morgens ins Schlafzimmer sieht... es sollte mich doch wundern, wenn der nicht...«

Ich war inzwischen wieder auf die Fensterbank geklettert und stieß in diesem Augenblick einen Schrei aus: »Sie haut ab!«

Über mir quetschten sich drei Nasen an die Scheibe, und die Mama vergaß sogar, mich wegen des vulgären Ausdrucks zu rügen. Tatsächlich hatte der Hut unten seine Schaufensterinspektion beendet. Gott sei Dank war die Dame bei dieser Inspektion auch allein geblieben, so daß sie niemand auf die Vorgänge in ihrem Obergeschoß hätte aufmerksam machen können. Auch schien sie an Nasenverstopfung zu leiden oder den Gestank einer anderen Ursache zuzuschreiben, jedenfalls bog sie gewaltig dampfend um die Ecke auf die Hauptstraße und somit aus unserem Gesichtsfeld.

Ein paar unruhige Tage vergingen noch, an denen Opapa schon viel früher aufstand als sonst, hinter der Tür wartete und dem Boten die Zeitung aus der Hand riß, wenn er sie durch den Schlitz steckte. Er rannte dann in die Bibliothek, schlug die Lokalchronik auf und suchte mit verkniffenem Gesicht nach einer Notiz: »Bei lebendigem Leibe verbrannt« oder: »Bekannte Dame der Gesellschaft mit schweren Brandwunden in das Krankenhaus eingeliefert« oder: »Wer war der Täter? Bubenstreich gewissenloser Rohlinge verstümmelt berühmte Schauspielerin!«

Nichts dergleichen. Allmählich wagten wir wieder frei zu atmen und zu glauben, daß die Dame ein für allemal aus unserem Leben gedampft war, daß es keine Polizisten in unserer Wohnung geben würde und keine Verhandlung und keine Familienschande. Langsam fingen wir wieder an, uns honorig vorzukommen, und Opapa und ich trauten uns sogar, unter uns kleine Witzchen zu machen: »War das nicht großartig, Opapa«, fragte ich zum Beispiel, »wie die alte Fregatte mit Volldampf das Kap rundete?«

»Und die Weiber hatten sich schon wieder in die Hosen gemacht!« bemerkte er stolz aufgerichtet.

Ich stieß ihn an, aber die Mama, die in der Bibliothek nebenan Staub wischte, hatte es schon gehört: »Ihr solltet euch was schämen, besonders du, Papa, wie kannst du so zu dem Jungen sprechen! Er schnappt sowieso immer viel zuviel auf und hat gar keinen Respekt. Ihr hättet lieber auf Jakob aufpassen sollen!«

Jakob, der Initiant des ganzen Zwischenfalls, war in den nächsten Wochen von geradezu auffallender Artigkeit, so daß wir schon für seine Gesundheit zu fürchten begannen.

Aber fahren wir nun in der Schilderung des Tageslaufes fort. Gegen Abend machte Jakob noch einmal, was wir die >große Runde< nannten, das heißt, er inspizierte sämtliche Zimmer. Es fing an mit einem sehnsüchtigen Blick auf den Mehlwurmtopf. Dann kam das Klavier dran. Ich hatte es manchmal aufgeschlossen, schon lange, bevor Jakob zu uns kam, und hatte immer ein paar Akkorde angeschlagen. »Der Junge ist musikalisch!« hatte Omama daraufhin festgestellt, und zu mir gewandt: »Willst du vielleicht Klavierstunde haben?« Ich hatte entsetzt protestiert. Ich wollte ja gar keine Stücke spielen, nur diese paar Akkorde, und hören, wie sie verklangen. Jakob saß dabei auf der Tastatur, und wenn ein Akkord anklang und hinwegzog, bückte er sich und schien ihm in das Innere des Instruments nachzustarren, so, als ob er ihn sähe. Schlug ich eine Weile hintereinander Töne an, so wurde er müde und schlief ein, wo er saß oder stand. Vielleicht war es auch eine Art Versenkung, die ihn erfaßte, ich weiß es nicht.

Nach den Klavierübungen kam dann das Balustradenspiel an die Reihe. Im Eßzimmer gab es zwei Balustraden mit dicken Holzsäulen, die aus den Wänden wuchsen und am Ende je einen Blumentopf trugen. Die Mama sagte immer, sie seien ein Greuel, und man solle sie verheizen, aber Opapa ließ das nicht zu; er hatte sie nämlich von seinem Kriegerverein zum sechzigsten Geburtstag bekommen, wahrscheinlich weil ein anderer Krieger sie los sein wollte. Auch ich war ihnen feindlich gesinnt, vielleicht, weil ich ihre Geschmacklosigkeit schon innerlich empfand. Durch Jakob bekamen sie jedoch wie so vieles andere um uns herum, einen neuen Sinn. Er stellte sich auf die eine Seite einer Balustrade, und ich mußte auf allen vieren auf der anderen Seite kauern. Dann mußte ich in dem Raum zwischen zwei Säulen mit den Fingern kratzen, während er sich ganz lang und aufgerichtet hinter der Säule versteckte. Plötzlich schoß er dann vor und hackte nach mir. Derweilen griff ich um die andere Säule herum und versuchte, ihn am Schwanz zu ziehen. Es gab wilde Kämpfe rund um die Säulen herum, und das Ganze war ein Hauptspaß.

Von da ging es in die Bibliothek, wo die beiden Ritter standen und außerdem zwei mächtige Elchgeweihe aus der Wand herausragten. Jakob benutzte sie als Bäume, auf denen er herumturnte und von denen er seine Kleckse herunterfallen ließ. Da sie aus ziemlicher Höhe kamen, gab es ein richtiges Geräusch, wenn sie auf dem obersten Bücherbord aufschlugen, eine Quelle stets neuen Interesses für Jakob, der ihnen mit schiefem Kopf nachsah, als studiere er die Fallgesetze.

Dann ging es tip-tip-tip in den Salon, genannt die >Kalte Pracht<. Dort waren nur die Quasten an dem großen Rundsofa bemerkenswert. W’enn die Tür geöffnet wurde, bewegten sie sich im Zug, und das war für Jakob das Signal, den Kampf mit ihnen aufzunehmen. Er hatte sie alle schon einmal abmontiert, aber die Mama nähte sie immer wieder an, so daß es sozusagen eine Freude ohne Ende war.

Der Rundgang endete in Opapas Arbeitszimmer, in dem er nie arbeitete und in dem ein gewaltiger Schreibtisch stand, an dem er nie saß. Auf dem Schreibtisch aber gab es für Jakob eine ganze Menge interessanter Dinge, so zum Beispiel die Siegellackstange und das dazugehörige Petschaft, einen Brieföffner in Gestalt eines Schwertes, das aus einer gepanzerten Ritterfaust wuchs, und vor allen Dingen den Federreiniger, ein Glas mit bunten Glaskügelchen gefüllt. Erst hatte Jakob immer von außen gegen das Glas gepickt, dann aber hatte er sehr bald herausgefunden, daß mein es umwerfen müsse, um an die Kügelchen zu kommen. Und er warf um, mit Leidenschaft und bei jeder Gelegenheit. Die ganze Familie war schon mal über so einem Kügelchen ausgerutscht, nur ein Drittel war noch im Glas, die übrigen hatte Jakob verschleppt. Man fand sie gelegentlich in einer seiner Schatzkammern, aber leider nicht nur da. Auf ungeklärte Weise hatten sie zum Beispiel auch einmal den Weg in einen Kuchenteig gefunden, und Opapa biß sich eine Krone daran aus.

Nach dem Kügelchenspiel zog sich Jakob meist zwecks Meditationen in seine Privatgemächer zurück und machte den Riegel hinter sich zu.

Das Abendessen kam. Die Familie saß um den Tisch und kaute unter dem bullernden Gaslicht ihre spartanischen Schnitten. Welch ein Unterschied aber gegen früher! Die Eintönigkeit des Menüs bedrückte mich überhaupt nicht mehr. Wie auf Verabredung schwiegen wir alle zu Beginn des Essens wie die Trappistenmönche und lauschten. Wir brauchten nicht lange zu warten. Mit dem sechsten Sinn eines Haustieres für die menschliche Essensfolge wußte Jakob, was die Stunde geschlagen hatte. Wir hörten es in der Küche flattern: er hatte also die Bauertür aufgemacht und war auf dem Boden gelandet. Und dann kamen tip-tip-tip die kleinen Krallenfüßchen den langen dunklen Flur entlang. Pause. Jetzt — wußten wir — bückte er sich und sah unten durch die Türritze. Dann klopfte es sehr energisch gegen das Holz. Ich stand auf, öffnete, und herein im Hüpfetritt flatterte Jakob. Er war im Nu auf meiner Stuhllehne, von der übrigen Familie mit einem feierlichen »Ah!« begrüßt. Er wartete, bis ich mich wieder hingesetzt hatte, sprang dann auf meine Schulter und übersah von dort aus den Abendbrottisch wie ein Feldherr das Schlachtfeld. Vom Tisch selbst wurde er wegen der Kleckserei und »überhaupt aus hygienischen Gründen«, wie Ömama sich — für mich völlig unverständlich — ausdrückte, ferngehalten, bekam aber von jedem etwas angeboten. Jakob aber, aus Kenntnis des eigenen, zur Unterschlagung neigenden Charakters mißtrauisch, begnügte sich sehr oft nicht damit. Dann machte er eine Kletterpartie auf meinen Schlips, krallte sich dort fest, steckte mir den Schnabel in den Mund und sperrte ihn auf, auf diese Weise mein Innenleben daraufhin inspizierend, ob ich vielleicht irgend etwas gegessen hatte, was ihm vorenthalten wurde. Opapa nannte das Ganze eine »Schweinerei«, aber seinem Protest fehlte die nötige Wucht, und sehr bald siegte die allgemeine Heiterkeit. Opapa pflegte dann kopfschüttelnd zu sagen: »Jakob, du bist doch ein Nonplusultra!« Jakob hatte sich diese Bezeichnung mehrfach nachdenklich angehört und reproduzierte sie eines Tages leicht beschädigt als >Ultrus pultrus<, was Opapas helles Entzücken erregte.

Ehe man es sich versah, war das Essen vorbei, der Tisch wurde abgeräumt, und wenn man nicht las, wurde wie früher ein Gesellschaftsspiel hervorgeholt. Es gab Kartenspiele, ferner eine Art Roulett, wobei gewaltige Mengen von Spielmarken in Form nachgemachter Goldstücke ausgezählt wurden, und schließlich ein Spiel, bei dem kleine bunte Plättchen mit Hilfe eines größeren Plättchens in einen Holztopf geknipst wurden. Wer seine Plättchen zuerst alle im Topf hatte, war Sieger. Wir kannten diese Spiele alle schon in- und auswendig, und die einzige Belebung darin war mitunter ein Streit zwischen Omama und Opapa. Opapa behauptete, daß Omama mogele, während sie ihrerseits darauf bestand, daß er farbenblind sei und sich doch mal untersuchen lassen müsse. Jetzt aber kam Schwung in die Sache, denn Jakob spielte mit! Extra seinetwegen wurde eine Wachstuchdecke angeschafft, von der man die Kleckse leicht abwischen konnte. Auf diese Weise war es möglich, ihn auf den Tisch zu setzen. Er marschierte dort gewichtig hin und her, riß uns beim Kartenspiel einen ängstlich gehüteten Trumpf aus der Hand oder nahm gerade das letzte der Plättchen fort, das man in den Topf hatte knipsen wollen. Auch hatte er ein ausgesprochenes Vergnügen daran, sich auf den Rand des Rouletts zu setzen und im entscheidenden Augenblick die Kugel zu klauen. Die Familie nahm ihm das nicht übel, jedenfalls hatte er immer fünfundsiebzig Prozent von ihr hinter sich, da sich nur der von seinem Eingriff Betroffene ärgerte, während die anderen drei vor Vergnügen kreischten.

Anschließend spielte die Familie dann gewöhnlich noch eine Runde >Ärgern<. Dieses Spiel bestand darin, daß derjenige dem Jakob den Rücken zuwandte, ihn leicht am Schwanz ziepte. Jakob schoß wie eine Natter herum und fuhr mit Basiliskenblick auf den Sünder los. Bevor er ihn aber erreichen konnte, zupfte ihn schon ein anderer gegenüber, und so schoß er wie ein angestochener Eber fauchend über den Tisch hin und her, bis die Familie vor Lachen erschöpft war. Jakob war dann noch lange nicht müde. Er marschierte noch eine Weile vom einen zum andern und hielt provozierend sein gefiedertes Hinterteil hin.

Inzwischen aber war man noch ein bißchen zur Lektüre übergegangen. Omama las, sich von Zeit zu Zeit gewaltig räuspernd, die Zeitung, wobei es passieren konnte, daß plötzlich vor ihren Augen der Zeitungsbogen zerriß und in der Öffnung Jakobs frecher Kopf erschien. Ihr Gesicht verzog sich dann zu einem gütigen Lächeln, sie kraulte ihn und sagte: »Jaköbchen, ich glaube, wir gehen ins Bett!«

Daraufhin verzog sich Jakob sofort auf meine Stuhllehne, denn er hatte wie alle Kinder das Bestreben, möglichst lange bei den Erwachsenen zu bleiben, aus Angst, daß er etwas versäume. Auf der Lehne sitzend, überkam ihn aber dann doch die Ermüdung vom Spiel, und sehr bald sah man dort nur noch das übliche kopflose, einbeinige Vogel-Fragment, bis der allgemeine Aufbruch erfolgte. Ich tippte Jakob an, worauf er zunächst den Kopf herausholte, in das Licht blinzelte und dann sehr unwillig die heiße zweite Pfote aus dem Bauchgefieder holte und auf meine Hand setzte. Ich trug ihn den langen Flur hinunter in die Küche, gab ihm einen Kuß auf das glatte Köpfchen, steckte ihn in das Bauer und deckte ihn zu: »Gute Nacht, Jakob!« sagte ich zärtlich.

»Gunachjakob...«, kam eine schläfrig-knarrende Stimme zurück. Und dann lag wieder ein Tag auf unserer gemeinsamen Lebensreise hinter uns.