FRANZ

Am nächsten Nachmittag kam Franz. Er trug immer den gleichen, an den Ellenbogen und am Hosenboden blank gescheuerten Anzug, war ein Jahr älter als ich, ebenso groß, aber breitschultriger und hatte runde, braune, immer etwas erstaunte Augen. Ich saß noch an meinen Schularbeiten, als ich ihn — zehn Minuten früher als eingeladen — kommen hörte. Ich konstatierte das an Hand der Taschenuhr, die ich zum Geburtstag bekommen hatte. Es war Opapas Einsegnungsuhr, und sie wurde mit einem Schlüssel aufgezogen, wozu man den äußeren Deckel mit dem Fingernagel aufbrechen mußte. Meist brach der Nagel dabei ab. Wenn man dann die Nagelschere nahm, hatte man sie bald im Finger.

Gleich darauf stand Franz neben meinem Pult: »Tag, Hänschen! Gibt’s heute Eier?«

»Klar, Mensch. Du, hör mal, bei euch in der Realschule hat man doch viel mehr Mathematik als bei uns im Gymnasium.«

Er streckte die Hand nach meinem Heft aus: »Gib schon her!«

In zehn Minuten löste er die Aufgabe, an der ich seit einer Stunde gesessen hatte.

»Hast du’s nun verstanden?« fragte er, nachdem er mir alles in seiner sauberen kleinen Handschrift vorgeschrieben hatte.

»Keine Ahnung!« Und dabei seufzte ich tief, während ich seine Formeln mit meiner Sauklaue in das Heft übertrug.

»Aber wenn du doch Offizier werden willst, mußt du doch Mathematik können!« meinte Franz ängstlich.

»Ach, Scheiße!« sagte ich weltmännisch. Das sagten immer die drei Großen in meiner Klasse, die schon zweimal sitzengeblieben waren, Ringe unter den Augen hatten und sich Bilder ansahen, die der eine von zu Hause mitbrachte und die sie uns Jüngeren nicht zeigten, weil sie >nichts für Hosenkacker< seien.

Franz schwieg erschüttert. Die Mama steckte den Kopf zur Tür herein: »Es ist angerichtet!« Franz wirbelte auf der Hinterhand herum und war wie ein geölter Blitz im Eßzimmer nebenan. Dort vertieften wir uns in unseren Kakao und in ein Gebirge von Zuckerhörnchen und Sahnerollen, die auf einem Fundament einfacherer Fünf-Pfennig-Stücke ohne Füllung ruhten. Franz trug zwei Drittel davon im Handumdrehen ab. Auch das Fundament, aus dem ich mir nichts machte, weil es einem beim Lachen immer in die Kehle kam und man dann husten mußte.

»Du...«, sagte Franz, nachdem er den letzten Streuselkuchen mit hervorquellenden Augen hinuntergewürgt hatte, »ich hab ‘n Hund!«

»Wa...?« Mir blieb der Mund offen.

»Harras heißt er.«

»Ansehn, Mensch!« Und schon war ich auf, ‘raus auf den Flur, die Mütze vom Haken gerissen. »Wo wollt ihr denn hin?« fragte Valeska, die ich beinahe umrannte, als sie mit dem Tablett kam, um den Tisch abzuräumen.

»Hund ansehn. Franz hat ‘n Hund. Nu komm schon, Mensch!«

Franz, der noch unter der Kuchenfülle wankte, hatte sich mit seinen Kulleraugen an Valeska festgesaugt: »Gibt’s auch bestimmt Eier, Fräulein Valeska?«

Der Titel >Fräulein< ließ ihr mürrisches Gesicht erstrahlen: »Harte, mit Sardellen drauf!«

»Au Backe!« sagte er und rutschte das Treppengeländer herunter.

Ich schleppte ihn zwei Ecken weiter, tobte durch den Friseurladen in das dunkle Hinterzimmer, dessen einziges Fenster auf einen engen Hofschacht mündete. Und dort kam uns Harras entgegen, ein schwarzer Riesenschnauzer, fast so hoch wie ich. Er hatte große, runde braune Augen wie Franz, setzte sich auf Kommando hin, gab die Pfote und leckte mir über das Gesicht, als ich ihm um den Hals fiel.

Frau Heinke, Franzens Mutter, kam aus dem Laden: »Gefällt er dir, Hänschen?«

Ich ließ kein Auge von Harras: »Ach, ist der schön! Gehört der euch?«

»Nein, ein Kunde hat ihn uns in Pension gegeben, auf drei Monate, weil er ins Ausland reisen mußte.«

Franz errötete. Wahrscheinlich, weil er ihn als sein Eigentum ausgegeben hatte.

»Wirste wenigstens weinen, wenn er wieder wegkommt?« fragte ich.

»Bestimmt!«

»Ich würd’ auch! Und was der für Pfoten hat... Und die Zähne... Mensch, wie ‘n Wolf. Der wird mit ‘m Bären fertig, wenn man ihn mit auf die Jagd nimmt, glaubste?«

»Klar.«

Ich mußte ihn immer ansehen. Das war es, was mir fehlte! Ein eigener Hund, mit dem man spielen und jagen und dem man alles erzählen konnte und der immer nett und dankbar war. Ein eigenes Tier, das einem ganz allein gehörte!

Wir gingen mit ihm spazieren. Ich führte ihn, und er riß mich fast um, wenn er an einen Baum wollte, so viel Kraft hatte der. Schließlich mußte ich ihn schweren Herzens zurückbringen. Franz wurde unruhig, wegen des Abendbrotes.

Vor dem Essen spielten wir noch schnell eine Runde Trapper und Indianer, wobei es Franzens Hauptaufgabe war, diverse Indianerleichen darzustellen. Er befand sich auf diese Weise meist in horizontaler Lage, was ihm im Hinblick auf die innere Verarbeitung der Kuchenmenge nicht unangenehm zu sein schien. Als Belohnung für so viel willig ertragene Niederlagen war er dann gleichberechtigter Partner in unserer Glanznummer >Nacht im Zelt<. Das Zelt bestand aus vier hochlehnigen Stühlen, die wir mit den Rücken gegeneinanderstellten und mit Decken überhängten. Der Proviant wurde der Familie geraubt, die vor unseren drohenden Pistolenmündungen gehorsam die Hände hob. Unsere Beute, darunter die harten Eier, in Scheiben geschnitten und mit Sardellen dekoriert, schleppten wir in unseren Schlupfwinkel, wo wir sie siegestrunken und mit lautem Schmatzen auffraßen. Die sonst verpönten Eßgeräusche wurden ausnahmsweise zugelassen, nachdem ich Opapa aus Karl May bewiesen hatte, daß ein echter Trapper zum Beispiel seine Suppe mit dem >Geräusch eines verendenden Büffels< schlürfe.

Nach dem Abendessen wurde Franz total stumpfsinnig. Er legte sich in meinem Zimmer auf das Sofa und massierte seinen Magen. Mir war das nur recht, denn so konnte ich in Ruhe an Harras denken. Meine Phantasie ging wie üblich auf Hochtouren, und ich sah mich mit allen erdenklichen Hunderassen durch Wälder streifen, jagen und Seite an Seite mit ihnen am Lagerfeuer rasten.

»Neun Uhr!« sagte die Mama, den Kopf zur Tür hereinsteckend. »Was ist denn hier los? Man hört euch ja gar nicht!«

Franz richtete sich auf und erklärte, nun ginge es schon wieder. Ich verabschiedete ihn zerstreut.

Beim Gutenachtkuß hielt ich die Mama fest: »Kost’ ‘n Hund viel?«

»Wieso, willst du etwa einen haben?«

»Ach, Mammi, er hat ganz runde braune Augen und gibt die Pfote, und wenn Einbrecher kommen, bringt er sie einfach um. Du fürchtest dich doch immer so!«

»Ja, wer denn?«

»Na, der Harras, den Franz jetzt in Pension hat.«

»Aber der gehört doch einem anderen. Den kann man doch nicht kaufen!«

»Natürlich nicht. Aber so ‘nen ähnlichen. Vielleicht noch ‘n bißchen größer.«

Sie strich mir über den Kopf: »Du glaubst doch nicht, daß Opapa das erlaubt.«

»Und wenn ich ihn nun richtig bitte?«

»Laß das, du ärgerst ihn nur.«

Den ganzen nächsten Tag dachte ich nach. Am Abend, als Opapa in der Sofaecke saß und eine Zigarre rauchte, kletterte ich ihm wie vor langer Zeit, als ich noch ein kleiner Junge war, auf die Knie.

»Na, Herr General«, sagte er, »worum handelt sich’s denn?«

»Du, Opapa... ich muß dich mal was fragen.«

»??«

»Du hast doch gesagt, Onkel Gustl (Tante Jennys Mann und Oberförster, mit dem sich Opapa sehr gut verstand) ist ‘n feiner Kerl.«

»Ja — natürlich.«

»Ich finde auch, daß Onkel Gustl ‘n feiner Kerl is. Ich möchte eigentlich lieber Förster werden als Offizier.«

»Nanu?«

»Ach, weißt du, im Wald ist es eigentlich viel schöner als auf dem Kasernenhof. Und außerdem, wenn ich so viel im Wald ‘rumgehen muß wie Onkel Gustl, kriege ich vielleicht auch so schöne dicke Waden wie er, und es sagt niemand mehr >Storchbein< zu mir.«

Opapa räusperte sich: »Natürlich nicht, mein Junge, natürlich nicht.«

Die Mama stopfte Strümpfe und schnitt einen Faden ab. Sie machte einen schuldbewußten Eindruck, vielleicht, weil ich von ihr die dünnen Beine geerbt hatte. Die Omama hatte die Zeitung sinken lassen und sagte: »Wenn du erst lange Hosen trägst, Hänschen, sieht man’s nicht mehr.«

Diese Bemerkung paßte gar nicht in meinen Feldzugsplan, und ich ignorierte sie deshalb. »Ein Förster«, sagte ich und schmiegte mich an Opapas Stoppelbart, »muß natürlich auch einen Hund haben.«

»Natürlich...«, sagte Opapa vorsichtig, »...wenn er erst Förster ist!«

»Ich könnte mich ja schon immer üben. Opa... ich... ich... möchte einen Hund!«

Opapa lachte: »Das war aber ein erstklassiges Umgehungsmanöver, Herr General. Schlag dir das aus dem Kopf. Ein Hund bedeutet Unordnung, Unsauberkeit und Aufregung. Außerdem soll man ihn nicht in einer Stadtwohnung halten. Erst wenn du Förster bist...«

Ich fühlte, wie mir die Tränen in die Augen traten, verabschiedete mich und ging zu Bett, zum Bersten voll von Unverstandenheit. Ach, war das schön, sich selbst so furchtbar leid zu hm.

Nebenan hörte ich Omama sagen: »Das Kind ist einsam, Max!«

»Aber Paulchen... ein Hund!«

»Es muß ja nicht ein Hund sein...«

Dann sprachen sie leiser, und ich konnte nichts mehr verstehen. Es interessierte mich auch nicht. Wenn es nicht ein Hund war, so einer wie Harras, war mir alles egal.

Als ich auch in den nächsten Tagen Zeichen tiefer Melancholie zeigte, kam der Familienrat zu einer Kompromißlösung. Es war eine Schildkröte, die ich mir in der Tierhandlung aussuchen durfte. Ich nahm sie gehorsam an und versuchte, meine unbenutzte Liebe zur Kreatur auf sie zu übertragen. Das Ergebnis war kümmerlich. Wilhelmine, wie sie getauft wurde, gab sich meist im Inneren ihres Gehäuses Meditationen hin. Ab und zu wandelte sie mal ein paar Meter oder sie schob auch ihren Schlangenkopf mit dem Faltenhals heraus und fraß gnädig ein Salatblatt. Sehr bald aber wurde sie gänzlich trübsinnig, und eines Tages kroch ihr eine dicke Made aus dem Leib. Das Gehäuse wurde in dem kleinen, schwindsüchtigen Garten auf dem Hof beigesetzt, und ich bemühte mich vergeblich, eine Träne zu produzieren. Meine Sehnsucht nach einem Tier blieb weiterhin ungestillt.