Von all den Hotelbars in Bath hatte sich Boris Morris ausgerechnet die des Green River ausgesucht! Das war vielleicht ein glücklicher Zufall! War er Mr North? Honey brannte darauf, das herauszufinden. Irgendjemand strich einen netten kleinen Nebenverdienst damit ein, dass er reiche und berühmte Leute in kompromittierende Situationen brachte. Morris stand nicht ganz oben auf ihrer Liste von Verdächtigen, aber auch nicht ganz unten.
Der Regisseur mit dem Pferdeschwanz hatte ziemlich gebechert – laut Lindsey eine halbe Flasche Jameson Irish Whiskey in dreißig Minuten.
»Er tut sich schrecklich leid«, fügte Lindsey noch hinzu.
Honey strahlte sie an. »Was für ein phantastischer Zufall! Aber he, einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul, genauso wenig einem Mordverdächtigen, der gerade seine Sorgen in irischem Whiskey ertränkt.«
Lindsey zupfte an den drei Ringen, die an ihrem rechten Ohrläppchen baumelten. Normalerweise beteiligte sie sich nicht aktiv an der Detektivarbeit ihrer Mutter, aber sie interessierte sich schon dafür. »Ist er der Hauptverdächtige?«
»So hauptverdächtig wie alle anderen auf Dohertys Liste«, antwortete Honey. »Da stehen etwa acht Leute drauf, glaube ich, vielleicht auch ein paar mehr. Aber wir können genauso gut mit Boris Morris anfangen. Kann er sich noch aufrecht halten und in halbwegs sinnvollen Sätzen reden?«
»Absolut. Ich glaube, er ist ein alter Kneipengänger. Er säuft wie ein Loch und jammert über sein hartes Leben.«
Honey schloss die Augen und dankte dem Schicksal, dass er seine Schritte in ihre Bar gelenkt hatte. Sie stand auf.
»Okay! Wenn er jemandem sein Leid klagen will, ich bin ganz Ohr.«
Boris Morris sollte glauben, dass man ihm Anteilnahme entgegenbrachte, während er doch nach allen Regeln der Kunst ausgehorcht wurde.
Honey trat in die Bar und sah den blassen Regisseur, der gerade einen irischen Whiskey in einem Zug hinunterkippte. Er trug Jeans total: Jeanshose, Jeanshemd, Jeansjacke. Im Frühjahr völlig angebracht, aber für Februar ein bisschen kühl.
Er bestellte noch einen Whiskey.
Honey nickte dem Barmann zu. »Diesen Herrn bediene ich«, sagte sie so leise, dass Boris es nicht hören konnte.
Dankbar trat der Barmann ein paar Schritte zur Seite. Er hatte sich die Leidensgeschichte lange genug angehört.
»Einfach oder doppelt?«, erkundigte sich Honey bei dem ziemlich angeheiterten Regisseur. Der hob den Blick von seinem Glas und schaute sie aus zusammengekniffenen Augen an.
»Sie sind eine Frau.«
»Und Sie müssen ein Genie sein.«
Sarkasmus war an ihn verschwendet. Er linste ins Glas, als versuchte er, den Grund eines sehr tiefen Brunnens zu erspähen.
»Es ist dieses irische Gesöff. Davon kriegt man schon den Katzenjammer, wenn alles richtig gut läuft.«
»Wirklich?«
Nachdem er noch einmal an seinem Glas genippt hatte, linste er sie an. »Kenne ich Sie? Hatten Sie nicht mal eine Rolle in einem Film mit Stallone?«
»Na klar doch, ich habe einen Hydranten gespielt.«
»Echt? Waren Sie nackt?«
Was hatte der denn verstanden?
»So nackt, wie ein Hydrant nur sein kann«, erwiderte Honey. Einfach würde diese Unterredung nicht werden. Sie schenkte sich einen Wodka mit Tonic ein. »Es war nicht mal eine Komparsenrolle. Eher eine Art Stehrolle.«
Er nickte, als hätte sie etwas Sinnvolles gesagt. Diese Bewegung sah aus, als würde er wie eine Marionette von oben an Fäden geführt.
»Möchten Sie in meinem Film mitspielen?«, nuschelte er.
»Klar, warum nicht?«, antwortete Honey und nahm einen kräftigen Schluck von ihrem Drink. »Können Sie einen großen Star aus mir machen?«
»Sicher doch«, erwiderte er und verschüttete Whiskey aus dem Glas, das er umklammert hielt. »Jeder kann ein Star werden, wenn er die Sache nur richtig anpackt. Selbst die hässlichste Schreckschraube. Selbst die hübscheste Idiotin und der größte Hohlkopf.«
Honey war schlau genug, sich nicht zu erkundigen, in welche Kategorie sie wohl gehörte. In keine der drei, hoffte sie.
»Sie müssen mir aber verraten, was mich da erwartet«, meinte sie. »Ich kenne mich in der Filmwelt überhaupt nicht aus.«
Das stimmte nicht ganz. Schließlich hatte sie schon seit zwei Wochen ein ganzes Team von Kameraleuten und Toningenieuren in ihrem Hotel wohnen. Und sie hatte auch ein paar alte Freunde in der Branche – einige hatten es in der Filmindustrie weit gebracht, aber niemand bis ganz nach oben.
»Das Aussehen hätten Sie ja«, meinte er und tätschelte ihr die Hand. »Jammerschade, dass Sie so dralle Formen haben.«
Honey biss die Zähne zusammen. »Wie reizend von Ihnen.«
»Keine Ursache.«
»Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, dass Sie mit dieser Frisur total bescheuert aussehen?«
»Wie …?« Er lallte und schaute sie aus seinen Triefaugen verschwommen an.
»Ich habe gesagt, dass Ihr Haar so schön lang und glänzend ist. Was benutzen Sie, Margarine oder Schmierfett?«
Das Thema Haar – beziehungsweise Mangel an Haar – schien ihn zu berühren.
»Ich kann das nicht leiden«, nuschelte er und fuhr sich über die Glatze.
»Schneiden Sie den Pferdeschwanz ab.«
»Sie meinen, ich sollte mir den Pferdeschwanz abschneiden lassen? Penelope findet das auch.«
»Gute Idee.«
»Ich glaube trotzdem nicht, dass ich es mache«, sagte er und schüttelte den Kopf.
»Wie viele Leute wollten Martyna Manderley umbringen?«
Er lachte und bestellte sich noch einen Drink. »Alle!«
»Und Sheherezade Parker-Henson?«
Er neigte sich zu ihr herüber und flüsterte: »Die war ’ne Lesbe.«
Honey verkniff sich eine sarkastische Bemerkung.
»Merkwürdig eigentlich«, fuhr er nachdenklich fort. »Alle mochten sie gern. Die hat wenigstens Martyna immer wieder mal zurechtgestutzt.«
Gegen Sheherezade hatte er also nichts gehabt. Das heißt nicht, dass er nichts mit dem Mord an Martyna Manderley zu tun hat, ermahnte sich Honey. Bei dem Mord an der Maskenbildnerin konnte es ja um etwas ganz anderes gehen – auch wenn sie das nicht für wahrscheinlich hielt. Man musste die Möglichkeit in Erwägung ziehen, dass sie etwas über den Mord an Martyna gewusst hat. In Martynas Fall waren zudem noch höhere Beträge im Spiel. Boris war da sicherlich besser informiert, als er zugeben wollte. Das konnte sie nur auf eine Weise herausfinden. Fragen stellen bis zum Abwinken – oder bis Boris Morris umkippte.
»Sie kennen sich ja total gut aus im Filmgeschäft.« Es war ihr egal, dass ihr Lächeln bestimmt ein bisschen gezwungen wirkte. Boris war schon so weit hinüber, dass er es nicht merken würde, wenn eine gewisse Wärme fehlte.
Volltreffer! Boris äußerte sich liebend gern zu diesem Thema. Er erging sich lang und breit über Rechte, Versicherungen, Stars und Regisseure. Er verriet ihr, dass er die meisten Leute im Filmgeschäft für Vampire hielt.
»Blutsauger! Alle Blutsauger!«
»Ach!«, antwortete Honey ganz süß und mild. »Wieso sagen Sie denn so was?«
Aus dem Augenwinkel konnte sie am anderen Ende der Bar Lindsey ausmachen. Sie stand mit Alex, dem Barmann, da. Alex schaute verdutzt. Lindsey schnitt Honey eine Grimasse und verdrehte die Augen.
Honey gab diesen Blick zurück. Na gut, dann benahm sie sich eben wie eine Debütantin auf dem Collegeball. Ihr war das egal. Hauptsache, es funktionierte.
Boris begann alle Blutsauger aufzuzählen, die er je gekannt hatte; und Graf Dracula war nicht einmal dabei. Im Vergleich zu den echten Vampiren, die man beim Film kennenlernt, war der wahrscheinlich das reinste Weichei.
Honey nickte an den richtigen Stellen und schaffte es schließlich, seinen Wortschwall zu unterbrechen.
»Und was ist mit dem Film, den Sie gerade in Bath gedreht haben? War das auch so schlimm? Ich meine, wollten die Leute, die hinter dem Ganzen stehen, auch nur ihren Schnitt machen?«
Boris lächelte hämisch, ehe er einen weiteren Whiskey herunterkippte.
»Die waren sogar noch schlimmer. Alles, was Brett Coleridge will, das kriegt Brett Coleridge auch. Das hier war durch und durch sein Film. Dem hat alles gehört: der Star, das Drehbuch – wo man hinkam, hat er das Kommando geführt.«
Honey lehnte den Ellbogen auf die Bar und stützte ihr Kinn mit einer Hand. Sie schaute tief in die blassblauen Augen, die über den aufgedunsenen Backen in einem Meer aus Alkohol schwammen. Körperlich war Boris Morris genauso aus den Fugen geraten wie seelisch.
Auf ihrer Liste hatte sie ganz oben vermerkt, dass man einen Film auch gegen die Einstellung der Dreharbeiten versichern konnte. Los, mach schon weiter, ermunterte sie sich.
»Und wie war das mit den Finanzen?«
Boris schnaubte. Außerdem bestellte er noch einen Doppelten. Alex, der Barmann, stieg in den Keller, um eine neue Flasche zu holen.
Auf Wogen von irischem Whiskey getragen, plapperte Boris fröhlich weiter. »Das Geld kam auch von ihm und aus anderen Quellen – habe ich jedenfalls gehört. Er hat es nicht allein hingekriegt, also hat er mit ein paar anderen eine Gesellschaft gegründet.«
»Berühmte Leute dabei?«
»Außer seiner Verlobten, meinen Sie?«
Ja, das hätte sie gemeint, antwortete sie.
Er schüttelte den Kopf. »Keine berühmten Leute. Jedenfalls in diesem Land nicht.«
»Ausländer?«
Er nickte. Die Anstrengung schien seinen Hals zu beeinträchtigen. Sein Kopf begann nach unten zu sinken. Die Beine gaben unter ihm nach.
»Nur weil ein Hufnagel fehlte, ging das ganze Königreich verloren«, murmelte er.
Honey kannte den Reim1. Sie nahm an, dass seine Gedanken abgeschweift waren. Sein Hirn hatte nach all dem Whiskey auch eine kleine Erholung verdient.
Lindsey und Alex fingen ihn auf, ehe er auf dem Boden aufschlagen konnte.
Eine Gruppe polnischer Touristen schaute lächelnd auf den liegenden Mann und blickte einander an, während Boris aus der Bar geschleift wurde.
Honey ging hinterher. »Bringt ihn in Zimmer eins.«
Zimmer eins war das Zimmer im Erdgeschoss, das vom Personal benutzt wurde, wenn jemand es aus irgendeinem Grund nicht nach Hause schaffte. Im Falle des Chefkochs Smudger war daran meist ein B52 zu viel schuld. Es war keine schlechte Idee, einen Cocktail nach einem Bomber aus dem Zweiten Weltkrieg zu benennen; treffender hätte man das Gesöff jedoch nach dem Flugzeugtreibstoff getauft.
Boris grummelte vor sich hin, während sie ihn zum Bett schleppten. Zu dritt schafften sie es, ihn dort hineinzuhieven. Honey übernahm die Beine. Sie packte seine Knöchel ganz fest und hob sie auf die Bettdecke.
Sie schaute ihn verwundert an. Was wusste er? Wusste er überhaupt irgendwas?
Eines war sicher. Er war völlig hinüber.
»Ich denke, er hatte schon einiges intus, als er hier ankam«, meinte Lindsey. »Sorgen ertränken im großen Stil.«
Ob er sie gehört hatte oder nicht, wusste Honey nicht. Doch plötzlich riss er die Augen auf.
»Das war meins! Meins ganz allein!«, lallte er.
Dann klappten seine Augen wie der Verschluss einer Kamera so schnell wieder zu, wie er sie aufgerissen hatte.
»Was hat er denn damit gemeint?«, wollte Lindsey wissen.
Honey zuckte die Achseln. »Keine Ahnung.«
Selbst wenn es wichtig gewesen wäre, heute Abend hatten sie keine Chance mehr, eine Antwort zu bekommen. Boris Morris war in einem alkoholischen Nebel versunken, und morgen früh würde er mit höllischen Kopfschmerzen aufwachen.