»Hier, da hast du es zurück!«
Gloria Cross pfefferte das Satin-Korsett mit Schwung auf das Sofa in Honeys Wohnzimmer. Honeys Wohnung war in dem alten Kutscherhäuschen hinter dem Hotel untergebracht. Sie hatte das Häuschen etwas ungewöhnlich aufgeteilt: Wegen der schönen Aussicht war das Wohnzimmer im Obergeschoss, das Schlafzimmer unten.
Honey betrachtete ihre Mutter mit einer Spur Neid und reichlich Misstrauen. Gloria Cross sah stets aus wie aus dem Ei gepellt, nie lag auch nur ein Haar am falschen Platz, immer war sie makellos geschminkt und in teure Klamotten gekleidet. Außerdem war sie noch immer ziemlich scharf auf das starke Geschlecht. Mit dem Korsett hatte sie einen potenziellen Verehrer aus dem Conservative Club begeistern wollen.
»Und? Ist er deinen Reizen erlegen, Mutter?«
»In gewisser Weise kann man das sagen. Das alles hat seinen Puls etwas zu sehr beschleunigt. Mein Anblick in dieser Spitzenkreation, plus eine Pille, die er zuvor genommen hatte, und das war’s dann.«
Honey vermutete, dass es sich bei der Pille um Viagra gehandelt hatte, das er über das Internet erworben hatte.
»Und? Wie hat er sich geschlagen?«
Ihre Mutter verzog das Gesicht. Sie kaute verlegen auf ihrer aprikosenfarben geschminkten Unterlippe herum.
»Gar nicht hat er sich geschlagen. Er ist tot umgefallen. Sein Herz hat nicht mehr mitgemacht. Nächsten Donnerstag wird er beerdigt. Das passt mir gar nicht. Da habe ich meine Literaturgruppe. Ich habe dir doch schon erzählt, dass ich ein Stück geschrieben habe?«
»Ja, hast du.« Honey war sich nicht sicher, ob das stimmte, aber das wollte sie auf gar keinen Fall zugeben.
»Ich möchte, dass meine Familie mich unterstützt, wenn mein Werk vorgelesen wird. Ich bin sicher, dass es euch gefallen wird«, zwitscherte ihre Mutter fröhlich. »Ich habe Lindsey schon davon erzählt.« Sie hielt inne, um nachzugrübeln, einen rotlackierten Fingernagel dekorativ ans Kinn gelegt. »Ich schaffe es vielleicht gerade noch, zur Beerdigung zu gehen, zum anschließenden Leichenschmaus wohl eher nicht. Dann hätte ich Zeit, mich auf die Lesung vorzubereiten. Ich muss zuvor noch einiges umschreiben und überprüfen, ob alles in Ordnung ist.«
»Nachdem du auf der Beerdigung so viele traurige Kirchenlieder gesungen hast, bist du vielleicht gar nicht mehr bei Stimme«, meinte Honey.
Gloria schaute ihre Tochter von oben herab an.
»Ich lese doch mein Stück nicht selbst vor! Ich bin die Autorin. Ein Schauspieler liest. Jemand, der weiß, wie man das Meiste aus einem Werk herausholt.«
»Oh, wie konnte ich nur so dumm sein!«
Ihre Mutter war bereits beim nächsten Thema.
»Morgen muss ich wieder beim Dreh des Jane-Austen-Films erscheinen. Ich habe eine wichtige Rolle in einer Massenszene.«
»Mülleimer oder Parkuhr?«
»Wie bitte?«
»Ach, nichts«, antwortete Honey. »Ich habe nur überlegt, ob ich morgen früh den Müll rausstellen soll und ob vielleicht ein paar unserer Gäste den Wagen im Parkverbot abgestellt haben.«
Nun begann ihre Mutter, haarklein zu berichten, wo ihrer Meinung nach den Filmemachern grobe Schnitzer unterliefen, dass der Hauptdarsteller ein Furunkel hinter dem rechten Ohr hatte, dass sich aber die Mädels von der Maske bestens darum gekümmert hätten. Sie plapperte immer noch munter weiter, als Honey zu gähnen begann.
»Honey, du solltest wirklich regelmäßig ein Mittagsschläfchen machen.«
Honey riss die Augen auf. »Ich sollte was machen?«
»Ich bin dann mal weg«, sagte ihre Mutter und sprang blitzschnell auf. Vielmehr: blitzschnell für eine Frau Anfang siebzig! »Ich jedenfalls habe darauf geachtet, heute Nachmittag mein Nickerchen zu machen.«
»Das solltest du in deinem Alter auch«, erwiderte Honey, die ihrerseits aufgestanden war.
Sie überlegte gerade, dass sie vielleicht einmal früher ins Bett käme, falls sie es schaffte, ihre Mutter loszuwerden, die Bar zu schließen und alle anderen dorthin zu schicken, wo sie hingehörten.
Ihre Mutter blieb an der Doppeltür stehen, die den Hotelempfang von der großen, weiten Welt draußen trennte.
»Audrey Hepburn hat jeden Tag ein Mittagsschläfchen gemacht. Sie meinte, deswegen wären ihre Augen so strahlend geblieben. Genau wie meine.«
Honey gönnte sich noch ein paar Drinks mit der Filmcrew, ehe sie zu Bett ging. Weil es draußen so kalt war, tranken sie alle ein bisschen mehr. Das war jedenfalls ihre Entschuldigung.
Sie war zwar ein wenig beschwipst, aber doch noch nüchtern genug, um sich zu erkundigen, wie alles lief.
Graham legte den Arm um sie – mehr, um sich aufrecht zu halten, als aus Zuneigung.
»Ich glaube, der gute Boris beglückt gerade Penelope Petrie.«
»Das überrascht mich aber wirklich.«
Graham tippte sich an die Nase. »Boris hat ihr die Rolle besorgt. Jetzt zeigt sie sich dafür erkenntlich.«
Derek stand hinter ihm und führte gerade sein Whiskyglas zum Mund. Seiner gerunzelten Stirn nach zu urteilen, war er nicht sonderlich erfreut über Grahams Bemerkung. Sobald der zur Herrentoilette gewankt war, rückte Derek näher zu Honey heran.
»Nehmen Sie lieber nicht so ernst, was der redet.«
»Warum sagen Sie das?«
Während sie noch auf seine Antwort wartete, stellte sie ihr Glas auf den Tresen und bat den Barmann mit einem Kopfnicken, ihr noch einmal einzuschenken.
»Boris ist gar nicht so übel.«
Sie beschloss, dass jetzt die Zeit für deutliche Worte gekommen war. »Sie meinen wohl, Sie sind alle von ihm abhängig, um sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Und es will ja niemand Ärger machen. Neulich hatte ich den Eindruck, dass Martyna das Szepter führte. Jetzt hat Boris das übernommen. Und der ist schlicht und einfach pflegeleichter, oder?«
Sie hatte das beinahe nebenher gesagt, während sie weiterhin die Augen auf den Barmann gerichtet hielt. Jetzt wanderte ihr Blick wieder zu dem Tontechniker zurück, und das schien ihn nervös zu machen.
Derek ruderte energisch zurück. »Also, eigentlich meine ich nicht, dass …«
»Martyna hat sich ziemlich lautstark über das Drehbuch beschwert, habe ich mir sagen lassen.«
»Ha!«, erwiderte er und warf verächtlich den Kopf in den Nacken. »Sie hat kein gutes Haar daran gelassen. Ihrer Meinung nach stimmte rein gar nichts damit. Sie hat ziemlich herumgezickt.«
»War sie so zickig, dass der Drehbuchautor sie vielleicht umbringen wollte?«
»Na ja, mir hätte es jedenfalls gereicht.«
»Wer hat eigentlich das Drehbuch geschrieben?«
»Bennett. Chris Bennett.«
Sie schaute ihn über den Rand ihres Glases hinweg an. »Und was für ein Typ ist er, dieser Chris Bennett?«
»Keine Ahnung.«
Jetzt war Honey neugierig geworden. »Er ist also bei den Dreharbeiten nicht dabei?«
Derek runzelte die Stirn. »Nein, soweit ich weiß, nicht. Die Autoren sind nicht oft mit dabei. Die Regisseure sind der Meinung, dass sie ihnen nur im Weg rumstehen.«
»Ach ja?«
»Stimmt.« Er nickte ernst. »Beim Casting habe ich ihn auch nicht gesehen. Autoren sind eigentlich gern dabei, wenn die Schauspieler vorsprechen. Die bilden sich ein, sie hätten ein Mitspracherecht.«
»Auch wenn das keineswegs so ist.«
»Aber es war niemand beim Casting, den ich nicht kannte. Vielleicht ist das einmal ein Autor, der sich nicht dafür interessiert, wer welche Rolle spielt, solange er nur sein Geld bekommt. Kann man dem Mann ja nicht übelnehmen, was?«
Es war schon beinahe Mitternacht, und Honey schossen immer noch alle möglichen Gedanken durch den Kopf. Sie brauchte jetzt ein Bad, um sich richtig aufzuwärmen und über alles nachzudenken.
Sie legte das Korsett ans Fußende des Bettes, während sie sich für ihr Bad fertigmachte.
Als sie es da liegen sah, einen Hauch von Satin und Sinnlichkeit, überlegte sie, dass ihre Mutter wirklich recht hatte. Es war ganz exquisit. Sie nahm es in die Hand und strich zärtlich über den glatten, türkisfarbenen Satin. Sie betastete die schwarze Spitze, die sich trotz ihres Alters immer noch ganz frisch anfühlte. Die Versuchung war einfach zu groß. Sie drückte das Dessous liebevoll an sich.
»Du bist doch das eleganteste, sinnlichste sexy Teilchen, das mir je unter die Finger gekommen ist. Und du gehörst mir, mir allein!«, murmelte sie in die kühle, weiche Seide hinein.
Nach ihrem warmen Wannenbad probierte sie es an.
»Wow! Wow! Und noch mal Wow!«
Es sprach wirklich einiges für enge Corsagen!
Einige Wochen zuvor hatte sie es bei einer Auktion als Schnäppchen erworben und eigentlich vorgehabt, es ihrer umfangreichen Sammlung einzuverleiben.
Sie kaufte die antiken Dessous als Investition. Manche stellte sie auch an den Wänden ihres Wohnzimmers hinter entspiegeltem Glas zur Schau.
Jetzt betrachtete Honey ihr Spiegelbild und schnurrte beinahe vor Zufriedenheit. Zarte Biesen aus schwarzer Spitze zierten die mit Fischbein verstärkten Körbchen. Vom Busen zum Schritt hin verliefen schmale, ebenfalls verstärkte Rippen in schwarzem Satin. Hinten war Seidenkordel im Zickzack in Ösen gefädelt, und diese Schnürung bescherte ihr eine ebenmäßige Silhouette und eine schmale Taille.
Sie zupfte ein bisschen an einem der Fischbeinstäbchen. Sie war sicher, dass wie durch Zauber ein Zentimeter Körperumfang verschwunden war, vielleicht gar zwei. Diese viktorianischen Mädels hatten ja wirklich den einen oder anderen Trick auf Lager gehabt, wie man sich eine flotte Silhouette und eine Wespentaille hinzauberte.
Honey legte die Hände an die Taille, zog einen Schmollmund und wackelte aufreizend mit den Hüften.
»Na, was sagen Sie dazu, Detective Inspector Steve Doherty?«
Kein Wunder, dass die üppigen Schönen vergangener Zeiten sich in diese Mieder gezwängt hatten. Folter um der Mode willen, aber Mann, war das denn so viel anders als das, was die Mädels heutzutage trugen?
Ihr kamen da die winzigen Spitzentangas in den Sinn. Unterwäsche, die kaum größer war als ein spitzenbesetztes Ziertaschentuch. Die hatten auch keinerlei praktischen Nutzen, sollten nur aufreizen. Da hatte sich nun wirklich nichts geändert.
Sie hatte das Korsett, plus schwarze Seidenstrümpfe und passende Strumpfbänder, aus einer Haushaltsauflösung erworben. Der Erlös ging an den Nachlass, und die Gegenstände, die sie erworben hatte, stammten aus dem Besitz des teuren Verblichenen – der zufällig ein Mann gewesen war, ein Hagestolz namens Ken.
Ihre romantische Ader klammerte sich an den Gedanken, dass das Korsett samt Zubehör einer längst verlorenen Geliebten gehört hatte, über deren Verlust Ken nie hinweggekommen war. Ihre pragmatische Seite hegte den Verdacht, dass Ken die Corsage wahrscheinlich selbst getragen hatte, doch diesen Gedanken wollte sie lieber gleich wieder verdrängen.
Also raus aus dem Korsett und rein ins Flanellnachthemd. Das stammte zwar auch aus viktorianischer Zeit, war aber eher dazu gedacht, die weibliche Figur zu verbergen als sie zur Schau zu stellen.
Obwohl sie von oben bis unten in Flanell gehüllt war, lockte das Korsett immer noch.
Honey konnte einfach nicht widerstehen. Sie wollte sich sexy fühlen. Aber sie wollte auch nicht frieren. Da würde sie eben beides tragen. Flanell auf der Haut, und das sexy Korsett darüber.
In den frühen Morgenstunden wachte sie auf und hatte das ungewisse Gefühl, nicht allein im Raum zu sein.
Zunächst dachte sie, ein besonders schriller Traum hätte sie aus dem Schlaf aufgeschreckt. Oder lag es an dem großen Stück Saint Augur, das sie zum Abendessen verdrückt hatte? Oder an den sauren Gürkchen?
Schließlich überlegte sie es sich anders. Sie war einer von den seltenen Menschen, die sich auch im kalten Licht des Tages noch an alle Einzelheiten eines Traumes erinnern konnten. Das versuchte sie nun, diesmal ohne Erfolg.
Und doch war sie sicher, dass sie etwas gehört hatte.
Plötzlich vernahm sie Stimmen.
Obwohl ihr das Herz bis in den Hals klopfte, lag sie völlig reglos da, wagte kaum zu atmen. Von der anderen Seite der Tür drangen nun leise Stimmen an ihr Ohr. Da ging die Tür auf, und aus dem Flur fiel Licht ins Zimmer.
»Mutter? Bist du wach?«
Honey richtete sich im Bett auf.
»Was ist denn?«
»Wir haben Besuch. Hast du uns nicht klopfen hören?«
Honey blinzelte. Unmittelbar hinter ihrer Tochter stand eine größere, finstere Gestalt.
Steve Doherty!
»Was zum Teufel machst du denn hier?«
Lindsey schlängelte sich ins Zimmer. Sie fläzte sich auf einen viktorianischen Stilsessel und hielt sich die Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. »Er hat einfach nicht locker gelassen.«
Honey zog sich wie eine erschrockene Jungfer das Deckbett bis zum Hals hoch. »Hoffentlich hast du eine richtig gute Entschuldigung!«, sagte sie grimmig.
»Zieh dich an. Wir müssen zum Zug.«
»Erklär mir das bitte mal.«
»Martynas Verlobter. Der war überhaupt nicht in New York und hat Wolkenkratzer angeschaut.«
»Das weiß ich doch längst. Sag bloß, er hat vor dem Aufsichtsrat die Hosen runtergelassen?«
Doherty schüttelte den Kopf und grinste. »Nein. Die Hosen hat er schon runtergelassen, aber mit zwei nackten Mädels. Und er hatte dabei einen Blick auf Wolkenkratzer – allerdings an der Canary Wharf in London und nicht in Manhattan, New York. Da fahre ich also hin. Nach London. Ich muss früh los. Ich dachte, du möchtest vielleicht mitkommen? Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch vor dem Berufsverkehr.«
Honey linste auf die Stelle auf dem Nachttisch, wo normalerweise ihr Mobiltelefon lag und das Dunkel mit einem blauen Lichtschein erfüllte. Das war manchmal ganz schön ärgerlich, wenn man verzweifelt versuchte, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen. Heute lag das Handy nicht da. Sie erinnerte sich vage, dass sie in der Nacht halb aufgewacht war und sich über das kalte Blau geärgert hatte. Sie hatte das Ding einfach auf den Boden gepfeffert.
Doherty trat einen Schritt vor. Da knirschte etwas unter seinem Fuß. Er schaute hinunter.
In der Form ähnelte es noch immer einem Telefon, aber der blaue Lichtschein war nun fort.
Honey stöhnte und rieb sich das Gesicht. »Das war ein schönes Licht, hat mir richtig gut gefallen. Und jetzt habe ich nicht mal mehr einen Wecker. Kann mir jemand sagen, wie spät es ist?«
»Fünf Uhr«, antwortete Lindsey.
»Fünf Uhr, und du, Steve, hast mein Mobiltelefon zertreten. Nenn mir einen einzigen guten Grund, warum ich mit dir nach London fahren sollte.« Ihr übellauniges Knurren und ihre zu bösen Schlitzen verengten Augen waren nur noch auf ihn gerichtet.
»Um Brett Coleridge den Mord an seiner Verlobten anzuhängen?«
Sobald sie die Beine unter der Decke hervor geschwungen hatte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Sie hatte das Korsett vergessen! Und das viktorianische Nachthemd, das sie darunter trug. Wie bescheuert konnte man sein?
Zwei Leute schnappten hörbar nach Luft.
»Schau dir bloß das mal an!« Lindsey schlug die Hände vors Gesicht und bemühte sich, ein Kichern zu unterdrücken.
Doherty starrte nur.
Honey improvisierte wild. Okay, sie merkte, wie ihr die Schamröte ins Gesicht stieg, aber, zum Teufel, sie würde gute Miene zum bösen Spiel machen. Sie zuckte die Achseln, als wäre es völlig normal, ein sexy Korsett über einem Nachthemd zu tragen, das einer Herzoginwitwe nicht übel angestanden hätte, und breitete die Arme aus. »Na und? Ich wollte mich auch im Bett sexy fühlen.«
»Aha«, meinte Doherty, der seine entgleisten Gesichtszüge mühselig wieder ordnete und gleichzeitig nach Luft schnappte. »Aber wieso ist das Gewand vom Zeltverleih dazwischen geraten?«
»Wärme!«
Sie stolzierte an den beiden vorbei ins Bad und knallte die Tür hinter sich zu.
Nachdem sie Korsett und Nachthemd ausgezogen hatte, trat sie unter die Dusche. Das Wasser kam in raschem Schwall, sprühte ihr in die Augen und kühlte ihr den Kopf.
Sie trat aus der Dusche und begann nach einem Handtuch zu tasten. Am Handtuchhalter hing keines, und auf dem Regal lag auch keines mehr. Also, dann musste der Bademantel her. Ihre Finger griffen nach einem leeren Haken.
Sie fluchte.
Mit dem Ohr an der Tür rief sie: »Kann mir mal bitte jemand ein Handtuch bringen?«
Keine Antwort. Sie überlegte, dass Lindsey Doherty wahrscheinlich ins Hotel mitgenommen und ihm ein Frühstück angeboten hatte. Gut. Dann konnte sie nackt ins Schlafzimmer schleichen, ein Handtuch aus dem Schrank nehmen und sich anziehen.
Sie zog die Tür einen Zentimeter weit auf und schaute ins Zimmer. Niemand da. Der Wäscheschrank stand links. Sie nahm das Korsett auf, weil sie nicht wollte, dass der Satin im Dampf Wasserflecken bekam. Sich dieses Bündel aus Seide und Spitze vor die Brust haltend, ging sie auf Zehenspitzen aus dem Bad, hinterließ dabei nasse Fußstapfen auf dem Teppich. Die Schranktür öffnete sich knarrend. Die Regale waren voll. Honey nahm ein Handtuch heraus, wanderte zurück ins Schlafzimmer und begann sich abzutrocknen. Dabei fröstelte sie und bibberte vor Kälte.
Sie stellte ihren Fuß auf einen Stuhl und beugte sich vor, um ihre Zehen zu frottieren. Da tauchte hinter der Sessellehne Dohertys Kopf auf.
»Was zum Teufel machst du denn hier?«
Er blinzelte schlaftrunken. Dann wagte er sich mutig auf Terrain vor, das noch nicht viele Männer zu betreten gewagt hatten, und schaute sie langsam und Pfund für Pfund von Kopf bis Fuß und von Fuß bis Kopf an.
»Tolles Korsett, aber nicht ganz das Richtige für das, was wir vorhaben. In Bath mag das ja noch angehen, aber wir fahren in ein Hotel in London. Da ziehst du dich doch besser entsprechend an, damit du nicht die Pagen erschreckst.«
Sie schluckte eine wütende Bemerkung herunter und drehte ihm den Rücken zu.
»Auch die Rückansicht ist nicht ohne«, rief Doherty.
Rasch hielt sie sich das Korsett nun hinter den Körper.
Dann zog sie sich ihre Unterwäsche an und schminkte sich. Letzteres dauerte ein wenig länger. Es machte ihr einige Mühe, die dunklen Ringe unter den Augen zu verdecken, ehe die überhaupt richtig offen waren.
Sobald ihr Gesicht wieder halbwegs lebendig aussah, nahm sie ein elegantes Kostüm aus dem Kleiderschrank. Es war marineblau mit einem weißen Kragen und weißen Manschetten und kleinen goldenen Kettchen um die Knöpfe. Zu diesem Outfit kombinierte sie schlichte schwarze Pumps, Strass-Ohrringe von Christian Dior und eine dazu passende Brosche. Die Inspektion der vollen Montur im bodenlangen Spiegel bestätigte ihr, dass sie nun zu allen Untaten bereit war.
Sie drehte sich um ihre eigene Achse. Naomi Campbell wäre vor Neid erblasst!
»Entspricht das der Kleiderordnung, Sir?«
Trotz der aufregenden Vorstellung schien Doherty wieder eingenickt zu sein. Er rieb sich die Augen und schaute sie vom Scheitel bis zur Sohle an, wenn auch nicht mit der gleichen Begeisterung wie vorhin, als sie nackt gewesen war.
»Hm, gut siehst du aus, wenn ich auch sagen muss, Puppe, das andere Outfit hat mich mehr gereizt.«
»Raus!« Sie deutete zur Tür.
Doherty gab vor, überrascht zu sein. »Ich hab doch nur gesagt, dass mir gefallen hat, was ich gesehen habe.«
»Raus!«
Er lachte.
Honey zog den Arm nach vorn, den sie bis jetzt hinter dem Rücken gehalten hatte, und schlug ihm mit Schwung das Korsett über den Kopf. »Aua!«
Sie hieb auf dem ganzen Weg zur Tür weiter mit dem Dessous auf ihn ein. Er flitzte los wie ein Kaninchen, das in seinen Bau flüchtet. Honey knallte die Tür hinter ihm zu.
Als sie sich abwandte, ging die Tür wieder auf. Dohertys grinsendes Gesicht kam zum Vorschein. »Superkorsett!«, lobte er. »Wie geschaffen für Frauen, die einen Körper haben.«
Mit flatternden Spitzenbändern flog das Korsett nun hinter ihm her und klatschte gegen die Tür, die er gerade noch rechtzeitig hinter sich zugezogen hatte.
Honey schaute auf die Corsage hinunter und lächelte. Sie würde noch ein Weilchen so tun, als wäre sie wütend auf ihn, obwohl sie es gar nicht war. Er hatte sich sehr schmeichelhaft über ihren Körper geäußert. In ihrem Alter zählte jedes Lobeswort.