Kapitel 7

Man hatte die Schauspieler einschließlich der Statisten gebeten, die Kostüme anzubehalten. Sie standen in Gruppen herum und nippten an ihren Styroporbechern. Einer der Statisten hielt sich ein wenig abseits. Honey ging schnurstracks auf ihn zu.

»Casper!« Sie versuchte, fröhlich zu wirken. Er sah aus, als könnte er eine Aufheiterung gebrauchen. »Wie geht es Ihnen?«

Er schaute leicht gequält und leidend drein. Sein Kiefer war verkrampft.

»Das hier ist eine völlig untragbare Situation«, sagte er und verstärkte seine Bemerkung noch, indem er angewidert die bereits blau angelaufenen Lippen schürzte. »Sehen Sie sich nur dieses entsetzliche Kostüm an!«

Honey stopfte ihre Hände samt den Fäustlingen in die Manteltaschen und versuchte, ihr Kichern zu unterdrücken. Casper bot einen wahrhaftig denkwürdigen Anblick. Er steckte immer noch im Kostüm eines Mannes, der sich seinen Lebensunterhalt damit verdient, dass er Pferdeäpfel einsammelt.

»Es sollte jetzt nicht mehr allzu lange dauern.«

»Das will ich auch hoffen«, keifte er ungeduldig.

»Die Polizei muss ihre Arbeit machen. Wir können es doch nicht zulassen, dass der Ruf unserer Stadt geschädigt wird. Der Schuldige muss verhaftet werden – und zwar schnell.«

Sie hatte ganz ähnlich argumentiert, wie das Casper selbst sonst gern machte, wenn ein Verbrechen begangen worden war. Normalerweise drängte er sie, die Angelegenheit zu beschleunigen. Jetzt versuchte sie, sein schwer angeschlagenes Selbstwertgefühl ein wenig auszupolieren.

Sein großer Kopf verschwand beinahe in dem hohen Kragen seines Mantels. Sein Kiefer wirkte hart wie Beton. Eine junge Frau von der Kostümabteilung kam, um ein Foto zu machen.

»Die Show muss weitergehen«, zwitscherte sie fröhlich.

»Wieso eigentlich?«, fragte Casper missmutig zurück.

Die junge Frau schaffte es, trotzdem weiter heiter zu lächeln. »Trotz der gegenwärtigen Schwierigkeiten gehen die Dreharbeiten wie geplant weiter.«

»Das ist ein Mord, keine Schwierigkeit«, grummelte Casper.

Fräulein Sonnenschein machte unbeirrt weiter. »Wir müssen alle Einzelheiten genau aufzeichnen, damit wir Ihr Kostüm beim nächsten Mal wieder richtig hinbekommen.«

Casper richtete sich zu seiner vollen Körpergröße auf. Seine Stimme grollte wie Donner. »Es wird kein nächstes Mal geben!«

Mit hocherhobener Nase und entschlossen vorgerecktem Kinn stolzierte er über die Straße davon.

Die junge Frau starrte hinter ihm her. Sie hatte die Kamera sinken lassen.

Honey zuckte die Achseln. Sie hatte schon immer gewusst, dass Casper eine theatralische Ader hatte. Jetzt war ihr klar, dass die Dinge so einfach nicht lagen. Casper sah sich als Hauptdarsteller, zumindest in der Rolle eines kultivierten und höchst verfeinerten Herren. Und jemand, der Pferdeäpfel einsammelte, kultivierte damit ja höchstens Rosen und Rhabarber.

»Tasse Kaffee, Miss?«

Die Stimme kam von oben. Ungefähr auf Honeys Kinnhöhe ragte die Theke des Cateringwagens heraus. Honey schaute hoch. Sie konnte das Gesicht nicht sehen, das zu der Stimme gehörte, nur ein paar schwarz behaarte Arme und breite Schultern. Der Rest des Mannes lag im Schatten. Wenn sie den Kopf zurücklegte, schaffte sie es gerade mal, ein glänzendes Kinn und rote Wangen auszumachen. Sie vermutete, dass die Gesichtsfarbe auf die Schwaden zurückzuführen war, die dem Mann ständig um den Kopf waberten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte den Kopf in den Nacken, um ihn besser sehen zu können.

Sie bedankte sich für sein Angebot und schaute ihm zu, wie er die schmutzige Schürze abnahm und eine frische hervorholte.

Er bemerkte ihren Blick. »Hier muss immer alles schön adrett aussehen. Ich lasse nicht zu, dass irgendetwas meine Qualitätsansprüche beeinträchtigt.«

»Und ich vermute, die sind hoch?«, erkundigte sie sich.

Er beugte sich vor. »Extrem hoch. Stars von Film und Fernsehen haben mir schon zu meinen Welsh Rarebits gratuliert. Und die berühmte Lady Wie-heißt-sie-noch hat mir gesagt, dass meine süßen Haferkekse die besten sind, die sie je gegessen hat. Und Kevin Costner, der ist zwar kein Lord, aber trotzdem ein feiner Mann. Hat meine Thai Curry Beefburger über den grünen Klee gelobt! Jawohl! Wer beim Film gut essen will, der ruft bei Richard Richards an! Sehen Sie?«

Er deutete auf die roten Buchstaben über der Theke. »Richard Richards. Catering für Stars!« Als er sich vorbeugte, sah sie sein ganzes Gesicht: dunkle buschige Augenbrauen und einen Wuschelkopf voll drahtigem schwarzem Haar mit silbernen Fäden. »Nennen Sie mich Richard!«

Er hatte sich ein rotes Halstuch mit weißen Punkten um den Hals geknotet, das ihm ein verwegenes Zigeuneraussehen geben sollte. Es hätte Honey nicht überrascht, wenn er unter all den dampfenden Töpfen und Pfannen eine Geige hervorgezogen und eine Runde Vivaldi gefiedelt hätte.

»Nett, Sie kennenzulernen, Richard. Ich bin Honey, Honey Driver.«

»Ah ja. Honey wie Honig und Bienen. Honig ist gesund. Ich gebe immer Honig mit einer Spur Ahornsirup über meine Frühstückspfannkuchen.«

Diese Honiggeschichten gingen Honey nun doch ein wenig zu weit. »Eigentlich heiße ich Hannah. Aber Honey ist irgendwie netter.«

Das schien er nicht zu hören. »Mein Speck ist der beste, den Wiltshire zu bieten hat. Haben Sie das bemerkt?«

Honey antwortete, dass sie nur Toast mit Butter gegessen hatte. Als sie seinen betrübten Gesichtsausdruck wahrnahm, fühlte sie sich zu der Bemerkung veranlasst, das Brot sei aber das frischeste gewesen, das sie je gekostet hatte.

»Ich habe schon Catering für die Allerbesten gemacht, für einige der größten Stars von Film und Fernsehen. Die loben alle meine Küche. Ich bin der König der Cateringwagen. Das sagen die wirklich.«

Mit diesen Worten schwenkte »King« Richard seine frische Schürze wie der Torero sein Cape, band sie sich um und pfefferte die schmutzige in eine dunkle Ecke.

Honey überlegte, ob nicht das größte dramatische Talent am Set hier im Cateringwagen verborgen schlummerte. Ein wenig Schmeichelei konnte nicht schaden.

»Sie müssen ja wirklich so gut sein, wie Sie sagen. Ich habe jedenfalls noch keine Klagen gehört.«

»Und warum sollten Sie auch?«, fragte er entrüstet.

Das war wohl nicht ganz der richtige Ansatz gewesen, überlegte sie.

Er klatschte seine Hände mit einem satten Knall auf die Theke und schaute sie mit wütenden Augen an. »Von wem haben Sie eine Beschwerde gehört? Sagen Sie’s mir. Sagen Sie’s mir auf der Stelle!«

»Ich habe ja eben keine Beschwerden gehört. Nur Lob. Ehrlich!«

Jetzt waren seine Augen stechend und kalt – eigentlich seltsam, wenn man überlegte, dass sie braun waren. Braune Augen waren doch sonst eher warm wie Samt. Seine wirkten wie gefrorener Schlamm.

Sie musste ihm unbedingt ein wenig Honig ums Maul schmieren. Sie räusperte sich und nahm einen Schluck Kaffee. »Ich habe gehört, die machen hier mit einer neuen Hauptdarstellerin weiter. Sie kennen doch so viele berühmte Leute. Da habe ich mich gefragt, ob Sie vielleicht eine Ahnung haben, wer da alles im Rennen sein könnte?«

Die Honigtaktik schien zu funktionieren. Die zusammengekniffenen Augen zwinkerten. Seine Züge entspannten sich. »Jawohl!«, sagte er, während er sich eine Tasse tiefschwarzen Kaffee einschenkte. »Da haben Sie recht, ich habe eine Ahnung! Penelope Petrie. Die hat die Gelegenheit gleich beim Schopf gepackt.«

Honey war entsetzt. »Die haben ihr nicht mal Zeit gegeben, sich die Sache zu überlegen?«

»Nein. Warum auch? Jedenfalls ist Penny Petrie in Ordnung. Hat eine Vorliebe für meine Cottage Pie, jawohl. Na ja, die kann solches Zeug essen bis zum Umfallen. Nimmt nie auch nur ein Gramm zu.«

»Ich wünschte, ich könnte auch Pampe essen und nichts zunehmen.«

Au weh! Ihr wurde sofort klar, dass sie etwas Falsches gesagt hatte, als seine Gesichtszüge wieder gefroren. Jetzt aber schleunigst zurückrudern – und zwar mit aller Kraft. »Was ich gemeint habe ist, dass an so einem kalten Tagen die gute alte Hausmannskost wirklich genau das Richtige ist. Kennen Sie sie gut, diese Penelope Petrie? Sind Sie mit ihr befreundet?«

Immer nur lächeln und ihm das Gefühl vermitteln, er hätte wirklich was zu sagen und wäre bestens mit den Größen des Filmgeschäfts vertraut, das schien zu funktionieren.

»So ist sie nun mal, die Filmwelt. Da frisst einer den anderen.«

Honey hielt es für das Beste, das Thema Essen zu meiden. Auf dem Gebiet war Richard Richards empfindlich.

»Ich bin ja froh, dass ich nur eine Amateurin bin«, sagte sie so leutselig, wie sie nur konnte. Sie war mit der Welt des Films nicht sonderlich vertraut, aber sie hatte schon jede Menge Hollywoodklatsch gelesen, darüber, dass zu viele Schauspieler um zu wenige Rollen wetteiferten und sich daraus blutrünstige Rivalitäten entwickelten.

»Sie stehen hier ja an einer guten Stelle«, sagte sie und kam wieder zu ihrem eigentlichen Thema zurück. Sie schaute zum Haus auf der anderen Straßenseite, drehte sich dann um und blickte betont zu Martyna Manderleys Wohnwagen. Ja, sie hatte recht gehabt. Der Cateringwagen stand genau in der Mitte zwischen den beiden.

Gerade umgab ein Mann mit einem dicken Schal den Wohnwagen mit Tatortmarkierungsband. Honey erkannte, dass es Detective Sergeant Ali Fleming war. Da dröhnte von oben Richard Richards’ Stimme zu ihr herunter.

»Wenn Sie mich fragen, ob ich was gesehen habe, dann ist meine Antwort: Ja! Natürlich habe ich was gesehen. Ich überlege, ob ich mich melden und eine Aussage machen soll.«

»Ich hätte mich ein wenig genauer vorstellen sollen«, sagte Honey, die merkte, dass sich ihr hier eine gute Gelegenheit bot. »Ich bin die Verbindungsfrau zwischen dem Hotelfachverband von Bath und der Kriminalpolizei. Würden Sie vielleicht mir sagen, was Sie gesehen haben?«

»Nun … im Augenblick habe ich zu viel zu tun. Nur weil ein Mord geschehen ist, heißt das ja nicht, dass ich hier den Laden dicht machen kann, wissen Sie.«

Sie spürte, dass sie in diesem Fall Doherty einen Schritt voraus sein könnte. Sie hatte ihm die Sache mit den Plastiktüten noch nicht verziehen. Also stürzte sie sich auf ihre Chance.

»Das muss ja nicht hier sein«, platzte es aus ihr heraus. »Wir könnten uns woanders treffen. Dürfte ich Sie vielleicht zum Mittagessen einladen?«

Richards schaute sie fragend an. »Wohin?«

»In ein nettes Restaurant. Das nach Ihrem Geschmack wäre. Ich würde Sie nicht in irgendeinen Laden mitnehmen, nicht einen erfahrenen Meisterkoch wie Sie.«

Die Stunde der aufgeblasenen Egos war gekommen. Honey würde sich fantastisch fühlen, wenn ihr das hier gelang und sie den Schuldigen vor Steve Doherty finden und verhaften könnte. Und Richard Richards war erfüllt von seiner eigenen Wichtigkeit. Er brannte darauf, jemandem zu erzählen, was er wusste. Und sie war hier, um das alles aufzuschreiben. Block und Bleistift hatte sie immer dabei.

»Nicht, dass ich jemanden gesehen hätte, der da reingegangen ist und dort nichts zu suchen hatte. Die Mädels von der Maske, der zweite Regieassistent, der zweite Techniker, die Kostümchefin und das Continuity-Mädchen. Alles genau, wie es sein muss.« Dann lehnte er sich über die Theke zu Honey. »Jeder von denen könnte es gewesen sein. Die hatten alle ein Hühnchen mit ihr zu rupfen, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Richard Richards baute sich massig über ihr auf, und sie fühlte sich wie ein verängstigtes Streifenhörnchen, das einem Zwei-Meter-Grizzly gegenüberstand.

»Ihre Aussage könnte ungeheuer wichtig sein«, sagte sie und versuchte, all ihren Mut aufzubringen.

»Sie glauben doch nicht, dass die Polizei so was merken würde!«

Richard Richards war beleidigt, weil man ihn nicht als Allerersten gebeten hatte, eine Aussage zu machen. Anscheinend war Martyna Manderley nicht die einzige Primadonna am Set gewesen!

Als der Koch seinen muskulösen Unterarm auf die Theke stützte, knarrte das verzogene Holz unter seinem Gewicht.

»Ich bin ja froh, dass doch jemand am Ball ist. Ich sag Ihnen was«, fuhr er fort und schaute sich vorsichtig um. Honey fühlte sich an ein viktorianisches Melodram erinnert. »Ich schreibe eine Liste von allen, die ich beim Reingehen gesehen habe, und – und«, wiederholte er mit noch wichtigerer Miene, »außerdem notiere ich noch alle interessanten Details zu diesen Leuten, inklusive ihrer Beziehung zu Martyna und möglicher Mordmotive. Wie hört sich das an? Und dann treffen wir uns auf einen Kaffee. Wäre Ihnen das recht so?«

»Wunderbar. Bitte nehmen Sie auch die friedliebenden Eingeborenen mit auf Ihrer Liste auf, ja?«

Er verzog ein wenig das Gesicht. »Na, wer weiß wie friedliebend die wirklich sind. Ich meine, Martyna geliebt hat keiner von denen. Das wollte sie auch gar nicht. Die hat immer gedacht, dass sie weit über der gewöhnlichen Masse steht, wenn Sie wissen, was ich meine. Na ja, jetzt ist sie ein paar Meter drunter, nicht? Zumindest demnächst – sobald sie unter der Erde ist.«

Sein Kommentar war so nüchtern, dass es Honey kalt über den Rücken lief. Offensichtlich hatte er Martyna nicht gemocht, aber, überlegte sie, da war er ja keineswegs der Einzige.