Kapitel 17

Zimmer vier musste mal wieder gestrichen werden. Die großen, bodentiefen Fenster hatte man damals, zur Zeit König Georgs, so entworfen, dass sie viel Licht hineinließen. Allerdings konnte man so auch hervorragend sehen, dass ein wenig frische Farbe nicht schaden könnte.

Rodney »Clint« Eastwood hatte ihr versprochen, sich darum zu kümmern, aber die Vorsehung – in Gestalt einer attraktiven Zwanzigjährigen mit vielen Ohrringen und einem Bauchnabelpiercing – hatte dies verhindert. Honey hatte vergeblich versucht, einen Ersatz zu finden. Jeder Maler im Umkreis von vielen Kilometern war im Augenblick damit beschäftigt, noch während der niedrigen Winterbelegung die Hotels von Bath für den Sommer herzurichten.

Also musste sich Honey selbst auf den Weg ins Zimmer vier machen. Sie schleppte eine Leiter, einen Eimer mintgrüne Wandfarbe und eine Dose schneeweißen Lack für die Türen und Fußleisten. Zuerst wollte sie die Decke streichen, das machte sie am wenigsten gern. In der Regency-Zeit hatte man hohe Decken eingezogen. Rings um die Lampen und an den Bilderleisten entlang waren sie elegant mit Stuck verziert. Diese Arbeit war kein Witz, vor allem wenn man nicht ganz schwindelfrei war. Aber es musste sein, und also kletterte sie die Leiter hinauf. Zwei Stunden und viele Farbkleckser später wurde sie von Lindsey unterbrochen.

»Mutter, hier ist eine Miss Cleveley, die gern mit dir reden möchte.«

Honey schaute Lindsey ein wenig verdattert an.

»Sie sagt, es gehe um eine Privatangelegenheit«, fügte Lindsey hinzu und machte die Tür weit auf.

Eine zierliche Gestalt trippelte ins Zimmer.

»Ich hege die Hoffnung, dass Sie sich meiner noch erinnern.«

Honey schaute von der obersten Sprosse der Leiter hinunter und in das hochgereckte Gesicht der Jane-Austen-Freundin.

Heute trug die kleine alte Dame einen weichfließenden Rock in einem hellen Mauve und dazu Satinschuhe. Ein gestricktes Häubchen und ein damit abgestimmter Umhang aus samtweichem Garn rundeten das Ensemble ab.

»Ich suche meine Nichte. Perdita wollte gestern bei mir übernachten. Ich habe ihrer Mutter versprochen, sie in meinem bescheidenen Heim stets willkommen zu heißen. Ich habe vernommen, dass Sie Detektivin sind.«

Bestens gelaunt kletterte Honey von der Leiter. Konnte es wirklich sein, dass sie hier ihren ersten Fall zu bearbeiten bekam, der weder mit dem Hotelfachverband noch mit der Polizei etwas zu tun hatte? Anscheinend hatte sie sich schon einen gewissen Ruf als Privatdetektivin erworben.

»Ich habe Ihr Bild in der Zeitung gesehen. Mir war nicht klar, dass Sie Detektivin sind, als ich mich neulich auf der Straße wegen meiner ehrenwerten Petition an Sie gewendet habe. Damals erkannte ich in Ihrem Ebenbild die Integrität einer ehrenwerten Frau reiferen Alters.«

»Ach ja«, antwortete Honey, deren Lächeln inzwischen ein wenig gezwungen wirkte. Sie überlegte sich, dass sie vielleicht einmal mit dem Zeitungsfotografen sprechen sollte. Hatte er noch nie was von Retouchieren gehört? »Nun«, meinte sie. »Dann wollen wir einmal über Ihr Problem sprechen, vielleicht bei einer Tasse Tee?«

»Tee? Nein, ich ziehe Schokolade vor«, antwortete Miss Cleveley und rümpfte ihre kecke, wenn auch ein wenig von einer Erkältung entzündete Nase.

Lindsey, die liebe, gute, hatte die Situation genau richtig eingeschätzt.

»Ich dachte, Sie würden vielleicht einer Tasse Schokolade den Vorzug geben«, sagte sie und lächelte die alte Dame an. »Wie Jane Austen.«

Miss Cleveley strahlte dankbar zurück. Lindsey verschwand wieder.

»Gut«, sagte Honey. »Jetzt, da wir allein sind, möchten Sie mir nicht genauer erklären, warum Sie gekommen sind?«

»Perdita!« Spinnenfinger, die halb in Spitzenhandschuhen steckten, wühlten in einem bestickten Retikül, an dem unten sogar eine Quaste in einem verblassten Rosaton baumelte. Miss Cleveley reichte Honey zwei Fotografien. Die erste war ein Porträt, auf dem nur der Kopf zu sehen war.

»Meine Nichte Perdita Moody.«

Honey betrachtete das Bild.

Perdita hatte eher ein nettes als ein hübsches Gesicht. Honeys Augen wurden wie magisch von ihrem Lächeln angezogen. Es wirkte ein wenig erstarrt, so als bemühte sich hier jemand zu sehr. Als hätte der Fotograf einen gerade gebeten, »Cheese« zusagen, während man dazu keine Lust hatte oder Zahnweh oder sonst was.

Das zweite Foto zeigte eine große, ein wenig ungelenke junge Frau, die an einem Geländer lehnte, hinter dem man einen Blick auf einen verlassenen Strand und weit weg auf das Meer hatte. Auch hier sah man nicht die ganze Person. Der Fotograf hatte die Füße abgeschnitten. Nicht besonders professionell, überlegte Honey, und fragte sich, ob vielleicht Miss Cleveley das Bild gemacht hatte.

»Lebt sie allein?«, erkundigte sich Honey.

»Sie hat eine Wohnung in Clevedon.«

»Aha.«

Clevedon lag nur etwa 90 Kilometer von Bath entfernt an der Westküste. Es war ein ruhiger Ort mit Häusern aus der Regency-Zeit und aus der viktorianischen Ära, die alle Meerblick hatten.

»Und sie ist nicht dorthin zurückgefahren?«

Miss Cleveley schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe bei ihrem Vermieter nachgefragt. Man hat sie dort seit dem Tag nicht mehr gesehen, an dem sie abgereist ist, um an diesem Film mitzuarbeiten.«

Plötzlich umklammerten dünne Finger Honeys Handgelenk. Miss Clevely schaute sie mit funkelnden Augen an. »Ich habe den Eindruck, meine liebe Mrs Driver, dass ich mich geirrt habe, als ich jenen Leuten lediglich vorwarf, die großen Werke Jane Austens zu verunglimpfen. Nun fürchte ich, dass es hier um sehr viel finsterere Machenschaften gehen könnte«, flüsterte sie.

Wie kalt ihre Finger sind, überlegte Honey, wie fest ihr Griff.

»Was für finstere Machenschaften mögen das denn sein?«, erkundigte sich Honey, während sie verzweifelt versuchte, den Klammergriff der knochigen Hand zu lösen und ihren Blutkreislauf wieder in Gang zu bringen.

»Sklavenhändler!«, rief Miss Cleveley. »Die liebe, unschuldige Perdita ist entführt und in den Harem irgendeines fernöstlichen Potentaten verschleppt worden! Können Sie sich das vorstellen? Das liebe, nette Mädchen, auf Gedeih und Verderb einem lüsternen Barbaren ausgeliefert, der ihr die bisher unbefleckte Jungfernschaft zu rauben beabsichtigt.«

Honey blickte in ein ernstes Gesicht. Ihr war inzwischen klar, dass Miss Cleveley nicht nur im Universum Jane Austens zu leben vermeinte, sondern dass sie eindeutig viel zu viele romantische und – ja, man wagte es kaum zu denken – erotische Romane gelesen und in ihr Weltbild integriert hatte.

Aber das konnte sie ihr natürlich nicht sagen. Die alte Dame schaute sie aufrichtig und ernsthaft an und war ehrlich besorgt. Und wer weiß, ob sie selbst sich im Alter nicht auch in eine Phantasiewelt zurückziehen würde, überlegte Honey. Da wäre ich sicherlich in bester Gesellschaft. Mary Jane jedenfalls lebte schon dort.

Honey lächelte und bog die Finger auf, die ihre Blutzufuhr zu den Händen bedrohten.

»Also, sie ist nicht nach Hause gekommen. Weder Freunde noch Familie haben sie gesehen?«

Miss Cleveley nickte sittsam. Es war ein Nicken, wie es in historischen Romanen beschrieben wurde, besonders in denen aus der Regency-Zeit. »Seien Sie versichert, meine liebe Mrs Driver, ich habe Erkundungen bei allen angestrengt, die sich meines Wissens in ihren gesellschaftlichen Kreisen bewegen, und natürlich auch bei ihrer Familie nachgefragt. Ich muss wohl nicht betonen, dass ihre Mutter außer sich vor Sorgen ist? Meine geliebte Schwester hat ein außerordentlich schwaches Nervenkostüm. Sie ist stets verzweifelt unruhig, wenn sie einmal den Aufenthaltsort ihres Kindes nicht kennt.«

Miss Cleveley beugte sich vor, um Honey weitere Perlen der Information zukommen zu lassen. Honey verbarg vorsichtshalber die Hände hinter dem Rücken.

Das Weiße im Auge der alten Dame war blutunterlaufen und wirkte ziemlich furchterregend.

»Sehen Sie sich vor, wenn Sie Ihre Erkundungen anstellen, meine liebe Mrs Driver. Sie sind zwar der Altersgruppe entwachsen, für die sich Sklavenhändler interessieren, möchte ich meinen. Aber man weiß ja nie. Männer haben seltsame Vorlieben, nicht wahr.«

Na, großartig! Jetzt war sie also jenseits von Gut und Böse, was sexuelle Ausstrahlung anging, und wenn einer sich schon für sie interessierte, dann nur, weil er wirklich pervers war.

»Ich werde mir alle Mühe geben, Ihre Nichte zu finden, Miss Cleveley.«

Was sage ich da bloß?

Es gab nicht einmal einen Beweis dafür, dass Perdita wirklich verschwunden war. Unter Umständen war die junge Frau ja nur eine Ausgeburt von Miss Cleveleys zweifellos sehr lebhafter Phantasie.

Die kleine, zarte Dame trank ihre Schokolade aus und verstaute noch ein paar Kekse in ihrem Retikül, ehe sie sich verabschiedete.

»Für die Tauben«, erklärte sie mit gewinnendem Lächeln.

»Aber natürlich«, erwiderte Honey und lächelte zurück. Sie war sich sicher, dass diese Kekse später von Miss Cleveley höchstpersönlich verzehrt würden.

Nachdem sie Honey gedrängte hatte, die Fotos zu behalten, schwebte die alte Dame aus dem Zimmer, eine leicht komische Gestalt in Musselin und alter Spitze.

Honey sah sich gerade noch einmal die Bilder an, als Lindsey kam, um das Tablett wieder abzuholen.

Sie ließ sich in den Sessel fallen, den Miss Clevely gerade eben freigemacht hatte. »Meine Füße bringen mich um.« Sie schnaufte laut. »Was wollte das alte Mädel denn?«

»Ihre Nichte finden. Sie glaubt, dass sie vielleicht von Sklavenhändlern verschleppt wurde. Was meinst du?«

Lindsey musterte die Fotos.

»Die sind beinahe richtig gut«, meinte sie.

Honey erwiderte fragend: »Findest du wirklich? Ich war mir nicht so sicher.«

»Das Porträt ist besser als das Bild von der ganzen Person.«

»Das finde ich auch. Da hat sie keine Füße.«

»Oder Hände, sieh mal.«

Honey schaute hin. Perdita stand vor einem Geländer und hatte die Hände auf dem Rücken verborgen. Und da war wieder dieses Lächeln: gewinnend, wenn auch nervös. Wie eine Schauspielerin, die auf ihren Auftritt wartet.

Genau in diesem Augenblick rief Casper an, um noch einmal zu unterstreichen, wie besorgt er war, weil man Martyna Manderleys Mörder immer noch nicht dingfest gemacht hatte.

»Haben Sie schon Hinweise, irgendetwas?«, erkundigte er sich gebieterisch. »Was ist mit dem Liebhaber?«

»Sie meinen den Verlobten.«

»Ja, den. War er’s? Ich hoffe, er ist der Schuldige. Dann hat sich diese ganze Angelegenheit erledigt und kann zu den Akten.«

Honey hielt ihre Antwort schlicht: »Wir kommen voran. Gerade war jemand wegen einer vermissten Schauspielerin und Entertainerin bei mir.«

»Großer Gott! Sagen Sie bloß nicht, dass es jemand von Bedeutung ist! Keine von der Königin geadelte Mimin, hoffe ich?«

»Keine Berühmtheit, wenn Sie das meinen. Sie heißt Perdita Moody.«

Honey spürte beinahe die kleine, verdatterte Pause, ehe Casper reagierte.

»Ich könnte nicht behaupten, den Namen je gehört zu haben«, erklärte er wegwerfend. »Prioritäten, Honey! Prioritäten! Das ist der einzig richtige Ansatz! Der Mord hat höchste Priorität. Bitte vergessen Sie das nicht.«

Nachdenklich legte sie den Hörer auf. Im ersten Augenblick hatte Casper St. John Gervais ein wenig verblüfft gewirkt – beinahe als hätte ihm der Name etwas gesagt. Und er war nicht ungeduldig gewesen. War er etwa krank? Hatte er mit anderen Dingen zu tun? Andererseits, vielleicht hatte er einfach ein völlig neues Leben begonnen und versuchte jetzt, seine Ungeduld zu beherrschen?

Sei nicht albern, ermahnte sie sich. Sie überlegte, dass sie wahrscheinlich nur müde war und eine weitere Tasse Tee brauchte, um wieder Energie zu tanken. Sie schenkte sich eine zweite Tasse ein. Die Kanne war noch warm.

»Ich nehme an, dir ist entfallen, dass ich auch hier bin?«

Lindsey hockte auf der Schreibtischkante und schaute sie voller milder Verwunderung an.

»Natürlich nicht! Ich habe nur das Gefühl, als hätte ich überhaupt keine Energie mehr.«

»Ich glaube nicht, dass es das ist. Es ist diese Frau. Die hat dich angesteckt!«

»Meinst du nicht eher angeregt oder aufgeregt?«

»Nein, angesteckt. Sie ist der Typ, der Selbstgespräche führt und auf einem völlig anderen Planeten lebt als wir normalen Sterblichen.«

»Da hast du recht. Ich sollte mich auf das konzentrieren, was ich zu tun habe, und nicht die verlorengegangene Verwandtschaft verwirrter alter Damen suchen.«

»Es sei denn natürlich, sie bezahlen dich dafür. Hast du ihr gesagt, wie hoch dein Honorar ist?«

Honey hatte das Gefühl, als schrumpfte sie unter dem forschenden Blick ihrer Tochter auf Erbsengröße zusammen.

»Daran habe ich gar nicht gedacht. Ich habe nur überlegt, was für ein großer Zufall es ist, dass ihre Nichte vom Filmset verschwunden ist, ohne irgendjemandem mit einem Sterbenswörtchen zu verraten, wohin sie ging. Seltsam, nicht?«

»Seltsam hin oder her. Das Geld wächst nicht auf den Bäumen – und Privatdetektive auch nicht.«

»A propos Detektive, neulich hat mich Steve Dohertys Gesichtsausdruck so an Philip Marlowe erinnert – oder an einen der Schauspieler, die ihn im Film gespielt haben. Humphrey Bogart vielleicht? Oder Robert Mitchum?«

»O je. Graham hat übrigens gefragt, was die alte Dame hier wollte«, sagte Lindsey plötzlich.

Honey zwinkerte. »Graham?«

»Der Mann mit der Klappe, auf der mit Kreide die nächste Szene geschrieben steht.«

»Oh, der.«

»Ich habe ihm gesagt, ich hätte keine Ahnung. Da hat er mir erzählt, dass er sie vom Set her kennt. Sie hat da jede Menge Ärger gemacht, hat anscheinend dauernd gemeckert, dass sie sich nicht an die Fakten hielten. Sie hat sich darüber ziemlich in Rage geredet und musste schimpfend von drei Sicherheitsmännern vom Set geleitet werden.«

»Die haben drei Kerle gebraucht, um eine kleine alte Dame rauszuwerfen?«, fragte Honey kichernd.

Lindsey rutschte von der Tischkante. »Na ja, sie war bewaffnet.«

Honey begriff Lindseys Gesichtsausdruck sofort. »Sag bloß nicht, mit einer Hutnadel?«

»Erraten.«